1 Roland Barthes, ebenda »Argumentum: „Darstellung, Bericht, Zusammenfassung, kleines Drama, erfundene Geschichte“; ich füge hinzu: Instrument der Distanzierung, Schrift- oder Bildtafel im Sinne Brechts. Dieses Ar­gument bezieht sich nicht auf das, was das […] Subjekt ist (das als Person außerhalb dieses Themas liegt […]), sondern auf das, was es sagt.“(Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, Ü: Hans-Horst Henschen)

2 Roland Barthes, ebenda

3 Roland Barthes, ebenda.

4 Roland Barthes, ebenda.

5 Roland Barthes, ebenda.

6 Nach dem Lied „Lastovke“ von Elda Viler, Text von Milan Jesih.

7 David Foster Wallace, Selbstmord als eine Art Geschenk, übersetzt von Christa Schuenke, in: Kurze In­ter­views mit fiesen Männern, Rowohlt Verlag 2004

8 Lojze Kovačič, Zrele reči, Študentska založba, Ljubljana 2009, Ü: ACB

9 Siehe: http://id.iot.si/?page_id=18

Argument1

„Was vorgestellt wird, ist, wenn man so will, ein Porträt, aber kein psychologisches, sondern ein strukturales: es gibt einen sprachlichen Ort zur Lektüre auf: den Ort jemandes, der für sich, als Liebender, spricht /…/ - der angesichts des Anderen (des /…/Objektes) spricht, der seinerseits schweigt.“

- Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe

„No. It’s not linear.“

- Commander Benjamin Sisko, Star Trek: Deep Space Nine, Emissary

„Look me in the face

And tell me you don’t need being used“

- The Devil’s Blood, Everlasting Saturnalia

DUNKEL

Ich hätte nie gedacht, dass meine Geschichte – eine Geschichte über mich – auf diese Weise beginnen würde, 
aber da sie letztlich auf alle möglichen Arten beginnen könnte, ist es vollkommen gleichgültig, ob ich mit dem Krebs beginne.

„Ich erinnere mich, dass ich als Student eine Kurz­geschichte über einen Mann schreiben wollte, der von seiner Frau betrogen wird. Sie weiß nicht, dass er es weiß, und er weiß nicht, wie er ihr sagen soll, dass er Krebs hat. Damals war ich ein noch schlechterer Schriftsteller als jetzt. Ich konnte Gefühle beschreiben, ja, aber ich hatte überhaupt keinen Sinn für die Geschichte, die Handlung. Wissen Sie, das war noch bevor ich angefangen habe, meine gesamte Autopoetik auf der Abwesenheit einer Geschichte zu gründen.

Dieser Mann, über den ich schreiben wollte, sollte Hoden­krebs haben. Kastration, verstehen Sie? Aber die Figuren waren blass, die Pointe gleich Null, ich kam nicht weiter als bis zu einem Entwurf. Das brauchte etwas mehr, etwas, das ich nicht begreifen und niederschreiben konnte. Es war also eine Geschichte, die ich nie geschrieben habe, wobei ich das eigentlich auch nicht musste, da ich den Hodenkrebs schließlich selbst bekommen habe. Aber das war Jahre später. Verstehen Sie die Ironie?“

„Ja, Natürlich. Aber was wollten Sie mit dieser Geschichte sagen?“, fragte mich der Therapeut.

„Ich glaube, es war etwas über Ursachen und Wirkungen. Die Kastration des Gerechten. Dass manchmal – symbolisch oder tatsächlich – völlig Unschuldige die Arschkarte ziehen. Und dass dann das Leben weitergeht. Wenigstens für einige. Vermutlich. So oder so. Na, wenigstens habe ich das damals angenommen. Jetzt weiß ich es.“

„Nun, Ihre Krankheit natürlich: Sie haben den Krebs besiegt.“

Ich zuckte mit den Schultern: „Ich weiß. Ich habe getan, was mir richtig erschien … Was ich wollte. Und natürlich, was ich konnte. Und doch: ist ‚besiegt‘ nicht ein etwas zu starkes Wort?“

Anfangs hat mich das Sprechen über den Krebs immer ein wenig wütend gemacht; ich nahm eine Verteidigungshaltung ein, meine Rede wurde aggressiv. Doch diese Phase dauerte nicht lang und mit der Zeit verlor ich diese beißende Schärfe und wurde etwas milder. Vielleicht wegen des Fetts. Nach der sogenannten ‚Heilung‘ hatte ich schnell zugenommen.

Einmal fragte ich sie – Sara –, ganz ungeplant, impulsiv, ob sie jemals an Gruppensex beteiligt gewesen sei. Wir machten Abendessen und schlürften warmen Weißwein. Ein Hochge­fühl lag in der Luft. Eine Leichtigkeit. Es war kurz vor Weihnachten und wir waren noch viel jünger. Sara sah mich unter den Augenbrauen hervor an, lächelte, schlürfte langsam ihren Wein und zögerte so die Antwort hinaus. Ihr Lippenstift hinterließ eine subtile, aber unübersehbare Spur am Glasrand. „Nein“, sagte sie. „Natürlich nicht.“ Als wir später im Bett lagen und ich schon beinahe weggedämmert war, umarmte sie mich dennoch irgendwie bedeutungsvoll und flüsterte, sie habe ‚eigentlich gelogen‘. Ihre Stimme war warm und gedämpft, ein wenig rau. Sie war nahe an meinem Ohr, diese Stimme im Dunkeln. Sie und ihre Orgien, ihre Beichte, ihre Erzählungen; die Stimme ganz nah bei mir, die Stimme im Dunkeln.

Doch auch das war vor langer Zeit gewesen; noch bevor sie begonnen hatte, in das Haus mit der roten Tür zu gehen. Damals waren solche Beichten noch angebracht. Damals tasteten wir einander noch ab.

„Ich quäle mich“, sage ich in den großen und irgendwie leeren Raum um mich herum. Ich weiß nicht, wo genau ich bin. Es ist irgendein Wohnzimmer. Weiß und groß. Geräumig, schmutzig, staubig. Es ist mir bekannt; ich war schon einmal hier.

„Ich bin ein Masochist.“ Immer noch nichts. Irgendjemand müsste mir antworten; mit irgendjemandem habe ich noch einen Augenblick zuvor geredet, aber jetzt ist alles still und ohne Leben.

Dann kommt Mandy um die Ecke. Die Mandy, nach der ich so viele literarische Figuren in meinen Geschichten benannt habe.

„Dieser Name hat für mich immer so nach Hure ge­klungen“, hatte sie ihren Namen kommentiert, aber das war lange her und in einem anderen Raum gewesen.

„Du überstürzt mal wieder alles“, sagt sie und gibt mir einen Joint.

„Nein“, ich schüttele den Kopf. „Aber ich bin schmerz­erfüllt.“

„Du Armer. Warum malst du nicht lieber? Hör mal: Hast du Schmerzen, weil du schreibst, oder schreibst du, weil du Schmerzen hast? Was war zuerst da: das Huhn oder das Ei?“

Huhn, Hure, „Mandy“, Hure, Ei.

„Was?“, sie hebt die Augenbrauen.

Nichts. Ich beantworte deine Frage. Ich gebe dir die sinnvollste Antwort.

„Ich bin in linguistischen Lapsus und Schlingen gefangen. Ich kann nicht hinaus.“

Lärm aus dem Zimmer am anderen Ende des Flurs. Ein Bett stößt gegen die Wand. Es stößt und stößt, wieder und wieder und wieder und wieder. Um mich herum herrscht vollkommene Dunkelheit, die Minuten ziehen sich in einer irrealen und verschwitzten Agonie, aber das Hämmern setzt sich immer weiter fort, bis in alle Ewigkeit.

Neben mir ist ein Körper. Er ist still, weich, entspannt, unbeweglich, schlafend. Sara schläft schon seit vielen Jahren mit Ohrstöpseln und hört nachts nichts. Sie liegt völlig ruhig und ganz entfremdet neben mir und muss nicht hören, wie das Bett ihrer Tochter in einem groben, aber gleichmäßigen Rhythmus gegen die Wand stößt. Mit Ausnahme dieses grausigen Geräusches ist alles still. Ich bin Tea dankbar, dass ich kein Stöhnen, Ächzen oder Schreien hören muss.

Mir wird bewusst, dass ich vergessen habe, welche Farbe Saras Stöhnen beim Sex hatte. Das ist für die Körper im Haus mit der roten Tür reserviert. Manchmal helfe ich ihr beim Masturbieren, liebkose sie ein bisschen, aber diese Sexualität ist stumm, still, vollkommen ihre eigene.

Das Bett stößt gegen die Wand und die Zeit bewegt sich nicht. Flecken tanzen ihren Tanz im undurchdringlichen Dunkel über mir, als ich auf dem Rücken liege und in das Nichts überall um mich herum blicke. Ich bin gelähmt, stumm und blind und völlig momentan, ohne den Kontext des Präteritums oder das Ziel des Futurs. Ich liege nur und lausche. Das Stoßen des Betts gegen die Wand.

Von der Figur, die Woody Allen in dem Film Deconstructing Harry spielt, heißt es, sie schreibe gerade deshalb so geordnet, weil ihr Leben sich im völligen Zerfall befinde. Ich selbst war immer das völlige Gegenteil davon, und obwohl das Leben wirklich häufig mit völlig Absurdem überrascht, ist mein Schreiben das, was ich zu jeder Tageszeit als chaotisch be­zeichnen würde. In meinen Augen ist mein Alltag leger, nahezu langweilig, ohne größere plötzliche Veränderungen; er ist durchzogen von langen Morgen, langen Gesprächen beim Kaffee und noch längeren Schreibsitzungen. Es geschieht nichts Besonderes. Doch in eine Geschichte selbst begebe ich mich – ganz im Gegenteil dazu – wie ein besoffener Wilder. Kopflos und euphorisch, beinahe ekstatisch, schreibe ich, lösche, überstürze mich, füge hinzu, korrigiere, unterstreiche, trage nach. Dann bleibe ich nach Stunden und Stunden solcher Sitzungen ganz erschöpft sitzen, starre katatonisch auf den Bildschirm vor mir und die Buchstaben darauf, und denke mir:

„Scheiße“, sagte Sara ziemlich laut und zog dadurch die Blicke jener Leute auf sich, die uns am nächsten saßen. Sie sah sich um und richtete sich nervös die Haare. „Ist es wirklich schon wieder passiert?“

„Ja.“

„Oje … Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es tut mir so …“

„Ist schon in Ordnung.“

„… so sehr sehr sehr …“

„Sara, es ist in Ordnung. Eine Kleinigkeit.“

„… sehr sehr leid. Ich schäme mich so.“

Wir aßen irgendwo in der Wolfova oder der Trubarjeva, ich weiß nicht, jedenfalls in der Altstadt von Ljubljana, und draußen regnete es leicht. Es war irgendein Themenrestaurant.

„Und du hast saubergemacht?“

„Natürlich hab ich saubergemacht.“

„Mal wieder.“

„Kleinigkeit. Schau, Sara … Sara? Hör zu. Es war ganz wenig. Das passiert halt. Ich geb dir keine Schuld.“

„Wenn ich mich aber so sehr schäme!“, sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. Verhältnismäßig diskret natürlich. Aber nicht ohne ein kleines bisschen Theatralität.

Ich beugte mich zu ihr, zog ihre Hände von ihrem Gesicht weg und zwang sie so, mich anzusehen. „Sara? Hör zu“, sagte ich mit der selbstbewusstesten Stimme, die ich in diesem Moment zustande brachte, obwohl ich tief in mir selbst zerfiel. „Hör zu. Es war nur ein bisschen Blut und Scheiße. Nichts Großartiges.“

Nur ein bisschen Blut und Scheiße.

Sara geht etwa einmal im Monat, vielleicht ein wenig selt­ener, in das Haus mit der roten Tür, wo sie an Swinger­treffen teilnimmt. Dort ficken sie Männer mit enormen Schwänzen in allen möglichen Stellungen in alle möglichen Körperöffnun­gen, und ich warte auf sie im Auto, das ein wenig die Straße hinunter parkt. Wenn sie so nach zwei, drei Stunden ganz zerzaust und heiser, breitbeinig und vorsichtig und trotzdem schwankend aus dem Haus kommt und sich ins Auto setzt, überkommt mich immer wieder aufs Neue ein ungewöhnliches Gefühl, eine Mischung aus Bewunderung und Schmerz. Sie war nämlich an einem Ort, an den ich ihr nicht folgen kann. Und wegen dieses ‘An-einem-Ort-Seins-an-den-ich-ihr-nicht-folgen-kann’ ist Sara für mich so attraktiv wie abstoßend zugleich.

Ich schlucke dieses Ding in mir, das vermutlich Stolz ist, hinunter und begrüße sie. Sie setzt sich vorsichtig hin und seufzt. Ihr Körper beginnt langsam, sich zu entspannen. Sie stinkt nach alter Spucke, Sperma und Fotze. Ihr Gesicht ist rot, an den Handgelenken bemerke ich leichte Abschürfungen. Sie zündet zwei Zigaretten an und gibt mir eine, ich lasse den Motor an, setze das Auto in Bewegung, fahre. Wir rauchen schweigend.

Ich sehe sie an. Sie glüht. Ihre Haut ist ganz rosig und lebendig, geschmeidig, weich, verschwitzt.

Und ja, ich wünsche mir, ich wäre es. Ich könnte es sein. Ich, derjenige, der sie zum Glühen bringt.

Sie zersägt. In sie hineinbohrt. Sie aushöhlt. Sie aus­ein­andernimmt.

Sie zusammensetzt.

Als ich das erste Mal vor diesem Haus auf sie gewartet habe, war es ein schöner Abend zu Frühlingsbeginn. Irgendwo auf dem Weg hatten wir in einem Wäldchen gehalten, damit sie ins Gebüsch pinkeln konnte, dann hatten wir ein paar Christrosen für die Vase auf meinem Schreibtisch gepflückt. Wir hatten es nicht eilig.

Sara war nach solchen Eingriffen in ihren Körper für gewöhnlich noch ein, zwei Tage undicht. Vor allem nachts, wenn sie im Schlaf unbewusst Winde abließ. Hämorrhoiden, dann Flecken auf der Bettwäsche. Vor allem wenn ihr sehr heiß war und sie nackt schlief, was oft vorkam. Normalerweise fand ich dann morgens auf den Laken ein paar Tropfen Blut, manchmal auch weichen Stuhl. Wenn sie zur Arbeit ging, wechselte ich die Bettwäsche. Nichts Besonderes, eine Kleinigkeit eigentlich, doch ich weiß nicht, warum ich ihr immer wieder sagen musste, dass ich diese Flecken gefunden hatte und sie hatte entfernen müssen.

„Warum?“

„Ich weiß nicht … Wahrscheinlich möchte ich nur, dass sie mich sieht … Dass sie weiß, dass ich da bin. Vielleicht möchte ich Aufmerksamkeit. Ich weiß es wirklich nicht …“

Vielleicht ist das aber auch nur meine Art, zu versuchen, mich ihr und ihrem Sex bei diesen Orgien anzunähern.

/…/

A: Schon von jeher habe ich mich für Paarung und Literatur interessiert. Und die Paarung von Wörtern. Das Be­springen. Nicht unbedingt nur die physische Erscheinung von Körpern beim Sex, sondern auch die inneren Vorgänge, das Wogen der Libido; diese erweist sich nämlich in einigen flüchti­gen Ansätzen in allen ihren Schwankungen als zerrissener, angerissener Diskurs; als Erzählung, die gerissen ist, die jeglichen Kontakt zur Logik von Ursache und Wirkung abge­brochen hat. Als solche funktioniert dieses irrationale Wogen der Libido ausgezeichnet innerhalb der postmodernen Poetik.

F: Haben Sie nicht den Eindruck, dass die erotische – beziehungsweise pornografische – Literatur irgendwie in einem Teufelskreis der Wiederholung gefangen ist? Dass sie sich rasch ‚erschöpft‘ und sich wiederholt, langweilig wird?

A: Ja. Nein. Ja und nein. Es gibt mehrere Arten, sich heutzutage solcher Literatur zu nähern beziehungsweise sie zu schreiben. Die erste und offensichtlichste – und meiner Meinung nach schlechteste – ist der romantische Ansatz. In dieser Literatur wird die Sexualität als etwas Idyllisches be­schrieben, alle Akteure gehen befriedigt aus dem Geschlechts­akt. Das ist die Literatur ‚meiner nassen Muschi‘, ‚seiner Latte‘ und ‚der Begegnung, an die sich beide noch lange, lange Zeit erinnern werden‘. Dann haben wir den realistischen – oder besser naturalistischen – Ansatz. Dieser ist schon sehr viel lesba­rer, interessanter, der Leser kann von der ganzen Erfahrung auch etwas mitnehmen, da ein solches Schreiben über Sex und/oder die Libido wenigstens eine Form der Sexualität darstellt, wenn nicht gar analysiert, die stattfinden könnte; und wenn sie schon stattfindet, unzählige Male. Das Musterbeispiel: Drei Töchter ihrer Mutter.Und wenn wir in der Zeit noch weiter gehen und uns langsam der Gegenwart nähern, sehen wir, dass in der erotischen/pornografischen Literatur seit dem Realismus kein besonderer Fortschritt und keine Entwicklung mehr stattgefunden hat. Der moderne Ansatz wäre mit seinen Gedankenströmen zwar dazu in der Lage – und bis zu einem gewissen Grad hat er das auch getan –, das inneren Wogen der Libido zu beschreiben, die sexuelle Erfahrung zu verinner­lichen, doch in der Praxis ist das nicht wirklich geschehen. Ich persönlich finde noch die Zitathaftigkeit, die Metafiktion und die Zersplitterung der Erzählung in der postmodernen Poetik am attraktivsten. In diesen Gewässern kenne ich mich am besten aus und genieße sie auch auf die unverfälschteste Weise. Innerhalb dieser ‚Verfahren‘ kann ich mich ausdrücken. Kurz … Ich finde, die erotische beziehungsweise pornogra­fische Literatur wird so ausgenutzt, wie die Geschichte ausgenutzt wird: sie wird allzu schnell und allzu gerne einer immer neuen Definition, Ma­nipu­lation, einer ungesunden Nostalgie unterworfen. Idealisierungen flüchtiger sexueller Begegnungen interessieren mich nicht. Mich interessieren Frauen mit haarigen und vernachlässigten Muschis. Und weiter: Erzählungen, Erzähltechniken und symbolische Bedeutungen, die verschiedene Gesichter – Ausdrücke – ihrer Sexualität implizieren.

F: Und was ist mit Klischees?

A: Ach … wir wissen doch vermutlich alle, wie es in diesem Geschäft mit Klischees ist, aber ich würde gerne etwas anderes sagen. ‚Ich bin gekommen, um Ihr Kabelfernsehen zu richten‘, sagt der Techniker und ‚richtet‘ nebenbei noch das üppige Dekolleté der Dame, die ihm die Tür geöffnet hat. Das Schicksal solcher fiktiver Personen ist besiegelt, in Zement gegossen; ihre Lust zeigt sich als physische, vor allem als Lebensnotwendigkeit und als nahezu alltägliches Bedürfnis nach etwas; es hat selbst seine eigenen Symptome, die sogar als Krankheitssymptome begriffen werden können, als pathologisch. Ich glaube aber, dass es trotzdem nicht so schlimm ist, wie es auf den ersten Blick vielleicht scheint. In den Handlungen dieser schlecht geschriebenen fiktiven Personen liegt eine Art optimistische Idee der Gegenseitigkeit, der Menschenliebe. Natürlich muss man sich dessen bewusst sein, dass es sich bei solchem pornografischem Material um ein Märchen handelt, das nichts anderes ist als Rotkäppchen oder Dornröschen. Klassische Märchen schätzen wir gewöhn­lich nicht wegen ihres literarischen Wertes oder ihrer Inno­vationskraft, sondern wegen der Botschaft, die sie in sich tragen. Ähnlich dürfen wir auch diese im Übrigen zu Ende ausgesponnenen Verwicklungen und Erzähltechniken nicht wegen ihres (nicht vorhandenen) künstlerischen Wertes beurteilen, sondern anhand einer grundlegenden Botschaft über Humanität, die sie dem Leser/Zuschauer vermitteln. Natürlich ist diese Botschaft stark vereinfacht, sehr einseitig; sie ist beinahe kindlich. Eine Lehrstunde über gegenseitige Hilfe­leistung; empfohlen für die Altersgruppe von vier bis sechs. (Lachen.) Dennoch ist eine Botschaft vorhanden, sie schwebt zwischen und über diesen schlecht gespielten Dialogen, und das freut mich jedes Mal ganz besonders, es beruhigt mich ... Es gibt mir ein klein bisschen den Glauben an die Legitimität unserer Art zurück.

F: Sie sprechen häufig von der Postmoderne, heutzutage herrscht jedoch irgendwie die Meinung, dass die Postmoderne bereits überlebt sei, dass wir uns daher in einer Art Post-Postmoderne befänden. Was halten Sie davon?

A: Ich denke, die Postmoderne ist noch lebendig; sie hat sich nur tief in uns vergraben, so dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen und erkennen.

/…/

Ich liege da und höre zu, wie jemand Saras Tochter zerlegt. Über der Stadt liegt eine heiße Nacht und das Atmen fällt mir schwer. Der Körper neben meinem murmelt im Tiefschlaf.

„Siehst du sie noch manchmal? Mandy?“

Ich schüttelte den Kopf: „Wo denn? Sie lebt doch im Ausland. Sie wird irgendeinen Künstler heiraten. In Frankreich wahrscheinlich.“

„Ist sie denn nicht lesbisch geworden?“

„Ja, nun … Offenbar war die sexuelle Lücke, die ich in ihr hinterlassen habe, nicht so stark, dass sie ihre sexuelle Ausrichtung bedingungslos und unwiderruflich geändert hat. Ich glaube, das war nur eine Phase. Vielleicht sogar ein Ventil.“

„Hm … Aber sie ist ja noch jung. Wie alt ist sie denn überhaupt? Um einiges jünger, oder? Als wir, meine ich.“

„Nicht mal das. Sie ist nur knapp ein Jahr jünger als ich.“

„Vermisst du sie?“

„Natürlich vermiss ich sie. Ich vermisse unser Leben in dieser Wohnung. Und den Sex. Ich vermisse den Sex.“

„Mit ihr?“

„Mit ihr, mit dir. Sara, ich vermisse den Sex mit allen.“

/…/

F: Gibt es in einer solchen Sexualität denn auch Raum für die Liebe?

A: Die Sexualität hat unendlich viele Gesichter, Ausdrücke (und deshalb ist, nebenbei, das Schreiben über sie ein Prozess, der nie endet, der nicht enden kann), und viele von uns Menschen, tragen die einen oder anderen sexuelle Traumata mit sich herum. Ich selbst kann mir zum Beispiel nicht verzeihen, dass ich mich nicht als Teenager in die Welt der Sexualität eingeschrieben habe. Warum nicht? Das ist es ja gerade – ich weiß es nicht. Ich war kindisch, unsozial, in meine eigene Welt eingeschlossen ... Und trotzdem wünschte ich mir Kontakt. Mein größter Wunsch beim Abschluss der Volksschule war kein Motorrad oder Auto; ich wünschte mir, es zu den Klängen einer sanften Rockballade von einer Mitschülerin besorgt zu kriegen. Meine Unschuld verlor ich mit dreiundzwanzig und ich weiß nicht, wann ich sie verloren hätte, wenn zu diesem Zeitpunkt nicht Mandy in meinem Leben aufgetaucht wäre und beschlossen hätte, mich sozusagen zu missbrauchen. Missbrauchen, sage ich deswegen, weil ich nicht einmal ansatzweise bereit zur Sexualität war. Dennoch bin ich ihr dankbar. Unermesslich dankbar. Sie hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich bin. Aber die Liebe ... die berühmte Fotografin Lee Miller wurde als Kind vergewaltigt und ihr Arzt – zumindest glaube ich, dass er Arzt war – hat ihr in einer Reihe von Gesprächen Liebe und Sexualität als zwei vollkommen getrennte Dinge dargestellt. Und sie hat gelebt, sowohl liebend als auch sexuell. Ich finde, das ist eine sehr schöne und sehr edle Sache. Mit dieser Geschichte, außer natürlich mit dem Teil über die Vergewaltigung, kann ich mich identifizieren. Auch ich selbst bin fähig zur Liebe und – mehr oder weniger – fähig zur Sexualität, aber ich denke, dass die Gleichsetzung oder enge Verbindung dieser zwei Begriffe naiv, kindisch, überlebt und letzten Endes gefährlich ist. Alles in allem müssten wir mehr Bukowski lesen.

F: Warum??

A: Weil er schön festgehalten hat, wie es um diese Dinge steht. Mehrmals.

/…/

Hör zu. Hör zu. Sara, ich weiß, dass du schläfst, aber hör zu. Wir müssen was tun wegen deiner Tochter. Ich kann so nicht mehr weitermachen. Ich weiß nicht, wer bei ihr ist, ich weiß nicht, wer ihr das antut. Ich weiß nicht, was sie tun, aber ich habe eine blühende Fantasie. Sie blüht mehr, als gut für mich ist. Sara ... Ich weiß nicht, wie lang ich das noch aushalte. Verstehst du das? Kannst du mich verstehen, Sara?

Tea ist sexuell aktiv geworden. Sie ist sechzehn und hat angeblich einen fürchterlich hohen IQ. Sie ist begabt, angesehen, emotional intelligent und so weiter. Ich weiß, ich weiß. Alles das weiß ich. Ich wünsche ihr, dass sie sich so kennenlernt ... dass sie genau so andere Leute kennenlernt, verschiedene Persönlichkeitstypen ... die Vielfalt menschlicher Wesen. Das würde ihr auf lange (und, naja, auf kurze) Sicht nur nützen, aber trotzdem ... Sara, wir müssen was tun.

Hörst du nicht?

Wieso hörst du nicht?

Das Hämmern hört auf. Ein paar seltsam kratzende Geräusche, dann – endlich – Stille.

„Nein, nein; lass die Schuhe an“, sagte ich am nächsten Tag zu Tea, als sie aus der Schule kam. Mit lebendigen, aber etwas müden Augen sah sie mich an und lächelte fragend. „Wir gehen einfach. Ich kauf dir ein neues Bett.“ Ich hatte einen meiner Momente.

„Wie in Matrix lande ich mich immer wieder in einem Zimmer, wo mir Morpheus auf jeder Hand eine Pille anbietet, nur dass der Morpheus dort nicht Morpheus ist, sondern eine reifere Frau, und das, was sie mir zur Auswahl anbietet, sind nicht Vergessen und Erinnerung, sondern LSD und Viagra. Ich entscheide mich für beide Möglichkeiten. Immer und immer wieder.

Der Millionär ruft den Goldschmied an: ‚Ich möchte, dass du mir ein Telefon aus reinem Gold machst‘, sagt er zu ihm.

‚Gut‘, antwortet der Goldschmied und sie vereinbaren einen Preis.

‚Der Hörer muss abnehmbar sein‘, fährt der Millionär fort.

‚Kein Problem. Aber ... möchten Sie denn, dass das Telefon auch funktioniert?‘, fragt der Meister.

‚Natürlich nicht; ich werde damit mit Gott sprechen.‘“

„Was zum Teufel erzählst du mir da? Bist du besoffen?“

„Ich weiß nicht ... Ich glaube, ich versuche dir nur klarzumachen, wer ich wirklich bin.“

/…/

F: Also sind Sie nicht mehr wütend?

A: Nein. Sagen wir, ich habe gelernt, im Frieden mit der Welt zu leben. Mehr oder weniger (Lachen.) Ich habe noch gelegentliche Ausfälle, aber die sind selten.

F: Und traurig? In Ihrem Schreiben war immer viel von Traurigkeit die Rede.

A: Ja, bin ich, aber das zählt nicht. Ich bin schon traurig und voller Schmerz geboren worden und ich glaube, dass es nichts in der Welt gibt, was das ändern könnte.

F: Nicht einmal die Tatsache, dass Sie den Krebs überstanden haben?

A: Das fragen mich alle. Interessant, aber ich weiß wirk­lich nicht, warum die Gesellschaft Menschen, die dem Krebs nicht erlegen sind, mit einer solchen fast sakralen Ehrer­bietung begegnet. Mir kommt das dumm vor. Was ist mit den Menschen, die Autounfälle hatten, schwere Arbeitsun­fälle und so weiter – und auch überlebt haben? Ich kann Ihnen sagen, dass dieser ganze ‚Kampf mit dem Krebs‘ für mich überhaupt nichts Episches oder Großartiges war. Es war gar kein Spektakel, ungeachtet dessen, wie sehr einige genau das hören möchten.

F: In Ihrem letzten Roman, Evakuierung der Seele, erinnern Sie sich an die Jahre, die Sie als Student bei der Malerin Mandy F. verbracht haben. Warum gerade diese Phase Ihres Lebens?

A: Und nicht irgendeine andere? Ich weiß nicht. Warum überhaupt eine? Weil. Und weil ich es eben kann. (Lachen.) Ich glaube, dass die erste Erfahrung mit einer Frau eines der wichtigsten Dinge im Leben eines Jungen oder Mannes ist. Daneben erfordert die Zuteilung einer solchen Erfahrung von einer Frau ein gewisses – hohes – Maß an Mut, Empathie ... Deshalb habe ich diesen berühmten Country-Song Bed of Roses von den Statler Brothers als Motto gewählt. Mandy war zwar keine Prostituierte und ich habe auch nicht gerade um Geld oder Essen gebettelt, aber die grundlegenden Prämissen zwischen den Personen waren mehr oder weniger dieselben wie in diesem Song.

F: Sind Sie Country-Fan?

A: Ziemlich, ja.

F: Und Mandy?

A: Sie hat ihn immer gehasst. Sie war ... Nun ja, sie war ein anderer Mensch.

F: Uranus, das ein Jahr vor Evakuierung der Seele erschienen ist, wurde für den Literaturpreis Kresnik nominiert. Haben Sie den Eindruck, dass auch Ihre Krankheit einen Einfluss auf die Nominierung hatte?

A: Das kann ich nicht wissen, aber irgendwie glaube ich nicht daran. Es stimmt aber, dass die Krankheit sich auf die Entstehung des Romans selbst ausgewirkt hat. Sagen wir, dass ich beim Schreiben von Uranus meinen Moment der Klarheit hatte; für einige Zeit verfügte ich über die Gabe der klassischen Erzählkunst. Ansonsten denke ich aber, dass diese beiden Romane zwei Seiten derselben Medaille sind: die helle und die dunkle Seite, die kohärente und die diskontinuierliche, die objektive und die subjektive, die apollinische und die dionysische ... Als ich mich mit der Wirklichkeit – der Endlichkeit – meines ‚Zustands‘ konfrontiert sah und mir Fragen über den Tod stellte, kehrte ich immer häufiger in die Vergangenheit zurück und ließ mich über die Entscheidungen aus, die ich in dieser oder jener Phase meines Lebens getroffen hatte ... So entstand in mir die Idee, in Evakuierung der Seele in eine sehr spezifische und sehr schmerzhafte Phase meines Lebens zurückzukehren und sie – sozusagen – zu literarisieren. Uranus hat eigentlich dieselbe Thematik, ist jedoch zugleich auch etwas vollkommen anderes. Dort gibt es eine Geschichte und eine Verwicklung; dieser hier ist ein klassischer Roman, der als Geschichte funktioniert, darunter aber erstrecken sich Schichten von Symbolen usw. ... Wenn ich ehrlich bin, ist gerade Uranus das Werk, über das ich am wenigsten nachdenke. Mein Verstand – auf einer alltäglichen Ebene – arbeitet einfach nicht so. Ich habe den Realismus noch nie verdaut und lese noch immer die grundlegenden – und auch die etwas weniger grundlegenden – Werke der postmodernen Metafiktion; nur so, zur Bestätigung meines Zustands. Eigentlich hat mich die Nominierung sehr überrascht. Ich persönlich würde mich für irgendeinen anderen Roman nominieren ...

/…/

Ich verfalle leicht in Träumerei, geistige Abwesenheit. Mir sind Titten gewachsen. Wahrscheinlich müsste ich mich mehr bewegen, ein strengeres Regime über meinen eigenen Körper ergreifen. Auch Zigaretten helfen nicht, Alkohol schon gar nicht.

Ich hab mich schon wieder verrannt. Ich weiß gar nicht, wo ich bin. Es ist dunkel.

Schließ die Augen und reiß dich zusammen. Wenn ich bis drei zähle, wachst du auf und kannst dich an nichts hiervon erinnern

Eins.

Zwei.

Andrej und ich saßen auf der Terrasse eines Lokals an der Ljubljanica. Es war ein warmer, beinahe heißer Sommerabend, wir sahen auf den Fluss und die spärlich gekleideten Spazier­gängerinnen, die nächtlichen Lichter der Stadt. Mal drang der Duft von Schweiß und Alkohol in unsere Nasenlöcher, mal der von Parfum und Deodorant. Ich trank schwarzen Tee und Andrej konnte überhaupt nicht verstehen, wie jemand in dieser Hitze Tee trinken konnte. Er trank natürlich Bier. Wir sprachen über Sex.

„Ich kann nicht behaupten, dass ich völlig mit dir einer Meinung bin“, sagte ich und wartete darauf, dass sein Blick von einem jungen Mädchen, das gerade vorbeiging, wieder zu mir zurückkehrte. „Ich glaube, dass die Sexualität, so wie andere Formen des Exzesses – Drogen zum Beispiel – sehr ambi­valent ist ...“

„Red‘ keinen Scheiß.“

„Lass mich doch erst mal ausreden, ok? Sie ist darin am­biva­lent, dass sie ... dass sie als reine Transgression aufge­zeichnet werden kann, als vollkommene und wahnsinnige – und auch sinnlose – Dekadenz. Dass sie sowohl der Gipfel der Be­deutung sein kann als auch das völlige Fehlen von Bedeu­tung. Verstehst du?“

„Ich verstehe, was du sagen willst, aber schau dich mal um. Schau dir diese besoffenen Tussis an, diese Studentinnen ...“

Ich blickte mich um. Da waren wirklich viele. „Ja?“

„Die meisten von ihnen kennen den Begriff ‘Trans­gression’ nicht einmal. Und Dekadenz ist für sie nur eine marginale Kunstrichtung, weil ihnen das ihre Slowenischlehrerin im Gymnasium so gesagt hat, als sie Salomé durchgenommen haben. Scheiße noch mal, selbst ein Großteil meiner Stu­dentinnen weiß das nicht, und du weißt, sie müssten es wissen.“

Andrej kannte ich schon seit Studentenzeiten. Jetzt lehrte er an der philosophischen Fakultät am Institut für Vergleich­ende Literaturwissenschaften, und seine Leidenschaft für die Postmoderne wurde nur von seinem Verlangen nach jungen Mädchen übertroffen. Er war wie Bruno aus Elementarteilchen, nur dass er, wie er selbst sagte, ‚genau all jene Dinge richtig machte, die dieser falsch angegangen hatte‘.

Mein Gesprächspartner bestellte sich ein neues Bier und blinzelte der Kellnerin, die nicht älter als neunzehn Jahre sein konnte, mit einem breiten Lächeln bedeutungsvoll zu. „Ich werd dir was sagen“, sagte er, während er sein frisches kühles Bier schlürfte und sich den Schaum von der Oberlippe ­wischte. „Mandy war ihrer Zeit voraus, weißt du? Sie war nicht gerade ein Evolutionssprung, aber sie war trotzdem ihrer Zeit voraus ... Wie es Künstler eben gerne sind. Du weißt schon ... Stereo­typen. Heutzutage interessiert sich keine Tusse mehr für normalen Sex. Alle wollen sie irgendwelche Perversionen und Bondage, Dominanz und all das. Du weißt schon.“

Ich lächelte und zündete mir eine Zigarette an: „Eigentlich weiß ich es nicht, weil … Na, du weißt schon …“

„Ja, weil du keine Eier mehr hast, ich weiß. Entschuldige. Na, wie auch immer, schau, gerade vorhin, als du aufs Klo gegangen bist, hab ich diese Nachricht bekommen.“ Und er zog aus der Innentasche der Jacke, die er über die Stuhllehne gehängt hatte, sein Handy, drückte auf ein paar Tasten und gab es mir.

Auf dem Display stand: ‚Kommst du heute Nacht zu mir? Ich werd dir in den Mund pinkeln

Ich gab ihm das Handy zurück. „Wer ist das?“, musste ich fragen.

„Petra. Petra, eine Studentin. Zweites Studienjahr. Ein außerordentlich gescheites Mädchen, den anderen weit voraus. Und sie fickt auch, als hätte sie schon ein paar Jahrzehnte Erfahrung. Körbchengröße D. Mit ihr kann ich über Die Enden der Parabel sprechen und dann springt sie mich an. Sie ist brillant.“

/…/

F: Sie sympathisieren mit dem Feminismus ...

A: Ich weiß nicht, ob man wirklich sagen kann, dass ich mit ihm sympathisiere. Aber es stimmt, dass ich im Femi­nismus, im Öko-Feminismus, in der theoretischen Demokratie und dem feministischen ‚’Sex positive‘-Ansatz einige Bestä­tigung und auch Trost finde. Rückhalt. Intellektuell, emo­tional. Ich denke, das sind realistische und gesunde Blicke auf einen selbst, die Menschen um uns herum und auf das gesamte Umfeld, in dem wir uns befinden. Auch auf globaler Ebene. Der wichtigste und zugleich auch problematischste Begriff in diesem Kontext ist Grausamkeit.

F: Warum Grausamkeit?

A: Grausamkeit hat keine Form, kein Vorzeichen. Erst Ethik und Moral ordnen sie in ein Normativ ein; diese aber sind – wie wir wissen – außerordentlich flexible Systeme. Es ist so: Für mich ist die rohe Eindeutigkeit interessant und attraktiv, die ultra-demokratische Ausbeutung der Körper, der gegenseitige Missbrauch, die dynamische Grausamkeit. Ein solches Verhältnis zu mir selbst und zu einem anderen in einem verfeinerten humanistischen – sogar humanitären – Geist vereint sowohl den Gedanken – also Intellekt, Theorie, Ratio – als auch Sex und Aggression miteinander, bei all dem kommt es aber nie zu einer Degradierung, Dehumanisierung des Körpers, sondern es geschieht gerade das Gegenteil. Es handelt sich um eine Art Aufstieg, eine Transgression, um ein Greifen nach metaphorischen Sternen, das jedoch nicht auf Eitelkeit beruht, sondern auf Miteinander. Der Diskurs einer gesunden Sexualität muss zugleich auch ein Diskurs der Grausamkeit sein. Eine offene Sexualität, befreit vom Mono­pol des Ego sowie auch der traditionellen ethischen und mo­ra­li­schen Konventionen, reicht über den Diskurs der Grausam­­keit über einzelne und voneinander getrennte Kategorien wie Sexualität, Liebe, Aggression, Theorie hinaus und vereint sie in einer vollkommen neuen Sphäre, in einem vollkommen neuen, ultra-humanistischen Geist.

F: Wann und wie haben sie diese Gedanken entwickelt?

A: (Lachen.) Meinen Sie, wie in: ‚Haben Sie sich mit diesen Dingen erst nach der Krankheit und dem Verlust Ihrer Hoden beschäftigt?‘ Die Antwort ist Nein. Darüber habe ich schon vorher sehr viel nachgedacht, wenn auch die Konfrontation mit der Krankheit und ihren Folgen natürlich das ihre dazu beigetragen hat. Aber ich habe mich damit schon in Sommer in Rom und auch in Uranus beschäftigt. Fragen zur geschlecht­lichen Identität, zur Politik der Geschlechter und Ähnlichem waren mir schon immer nahe; besonders aber nach der Op­eration, wenn ich jetzt ohnehin schon irgendwie transsexuell bin, wenn Sie verstehen, was ich meine.

F: Sie verstehen sich selbst also nicht mehr als Mann?

A: Ich weiß nicht ... Auf alle Fälle nicht mehr als Nur-Mann.

/…/

Ich kann mir nicht vorstellen, was alles mit einem einzelnen Körper im Haus mit der roten Tür geschieht. Sara hat das erste Mal mit fünfzehn abgetrieben. „Je eher man sexuell reif wird, desto eher kann man sich sexuell ausleben und desto eher kann man damit anfangen, sich mit sich selbst und seinem Leben zu beschäftigen“, hatte sie bei einer passenden Ge­legenheit gesagt. Ich hatte genickt. Je eher man sich sexuell auslebt, desto eher kann man anfangen, seine Sexualität in sein Leben zu integrieren. Nichts machte sie feuchter als

Schimpfen,

schlüpfrige verbale Schweinereien.

Sprichst du mit Tea über Sex?

Natürlich.

Natürlich. Tea ist die Tochter ihrer Mutter und ihre Mutter ist ... Naja, ihre Mutter.

Ich sitze auf der Fensterbank in der Küche und schlürfe Kaffee. Es ist früh am Morgen. Auf dem Flur erscheint ein sympathischer Teenager mit verstrubbelten braunen Haaren und aufgeschnürten – schmutzigen und grünen – Turnschuhen. Sie schaut mich an, bleibt stehen. Es scheint, als starrten wir einander, lange, lange an.

„Guten Morgen“, sage ich endlich zu diesem erstaunten Mädchen, das metaphorisch bei Tea übernachtet hat.

„Guten Morgen“, antwortet sie, lächelt schüchtern, senkt den Blick und geht leise aus der Wohnung.

„Kannst du mir n bisschen Gras besorgen?“, fragte Andrej an jenem – aber einem anderen – Sommerabend.

„Wo denn? Ich hab keins mehr geraucht, seit ich die Behandlung abgeschlossen hab.“

„Echt?“

„Gott, ja. Ich bin ein totaler Paranoiker geworden.“

„Hast du schon mal behindert Sex gehabt?“

„Ein bisschen. Mit Mandy. Ich weiß nicht. War seltsam.“

„Es ist nichts Besonderes. Vielleicht, wenn man ein Teen­ager ist und zum dritten Mal im Leben Sex hat ... Im Wesentli­chen ist es ziemlich langweilig ... Und ... Naja, weißt du ... Etwas völlig anderes: Neulich hab ich mich hingesetzt, mir eine Flasche Wein aufgemacht, alte und nicht ganz so alte Notizen rausgesucht, meine Erinnerung durchwühlt und angefangen auszurechnen, mit wie vielen Frauen ich in meinem Leben zusammen gewesen bin.“ Mit einer entschie­denen Geste drückte er die Zigarette im Aschenbecher zwi­schen uns aus. „Ich bin auf hundertsiebzig gekommen, viel­leicht auch hundertneunzig; ich kann es nicht so genau wissen. Eine ungefähre, aber nach besten Kräften realistische Schätzung.“

„Was willst du? Ne Medaille? Ich weiß leider nicht, ob für solche Leistungen Medaillen vergeben werden ...“

„Nein, gar nicht.“ Ein sanftes und unaufdringliches, irgend­­wie aufrichtiges Lächeln huschte für ein paar Augen­blicke über sein Gesicht. „Nur ... Ich weiß nicht ... Als ich diese Zahl gesehen hab, hab ich an dich gedacht. Weißt du, was ich dabei empfinde? Angesichts dieser nackten, strengen mathematischen Tatsache? Nichts. Sie verändert mich nicht. Sie definiert mich nicht. Sie hat keinen wie auch immer bedeu­tenden Einfluss in meinem Leben. Sie ist nur eine Zahl, und jetzt, da ich sie kenne, ist mein Sex nicht besser oder schlechter geworden als vorher. Ich habe immer noch gelegentlich Schwierigkeiten mit vorzeitigem Samenerguss. Kein Zen, kein Tantra, keinerlei Nirwana ... Gerade deshalb rate ich dir, dich manchmal, wenn du dich im Element des Selbst­mitleids befindest, von Qualen zu verschonen ... aufzuhören, Saras alte Zahlen durchzukauen und die frischen von Tea zusammenzuzählen und – vor allem – um Frieden mit deinen Zweien zu schließen.“

Ich lächelte: „Das hört sich so einfach an.“

„Ist es ja auch. Im Wesentlichen.“

„Solange man nicht in dieser Haut steckt.“

„Natürlich.“

„Weißt du, grad neulich hab ich nachgedacht ... Unter der Dusche ist mir die witzige Idee gekommen, dass man eine dieser modernen Serien über mich drehen müsste. Du weißt schon, diese expliziten Sachen, die sie auf den Pay-TV-Ka­nälen machen. HBO und so. Sie könnten das wunderbar systematisch machen ... Erste Staffel: Ich und das Annehmen meiner selbst, des Krebses und des Verlusts meiner Eier. Zweite Staffel: Tea mit Flashbacks über Mandy. Dritte Staffel: Sara. Oder genau umgekehrt ... Und so weiter und so fort.“

Andrej spitzte die Lippen, nickte und ich konnte für ein paar verwirrende und unangenehme Augenblicke nicht sagen, ob ihm bewusst war, dass ich nur Spaß machte, oder nicht. „Hm“, machte er dann leise, fast vorsichtig. „Dann verlässt Sara dich …“

„Genau so. Das wäre die dritte Staffel …“

„Dann würde deine Figur eine Frau finden können, die dich in ihrem Sexualleben so akzeptiert, wie du bist, und ...“

„Ja. Möglichkeiten gibt es viele, aber ich fürchte, dass diese Serie nach drei, vier Staffeln beginnen würde, sich zu wieder­holen.“

„Das machen doch alle früher oder später. Aber so ist auch das Leben; früher oder später fangen wir an, bestimmte Mus­ter zu wiederholen.“

„Stimmt.“

„Ich weiß nicht, ob ein menschliches Wesen überhaupt dazu fähig wäre, eine ständige Innovation seiner selbst zu überleben.“

„Ich bezweifle es.“

„Und trotzdem … Vielleicht müsste man was darüber schreiben.“

Ich nickte: „Vielleicht werde ich das.“

Manchmal wendet sich Sara – im braunen Licht unseres hölzernen Schlafzimmers gebadet – vor dem Einschlafen ganz langsam zu mir um, berührt ganz leicht einen Teil meines Körpers – Hände, Hals, Wange, Stirn – und sagt mit sanfter und ruhiger Stimme, dass sie mich liebt.

/…/

A: Aber die Traurigkeit ... Die Traurigkeit verschwindet nicht einfach so. Das hat sie nie getan und sie wird es nie tun. Es ist nicht wichtig, wie tief ich mein Kriegsbeil mit allen und allem begrabe; die Traurigkeit – und auch den Schmerz – interessieren Hass und/oder Liebe nicht, sie ist Angst, Stolz, Macht oder Ohnmacht ... dem gesamten Spektrum der menschlichen Emotionen, Beschäftigungen gegenüber in­different. Die Traurigkeit ist etwas völlig ... völlig, vollkommen anderes.

/…/

Je mehr Kompromisse wir schließen, desto mehr zerlegen wir uns. Und je mehr wir uns zerlegen, umso mehr bauen wir uns neu auf. Ich liege im Dunkeln, lausche Saras Atem, taste über meinen Körper, und auf einmal überkommt mich eine ungewöhnliche Erkenntnis. Ich bin kein Körper im Dunkeln, ich bin das Dunkel, mit dem sich die Körper umgeben. Diese Körper, die in mir sind. Ich zerlege mich und ich baue mich auf. Ich verkrüppele mich, um aufzustehen. Ist es möglich, dass ich den Krebs ganz alleine über mich gerufen habe? Dass ich ihn gezeugt und dann geboren habe?

Sara?

Nichts. Die Stille ihres Körpers im Dunkeln.

KÖRPER

Der Mensch verinnerlicht so einiges in seinem Leben und macht sich manches zu eigen. Ideen, Ansichten, Standpunkte, Erklärungen, Empfindungen. Manchmal fühle ich mich wie ein wandelndes und atmendes Zitat auf zwei Beinen und nicht mehr. Aber auch – und das ist wichtig – nicht weniger. Zitate leben letztendlich ganz gut.

So kehre ich in Augenblicken schmerzlicher Einsamkeit immer wieder zu dem Song Sound of Silence zurück, vor allem zu den ersten Zeilen: ‚Hello, darkness my old friend / I’ve come to talk with you again.‘ Mit diesen Worten kann ich mich mit Leichtigkeit identifizieren. Ich habe sie erlebt. Hundert und aberhundert Mal habe ich sie gelebt. Und hier ergibt sich schon gleich ein Problem: Wenn ich nämlich dasitze, einsam und voller Schmerz und eins werde mit dem Klang der Stille, ändert sich auf einmal der Text, der ich bin – den ich lebe. Roland Barthes betritt ihn.

Der Mensch neigt nämlich dazu, Dinge zu seinem Eigentum zu machen, und möglicherweise gibt es nichts, was er sich mehr aneignet als den Genuss, und das gilt sowohl für das Objekt, das den Genuss verschafft, als auch für die Empfindung selbst. So kann man in Barthes’ Schreiben über die Verinnerlichung eines Textes und der Existenz des Lesers in ihm als Genuss genau dieselbe Verinnerlichung erleben, dasselbe Dasein im Text, denselben Genuss. Auch sein Schreiben ist nämlich Text; er ist nichts anderes als alles andere, was man verinnerlichen kann, was man genießen kann und was man sich innerhalb des Kontextes seiner Augen­blicklichkeit zu eigen machen kann.

Wenn ich also allein im verdunkelten Zimmer sitze, schmerzerfüllt und erstarrt, und der Klang der Stille bin (ob sich in diesem Moment Simon und Garfunkel aus den Lautsprechern ergießen oder nicht, ist natürlich vollkommen gleichgültig) und es genieße, das berühmte Lied, auf dessen Grundlage ich derzeit existiere (und das ich mir zu eigen mache), erhält der Text einen weitere Verzweigung, die par­allel zum Original verläuft. Dieser andere Zweig geht folgendermaßen: ‚Hello, Barthes my old friend / I’ve come to talk with you again.‘

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