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mare

Peter von Becker

Céleste

Ein Roman
in fünf Geschichten

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2017 by mareverlag, Hamburg

CovergestaltungNadja Zobel / Petra Koßmann, mareverlag, Hamburg

Typografie (Hardcover)Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg

ISBN E-Book: 978-3-86648-334-7

www.mare.de

»Und sind nicht die Gespenster unseres Lebens der Chor von Stimmen, der aus den fernsten Ecken zu uns spricht und doch nur der einen Stimme entspringt!«

E. T. A. Hoffmann

»Wird dies alles einmal wahr gewesen sein?«

Samuel Beckett

Anmerkung

Es werden reale Orte – manche nicht gänzlich real – und gelegentlich auch historische Personen im Text auftauchen. Dennoch: Alles ist wirklich erfunden.

Inhalt

Kapitel eins

Da fliegen sie, die Blätter meiner Angst

Eine Vorgeschichte

Kapitel zwei

Blind Date

Ein Zwischenspiel

Kapitel drei

Céleste

Kapitel vier

Die grüne Frau

Noch eine Vorgeschichte

Kapitel fünf

Liberty

Das Endspiel

Da fliegen sie, die Blätter meiner Angst

Eine Vorgeschichte

… eine der Äolischen Inseln.

Heute beginnt die zwölfte Woche, es ist der 1. September. Noch besitze ich meine Uhr, einen Fernseher, das Radio. Und habe geträumt, das Radio mit der Telefonleitung zu koppeln, daraus einen Sender zu erfinden, ich, der noch nie einen Computer angefasst hat, dessen Hirn und Hände keiner geisterhaften Technik gewachsen sind. Das Telefon ist tot. Seit mehr als siebzig Tagen.

Als ich erwachte, war es zu spät gewesen. Ich hatte über den Mittag hinausgeschlafen, in der Sommerhitze, und wunderte mich: der Kopf, verquerer als nach den grausamsten Weinräuschen. Es dauerte, bis ich begriff.

Das Zimmer hat eine Gegensprechanlage. So wird mir das Essen angekündigt. Eine Tür führt auf die Dachterrasse, dort endet der Lift, den schon F., der römische Filmregisseur und Vorbesitzer des Hauses, an den Turm gebaut hat, auf der dem Meer abgewandten Seite. Fischern, die in der Abendröte ausfahren, leuchtet der Turm als bunter Spiegel, er trägt in seinem Verputz tausendfach Splitter aus farbigem Glas, rot, blau, türkis und golden. Wie oft habe ich von hier den Booten zugewunken, habe am Fenster eine Lampe geschwenkt, mit dem Lichtschalter gespielt, an und aus, kurzkurzlang, langlangkurz, in allen mir vorstellbaren Variationen eines Notrufalphabets. Fuchtelnd, winkend schaute ich gegen die untergehende Sonne, und blinkend bis tief in die Nacht sah ich nur die reglosen Schiffsleuchten, kaum mehr zu unterscheiden von den Gestirnen am Horizont. Keines der Boote hat sich je auf Rufweite genähert, so hat das Rauschen der See all meine lächerlichen Schreie verschluckt.

Manchmal phantasiere ich mir ein Ende dieses Rauschens, dann bin ich dem ersten Wahnsinn nah; doch zumeist beruhigt mich der große Einton, ich schlafe längst ohne meine Wachspfröpfchen in den Ohren, Wind und Meer sind meine Helfer gegen das Halspulsen, Kopfsausen, diese unsichtbare Jagd. Nichts macht mehr Angst als das eigene Herz.

Ein schönes Studio. Mit Bad. Die weiß gekalkten Wände zwei Zimmer hoch und Deckenbalken aus Olivenholz, noch jede Hitze frisst sich hier auf halbem Wege satt in den Mauern. Einstmals ein Wehrbau, quadratisch aufgetürmt als Zuflucht vor Piraten und zu hoch, um aus einem der Fenster, um von der Terrasse in den Weingarten oder aufs Dach des angrenzenden Hauses zu springen. Die Tür zur Wendeltreppe im Turm ist mit Eisenriegeln verschlossen. Wenn eine bauernschwarz gekleidete Frau die Räume putzt, meine Bettwäsche wechselt, werde ich von zwei, manchmal drei Wächtern unter einen Sonnenschirm auf die Terrasse geführt. Seit ich einen von denen, die mir mit dem Lift das Essen bringen, am Arm verletzt habe, bekomme ich nur noch Löffel für die Pasta und das Gemüse; Schalentiere serviert man mir bereits geknackt und zerlegt, das Fleisch immer vorgeschnitten. Salat esse ich mit den Händen.

Bis heute grüble ich über den Lift. Er lässt sich allein von unten steuern, von der Bodenstation, und ich stelle mir vor, dass dort am Fuße des Turms nicht Tag und Nacht jemand wacht. Vermutlich existiert jedoch eine elektrische Sicherung, gibt es einen Alarmknopf. Außer mit dem Messer – dilettantisch, in jäher Verzweiflung – habe ich es schon mit Bestechung versucht. Leider spreche ich zu schlecht Italienisch, und diese Diener und Wächter wissen nicht, wer ich bin. Obwohl mein Buch auch in Italien ein Erfolg war. Nur nicht unter äolischen Bauern. Als ich einmal »100 000 Euro per voi!« auf einen Zettel schrieb, hat der Größte von ihnen, ein kurz geschorener Basketballertyp, dessen tintendunkle Augenringe mir jedes Mal wie tätowierte Mondsicheln er scheinen, das Stück Papier einfach durchgerissen. Ohne Hohn, mit einem Lächeln. Und am nächsten Tag gab es kein Essen. Ich habe es des Klimas wegen und weil man mich um fast alle körperliche Bewegung gebracht hat, nicht vermisst.

Überhaupt fürchte ich, fett zu werden, zu fett und nachgiebig. Oder ich schmecke mein Essen nach Giften ab, glaube, Drogen zu riechen. Verrückt. Der Verleger, ein Mann, der so weit vorausschaut, braucht mich noch immer lebend. Mein Gefängnis: komfortabel und ausbruchsicher. Ein Ort vielleicht für gestürzte Diktatoren oder verurteilte Mafiabosse (nicht der ersten Kategorie). Jedes Abendrot ist ein Himmelbluten, dann lehne ich an den Zinnen und starre hinaus in das atmende Rund, das sich doch, für mich unerreichbar, nur hinter den Augen wölbt. Der Gefangene träumt sich Flügel, und beim Erwachen verflucht er nicht mehr die Mauern; es ist der eigene Körper, in dem er festhängt, sein Kopf, der ihn umzingelt, unfähig, diesen Spuk mit einem Wimpernschlag oder rettenden Gedanken fortzuwischen. So beginnt man, sich selbst als den Grund zu sehen, tauft das Verhängnis auf den eigenen Namen, Schuld hat ein wie vom Zufall hergekehrtes Häufchen Ich. Das keinen anderen dort draußen schert.

Blicke von meiner Insel auf der Insel; in der Tiefe wächst der Malvasier, blühen mir unbekannte Sträucher. Mit Zitronen und Feigen übe ich immer wieder, bis über die Klippen zu werfen. Doch würde eine Flaschenpost jemals unzerschellt aus dem Strudeln und gischtigen Schwappen um die Felskämme und vorgelagerten Riffs hinaus aufs freie Meer gelangen? Frei und verloren – zwischen Europa und Afrika? Wäre ich in einer Wüste oder im Dschungel, längst hätte ich alle Hoffnung aufgegeben. Aber ich glaube ans Wasser, ich liebe das Meer, seit ich der Kindheit in den Alpen entkam und dann aufgewachsen bin in einer großen Stadt. Mein Verleger weiß das, darum hat er mich nach Panarea verlockt. Jonas, kommen Sie für einige Wochen oder auch Monate in mein Haus, im Mai oder Juni, spannen Sie dort aus! Die große Hängematte. Ich musste von nichts ausspannen; dennoch war ich der Einladung gefolgt. Später wollte ich nach Sizilien weiterreisen, in diesen mir bis heute fast unbekannten Erdteil. Ich ging baden, fischen, nahm das Schiff zu den benachbarten Inseln, wanderte durch die vulkanischen Hügel. Schrieb keine Zeile. Bis ein Anruf kam, mein Gastgeber in Deutschland; ich erzählte ihm von den Tagen der Freude, und er sagte, bitte, Jonas, machen Sie auch mir eine Freude. Ich möchte wieder ein Buch von Ihnen. Jonas Heckers Lebenswerk. Mein Lebenswerk? Ich lachte, er lachte zurück. Sie sind jetzt am richtigen Ort. Bald darauf wurden mir die seltener, kürzer gewordenen Anrufe des Verlegers bloß noch über die Sprechanlage vermittelt. Bisweilen unheimlich. Ich denke, er ruft nicht aus Deutschland an, er sitzt hier irgendwo unten, am Fuß des Turms. Oder schon im Turm, ein, zwei Stockwerke unter mir. Merkwürdig nur, dieser leicht krächzende oder brausende, manchmal metallische Ton. Vielleicht ist es der Satellit.

Zur Fingerübung Gedichte, ein paar Zeitungsgeschichten, zwei Entwürfe für ein Drehbuch, viel mehr habe ich nicht geschrieben in meinem Leben. Bis auf den einen Roman, vor sechs Jahren, der kein Aas zu interessieren schien, in den Kritiken grauer Missmut und Hohn, bis der Schriftsteller B., mit seinen aphoristischen Traktaten eine der Galionsfiguren meines Verlages, das Buch einem Kollegen in Paris empfahl – und die französische Übersetzung wurde dreihunderttausendmal verkauft. Es folgten die englischen, spanischen, italienischen Ausgaben, auch in Deutschland hatte das Geschäft so verspätet zu blühen begonnen, mit mir, der inländischen Auslandslegende.

Ein junger Mann geht zu einer Wahrsagerin, es ist nur ein Spaß, eine Wette mit Freunden, die Frau sagt, er werde binnen dreier Jahre töten, was er am meisten liebe. Kurz darauf verliebt sich der junge Mann wie noch nie. Was er auch anfängt, es gelingt ihm, aus dem Spaßvogel wird ein Glückskind, ein Beseelter, und im dritten Jahr … – Sie kennen die Geschichte. Wenn nicht: Sie heißt Der glückliche Hiob, längst sollte es auch eine Verfilmung geben, Hiob’s Happiness, da bin ich dagegen, es reicht doch die Schrift.

Mehr Geld, als ich mit diesem Buch verdient habe, ja immer weiter verdiene, mehr brauche ich nicht zum Leben. Ich bin allein, eine Halbschwester in Kanada, ich besitze kein Mobiltelefon und nehme nicht teil an irgendwelchen Umtrieben, keine neuen Fotos, keine Journalisten, kein Netzwerk, ich war immer ein Einzelgänger, auch unter Menschen allein, aber nicht einsam. Mit Mädchen, mit Frauen zusammen, die auch allein waren mit mir, aber nicht einsam. Jedes Mal eine schöne Weile, nie eine lange Weile. Ich habe meine Schlüssel für Zimmer, für kleine Wohnungen in London, in Lissabon und Triest, meine Geschäfte und Konten verwaltet ein Freund; er ist Priester im Kloster M. und ist es gewohnt, dass ich mich über viele Monate hin nicht melde. Ich bin ein Taucher.

Man versucht, mich bei Laune zu halten. Ab und an ein Packen deutscher Zeitungen (nichts darin über einen vermissten Schriftsteller, aber manchmal fehlen auch Teile), dazu DVDs mit internationalen Filmen, sogar mit Sport und deutschen Nachrichten. Sie sind häufig eine Woche alt oder älter, das macht sie fast unwirklich, ich merke es, denn ich besitze noch einen Taschenkalender und markiere die Tage. Auf diesen Bildern im Fernseher, der mir sonst nur italienische Sender zeigt, demonstrieren Menschenmengen auf Plätzen, vor palastartigen Gebäuden, vor Panzern oder Moscheen, es explodieren Bomben in Städten, eine Kamera zoomt auf ein Kinderspielzeug neben einem zerfetzten Soldatenstiefel in einer Lache Blut, und manchmal sehe ich dunkle Gesichter, zerlumpte Körper eng gedrängt auf Schiffen, nach denen ich dann auf meinem Turm Ausschau halte. Doch es sind Fernsehgespenster. Alles Flaschenpost, wie die bisweilen mitgelieferten Bücher. Eines habe ich eben angefangen, weil in meiner Lage bereits der Titel Küsten der Welt. Über Landanfang und Meeresende meine Neugier weckt. Der Verfasser heißt Julius Seelenberg, das klingt besser als Hecker. Hin und wieder, ich hatte es beim ersten Mal nicht gleich verstanden, kam auch eine Frau. Ohne ein Wort zeigte sie mir ihre Brüste, begann sich auszuziehen. Sie war taubstumm, und mich erschreckte dieser sprachlose, wie insgeheim keuchende Atem.

Vor drei Wochen hat der Verleger wieder angerufen. Seine Stimme in der Wand fragte nach Fortschritten. Ob ich noch Bücher oder andere Materialien brauche.

Ich kann nicht schreiben.

Oh doch.

Sie sind übergeschnappt. Das alles ist nur ein Spiel, ein Trick, ein Abenteuerurlaub! Er antwortete, es ist ein Spiel für Sie. Lieber, Sie werden schreiben, ich weiß es. Sie sind mein Gast, es wird unser … ungewöhnlichstes Buch. Oder nicht? Sein Lachen in der Wand: Ich kenne meine Autoren!

Soll ich dagegen immerfort beteuern, mir fällt nichts ein? Oder meine letzten unverzichtbaren Notizen lägen in London oder in … Er ließe sie, wenn es sie gäbe, besorgen. Ob eine Erzählung ihm reicht, oder Gedichte? Eine Erzählung, ein Roman. Lieber, ich gebe Ihnen die Zeit für ein fertiges Buch. Ihr Buch, Sie verstehen? Und dann der Film, endlich der große Film.

Nichts. Ich verstand nichts. Und verstehe es doch. Jede Weigerung verlängert hier meine Haft. Sich frei schreiben! Allein, falls mir ein neuer Text gelänge, in ein paar Monaten eine Prosa: Würde ich dann entlassen? Oder umgebracht? Zwar erschienen die Umstände spektakulär, Verleger entführt Bestsellerautor, der Roman eines Geiselschreibers – ich könnte den Fall gleich zum Thema der Geschichte machen; das wäre verkaufsfördernd. Vielleicht ist ebendies die Absicht des Verlegers. Und er wird selbst eine Figur der Dichtung, der Autor setzt ihm sein Denkmal. Ein Literaturkrimi. Aber der könnte ihn auch ins Gefängnis bringen. Oder mich, er ist ein einflussreicher Mann, ins Irrenhaus.

Glühend war dieser Tag, bis in den Abend hinein eine Nachgeburt des verwünschten Sommers. Erträglich nur hinter den dickleibigen Mauern. Ich habe jetzt noch mal nachgedacht. Er will mein Lebenswerk. Wie aber rettet das Werk mein Leben? Vor einigen Jahren bereits soll W., ein Hoffnungen weckender Autor desselben Verlags, auf sonderbare Weise in Indonesien, Sumatra, vielleicht auch Borneo verschollen sein. Ein anderer, hochgerühmter Dichter, U., gilt seit einem halben Lebensalter als »verstummt«. Wer aber hat U., von dem immer wieder einmal das Gerücht geht, er arbeite gerade in völliger Abgeschiedenheit an einer ungeheuerlichen, alle Zeiten des Menschengeschlechts verdichtenden Novelle, wer hat U. denn in den letzten zwanzig Jahren je zu Gesicht bekommen?

Zwischen Europa und Afrika, Kalabrien und Sizilien, jeder Fischer, jeder Bauer kann mein freundlicher Mörder sein. Solange ich schreibe, bleibt der Pfeil in der Luft – die Erkenntnis des Philosophen gilt nun auch für mich. Allein das Schreiben gewährt mir noch einen Rest Sicherheit … Ich will mein Ende nicht, also muss ich eine Geschichte ohne Ende schreiben. Nur diese Zweifel: Ein geschickter Lektor vermag in jedem Manuskript auch einen Schluss zu finden, oder es ließe das Werk sich als »Fragment« ausgeben. Überhaupt gab’s all die unendlichen Geschichten schon früher, ach … nein, auf den ganzen Escher-Treppen droht man doch irgendwann gegen eine Wand zu rennen. Und die Wand bist du! Besser, eine Geschichte ohne Anfang zu schreiben. Vom offenen Ende her nach vorne zu erzählen, ein Puzzle, alle Figuren sind selbst Fragmente, eine Schulter der Heldin sucht ihre Hand, lauter in sich und mit sich Zerfallene unterwegs zu ihrem Ursprung, vorwärts in die Vergangenheit, das ließe sich als Erinnerung an die Zukunft umdeuten, oder als Relativitätspoesie, eine Geschichte der Unzeit … Ich darf das Ende, nein, den nie zu erhaschenden Beginn nicht wissen, muss jeden geglückten, dann doch finalen Moment vergessen.

Vergessenmüssen. Das dreht dem Schriftsteller den Kopf auf den Rücken. In meinem Rücken sehe ich den Verleger. Lächelnder Fallensteller. Er will das unerhörte, das unmögliche Buch möglich machen – mit diesem Gedanken fühle auch ich mich … durchschaut. Und denke in diesem Irrsinn, dass es wirklich ein Irrsinn ist. Diesen Verleger gibt es nicht, auch nicht diese Stimme, die aus der Gegensprechanlage so metallisch klingt, so verzerrt wie durch Sphären oder durch eine mir unbekannte Technik, wem mag sie gehören? Spricht da überhaupt noch ein Mensch? Plötzlich habe ich die Vorstellung, der Literaturterrorist oder sein Doppelgänger sitzt tatsächlich hier unter mir in diesem Turm, aber auch er als Gefangener seiner Bücher. Mein Hirn kann das nicht mehr begreifen. Mein Schneckenhirn, das zu langsam ist für jeden privaten Konflikt und zu schnell für das große Ganze. Aber der Zweifel, der womöglich vor dem Erwachen oder vor der Erlösung kommt, gibt mir die Kraft, jetzt weiterzuschreiben. Ja, ich spüre schon eine vor Jahren einmal gekannte Lust. Augenblicklich, auf der Terrasse des Turms, ist mir ein Titel eingefallen, ein Anfang, mit dem ich ende, als überwältigter Gast. Und zwischen den Zeilen der Wind. Ich versuche es nun mit diesem Anfang auf dem Papier, von Hand mit dem Stift, wie schon immer. Da öffnet sich die Tür. Es sind die Wächter mitsamt der Frau ohne Stimme, die sie mir lassen. Jedes Mal, noch bevor sie ihren Unterrock abstreift, bietet die Stumme mir ihre Brüste wie zwei überreife Melonen, als sei’s ein Sonderangebot, zwei für eine. Es ist diese sprachlose Mechanik, die auch mich schwer erwärmt, und für einen Moment, wenn ich in ihre dunklen Augen sehe, scheint’s mir, als wüssten wir das beide, so haben wir in unserem bei aller Intimität so unpersönlichen Geschäft doch eine Gemeinsamkeit. Nun greift sie zu mit ihren aufgeraut bäurischen Händen und hat einen nassen Mund, mit dem sie meinen Schwanz fast verschluckt. Die Frau gebraucht kein Kondom und sprüht hinterher auf ihren Hals, in die rasierten Achselhöhlen und über den buschigen Schoß ein süßliches, nach Jasmin duftendes Parfüm. Ich muss darüber lächeln und lächle in eine Maske aus brauner Haut, blicke auf zu einem Knoten aus geflochtenen schwarzen Haaren und dichten, über der Nasenwurzel zusammengewachsenen Brauen. Sie schaut mich offen an mit ihrem dunklen Blick, und ein Nicken ist am Ende, falls ich es mir nicht nur einbilde, ihre einzige Regung. Für kaum ein halbe Stunde gibt man mir eine große Puppe aus Fleisch, dann treten die zwei Männer ein, ohne zu klopfen, und nehmen das taubstumme Ding wieder weg. Es hat mich befriedigt, dabei wie immer ein wenig geekelt, dieser fremde, manchmal nach Zwiebeln und Erde riechende Schweiß, und selber bist auch du ganz stumm beschämt. Soll ich aber eine Wortlose, von der ich nichts weiß, zur Heldin einer Geschichte machen? Der Gedanke schießt mir durch den Kopf und hinterlässt dort ein Loch.

In den letzten Zeitungen, die ich bekam, las ich von einem in Norditalien verstorbenen Milliardär, der zeitlebens, obwohl er Autos baute, ein Mann des Wassers war, ein Segler, der sagte, ich liebe den Wind, weil man ihn nicht kaufen kann. Andere hassen den Wind, weil sie ihn nicht kaufen, nicht beherrschen und einsperren können. Auch hier oben weht nur er über meine Grenzen hinaus. Bevor ich ihm nachspringe, über die Brüstung der Turmterrasse hinweg, schreibe ich aufs Papier: »Wir waren einmal Schlangen, Blindschleichen, und haben uns Hände und Köpfe erfunden. Der Mensch ist erst eine Schöpfung des Menschen.«

Nun hebe ich den Blick, und wieder der Wind zwischen den Zeilen. Da fliegen sie schon, die Blätter meiner Angst.

Blind Date

Ein Zwischenspiel

1

Dort liegt das Haus auf dem Kap. Rot und weiß vor den Inseln der Sirenen, wie sie die Felsen im Hintergrund nennen. Plötzlich, zwischen Pinien und Macchia, hat der geschlängelte Höhenweg über einer der eingeschnittenen Buchten der Steilküste den Blick auf die Villa freigegeben. Ein bisschen abgetakelt erscheint sie, selbst aus der Ferne kommt mir ihr Ochsenblutrot ausgeblichen und fleckig vor, der Putz verwaschen durch die Seeluft. Aber kühn, abenteuerlich kühn thront der Bau auf der Klippe des schmalen Kaps. An dem Felsvorsprung schlagen die Wellen auf, und tief unten in der mittelmeerischen Bläue braust die Gischt. An ihrer Rückseite hat die Villa statt einer Wand eine hausbreite Freitreppe, halb steinerne Schleppe, halb Schwanz eines Reptils. Das Bild wird jedoch beherrscht von dem flachen Dach, das jetzt im Mittagslicht schattenlos daliegt. Die monumentale Treppe mündet auf diese Plattform, und ich sehe Michel Piccoli in einem Priestergewand die Stufen hochsteigen, über seiner Schulter trägt er die nackte Brigitte Bardot. Auf der Mitte der Plattform legt er sie bäuchlings ab und schneidet ihr mit einem Krummdolch das Herz aus dem Rücken, hält das eben noch zuckende Herz in die Sonne, dann wirft er es mit weitem Schwung hinab ins Meer.

Das ist sekundenlang meine Vorstellung. Der Ort für leibhaftige Hirngespinste. Curzio Malapartes Villa, vor Beginn des Zweiten Weltkrieges an der Punta Masullo auf Capri nach seinen Plänen erbaut, wirkt so archaisch und futuristisch zugleich. Ein Ufo der Architektur. Auf dem unwegsamen Felsen eine Mischung aus italienischem Bungalow und aztekischem Tempel. Opferstätte, dachte ich, als ich mir vor meiner Reise in einer römischen Videothek noch Jean-Luc Godards Le Mépris ausgeliehen hatte. Die Verachtung. Vor fünfzig Jahren hatte Godard in Malapartes Villa mit Piccoli, der Bardot, mit Jack Palance und dem alten Meister Fritz Lang seinen Film gedreht, über einen legendären Starregisseur, einen rüden amerikanischen Produzenten und einen gedemütigten Drehbuchschreiber, der war Piccoli. Und zwischen ihnen diese sonderbare Muse und Mätresse. Brigitte Bardot sonnte sich bäuchlings nackt auf dem altargleichen Dach. Sirene oder Opfergabe. Mir gefiel beim Wiedersehen, dass Fritz Langs Film im Film die Irrfahrten des Odysseus heißen sollte. Lang trägt außerdem eine schwarze Augenklappe, wie ein Pirat.

Ich gehe den Pfad weiter hinab zu dem Haus, vorbei an einem Schild Passeggiata proibita, Durchgang verboten, hinweg über eine zwischen zwei Betonpfosten knapp über den Boden gespannte Kette mit Vorhängeschloss. Doch bald folgt ein versperrtes Gittertor, gesäumt von Stacheldraht und einer zum Meer hin steil abschüssigen Mauer. Zwei Fenster des nun in Rufweite gelegenen Hauses stehen offen – in Rufweite, wäre da nicht das Tosen und Schmatzen der Wellen am Fels. Vom Haus herab zu einer schmal eingeschnittenen Bucht erkenne ich Stufen, eine schwindelerregende Treppe im Stein. Drüben zeigt sich kein Mensch. Ich mache ein paar Fotos mit dem Handy. Erstaunlich, wie der berühmte Bewohner, Kriegsreporter, Offizier, Dandy, Bestsellerromancier, Freund erst von Mussolini, dann ein Bewunderer Trotzkis und am Ende von Mao empfangen, auf dem einsamen Kap einst versorgt wurde, ob mit Booten oder vom Land her mit Maultieren. Eine toskanische Stiftung verwaltet die Villa, die Malaparte vor seinem Krebstod, Raucherlunge, 1957 Rotchina stiften wollte. Mein Besuch hier war angekündigt, doch gestern, als ich auf Capri landete, kam eine Absage. Die zuständige Dame aus Florenz sei für eine Führung durch das Haus kurzfristig verhindert.

Nach einer Weile kehre ich um, und auf dem Weg zurück zum Dorf Capri entdecke ich einen Pfeil mit dem Wort Miracle. Zwischen den ersten weißen Insel-Villen liegt die versteckte Bar mit einer Gartenterrasse. Miracle, nicht Miracolo. Der Mann hinterm Tresen, grau gelockt mit schwarzen Bartstoppeln, antwortet auf meinen italienischen Gruß in Englisch. Ein weiches, flüssiges Englisch, mit einer dunklen Melodik und kehliger als gewöhnlich bei Italienern. Ein fast arabischer Typ. Er serviert mir ein Kännchen Earl Grey. Ich habe meinen Notizblock vor mir, schaue, während der Tee zieht, abwesend in die Küstenlandschaft. Das Meer tönt nur noch als fernes Rauschen, und der graulockige schwarzbärtige Barmann nickt mir im Vorübergehen zu: Niente musica, Mister. At my place you can hear yourself think …

Erst jetzt fällt mir auf, dass die Lautsprecher unter dem Terrassendach tatsächlich schweigen. Sogar das Meer scheint für den Moment innezuhalten. Diese Stille. Bis ein Lachen auf Lachen trifft und Gläser klirren.

2

Ich bin der Kulturreferent der deutschen Botschaft in Rom und völlig überflüssig. In Rom haben wir das Goethe-Institut, eine Casa di Goethe, die Deutsche Künstlerakademie in der Villa Massimo, das Deutsche Archäologische Institut und die wunderbare Bibliotheca Hertziana, ein Reigen stolzer Institutionen. Mit all ihren ambitionierten Damen und Herren Direktoren. Und als Zugabe gibt’s noch mich, der ich bei den Auftritten unserer Kulturvermittler mitunter ein Grußwort im Namen des abwesenden Botschafters spreche. Oder ich kümmere mich darum, wenn Günter Grass auf dem Flughafen Fiumicino die Handtasche mit den Ausweisen und seinem Pfeifenbesteck entwendet wurde. Sonst schreibe ich Berichte nach Berlin, um die Politik über die Erfolge der von ihr finanzierten Kulturinstitute zu unterrichten. Im Übrigen habe ich wenig zu tun, allenfalls die Eröffnung einer deutschen Filmwoche in den Abruzzen, oder ich begleite ein paar reiselustige Mitglieder des Kulturausschusses des Bundestages zu meinen geliebten Berninis in der Villa Borghese oder in die favorisierte Trattoria unseres Botschafters nahe dem Campo dei Fiori. Für einen bald 45-jährigen Diplomaten, der in der Welt einmal selber Botschafter oder zumindest Generalkonsul werden möchte, um nicht als Ministerialdirigent im Berliner Innendienst zu enden, ist das ein Flop. Claudia jedoch hatte sich als Kunsthistorikerin diese drei Jahre in Rom so sehr gewünscht, weshalb ich darauf verzichtet hatte, das karrierefördernde Wirtschaftsreferat in Jakarta zu übernehmen. Nun ist Claudia gestorben, vor vier Monaten, am frühen Abend vorm Fernseher, als sie mit unseren beiden Kindern die Simpsons auf Italienisch sah. Ein Aneurysma im Kopf. Ich kam nur Minuten später nach Hause, habe sie noch ganz lebenswarm im Arm gehalten, bis der Notarzt kam. Da war sie schon gegangen.

Pauline und Bastian sind für ein paar Tage mit ihrer Oma in Rom geblieben. Claudias Mutter ist aus Frankfurt gekommen und übernachtet erstmals seit dem Tod der Tochter wieder in unserer Wohnung in der Via Giulia. Sie versteht sich mit den Kindern und hat mir selber angeboten, etwas Abstand zu gewinnen. Es ist kein Trost, aber ich habe den Zug nach Neapel genommen und die Fähre über den Golf. Die Tage auf Capri sind für mich die ersten in Italien ohne den Blick auf den Ort ihres Todes. Claudia wurde in Frankfurt beerdigt, doch die Kinder wollten schnell wieder zurück nach Rom. Wir haben das Wohnzimmer, wo der Fernseher stand, etwas umgeräumt, das Sofa, auf dem meine Frau gestorben ist, entsorgt, auch den Teppich. Trotzdem ist mir oft so, als würde Claudia hier jeden Augenblick wieder durch die Tür treten. Das spüren auch Pauline und Bastian mit ihren neun und sieben Jahren, deswegen wollten sie zurück nach Rom. Ich hätte lieber die Wohnung gewechselt, wäre der römische Immobilienmarkt nicht so verrückt, und unser kleines Dachgeschoss ist wunderschön. Durch eine Häuserlücke sehen wir hinüber zum Tiber, nur der Renaissance-Palazzo schräg vis-à-vis wirkt etwas trutzig. Es ist die Zentrale der Anti-Mafia-Abteilung der italienischen Polizei. Genau das finden beide Kinder, die auch weiterhin gerne Gruselgeschichten hören, geheimnisvoll und interessant. Wirklich erschreckt werden sie allein durch Bilder und Geschichten von leidenden Kindern, nicht von den Schicksalen der Erwachsenen.

3

Das Lachen in meinem Rücken ist jäh und hell, dann ein Gläserklirren und Scherben. Eine junge Frau, eben noch scherzend mit dem grau-schwarzen Barmann, die aufgekratzte Begrüßung, dabei ist am Tresen ein Sektglas umgestürzt, in der einen Hand hält die Frau eine leicht übergeschwappte Tasse Cappuccino. Ich springe auf, will ihr die Tasse abnehmen, der Barmann sagt, dass er ihr subito ein neues Glas und einen frischen Cappuccino bringen werde, ein kleiner weißer Hund, dessen Leine sie mit der linken Hand hält, beginnt zu bellen, die Cappuccinotasse in ihrer Rechten kippt, fällt auf den Terrazzoboden und zerspringt. Ich schaue zum Barmann, der murmelt, kein Problem, ich kicke die Scherben zwischen dem japsenden Hund und der jungen Frau in Richtung Tresen, berühre sie kurz am Arm, das ist der Impuls des aus einer tagträumerischen Dösigkeit aufgescheuchten Helfers, und kehre einen der Stühle am Nebentisch halb einladend zu ihr hin. Sie sagt, sie müsse sich erst mal um ihren Freund kümmern. Ich bin mir nicht sicher, wen sie in der Cafébar meint, etwas entfernt hockt nur ein tuschelndes Pärchen, beide fast noch Schulkinder. Als die Frau mit dem Hündchen sich dann doch an meinen Nebentisch setzt, versuche ich mir auf meinem Block ein paar Notizen zur Villa und zu dem verwunschenen Kap zu machen.

Sie trägt eine undurchdringlich dunkle Sonnenbrille, auch hier im Schatten. Auf ihre weiße, halb geöffnete Bluse ist ein Spritzer vom umgekippten Kaffee geraten. Vor sich hat sie neben dem Handy und einer Packung Zigaretten ein neues Glas Prosecco und ihren Cappuccino, dazu bringt der grau-schwarze Wirt eine Schale dampfendes Wasser. Mit seinem Geschirrtuch beugt er sich über die junge Frau, fasst im Ausschnitt den Rand ihrer Bluse, wischt ihr vor der Brust über den Kaffeefleck. Diese intime oder gar indezente Geste überrascht mich. Die Frau in der Bluse sagt nur grazie und dazu wohl den Namen des Mannes, ein Wort, das ich nicht verstehe. Der Typ hat diese Art Fünftagereibeisenbart, an dem zupackende Frauen gerne das Streichholz für ihren Zigarillo anzünden. Das war mal ein Ausspruch von Claudia. Ich wende den Kopf und schaue übers Terrassengeländer ins Grüne, sinniere in den von aufziehenden Schafwolken gesprenkelten Oktoberhimmel. Als der Barmann weg ist, trifft sich unser Blick, so kommt es mir vor, obwohl ich hinter der Brille ihre Augen nicht erkennen kann. Es ist wieder nahezu still, nur das ferne Meeresrauschen, und erst jetzt am Nachmittag bemerke ich noch ein leichtes Sirren der Grillen. Ich schaue von der Brille auf den durchs Wasser vergrößerten Blusenfleck und auf ihre unter einem hellen Sommerrock übereinandergeschlagenen nackten, gebräunten Beine. Sie hat Turnschuhe ohne Schnürsenkel an, nicht die hohen Hacken, auf denen Italienerinnen sonst über Stock und Stein balancieren. Mit der Fußspitze schubst sie einen Aschenbecher voller Hundekekse zu dem weißen Wollknäuel unter ihrem Tisch. Als sie den Kopf hebt und sich durchs brünette Haar fährt, streift ein Lächeln ihren Mund, oder es öffnen sich einfach so ihre Lippen.

Ich sage, Signorina, Signora, Sie warten auf Ihren Freund?

Signorina, antwortet sie. Aber das klingt altmodisch, nicht? Mein Freund heißt Harry, hier unterm Tisch. Jetzt muss ich lachen. Sind Sie von der Insel, eine echte Capreserin?

Nein. Ich arbeite hier nur eine Woche. Und Sie machen Ferien?

Für ein paar Tage, auch ein bisschen Arbeit, vielleicht, und … etwas Entspannung.

Entspannung. Sie haben einen harten Job?

Hart würde ich ihn nicht nennen. Aber ich hatte zuletzt einigen … privaten Trouble.

Ah, Sie sind verheiratet?

Nicht mehr, leider. Ein Unglücksfall.

Oh, das ist … schade.

Schade. So kann man’s auch nennen. Wahrscheinlich habe ich jetzt gerade an meinem Ehering gedreht. Eine Angewohnheit. Eigentlich wollte ich mir Claudias Ring mit auf den Finger ziehen, doch er ist zu eng für mich, und ich möchte ihn nicht ändern lassen. Also trage ich ihren goldenen Ring in der Brieftasche.

Am Nebentisch klingelt das Handy, mit einem italienischen Schlagerton, ich glaube, etwas von Gianna Nannini, das Gespräch, das man mithören muss, dreht sich um das Wetter von morgen. Um das Licht. Mehrmals ist von Lichtverhältnissen die Rede. Sie fummelt eine Weile an der Tastatur und steckt das Handy in ihre Handtasche. Abgestellt, murmelt die Frau unter der Brille.

Darf ich fragen, was Sie auf Capri arbeiten? Die junge Frau zündet sich eine Zigarette an, bläst einen Rauchkringel in meine Richtung und lächelt. Fast lacht sie schon, als sie sagt, sie sei hier wegen eines Films.

Entschuldigung, wenn ich selber lache. Mir geht es ähnlich.

Wirklich? Was ist das für ein Film?

Mein Film ist viel älter als Sie, sogar älter als ich. Sie kennen Brigitte Bardot?

Ich habe von ihr … gehört.

Sie hat einst mit einem berühmten Regisseur einen Film gedreht, in der Villa des Schriftstellers Curzio Malaparte. Der Film heißt Die Verachtung, eine merkwürdige Geschichte, auch das Haus ist sehr merkwürdig. Es liegt eine halbe Stunde von hier an der Punta Masullo und erinnert mich an einen mexikanischen Tempel.

Die Punta Masullo soll sehr schön sein. Ein Felsen, auf dem Eidechsen mit blauer Haut leben. Man sagt, es gibt sie nur dort. Aber ich bin da nie gewesen.

Blaue Eidechsen, das wusste ich nicht. Ich bin heute Mittag zu dem Kap gegangen, um die Villa zu sehen. Ich erinnere den Film, der dort gedreht wurde, und mich interessiert dieser Malaparte, ein großer Abenteurer. Sein Vater war Deutscher, er hatte ursprünglich einen deutschen Namen und hat über furchtbare Dinge im Zweiten Weltkrieg geschrieben, über Massaker in Russland und Polen, aber auch über Neapel als ausgehungerte Stadt nach der Landung der Amerikaner.

Ach so?

Das klingt mehr höflich als interessiert, und ich rede jetzt womöglich nur zu mir selbst. Malaparte erzählt, wie die Eltern schon ihre kleinen Kinder zur Prostitution an die Soldaten verkaufen, wie Pest und Cholera herrschen und 1943 zum letzten Mal der Vesuv ausbricht, so, als sei der Vulkan eine spukende Fratze des Teufels. Alles ziemlich grotesk, wie ein fiebriger Albtraum.

Und Sie wollen einen Film über den Mann drehen?

Nein, ich schreibe vielleicht mal ein Buch über ihn. Sehr vielleicht. Ich komme aus Deutschland, ich arbeite an der deutschen Botschaft in Rom.

Okay, una persona politica!

Sie scherzen. Nein, ich bin kein Politiker. Ich bin Diplomat, zuständig für kulturelle Angelegenheiten, keine große Sache. Wieder ihr amüsiert gespitzter Mund, der den Rauch einer nächsten Zigarette einzieht und mit einem Lächeln ausbläst. Inzwischen trinkt sie das zweite Glas Prosecco und diesmal dazu einen Espresso mit Milch. Als der Grau-Schwarze kommt, flüstert sie ihm etwas ins Ohr, er grinst, sie nickt. Ich bestelle mir einen Campari mit Eis. Und was ist Ihr Film?

Sie wendet sich zu mir, und nun spiegelt sich mein Gesicht in der dunklen Brille.

Ihre Frau ist tot?

Die Gegenfrage trifft mich überraschend, wie ein sanfter Faustschlag. Sanft, denn ich spüre den Schmerz, aber es tut nicht wirklich weh. Ich möchte einer Fremden nur nichts darüber erzählen und sage Ja.

Die junge Frau schweigt eine Weile. Ich gebe zwei Würfel Eis in meinen Campari und zupfe die Orangenscheibe vom Rand des Glases.

Ich drehe einen Film auf einer Yacht im Golf, fährt sie fort und drückt ihre Zigarette aus. Den Hintergrund bildet der Vesuv, wir lassen ihn zum Ende hin ein wenig rauchen und viel Lava und Feuer speien, heute geht das ja digital. Und ich bin sozusagen der Vordergrund.

Sie sind Schauspielerin, was erzähle ich Ihnen da von Brigitte Bardot!

Die Brillenfrau schüttelt den Kopf. Die Bardot ist viel berühmter. Obwohl sie schon eine alte Frau sein muss. Lebt sie überhaupt noch?

Sie lebt noch. Darf ich Ihren Namen erfahren?

Kennen Sie sicher nicht, macht auch nichts. Ein Künstlername. Richtig heiße ich Paolina.

Wie meine Tochter, sie ist neun. Auf Deutsch Pauline.

Dann verbindet uns doch schon was! Sie zündet sich eine neue Zigarette an.

Jetzt machen Sie mich neugierig, was wird das für ein Film? Die junge Frau schüttelt ein wenig unbestimmt den Kopf. Für einen Moment streckt sie ihre Hand hinüber zu mir, sagt dann: Ich kenne nur Ihre Stimme. Wollen Sie nicht an meinen Tisch kommen? Oder störe ich Sie?

Nein, warum? Sie stören mich nicht. Ich nehme mein Notizheft und den Campari und setze mich zu ihr an den Tisch.

Haben Sie etwas dagegen, fragt sie, wenn ich Sie kurz berühre?

Mich …? Nein. Was soll ich schon antworten, ich bin nur neuerlich überrascht.

Permesso. Sie fährt mit beiden Händen schnell über mein Gesicht, fasst kurz in mein dünner werdendes Haar. Ah ja, Sie haben keinen Bart, das mag ich. Männer mit Bart tun mir manchmal weh.

Jetzt verstehe ich nicht, wovon Sie sprechen.

Es ist ein Pornofilm.

Ein Porno …? Ich trinke meinen Campari aus, wende mich um zu dem Barmann und hebe das leere Glas. Dabei komme ich mir selbst wie in einer Szene vor.

Ich dachte vorhin, Sie drehen einen Werbefilm … Dann ist Ihre dunkle Brille … Ihr Inkognito?

Wieder lacht sie und schüttelt den Kopf. Die Brille ist eher mein Markenzeichen. La Cieca, die Blinde.

Sie spielen in dem Film eine Blinde?

Ich bin blind, ich spiele das nicht.

Eine Blinde, das ist mir nun peinlich. Es war wie ein Geständnis. Oder fast ein Vorwurf, denke ich, aber sie sagte es auch ganz cool, wie eine Klarstellung. Ihre Blindheit ist mir noch weniger geheuer als allein die Vorstellung von dieser Frau vor mir in einem Pornofilm. Mit einer Vulkaneruption. Ich schweige. Doch wenn ich zu lange schweige, sitze ich hier wie falsch angewurzelt rum, wie ein verschämter Dämlack oder Gott weiß wer. Und noch lächerlicher, etwas in der Art Das macht doch nichts, das macht mir nichts aus zu sagen. Nein, mir fällt in diesem lichtlosen Moment nichts ein. Eine Blinde, und ich bin ganz taub im Kopf.

Es ist die komplette Verlegenheitsfalle. Da bringt der grauschwarze Barmann meinen neuen Campari und für die Blinde noch einen Prosecco, dazu auf einem Tablett zwei Schalen mit Chips, Oliven und eine Untertasse mit einigen Stücken Minipizza. Die sind lecker, seine Spezialität, sagt Paolina. Wieder flüstert sie, als er sich zu ihr runterbeugt, dem Grau-Schwarzen etwas zu, worauf beide kurz auflachen.

Ich nehme mir eine Minipizza. Sie ist noch warm und so gut, dass ich dem Wirt bei seinem Abgang ein Kompliment nachrufe. Und wieder die Stille. Aber mit den unsichtbaren Augen hinter der Brille muss ich doch irgendwie weiterreden.

Vorhin, da dachte ich wirklich an einen Werbefilm. Sie auf dem Bug der Yacht und hinter Ihnen der Golf und der Vesuv. Eine hübsche junge Frau als Ikone der Region …

Molto gentile. Ich werde das meinem Regisseur ein anderes Mal vorschlagen.

Das heißt also, Sie sind … Sie spielen nicht allein auf dem Boot.

Natürlich nicht, es gibt noch ein paar Männer und ein anderes Mädchen.

Und Sie … vögeln mit Ihrer dunklen Brille?

Aha, ich höre, der deutsche Diplomat ist nicht mehr schockiert. Du wirst neugierig! Madonna, ja, ich ficke mit Brille. Aber mit einer Spezialbrille, die nicht verrutscht.

Eine Spezialbrille, die nicht verrutscht. Schon klar. Bisher hätte ich mir darunter nur eine Sportbrille vorgestellt. Wie bei den Schwimmern. Sie schüttelt stumm den Kopf, und mir fehlt hierauf der erleichternde Satz, ein souveräner Scherz. Du sprichst, sagt sie da und spuckt einen Olivenkern über das Terrassengeländer, du sprichst ziemlich gut Italienisch. Wie heißt du eigentlich?

Nikolaus, antworte ich, Nikolaus Brunner. Das von lasse ich weg, zumal sie mich schon duzt. Auf Italienisch wäre mein Name Niccolò Fontana. Das klingt eindeutig besser.

Niccolò. Ja, bleiben wir bei Niccolò. Ich bin Paolina, salute! Ich hebe mein Campariglas, und sie stößt mit dem Prosecco an. Ihr schlankes Glas trifft meines, ohne ein Zögern der Hand.

Sie waren, du warst nicht immer blind? Nicht von Geburt?

Nein. Meine Augen haben sich plötzlich eingetrübt, als ich fünfzehn war. Ich stamme aus Umbrien, vom Lago di Trasimeno, und eines Abends bemerkte ich, dass mir die Spiegelung der Lichter auf dem See irgendwie verschwimmt, dann verblasst. Ich wurde zuerst nachtblind. Meine Eltern haben mich zu Augenärzten nach Siena und Florenz geschickt, lauter Spezialisten, aber die konnten nichts tun. Es ist eine seltene Form der … Sie bläst wieder einen Rauchkringel aus, als könne sie sich so besser konzentrieren. Eine seltene Form der Netzhautdegeneration. Soll ein genetischer Fehler sein, aber in unserer Familie erinnerte man sich nur an meine Urgroßmutter, die nach der Geburt von sechs oder sieben Kindern sehr allmählich ihr Augenlicht verlor. Bei mir ging es unaufhaltsam schnell. Sie fährt mit einer wegwischenden Handbewegung durch die Luft. Husch, in kaum einem Jahr.

Was habt ihr dann gemacht?

Mein Vater hat einen Eisenwarenladen mit hunderttausend verschiedenen Schrauben, dazu alles, was du sonst so im Haushalt brauchst, Gläser, Bestecke, Espressokocher, auch Wasserschläuche, Besen, Schaufeln, Gartengrills. Er ist liebevoll, warmherzig und hilflos. Total hilflos. Meine Mutter arbeitet in der Trattoria meines Onkels, aber eigentlich ist sie dort der Chef. Bei uns haben die Frauen die palle! Die Eier in der Hose. Meine Mutter hat mich nach der Tour mit den Ärzten auf eine tolle teure Blindenschule in die Schweiz geschickt. Das hat die Eltern fast ihr Vermögen gekostet. Und ich habe im Tessin mein Abitur gemacht. Eigentlich wollte ich selber Ärztin werden. Also super Aussichten, blind operieren! Sie lacht und bestellt sich noch einen Prosecco. Außerdem sind die Augen das Entscheidende, in ihnen erkennt man jede Krankheit, und ich sehe nichts.

Absolut nichts? Auch keinen Schimmer, wenn du in die Sonne oder in einen Scheinwerfer schaust?

Nichts. Das ist bei meinem Job auch mein Schutz. Ich sehe nicht, was die anderen sehen.

Trotzdem ist dein Job ein bisschen … krass. Oder nicht?

Überhaupt nicht. Ich war vorher arbeitslos. Außerdem verdiene ich nicht so schlecht …

Wissen deine Eltern davon?

Mein Vater hat keine Ahnung, hundertprozentig. Bei meiner Mutter bin ich mir nicht so sicher, aber sie hält den Mund. Paolina nickt jetzt ein paar Mal heftig mit dem Kopf. Mir kommt es so vor, als wolle sie das Schweigen der Mutter gleichsam festklopfen. Doch, doch, doch. Gegen jeden Zweifel.

Hast du schon viele solche Filme gemacht?

Ein paar. Einige.

Und alle mit deiner Blindenbrille?

Ja, von Anfang an. Erst wenn die Männer am Ende über mir kommen, auch auf die schwarzen Gläser, dann nehme ich sie kurz ab. Man muss nur aufpassen, das Sperma brennt in den Augen. Aber dieser letzte erste Blick, sagt mein Produzent, ist ein besonderer Effekt, auf den die Zuschauer offenbar warten. Sie lächelt, sehr offen, und mit einem Mal weicht etwas von meiner knotigen Befangenheit. Als klopfe sie für irgendwas auf Holz, macht sie zweimal tock, tock gegen ihre Brillenbügel und sagt dann: Hey, woher sprichst du als Deutscher so fließend Italienisch?

Meine Großmutter war Italienerin, sie hat mit mir oft italienisch geredet. Und wir hatten ein Ferienhaus in Ligurien, da habe ich als Kind mit den anderen Kindern aus dem Dorf gespielt und rumgequatscht.

Gibt es das Haus nicht mehr?

Es wurde nach dem Tod meiner Eltern verkauft. Sie starben bei einem Unfall auf der Autostrada im Apennin. Im Herbst, eine plötzliche Nebelbank.

Tut mir leid. In deiner Familie scheint der Tod nie weit …, oh, là là. Sie schuddert nun, reibt sich die Arme. Niccolò, mir wird’s etwas kühl. Und morgen hab ich einen vollen Drehtag. Wenn du magst, könnten wir uns … übermorgen hier noch mal sehen. Gleicher Ort, gleiche Zeit? Morgen ist die Bar sowieso geschlossen.