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Die Herausgeber:

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Prof. Dr. Lothar Mikos lehrt im Studiengang Medienwissenschaft der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf. Er hatte Gastprofessuren in Aarhus, Barcelona, Glasgow, Göteborg, Klagenfurt, London und Tarragona. Er ist Vorsitzender des Kuratoriums der Deutschen Kindermedienstiftung Goldener Spatz. Er gründete die Television Studies Section der European Communication Research and Education Association (ECREA). Seine Arbeitsschwerpunkte: Fernsehen und Digitalisierung, Transnationale Medienkultur, Rezeptionstheorie und -forschung, Populärkultur, qualitative Methoden der Medienforschung, Film- und Fernsehanalyse, Film- und Fernsehtheorie, vergleichende Geschichte von Film und Fernsehen.

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Seit 2007 lehrt Prof. Dr. Claudia Wegener in den Studiengängen Digitale Medienkultur und Medienwissenschaft an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf. Sie ist zweite Vorsitzende im Kuratorium des »Kinder- und Jugendfilmzentrums in Deutschland« (seit 2004) und Mitglied im Aufsichtsrat der Medienboard Berlin-Brandenburg GmbH (seit 2010). Ihre Arbeitsschwerpunkte: digitale Medienkultur, Mediensozialisation, Kinder- und Jugendmedienkultur, Kommunikationstheorie, qualitative Medienforschung.

Lothar Mikos
Claudia Wegener (Hg.)

Qualitative
Medienforschung

Ein Handbuch

2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage

UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz
mit UVK Lucius · München

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2005

© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2017

UVK Verlagsgesellschaft mbH

UTB-Band Nr. 8314

Inhalt

Einleitung

1   Grundlagen qualitativer Medienforschung

Wissenschaftstheorie und das Verhältnis von qualitativer und quantitativer Forschung
UWE FLICK

Gütekriterien qualitativer Sozialforschung
JO REICHERTZ

Kohärenz und Validität
UWE FLICK

Forschungsethik und Datenschutz
MATTHIAS RATH

Medien
RALF VOLLBRECHT

2.1   Theoretischer Hintergrund qualitativer Medienforschung

Wissenssoziologische Verfahren der Bildinterpretation
JO REICHERTZ

Kommunikative Gattungen
ANGELA KEPPLER

Cultural Studies
RAINER WINTER

Handlungstheorien
FRIEDRICH KROTZ

Habitus und Lebensstil
MICHAEL MEYEN

Medienhandeln und Medienerleben: Agency und »Doing Media« 112
SUSANNE EICHNER

Strukturanalytische Rezeptionsforschung
KLAUS NEUMANN-BRAUN / ANJA PELTZER

Diskursanalyse
RAINER DIAZ-BONE

2.2   Medienforschung – Alltagsforschung

Alltagshandeln mit Medien
LOTHAR MIKOS

Der Domestizierungsansatz
JUTTA RÖSER / KATHRIN FRIEDERIKE MÜLLER

Kommunikative Figurationen
UWE HASEBRINK / ANDREAS HEPP

Medienökologie
SONJA GANGUIN / UWE SANDER

Der medienbiographische Ansatz
EKKEHARD SANDER / ANDREAS LANGE

Mediensozialisation in semiotischen Kontexten unserer disparaten Kultur
BEN BACHMAIR

Konvergierende Medienumgebungen
CORINNA PEIL / LOTHAR MIKOS

3   Forschungsdesign

Wie lege ich eine Studie an?
CLAUDIA WEGENER / LOTHAR MIKOS

Das Babelsberger Modell
LOTHAR MIKOS / ELIZABETH PROMMER

Medienproduktion (Production Studies)
HANS-DIETER KÜBLER

Rezeptionsforschung
ELIZABETH PROMMER

Inhaltsanalyse
CLAUDIA WEGENER

Triangulation
KLAUS PETER TREUMANN

Forschung mit Kindern und Jugendlichen
INGRID PAUS-HASEBRINK

Kulturvergleichende Studien
MIRIAM STEHLING

Einzelfallanalyse
NINA BAUR / SIEGFRIED LAMNEK

4   Erhebungsmethoden

Qualitatives Interview
SUSANNE KEUNEKE

Experteninterview
DAGMAR HOFFMANN

Das narrative Interview in der Biographieforschung
FRIEDERIKE TILEMANN

Qualitative Onlinebefragungen
ULF-DANIEL EHLERS

Die mobile Onlinebefragung
ANDREAS FAHR / VERONIKA KARNOWSKI

Gruppendiskussion
BURKHARD SCHAFFER

Teilnehmende Beobachtung
LOTHAR MIKOS

Medientagebücher
YULIA YURTAEVA

Kinderzeichnungen als Erhebungsmethode
NORBERT NEUSS

Szenisches Spiel
FRIEDERIKE TILEMANN

Experiment
VOLKER GEHRAU / HELENA BILANDZIC

Lautes Denken
HELENA BILANDZIC

5   Aufzeichnung qualitativer Daten

Protokollierung
ELIZABETH PROMMER

Transkribieren
RUTH AYASS

Sequenzprotokoll
HELMUT KORTE

Datenbeschreibung
MAREIKE HUGGER / CLAUDIA WEGENER

Codierung
ELIZABETH PROMMER / CHRISTINE LINKE

6   Auswertung

Konversationsanalyse
RUTH AYASS

Dokumentarische Methode
RALF BOHNSACK / ALEXANDER GEIMER

Diskursanalyse und Filmanalyse
THOMAS WIEDEMANN

Onlinediskurs-Analyse
STEFAN MEIER

Qualitative Inhaltsanalyse
PHILIPP MAYRING / ALFRED HURST

Computerunterstützte Inhaltsanalyse
UDO KUCKARTZ

Film- und Fernsehanalyse
LOTHAR MIKOS

Videospielanalyse
SUSANNE EICHNER

Analyse von Filmmusik und Musikvideos
CLAUDIA BULLERJAHN

Videographie und Videoanalysen
ANJA SCHÜNZEL / HUBERT KNOBLAUCH

Webformat-Analyse
MARTINA SCHUEGRAF / ANNA JANSSEN

Netzwerkanalyse und Onlineforschung
CHRISTIAN NUERNBERGK

Typenbildung
FLORIAN REITH / UDO KELLE

Objektive Hermeneutik
JÖRG HAGEDORN

Interpretative Ethnographie
RAINER WINTER

Grounded Theory
CLAUDIA LAMPERT

Heuristische Sozialforschung
ISABEL SCHLOTE / CHRISTINE LINKE

Anhang

Autorinnen und Autoren

Allgemeine Bibliographie

Index

Einleitung

LOTHAR MIKOS/CLAUDIA WEGENER

Qualitative Medienforschung versteht sich als qualitative Sozialforschung, die sich über ihren Gegenstand, die Medien, definiert. Allerdings geht es nicht ausschließlich um die Medien, sondern um ihre Nutzung und Aneignung in der Lebenswelt und um die Rolle, die sie im Alltag der Menschen spielen. Denn: »Nicht das Medium ist die Message, sondern seine Rolle in der sozialen Anwendung« (Hienzsch/Prommer 2004, S. 148). Medien leisten einen wesentlichen Beitrag »zur gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit« (Peltzer/Keppler 2015, S. 14). Sie sind Teil der sozialen und kulturellen Praxis der Menschen. Qualitative Medienforschung folgt damit dem Anspruch, den Flick, von Kardorff und Steinke (2015, S. 14) generell für qualitative Forschung markiert haben: »Qualitative Forschung hat den Anspruch, Lebenswelten ›von innen heraus‹ aus der Sicht der handelnden Menschen zu beschreiben. Damit will sie zu einem besseren Verständnis sozialer Wirklichkeit(en) beitragen und auf Abläufe, Deutungsmuster und Strukturmerkmale aufmerksam machen.« Die Offenheit für die Erfahrungen der Menschen ist ein wesentliches Merkmal dieser Forschung. Das unterscheidet sie von der quantitativen Forschung, die auf generalisierbare Merkmale Wert legt und nicht in die Tiefenstruktur sozialer Wirklichkeit eindringt.

Qualitative und quantitative Medienforschung werden von uns jedoch nicht als Gegensätze begriffen, die sich ausschließen. Beide Verfahrensweisen haben ihre erkenntnistheoretischen und empirischen Möglichkeiten und Grenzen. Daher ergänzen sie sich (→ Flick, S. 18 ff.). Während die quantitative Forschung in der Lage ist, statistisch verwertbare Daten zu liefern, z. B. über den Medienkonsum in Form des Marktanteils von Fernsehen, Zeitungen oder Zeitschriften, kann die qualitative Forschung Auskunft über tieferliegende Motive und Strukturen der Mediennutzung liefern, da sie mit ihren Verfahren den Alltag und die Lebenswelt der Mediennutzer »von innen heraus« zu verstehen sucht. Sie hat ihren eigenen Stellenwert. Qualitative Forschung passt die Methoden ihren Fragestellungen und zu untersuchenden Gegenständen an. Bei ihr stehen nicht große Zahlen und Datenmengen im Mittelpunkt, sondern sie sieht ihre Aufgabe darin, kleinere Fallzahlen intensiv auszuwerten (→ Baur/Lamnek, S. 290 ff.). Die Reflexivität bezüglich der Methoden, der Subjektivität des Forschers, des Forschungsprozesses und der Darstellung der Ergebnisse zeichnet sie aus. Charakteristisch für die qualitative Medienforschung ist nicht nur ein häufig theoretisch interdisziplinärer Ansatz, sondern ebenso methodische Integration. Die Begrenztheit bzw. Reichweite ihres methodischen Ansatzes ist qualitativen Forschern bewusst, eine Kombination von quantitativen und qualitativen Verfahren schließen sie in ihren Untersuchungen von komplexen Kommunikations- und Medienphänomenen nur selten aus.

Die qualitative Medienforschung hat seit den 1980er Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen. Zwar werden qualitative Methoden der Datenerhebung und Datenauswertung in zahlreichen Studien, die sich mit der Nutzung und Aneignung von Medien befassen, eingesetzt, doch können sie weder in der traditionellen Publizistik- und Kommunikationswissenschaft noch in der sich weitgehend analytisch und theoretisch definierenden Medienwissenschaft als etabliert gelten. Ihr umfassender Einsatz findet eher in Disziplinen wie Erziehungswissenschaft, Psychologie, Sprachwissenschaft und Soziologie statt, die auf eine längere Tradition qualitativer Forschung zurückblicken können. Erst in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts haben sich einige Vertreter der Kommunikationswissenschaft mit qualitativen Methoden auseinandergesetzt (vgl. Averbeck-Lietz/Meyen 2016; Meyen/ Löblich/Pfaff-Rüdiger/Riesmeyer 2011).

Wie sinnvoll qualitative Verfahren in der Medienforschung sind, zeigt sich beispielsweise im Rahmen medienpädagogischer Forschung, die sich mit der Untersuchung kindlicher Mediennutzung beschäftigt (→ Paus-Hasebrink, S. 276 ff.). Hier kommt man mit standardisierten Untersuchungen nicht weit, methodische Kreativität ist gefordert. Eine wichtige Methode bei der Untersuchung von kindlichem Medienumgang und kindlicher Mediennutzung sind neben teilnehmender Beobachtung und verschiedenen Spielformen, in denen Themen aus den Medien, insbesondere dem Fernsehen, zum Gegenstand gemacht werden, vor allem Kinderzeichnungen (→ Neuß, S. 380 ff.). Wenn Kinder ihre Medienerlebnisse und -erinnerungen bildlich darstellen, haben Forscher manchmal Schwierigkeiten, sie auf den ersten Blick zu verstehen. Denn für die Kinder sind an den Bildern auch Dinge wichtig, die dem Auge des erwachsenen Betrachters ohne Erklärung verborgen bleiben. Ist einmal mithilfe der Kinder ein Zugang gefunden, lassen sich zahlreiche Hinweise auf den Medienalltag der Kinder, ihre häusliche Umgebung sowie die Strukturen der Familien, in denen die Kinder aufwachsen, finden.

Qualitativer Medienforschung geht es vor allem darum, das Medienverhalten und den Umgang mit Medien in seiner ganzen Komplexität zu erfassen oder, wie es Dieter Baacke und Hans-Dieter Kübler einmal formuliert haben, »die Ganzheit einer Kommunikationssituation ins Auge zu fassen«, denn: »Nicht die präzise Isolation von Variablen zur methodisch sauberen Erfassung ist das primäre Ziel dieses Ansatzes, sondern eine möglichst angemessene Annäherung an die Wirklichkeit« (Baacke/Kübler 1989, S. 5). Dazu dürfen keine künstlichen Laborwelten geschaffen werden, sondern die Forscher gehen in den Alltag der Menschen, um die dort vorhandenen Muster und Strukturen zu beschreiben, zu analysieren und zu erklären.

Qualitative Medienforschung ist nicht gleich qualitative Medienforschung. So unterscheiden sich in den entsprechenden Studien nicht nur der Bezug zu den Medien und die Methoden der Datenerhebung, die Arten der Datenaufzeichnung und die Strategien der Auswertung. Auch der Forschungskontext und die damit verbundene Absicht divergieren. Drei Arten können in diesem Sinne idealtypisch unterschieden werden:

Angewandte Medienforschung, die von zahlreichen Instituten im Auftrag von Fernsehsendern oder anderen Medieninstitutionen durchgeführt wird. Sie ist im Wesentlichen auf schnelle Verwertung angelegt, steht sie doch im Dienste der Programmplanung. Moderationsformen, Sendungskonzepte und Serien werden mit qualitativen Methoden getestet. Dabei bleibt selten Zeit, sich grundlegenderen Forschungsfragen zu widmen.

Grundlagenforschung, die sich im Wesentlichen auf grundsätzliche Fragen der Mediennutzung konzentriert und von Universitäten und Forschungseinrichtungen wie zum Beispiel dem Deutschen Jugendinstitut oder dem Hans-Bredow-Institut geleistet wird.

Angewandte medienpädagogische Forschung, die von einigen Instituten wie zum Beispiel dem Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis (JFF) in München sowie von einigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Auftrag vor allem der Landesmedienanstalten durchgeführt wird. Daher konzentriert sich das Forschungsinteresse hier auf medienpädagogische Probleme und Fragen des Jugendschutzes.

In der Medienforschung haben qualitative Verfahren ihren eigenen Stellenwert, der sich nicht aus der Konkurrenz zur quantitativen Forschung ergibt, sondern aus den ihnen zugrunde liegenden Forschungsfragen und den je spezifischen Forschungsabsichten, die lebensweltliche Einbindung und sinnhafte Deutung zu entdecken versuchen. Und sie haben ihre eigenen Gesetze von Repräsentativität, die sich weniger an großen Fallzahlen orientieren als vielmehr an der Intensität des Forschungsprozesses und der Überprüfbarkeit der Ergebnisse. Qualitative Medienforschung erschöpft sich nicht allein in der Anwendung so genannter qualitativer Forschungsmethoden. Dahinter steht vielmehr eine grundsätzlich andere Haltung dem Forschungsprozess und den erforschten Menschen gegenüber. Denn es geht in erster Linie darum, das Medienhandeln der Menschen in alltäglichen Strukturen zu verstehen und seine Bedeutung in lebensweltlichen Zusammenhängen nachzuzeichnen (→ Sander/Lange, S. 183 ff.; → Eichner, S. 112 ff.; → Hasebrink/Hepp, S. 164 ff.; → Mikos, S. 146 ff.; → Röser/Müller, S. 156 ff.). Dazu gehört, dass man die Zuschauer, auch die kindlichen und jugendlichen Zuschauer, in ihrem alltäglichen Verhalten ernst nimmt und sich auf sie einlässt. Denn in der qualitativen Forschung können Ergebnisse nur gemeinsam mit den Untersuchten erzielt werden.

Qualitative Medien- und Kommunikationsforschung ist nicht der »Königsweg«. In Zeiten pluraler Lebenswelten kann es den auch nicht geben – sie bietet aber verschiedene Möglichkeiten und Wege, sich der Wirklichkeit gesellschaftlicher Kommunikationsverhältnisse und dem alltäglichen Medienumgang zu nähern. Qualitative Forschung ist grundsätzlich im Zusammenhang mit hermeneutischen und ethnographischen Verfahren (→ Hagedorn, S. 580 ff., → Winter, S. 588 ff.) sowie mit einem Selbstverständnis der Forscher zu sehen, die davon geleitet werden, den Gegenstand ihrer Forschung, die handelnden Subjekte in ihren alltäglichen Lebensäußerungen zu verstehen. Denn der Gegenstand der Forschung ist die subjektive Deutung von medialen Kommunikationsverhältnissen und kulturellen Praktiken, die in ihrem Sinn für die Zuschauer, Nutzer bzw. das Publikum sinnhaft zu verstehen sind. Da generalisierte Medien der Lebenswelt verhaftet bleiben und kulturelle Praktiken nur im Rahmen von Sozialwelten denkbar sind, muss sowohl der Kultur als auch der Alltagsund Lebenswelt der handelnden Subjekte in der qualitativen Medienforschung große Bedeutung beigemessen werden. Qualitative Forschung ist eine Form kommunikativer Praxis.

Die Geschichte qualitativer Medien- und Kommunikationsforschung in Deutschland zeigt, dass sie – sind diese Prämissen erfüllt – auch eine gewisse Bedeutung erlangt. Noch trifft das kaum auf die klassische Publizistik- und Kommunikationswissenschaft zu, auch wenn sich dort im Jahr 2016 ein Netzwerk Qualitative Methoden gegründet hat. Größere Bedeutung hat sie in der medienpädagogischen Forschung, der sprachwissenschaftlichen und linguistischen Medienforschung sowie der wissenssoziologischen Medien- und Kulturforschung erlangt. Die Rezeption der so genannten »British Cultural Studies« in der Medienwissenschaft hat einen wesentlichen Beitrag zur qualitativen Wende der Medienforschung geliefert, da ethnographische Verfahren in den Cultural Studies eine wesentliche Rolle spielen. Zugleich gehen die Cultural Studies (→ Winter, S. 86 ff.) von einem theoretischen Selbstverständnis aus, das ähnlich wie in der Handlungs- bzw. Aktionsforschung Partei für die handelnden Subjekte ergreift. Arbeiten der Cultural Studies zielen darauf ab, die kulturellen und sozialen Praktiken der handelnden Subjekte nicht nur sinnhaft zu verstehen und deutend zu interpretieren, sondern diese Praktiken zugleich zu kontextualisieren, d.h. sie in den Zusammenhang von ökonomischen, sozialen, politischen und anderen Strukturen zu stellen. Grundlage ist dabei aber immer, dass es die Forschenden mit symbolischen Äußerungen und Handlungen der Subjekte zu tun haben, mit einem von den Subjekten selbstgesponnenen Bedeutungsgewebe, das es nicht zu entschlüsseln gilt, wie häufig fälschlich angenommen wird, sondern das es sinnhaft zu verstehen gilt. Der Anthropologe Clifford Geertz hat deshalb für den Prozess der ethnographischen Forschung gefordert, die Bedeutungsstrukturen, in die Menschen verstrickt sind, herauszuarbeiten und anschließend eine »dichte Beschreibung« dieser Strukturen zu liefern (Geertz 1987). Dabei geht es nicht allein darum, die beobachteten kulturellen und sozialen Praktiken in eine konsistente Interpretation und kohärente, ethnographische Erzählung (→ Winter, S. 588 ff.) zu verwandeln, sondern auch die Inkonsistenzen anzuerkennen. In seinem Grundlagenwerk zur interpretativen Soziologie, die viele Gemeinsamkeiten mit dem Projekt der Cultural Studies aufweist, hat Anthony Giddens (1984, S. 181; H. i. O.) auf diesen Aspekt besonders hingewiesen: »Was aber für Konsistenzen innerhalb von Bedeutungsrahmen gilt, trifft auch auf Inkonsistenzen und auf strittige oder umkämpfte Bedeutungen zu, d.h. diese müssen ebenfalls hermeneutisch verstanden werden.«

Gerade deshalb hat Lawrence Grossberg (1994) für die Cultural Studies auch gefordert, sich durch Theorien nicht den Blick auf die alltäglichen Praktiken der Subjekte verstellen zu lassen, sondern die alltäglichen Praktiken als Anregung für die Theorieentwicklung zu begreifen. Für die qualitative Medienforschung heißt dies, ihre Methoden dem Gegenstand anzupassen, offen für die Erfahrungen der untersuchten Menschen zu sein, um so Anregungen für die Theorieentwicklung zu erhalten und weitere empirische Forschungen zu generieren.

Das Ziel, kulturelle und soziale Praktiken zu verstehen, oder anders ausgedrückt: das Alltagsleben und die Sozialwelt in ihrem sinnhaften Aufbau für die handelnden Subjekte – und damit die verschiedenen Medienpublika – zu verstehen, bedeutet für die qualitative Forschung eine eigenständige Etablierung und einen gleichberechtigten Platz neben der quantitativen Forschung. Für die Medienforschung heißt dies insbesondere, dass qualitative Forschung nicht nur als methodisches Vorgehen, sondern als sozial- und kulturwissenschaftliches Verfahren der Erkenntnisgewinnung und als theoretisches Selbstverständnis einen besonderen Stellenwert erhält. Dies gilt umso mehr, als Medien und Medienprodukte ihre Bedeutung erst im alltäglichen Handeln und der sozialen und kulturellen Praxis der Menschen entfalten (→ Eichner, S. 112 ff.; → Ganguin/Sander, S. 175 ff.; → Hasebrink/ Hepp, S. 164 ff.; → Keppler, S. 77 ff.; → Krotz, S. 94 ff.; → Meyen, S. 104 ff.; → Mikos, S. 146 ff.; → Röser/Müller, S. 156 ff.).

Qualitative Medienforschung ist weitgehend mit qualitativer Rezeptionsforschung gleichgesetzt worden (→ Peltzer/Neumann-Braun, S. 122 ff., → Prommer, S. 249 ff.). Die Analyse der Produktion (→ Kübler, S. 237 ff.) sowie von Produkten, Texten und Diskursen erlebt in der Medienforschung zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen neuen Aufschwung. Das mag damit zusammenhängen, dass insbesondere die strukturalistische Variante der qualitativen Forschung ganz im Sinne quantitativer, aber auch qualitativer Inhaltsanalyse bemüht ist, einen manifesten oder latenten Sinn in medialen Produkten oder Texten ausfindig zu machen (→ Mayring/Hurst, S. 494 ff. und Wegener, S. 200 ff.). In der Folge poststrukturalistischer Debatten und als Konsequenz interaktionistischer Konzepte hat sich in Teilen der Medienwissenschaft und in den Cultural Studies ein anderer Textbegriff durchgesetzt, der davon ausgeht, dass Texte keine freizulegende Bedeutung haben, sondern dass sie erst im Rahmen sozialer und kultureller Diskurse Sinn machen. Daher bedarf die Medienanalyse auch der Erweiterung in eine Diskursanalyse (→ Diaz-Bone, S. 131 ff.).

Ein Problem ist dabei nach wie vor, dass es die Analyse von medialen und populärkulturellen Texten nicht nur mit diskursiven, sondern auch mit präsentativen Symbolen zu tun hat (→ Bullerjahn, S. 534 ff., Eichner, S. 524 ff., Korte, S. 432 ff.). Es gilt also nicht nur Sprache und Schrift zu analysieren (→ Ayaß, S. 421 ff.), sondern vor allem die Bilder in ihrem Zusammenspiel mit Tönen, Sound, Sprache, Schrift und Musik. Im Ansatz der »struktur-funktionalen Film- und Fernsehanalyse« wird dies miteinander verbunden (→ Mikos, S. 516 ff.). Im Mittelpunkt der Analyse steht nicht die Frage, welche Bedeutung der Inhalt von Filmen oder Fernsehsendungen hat, sondern in welcher Weise sich Inhalt, Narration und formale Gestaltung von medialen Produkten mit dem Wissen der Zuschauer und den sozialen und kulturellen Diskursen verbinden, um so audiovisuelle Produkte auch wirklich als Material symbolischer Kommunikation im Rahmen des Alltags und der Lebenswelt der als Zuschauer handelnden Subjekte sinnhaft verstehen zu können (vgl. Mikos 2015).

Patentrezepte und einfache Lösungen gibt es sicher nicht: Die qualitative Medien- und Kommunikationsforschung muss anhand ihrer Gegenstände ihr innovatives und kreatives Potenzial entfalten, um neue methodische Wege einzuschlagen. Dann kann sie ihre Ergebnisse verfeinern, weil sie noch näher am Alltag ist, ihre Untersuchungsobjekte noch ernster nimmt und mit ihnen in einen intensiven kommunikativen Prozess tritt. Qualitative Medienforschung richtet den genauen Blick auf die alltäglichen Bemühungen der Menschen, ihrem Leben einen Sinn zu geben – auch mit Medien. Darin liegt ihre große Stärke. Sie zeigt, wie das Leben wirklich ist. Und dieses Leben gehorcht keinen einfachen Wirkungsmechanismen. Es ist erheblich komplexer und widerständiger als mitunter angenommen wird. Die qualitative Medienforschung ist bemüht, diese Komplexität und Widerständigkeit zu beschreiben und zu erklären. Sie überzeugt durch Plausibilität, Reflexivität und Validität → Reichertz, S. 27 ff., → Flick, S. 36 ff.). Das macht ihre Ergebnisse nicht nur für den Diskurs der Medien- und Kommunikationswissenschaft attraktiv, sondern auch für Medienmacher und -Produzenten, denn in den Äußerungen von Zuschauern scheint alltägliche Medienkompetenz im Umgang mit Medienprodukten deutlicher hervor als in Angaben zu Marktanteilen.

Die zunehmende Bedeutung der qualitativen Medienforschung hängt auch mit den gesellschaftlichen Veränderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts zusammen. Der für die Gesellschaft konstatierten Pluralisierung von Lebenswelten und Lebensstilen, die als Ausdruck der Individualisierung gesehen wird, entspricht die Aufsplitterung des Publikums in vielfältige Zielgruppen. Die Fernseh- und Kinoprogramme, die verschiedenen Zeitungs- und Zeitschriftentitel haben kein beliebiges Publikum mehr im Visier, sondern spezifische Zielgruppen. Mit der Digitalisierung haben diese Praktiken einen neuen Schub bekommen. Algorithmen passen die Inhalte an die Nutzungsmuster von Konsumenten an, und mit Big-Data-Analysen kann man deren Verhalten bis in kleinste Verästelungen aufspüren. Diese quantifizierenden Methoden können aber eins nicht, den subjektiven Sinn verstehen, den die Konsumenten ihrer Mediennutzung geben. Dazu bedarf es dann der qualitativen Forschung, denn deren besondere Stärke liegt darin, die Vielfältigkeit der Medien im Lebensalltag des einzelnen Rezipienten zu berücksichtigen, ihre je spezifische Bedeutung im Kontext von individuellem Umgang und Aneignung erfassen zu können und gleichzeitig auch Aspekte von Globalisierung sowie deren Sinndeutung im Medienalltag des Individuums nachzuzeichnen (→ Stehling S. 283 ff.).

Die qualitative Untersuchung von Medienprodukten sowie deren Verwendung im Alltag und der Lebenswelt der Menschen leistet einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis sozialer Wirklichkeit. Ihre Stärke liegt in ihrem offenen Charakter und ihrer Zielsetzung als eine »entdeckende Wissenschaft« (Flick/von Kardorff/Steinke 2015), die nicht theoretische Vorannahmen zu bestätigen sucht, sondern sich gerade von der Nähe zur sozialen und kulturellen Praxis der Menschen zu neuen theoretischen Einsichten inspirieren lässt.

Das Handbuch ist als fundierte Einführung gedacht, die nicht nur theoretische Grundlagen bietet und einen Einblick in die zentralen Anwendungsfelder qualitativer Medienforschung gibt, sondern darüber hinaus als detaillierte Anleitung zum qualitativen Forschen verstanden werden kann. Das kreative Potenzial qualitativer Methoden, sowohl in ihrer singulären Anwendung als auch im methodischen Verbund herauszustellen, dabei auch den Stellenwert neuer Medien im Forschungsund Auswertungsprozess aufzuzeigen und klassische Erhebungsmethoden ebenso wie innovative und außergewöhnliche Vorgehensweisen im qualitativen Forschungsprozess darzulegen, ist ein wesentliches Anliegen des Buches.

Es soll Forschenden und Studierenden verschiedener Disziplinen, die Medienforschung betreiben, ein Hilfsmittel sein, um Studien zu planen und die ihrem Gegenstand angemessenen Methoden zu finden. Es ist als Bestandsaufnahme, Überblick und Positionsbestimmung der qualitativen Medienforschung gedacht.

Das Handbuch gliedert sich in sieben Bereiche. Im ersten Teil werden die Grundlagen qualitativer Forschung dargestellt, von der wissenschaftstheoretischen Verortung über Gütekriterien und Kohärenz bis hin zum Begriff der Medien und Fragen der Forschungsethik und des Datenschutzes. Der zweite Bereich widmet sich den theoretischen Hintergründen der qualitativen Medienforschung, der noch einmal unterteilt ist: Im ersten Teil werden theoretische Ansätze vorgestellt, die für die qualitative Medienforschung wichtig sind; im zweiten Teil werden Aspekte der alltagsnahen Medienforschung dargestellt – von der Mediensozialisation bis hin zur Mediennutzung in konvergierenden Medienumgebungen. Der dritte Teil widmet sich der Konzeption, Planung und dem Design von qualitativen Medienforschungsprojekten und berücksichtigt dabei die klassischen Bereiche der Medienforschung ebenso wie einzelne spezifische Themenfelder. Im vierten Teil werden verschiedene Erhebungsmethoden beschrieben, die zahlreiche Möglichkeiten der Generierung von Aussagen darstellen. Der fünfte Teil stellt Verfahren zur Aufzeichnung und Dokumentation qualitativer Daten vor. Der sechste Teil setzt sich mit den verschiedenen Auswertungsmethoden auseinander. Im siebten Teil schließlich, dem Anhang, werden neben dem Autorenverzeichnis, einer allgemeinen Bibliographie, welche Bücher zur qualitativen Medien- und Sozialforschung enthält, auch Fachzeitschriften und Websites aufgelistet, die sich der qualitativen Forschung widmen. Ein umfangreiches Register erleichtert die Arbeit mit dem Handbuch. Verweise auf Beiträge innerhalb des Handbuchs sind mit Pfeilen gekennzeichnet.

Seit der ersten Auflage dieses Handbuchs sind zwölf Jahre vergangen, in denen sich die Medienlandschaft teilweise rasant gewandelt hat. Daher wurden in die Neuauflage zahlreiche neue Beiträge aufgenommen, die einerseits theoretische Entwicklungen reflektieren und andererseits auf neue methodische Herausforderungen eingehen, die auf Grund der Digitalisierung entstanden sind.

Die Zusammenstellung eines so umfangreichen Handbuchs braucht seine Zeit. Dank gilt allen Autorinnen und Autoren, besonders jenen, die ihre Beiträge frühzeitig lieferten und daher umso länger auf das Erscheinen warten mussten. Dank gilt auch allen Leserinnen und Lesern und den Kolleginnen und Kollegen, die uns nach der ersten Auflage mit Kommentaren aller Art erfreuten. Sie haben auch die neue Auflage ermöglicht. Für Korrekturen gebührt der Dank der Herausgeber Simone Neteler und Jessy Lee Noll, sowie Sonja Rothländer und Rüdiger Steiner, die das Projekt beim Verlag mit Geduld und Nachdruck betreuten.

Aarhus/Potsdam, im März 2017

Literatur

Averbeck-Lietz, Stefanie/Meyen, Michael (Hrsg.) (2016): Handbuch nicht standardisierte Methoden in der Kommunikationswissenschaft. Wiesbaden.

Baacke, Dieter/Kübler, Hans-Dieter (1989): Zur Einführung. In: Dies. (Hrsg.): Qualitative Medienforschung. Konzepte und Erprobungen. Tübingen, S. 1–6.

Flick, Uwe/Kardorff, Ernst von/Steinke, Ines (2015): Was ist qualitative Forschung? Einleitung und Überblick. In: Dies. (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek (11. Auflage), S. 13–29.

Geertz, Clifford (1987): Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur. In: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt, S. 7–43.

Giddens, Anthony (1984): Interpretative Soziologie. Eine kritische Einführung. Frankfurt.

Grossberg, Lawrence (1994): Cultural Studies. Was besagt ein Name? In: IKUS Lectures, 3, 17/18, S. 11–40.

Hienzsch, Ulrich/Prommer, Elizabeth (2004): Die Dean-Netroots: Die Organisation von interpersonaler Kommunikation durch das Web. In: Hasebrink, Uwe/Mikos, Lothar/Prommer, Elizabeth (Hrsg.): Mediennutzung in konvergierenden Medienumgebungen. München, S. 147–169.

Meyen, Michael/Löblich, Maria/Pfaff-Rüdiger, Senta/Riesmeyer, Claudia (2011): Qualitative Forschung in der Kommunikationswissenschaft. Eine praxisorientierte Einführung. Wiesbaden.

Mikos, Lothar (2015): Film- und Fernsehanalyse. Konstanz. (3. überarbeitete und aktualisierte Auflage).

Peltzer, Anja/Keppler, Angela (2015): Die soziologische Film- und Fernsehanalyse. Eine Einführung. Berlin/ Boston.

Grundlagen qualitativer Medienforschung

Wissenschaftstheorie und das Verhältnis von qualitativer und quantitativer Forschung

UWE FLICK

In diesem Beitrag wird zunächst die wissenschaftstheoretische Grundlage qualitativer Forschung in den verschiedenen Varianten des sozialen bzw. radikalen Konstruktivismus verortet. Dabei soll deutlich werden, dass qualitative Forschung sich der Untersuchung von Wissensherstellung auf unterschiedlichen Ebenen widmet. Im zweiten Teil wird die aktuelle Diskussion um die Verbindung qualitativer und quantitativer Forschung vor diesem Hintergrund skizziert und beleuchtet.

Einleitung

Im Folgenden soll zunächst kurz auf die wissenschaftstheoretische Grundlage qualitativer Forschung eingegangen werden, die sich an verschiedenen Varianten des Konstruktivismus festmachen lässt. Im zweiten Teil wird die zunehmend an Aktualität gewinnende Verknüpfung qualitativer und quantitativer Forschung kurz behandelt werden. Die methodische Diskussion qualitativer Methoden stand lange Zeit im Zeichen der Kritik an quantifizierenden Methoden und Forschungsstrategien. Einerseits sind die Auseinandersetzungen um das jeweilige Wissenschaftsverständnis noch nicht beigelegt (vgl. Becker 1996). Andererseits hat sich auch in der Medienforschung in beiden Bereichen eine umfängliche Forschungspraxis entwickelt, die jeweils für sich steht, unabhängig davon, dass es gute und schlechte Forschung in beiden Bereichen gibt. Ein Zeichen dafür, dass qualitative Forschung unabhängig von quantitativer Forschung und von Grabenkämpfen gegen diese geworden ist, lässt sich auch darin sehen, dass etwa das Handbuch von Denzin und Lincoln (2000) ohne ein eigenes Kapitel über die Beziehungen zu quantitativer Forschung auskam und dass es kaum Bezüge dazu in seinem Stichwortverzeichnis gab. Jedoch gewinnt die Kombination beider Strategien eine Perspektive, die in unterschiedlicher Gestalt diskutiert und praktiziert wird, zunehmend an Reiz (vgl. etwa Tashakkori/Teddlie 2010; Flick 2011, 2017). Für eine solche Auseinandersetzung ist es jedoch hilfreich, kurz die wissenschaftstheoretischen Grundlagen qualitativer Forschung zu betrachten.

Wissenschaftstheoretische Grundlagen qualitativer Forschung

Qualitative Forschung ist in ihren unterschiedlichen Spielarten verschiedenen Leitfragen verpflichtet. Sie interessiert für den Nachvollzug subjektiv gemeinten Sinns, die Beschreibung der Herstellung sozialen Handelns und sozialer Milieus und der Rekonstruktion tiefer liegender Strukturen sozialen Handelns (vgl. hierzu Lüders/Reichertz 1986). In diesen drei Perspektiven wird mit unterschiedlicher Akzentuierung die Konstruktion sozialer Wirklichkeiten fokussiert. Damit schließt qualitative Forschung wissenschaftstheoretisch an Ansätze des Konstruktivismus an. Unter der Bezeichnung »Konstruktivismus« werden Programme mit unterschiedlichen Ansatzpunkten zusammengefasst. Gemeinsam ist allen konstruktivistischen Ansätzen, dass sie das Verhältnis zur Wirklichkeit problematisieren, indem sie konstruktive Prozesse beim Zugang zu dieser behandeln. Konstruktionsleistungen werden auf verschiedenen Ebenen angesiedelt:

1) In der Tradition von Jean Piaget (1937) werden das Erkennen, das Wahrnehmen der Welt und das Wissen über sie als Konstruktionen verstanden. Der radikale Konstruktivismus (Glasersfeld 1996) führt diesen Gedanken dahingehend fort, dass jede Form der Erkenntnis schon aufgrund der neurobiologischen Prozesse, die dabei involviert sind, nur zu den Bildern von der Welt und der Wirklichkeit, nicht jedoch zu beidem direkt Zugang habe.

2) Sozialer Konstruktivismus in der Tradition von Schütz (1971), Berger und Luckmann (1969) sowie Gergen (1994) fragt nach den sozialen (z. B. kulturellen oder historischen) Konventionalisierungen, die Wahrnehmung und Wissen im Alltag beeinflussen.

3) Konstruktivistische Wissen(schaft) ssoziologie in der als »Laborkonstruktivismus« (Knorr-Cetina 1984) bezeichneten Forschung untersucht, wie soziale, historische, lokale, pragmatische etc. Faktoren wissenschaftliche Erkenntnis so beeinflussen, dass wissenschaftliche Fakten als soziale Konstruktionen (»lokale Erzeugungen«) aufzufassen sind.

Konstruktivismus ist kein einheitliches Programm, sondern entwickelt sich parallel in verschiedenen Disziplinen. Von den drei angesprochenen Richtungen sind vor allem die ersten beiden für qualitative Forschung relevant. Das empirische Programm des (Labor-) Konstruktivismus wurde bislang noch nicht auf qualitative Forschung angewendet. Im Folgenden ist der Gedanke leitend, dass der Konstruktivismus damit beschäftigt ist, wie Wissen entsteht, welcher Wissensbegriff angemessen ist und welche Kriterien zur Bewertung von Wissen herangezogen werden können. Für qualitative Forschung ist dies in doppelter Hinsicht relevant, da sie wie jede Forschung Wissen produziert und dabei (häufig zumindest) an spezifischen Wissensformen empirisch ansetzt – z. B. biographisches Wissen, Experten- oder Alltagswissen etc.

Erkenntnistheoretische Annahmen zum Charakter sozialer Wirklichkeit

Alfred Schütz hat festgehalten, dass Tatsachen erst über ihre Bedeutungen und ihre Interpretationen relevant werden:

»Genau genommen gibt es nirgends so etwas wie reine und einfache Tatsachen. Alle Tatsachen sind immer schon aus einem universellen Zusammenhang durch unsere Bewusstseinsabläufe ausgewählte Tatsachen. Somit sind sie immer interpretierte Tatsachen: entweder sind sie in künstlicher Abstraktion aus ihrem Zusammenhang gelöst, oder aber sie werden nur in ihrem partikulären Zusammenhang gesehen. Daher tragen in beiden Fällen die Tatsachen ihren interpretativen inneren und äußeren Horizont mit sich« (Schütz 1971, S. 5).

Von den verschiedenen Konstruktivismen von Schütz bis Glasersfeld wird in Frage gestellt, dass die äußere Realität unmittelbar zugänglich sei – d. h. unabhängig von Wahrnehmungen und Begriffen, die wir verwenden und konstruieren. Wahrnehmung wird nicht als passiv-rezeptiver Abbildungsprozess, sondern als aktiv-konstruktiver Herstellungsprozess verstanden. Dies hat Konsequenzen für die Frage, ob eine Repräsentation (der Wirklichkeit, eines Prozesses oder Gegenstandes) auf ihre Richtigkeit hin am »Original« überprüft werden kann. Diese Form der Prüfbarkeit wird vom Konstruktivismus allerdings in Frage gestellt, da das Original nur über andere Vorstellungen (oder Konstruktionen) zugänglich ist. Deshalb können nur die verschiedenen Vorstellungen oder Konstruktionen miteinander verglichen werden. Für konstruktivistische Erkenntnistheorie und darauf basierende empirische Forschung werden Wissen und die enthaltenen Konstruktionen der relevante Zugang zu den Gegenständen, mit denen sie sich beschäftigen.

Konstruktion des Wissens

An drei zentralen Autoren lässt sich verdeutlichen, wie das Zustandekommen von Wissen und seine Funktion konstruktivistisch beschrieben wird.

Schütz (1971, S. 5) geht von folgender Prämisse aus: »Unser gesamtes Wissen von der Welt, sei es im wissenschaftlichen oder im alltäglichen Denken, enthält Konstruktionen, das heißt einen Verband von Abstraktionen, Generalisierungen, Formalisierungen und Idealisierungen, die der jeweiligen Stufe gedanklicher Organisation gemäß sind.« Für Schütz wird jede Form des Wissens durch Selektion und Strukturierung konstruiert. Die einzelnen Formen unterscheiden sich nach dem Grad der Strukturierung und Idealisierung, der von ihren Funktionen – konkreter als Basis alltäglichen Handelns oder abstrakter als Modell in der wissenschaftlichen Theoriebildung – abhängt. Schütz benennt verschiedene Prozesse, denen gemeinsam ist, dass die Bildung des Wissens über die Welt nicht als reine Abbildung gegebener Fakten zu verstehen ist, sondern die Inhalte in einem aktiven Herstellungsprozess konstruiert werden.

Dieses Verständnis wird im radikalen Konstruktivismus weiterentwickelt, dessen »Kernthesen« Glasersfeld (1992, S. 30) formuliert:

»1. Was wir ›Wissen‹ nennen, repräsentiert keineswegs eine Welt, die angeblich jenseits unseres Kontaktes mit ihr existiert. […] (Der) Konstruktivismus führt ähnlich wie der Pragmatismus ein modifiziertes Konzept von Erkennen/Wissen ein. Danach bezieht sich Wissen auf die Art und Weise wie wir unsere Erfahrungswelt organisieren.

2. Der Radikale Konstruktivismus leugnet keineswegs eine äußere Realität. […]

3. Mit Berkeley stimmt der Radikale Konstruktivismus darin überein, dass es unvernünftig wäre, etwas die Existenz zu bescheinigen, was nicht oder nicht irgendwann wahrgenommen werden kann/könnte. […]

4. Von Vico übernimmt der Radikale Konstruktivismus die grundlegende Idee, dass menschliches Wissen eine menschliche Konstruktion ist. […]

5. Der Konstruktivismus gibt die Forderung auf, Erkenntnis sei ›wahr‹, insofern sie die objektive Wirklichkeit abbilde. Stattdessen wird lediglich verlangt, dass Wissen viabel sein muss, insofern es in die Erfahrungswelt des Wissenden passen soll […].«

Wissen organisiert demnach Erfahrungen, die erst die Erkenntnis der Welt außerhalb des erkennenden Subjekts oder Organismus ermöglichen. Erfahrungen werden durch die Begriffe und Zusammenhänge, die das erkennende Subjekt konstruiert, strukturiert und verstanden. Ob das dabei entstehende Bild wahr oder richtig ist, lässt sich nicht beantworten. Jedoch lässt sich seine Qualität durch seine Viabilität bestimmen, das heißt inwieweit das Bild oder Modell dem Subjekt ermöglicht, sich in der Welt zurechtzufinden und in ihr zu handeln. Dabei ist ein Ansatzpunkt die Frage, wie die »Konstruktion von Begriffen« (Glasersfeld 1996, S. 132 ff.) funktioniert.

Für den sozialen Konstruktivismus erhalten die sozialen Austauschprozesse bei der Entstehung von Wissen, insbesondere der verwendeten Begriffe, eine spezielle Bedeutung. In diesem Sinne formuliert Gergen (1994, S. 49 ff.) folgende »Annahmen für eine sozialkonstruktionistische Wissenschaft«:

»Die Begriffe, mit denen wir die Welt und uns selbst erklären, werden nicht von den angenommenen Gegenständen solcher Erklärungen diktiert […]. Die Begriffe und Formen, mittels derer wir ein Verständnis der Welt und von uns selbst erreichen, sind soziale Artefakte, Produkte historisch und kulturell situierter Austauschprozesse zwischen Menschen. […]. Inwieweit eine bestimmte Erklärung der Welt oder des Selbst über die Zeit aufrechterhalten wird, hängt nicht von der objektiven Validität der Erklärung, sondern von den Eventualitäten sozialer Prozesse ab. […] Sprache leitet ihre Bedeutung in menschlichen Angelegenheiten aus der Art, in der sie in Beziehungsmustern funktioniert, ab. Die Bewertung vorhandener Diskursformen heißt Muster kulturellen Lebens zu bewerten; solche Bewertungen verschaffen anderen kulturellen Enklaven Gehör.«

Wissen wird in sozialen Austauschprozessen konstruiert, basiert auf der Rolle von Sprache in sozialen Beziehungen und hat vor allem soziale Funktionen. Die angesprochenen Eventualitäten sozialer Prozesse beeinflussen, was als gültige oder brauchbare Erklärung überdauert.

Fazit

Indem sich qualitative Forschung wissenschafts- und erkenntnistheoretisch am Konstruktivismus orientiert, gibt sie verschiedene Annahmen auf, die für standardisierte empirische Forschung leitend sind: Es geht bei empirischer Forschung weniger um die Abbildung von Fakten als um die Analyse von Bedeutungen und Herstellungsleistungen in Bezug auf die untersuchte Wirklichkeit. Diese kann weder als gegeben noch als unmittelbar zugänglich aufgefasst werden. Objektive Fakten werden damit zu sozialen Konstruktionen in bestimmten Kontexten – seitens der untersuchten Personen, aber auch durch die Forschung selbst. Dieses Wirklichkeitsverständnis hat einerseits Konsequenzen für die Gestaltung qualitativer Forschungsstrategien und ihr Verhältnis zur untersuchten Wirklichkeit (vgl. hierzu Flick 2016, Kap. 8). Andererseits wird es für die Gestaltung des Verhältnisses zu quantitativer Forschung relevant, die von einem anderen Verständnis der Beziehung von Forschung und untersuchter Wirklichkeit ausgeht.

Zum Verhältnis von qualitativer und quantitativer Forschung

Das Verhältnis von qualitativer und quantitativer Forschung lässt sich auf verschiedenen Ebenen behandeln bzw. realisieren:

• hinsichtlich der Erkenntnistheorie und Methodologie (sowie erkenntnistheoretische bzw. methodologische Unvereinbarkeiten),

• in Forschungsdesigns, die qualitative und quantitative Daten und/oder Methoden kombinieren bzw. integrieren,

• über Forschungsmethoden, die sowohl qualitativ als auch quantitativ sind,

• durch die Verknüpfung von Ergebnissen qualitativer und quantitativer Forschung,

• in Bezug auf die Verallgemeinerung oder

• bezüglich der Bewertung der Forschungsqualität: Anwendung von Kriterien aus der quantitativen Forschung auf qualitative Forschung oder vice versa.

Auf der Ebene von Erkenntnistheorie und Methodologie werden qualitative und quantitative Forschung unterschiedlich in Beziehung gesetzt. Es findet sich die Betonung der Inkompatibilitäten qualitativer und quantitativer Forschung in ihren erkenntnistheoretischen und methodologischen Prinzipien (z. B. Becker 1996), in ihren konkreten Zielen oder in den Zielsetzungen, die mit Forschung generell verfolgt werden sollen. Dies wird häufig mit unterschiedlichen theoretischen Positionen verknüpft wie Positivismus versus Konstruktivismus (s. o.) oder (im englischen Sprachraum) Postpositivismus. Gelegentlich werden diese Unvereinbarkeiten als unterschiedliche Paradigmen bezeichnet und beide Seiten in »Paradigmen-Kriege« verstrickt gesehen (z.B. Lincoln/Guba 1985). Eine Lösung in dieser Diskussion zielt auf das getrennte Nebeneinander der Forschungsstrategien, abhängig von Gegenstand und Fragestellung der jeweiligen Forschung. Wer etwas über das subjektive Erleben bei der Rezeption bestimmter Fernsehsendungen wissen will, sollte offene Interviews mit einigen Nutzern führen und detailliert analysieren. Wer etwas über die Häufigkeit und Verteilung solcher Nutzungsweisen von Medien in der Bevölkerung wissen will, sollte eine Studie auf der Basis der Einschaltquoten durchführen. Für die eine Fragestellung sind qualitative Methoden zuständig, für die andere sind quantitative Methoden eher geeignet.

Seit einigen Jahren sind mehrere Trends zu beobachten, die eine strikte Trennung zwischen qualitativer und quantitativer Forschung überwinden sollen. Ausgangspunkt ist die sich langsam durchsetzende Erkenntnis, »dass qualitative und quantitative Methoden eher komplementär denn als rivalisierende Lager gesehen werden sollten« (Jick 1983, S. 135). Solche Trends laufen auf die Verbindung qualitativer und quantitativer Forschung hinaus. Allgemeiner unterscheidet Bryman (2001) zwei Ebenen, auf denen das Verhältnis von qualitativer und quantitativer Forschung diskutiert wird: Auf der Ebene der »epistemology« geht es eher um die grundsätzliche Unvereinbarkeit beider Zugänge, gelegentlich unter Rückgriff auf die jeweils spezifischen Paradigmen. In der »technical version« der Diskussion werden dagegen diese Unterschiede gesehen, aber nicht als unüberwindbar oder zumindest nicht als unmöglich zu berücksichtigen betrachtet. Vielmehr geht es hierbei mehr um den Nutzen und Beitrag des einen Ansatzes für den anderen. In eine ähnliche Richtung argumentiert Hammersley (1996, S. 167 f.), der drei Formen der Verknüpfung qualitativer und quantitativer Forschung unterscheidet: Die Triangulation beider Ansätze setzt den Akzent auf die wechselseitige Überprüfung der Ergebnisse; die Facilitation betont die unterstützende Funktion des jeweils anderen Ansatzes – z. B. liefert der eine Ansatz Hypothesen und Denkansätze für die Weiterführung der Analysen mit dem anderen Ansatz; und schließlich können beide Ansätze als komplementäre Forschungsstrategien kombiniert werden.

Bryman (1992) identifiziert elf Varianten der Integration quantitativer und qualitativer Forschung. Die Logik der Triangulation (1) sieht er in der Überprüfung etwa qualitativer durch quantitativer Ergebnisse. Qualitative kann quantitative Forschung unterstützen (2) und vice versa (3), beides wird zur Herstellung eines allgemeineren Bildes des untersuchten Gegenstandes (4) verknüpft. Strukturelle Aspekte werden durch quantitative und Prozessaspekte durch qualitative Zugänge erfasst (5). Die Perspektive des Forschers ist die treibende Kraft in quantitativen Zugängen, während qualitative Forschung die subjektive Sicht der Akteure in den Vordergrund stellt (6). Das Problem der Generalisierbarkeit (7) lässt sich für Bryman vor allem durch die Hinzuziehung von quantitativen Erkenntnissen für die qualitative Forschung lösen, wohingegen qualitative Erkenntnisse (8) die Interpretation von Zusammenhängen zwischen Variablen quantitativer Datensätze erleichtern können. Die Beziehung zwischen Mikro- und Makroebene in einem Gegenstandsbereich (9) kann durch die Kombination qualitativer und quantitativer Forschung geklärt werden, die wiederum in verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses (10) eingesetzt werden können. Schließlich sind noch Hybridformen (11) – etwa die Verwendung qualitativer Forschung in quasiexperimentellen Designs – zu nennen (vgl. Bryman 1992, S. 59 ff.).

Insgesamt gibt diese Übersicht eine breite Palette von Varianten wieder. Dabei sind die Varianten 5, 6 und 7 davon bestimmt, dass qualitative Forschung andere Aspekte als quantitative Forschung erfasst und deren Kombination sich in dieser Unterschiedlichkeit begründet. Kaum eine Rolle in den genannten Varianten spielen theoretische Überlegungen, der gesamte Ansatz von Bryman ist stark der Forschungspragmatik verpflichtet.

Darüber hinaus ist häufig von der Integration qualitativer und quantitativer Verfahren (Kluge/ Kelle 2001) oder von »Mixed Methodologies« (Tashakkori/Teddlie, 2010), aber auch von der Triangulation von qualitativen und quantitativen Methoden (Kelle/Erzberger 2000; Flick 2011, 2018; → Treumann, S. 264 ff.) die Rede. Die Wortwahl zeigt jeweils schon, dass diese Ansätze unterschiedliche Ansprüche verfolgen. Bei den »Mixed Methodologies« geht es vor allem darum, eine pragmatische Verknüpfung von qualitativer und quantitativer Forschung zu ermöglichen, wodurch die »paradigm wars« beendet werden sollen. Dieser Ansatz wird zu einem »third methodological movement« (Tashakkori/Teddlie 2003, S. ix), wobei die quantitativen Methoden als erste, die qualitativen Methoden als zweite Bewegung verstanden