Erfüllung des Schicksals

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Fast zu derselben Zeit, als sich König Pepi in das Nilbecken begab, um seinen letzten Trumpf gegen den Bruder auszuspielen, hatte eine Sänfte, begleitet von einem Trupp Bogenschützen, den Pharaonenpalast verlassen. Sie wurde von vier starken nubischen Sklaven getragen. Unter ihrem Zeltdach befanden sich Nitokris und Nefer.

Die Prinzessin hatte, nachdem sie Mirinris Begnadigung erlangt, den ihr zugeteilten Soldaten Befehl gegeben, sie zu begleiten, um den Unglücklichen zu befreien. Sie war zuversichtlich und heiter. »Bald werden Mirinris Qualen ein Ende haben!« sagte sie frohlockend. »Mein Vater wird nichts mehr gegen ihn unternehmen.«

»Wirst du ihn schützen vor jeder Gefahr?« fragte Nefer.

»Vor jeder!«

»Auch wenn er sich des Throns bemächtigt?«

»Wenn mein Vater gestorben ist, wird er Pharao von Ägypten werden.«

»Den Tod des Königs wird er nicht abwarten. Um den Thron zu erobern, hat er die Wüste verlassen!«

»Er wird sich meinem Wunsch fügen, denn er liebt mich.«

Nefer verstummte und senkte das Haupt, und ein schmerzvoller Ausdruck lag erneut auf ihrem schönen Gesicht.

Als die Sänftenträger außerhalb der Stadt waren, beschleunigten sie ihre Schritte, bis nach den Ausläufern der libyschen Bergkette die zahlreichen Pyramiden der Nekropolis von Memphis sichtbar wurden.

Die Mädchen entdeckten inmitten des riesigen Geländes sofort die aus grauen Basaltblöcken gebildete Mauer, die den Eingang zum unterirdischen Teil der Totenstadt kennzeichnete. Sie erschraken bei diesem Anblick.

»Dort werden wir ihn finden«, sagte Nefer, »aber wird er noch am Leben sein? Wird er sich nicht aus Verzweiflung getötet haben?«

Auch Nitokris' Herz erbebte.

»Schweig, Nefer!« bat sie. Voller Ungeduld rief sie den Nubiern zu, noch mehr zu eilen.

Jetzt hielt die Sänfte bei den Grabstätten, die der Wüstensand zum Teil bedeckt hatte. Kein menschliches Wesen ringsum.

Nitokris und Nefer stiegen aus. Voller Beklommenheit folgten sie den Bogenschützen, die den fünften Stein an der Mauer als denjenigen bezeichneten, der Mirinri eingeschlossen hatte. Die Soldaten machten sich sogleich ans Werk, den Block wieder zu entfernen. Sie hatten das Handwerkszeug dazu, schwere, keilförmige Hämmer und Treibpfähle, mitgebracht. Aber es war eine schwierige Arbeit; erst nach Stunden gelang es, den Rand des zwei Meter hohen Steines zu entfernen.

Als der Block schließlich unter großer Anstrengung fortgerückt war, horchte die Prinzessin eilig, ob irgendein Ton im Innern der Höhle vernehmbar war.

Alles blieb still.

Vielleicht hatte sich der Unglückliche in den dunklen Gängen verirrt? Warum lockte ihn der Lichtschein nicht an? Eine grenzenlose Angst überfiel sie.

»War der Serdab unversehrt, oder könnten sich Steine abgelöst und den Gefangenen getötet haben?« fragte sie die Bogenschützen.

»Es war kein Einsturz zu befürchten«, antwortete man ihr.

»Hat sich der Gefangene gesträubt, als ihr ihn hier eingemauert habt?«

»Nein.«

»Zündet die Fackeln an! Wir wollen ihn suchen!«

Hinter dem Eingang befand sich eine aus mächtigen Stufen bestehende Treppe, die unter die Erde führte, und zwar in einen langen, gewölbten Gang. Zu beiden Seiten dieses Ganges erblickte man eine Unzahl einbalsamierter Tiere: Katzen, Ibisse, Krokodile und andere, die vom Volk verehrt wurden.

Immer weiter führte der Gang. Den Eindringenden strömte Modergeruch entgegen, von den Mumien armer Leute, deren Einbalsamierung lange nicht so sorgfältig war wie die der Reichen und Fürsten.

Auf Befehl der Königstochter ließen die Soldaten schließlich einen lauten Pfiff ertönen, der bis in die entlegensten Winkel der Höhle dringen mußte.

Nach wenigen Augenblicken bangen Wartens wurde ein schwacher Laut hörbar.

Nitokris und Nefer fuhren zusammen. »Das war eine menschliche Stimme!« riefen sie beide, »Suchen wir weiter!«

Der Gang schien kein Ende zunehmen. Ab und zu verzweigte er sich in verschiedene Richtungen. Wieder riefen die Suchenden nach dem Gefangenen. Diesmal noch lauter und länger.

»Er ist tot«, seufzte Nefer. »Jener Laut wird nur ein Echo gewesen sein.«

»Halt!« sagte da der Führer der Eskorte. »Ich höre Schritte!«

»Mirinri!« riefen beide Mädchen wie aus einem Mund.

Nach einer Pause waren Worte aus der Ferne vernehmbar. »Wer hat den Mut, mich zu suchen?«

Dann hörte man erneute, deutlichere Schritte auf dem Steinboden.

»Laßt zwei Fackeln hier und erwartet uns am Ausgang der Grabstätte«, befahl die Prinzessin ihren Begleitern, und tatsächlich waren die Soldaten kaum hinter der Gangbiegung verschwunden, als auch schon Mirinri erschien.

»Ihr hier?« rief er beim Anblick der beiden Retterinnen aus.

»Träume ich, oder hat sich meine Seele vom Körper getrennt?«

»Nein, es ist Wirklichkeit – wir sind gekommen, dich zu erlösen.«

»Und mit mir zu sterben?«

»Du bist frei! Du wirst im Pharaonenpalast erwartet!« jubelte die Königstochter. »Niemand wird uns mehr voneinander trennen!«

Er schlang seinen Arm um sie und nahm die Fackel aus ihrer Hand. So legten sie beide den langen Weg zurück bis zum Ausgang der Höhle.

Keiner von beiden dachte an Nefer, die ihnen still folgte. Obwohl sie seit langem wußte, daß sie auf Mirinris Liebe verzichten mußte, litt sie unsäglich.

Als sie sich dann dem Eingang in der Mauer näherten, erinnerte das eindringende Tageslicht Mirinri wieder an die Oberwelt und die vorausgegangenen Ereignisse. Besorgt fragte er, ob man etwas von Unis wisse.

»Erkläre mir, wer Unis ist«, bat Nitokris.

»Mein Erzieher, der mir Freund und Vater war.«

Nun brach Nefer ihr Schweigen. »Er ist verhaftet worden«, sagte sie.

Der Jüngling erschrak. »Wehe, wenn diesem Mann ein Haar gekrümmt wird!« rief er drohend. »Der König müßte es büßen!«

»Nefer«, wandte sich die Prinzessin an ihre Gefährtin, »ich bitte dich, geh du voraus und erwirke Gnade für ihn. Sag meinem Vater, daß er Unis freigeben muß, wenn er seine Tochter je wiedersehen will.«

»Ich gehe.«

Nachdem sie aus der Höhle hinausgetreten waren und wieder freie Luft atmeten, bestieg also Nefer die Sänfte, während die Prinzessin mit Mirinri den Weg zum Palast eiligst zu Fuß zurücklegen wollte.

Bald hatten die Sänftenträger die ersten Häuser der Stadt erreicht. Diese lag wie ausgestorben. Nefer wußte aber noch nichts von dem Schauspiel im Staubecken, das König Pepi seinen Untertanen hatte bieten wollen. Vor dem Palast angelangt, entstieg sie rasch dem Tragsessel, um sich zum König zu begeben.

In diesem Augenblick vertrat ihr der Oberpriester den Weg. Sie erschrak heftig.

»Du hast nicht vermutet, mich wiederzusehen?« spottete er.

»Dein Dolchstoß war nicht tief genug!« Mit diesen Worten zerrte er sie in ein neben dem Thronsaal liegendes Gemach und verriegelte die Tür. »Was wolltest du hier? Was ist dein Begehr?«

»Den König sprechen«, antwortete Nefer, die sich schnell wieder gefaßt hatte, mit trotzigem Ausdruck.

»In wessen Auftrag?«

»Die Prinzessin schickt mich!«

»Also ist es gelungen, Mirinri zu befreien?«

»Er wird bald hier sein und den ihm gebührenden Platz einnehmen!«

»Und wenn das geschähe, Nefer, was würde dann aus dir? Könnte sich die stolze, leidenschaftliche Fürstin der Schatteninsel damit begnügen, auf einer der Thronstufen zu sitzen und dem Liebeswerben der beiden zuzusehen?«

Das Mädchen stutzte.

»Du liebst den Sohn Tetis; ich weiß es. Aber er hat dich verschmäht – welche Schande ... Er wird auch niemals die vielen Opfer lohnen, die du ihm gebracht hast. Sein Werben gilt allein der Königstochter, die ihm zum Thron verhilft.«

»Halt ein!« schrie Nefer auf.

Er lachte höhnisch. »Hast du mich etwa geschont?«

»Es ist aber wahr, was wird dann aus mir?« sprach sie kaum hörbar vor sich hin. »Sehend verzichten ist schlimmer als sterben...«

Mit blitzenden Augen hob Her-Hor einen Vorhang, hinter dem an der Wand Schwerter und Dolche mit blitzender Spitze hingen. »Du hast nur zu wählen«, sagte er kalt.

Plötzlich vernahm man einen dumpfen Lärm, wie das andauernde Rollen eines Donners, aus der Ferne. Der Oberpriester horchte gespannt; dann eilten beide zum Fenster und schauten die lange Allee hinab.

Da sahen sie König Pepi in seiner Sänfte. Sie schwankte, denn die Sklaven, die sie trugen, eilten fluchtartig den Weg hinauf. Nur wenige Soldaten umgaben ihn. Das prunkvolle Geleit von Würdenträgern, Priestern, Wachen, von Musikanten und Tänzerinnen hatte sich aufgelöst.

»Was ist geschehen? Eine Revolte?« rief der Priester heiser. »Der König flieht vor der Menge!«

Immer näher kam das Getöse. Es war, als wälzte sich ein langer Zug durch die Straßen. Schon unterschied man einzelne Rufe: »Es lebe Teti der Große!«

Ein gräßlicher Fluch entrann sich der Brust Her-Hors. Er konnte einfach nicht glauben, daß die Ausführung des teuflischen Plans, den er ersonnen hatte, nicht gelungen war. Wie erstarrt stand er und schaute.

Inzwischen flüchtete alles, was sich im Palast aufhielt: Leibwächter, Diener und Dienerinnen eilten in wilder Hast in die Gärten. Gleichzeitig kam die tausendköpfige Menge heran, einen Greis an der Spitze.

»Alles ist verloren«, murmelte der Oberpriester. »Mir bleibt nur noch dies eine. – Komm, unsere letzte Stunde hat geschlagen«, wandte er sich an Nefer. »Vollenden wir das Werk.« Und er drückte ihr einen Dolch in die Hand.

»Mein Schicksal muß sich erfüllen, wie ich es vorhergesehen habe!« sagte sie tonlos.

Teti und sein Gefolge waren jetzt in den Thronsaal nebenan eingetreten. Als er dem Usurpator die Uräusschlange, das Recht über Leben und Tod seiner Untertanen, entriß und ihn zu Boden zwang, verlor die Majestät des Throns ihre Glorie, und das Volk stand wieder fest zu Teti. Es erinnerte sich noch einmal, daß ihr ehemaliger tapferer König, der sie einst zum Sieg gefühlt hatte, beinahe einem schändlichen Brudermord zum Opfer gefallen wäre.

Da stürmten die Prinzessin und Mirinri in den Saal. Sie bahnten sich gewaltsam einen Weg durch die Menge.

»Rettet den König!« rief Nitokris.

Aber niemand rührte die Hand.

»Es lebe Teti der Große!« schrien alle. »Heil, Heil!«

Mirinri starrte auf Unis. »Mein Vater ...?« stammelte er. »Also ist es doch wahr! Mein Herz hatte mich nicht getäuscht!« Und er eilte auf ihn zu, kniete nieder und küßte den Saum seines Gewandes.

Teti hob ihn empor. Eine unsägliche Freude strahlte aus seinen Augen. »Mein Sohn!«

»Laß Nitokris' Vater leben – vergib ihm«, kam es innig von Mirinris Lippen. »Auch ich verzeihe ihm, daß er mich lebendig begraben wollte, denn seine Tochter hat mich gerettet.«

»Es sei! Um derjenigen willen, die du liebst!« Und Teti warf das Schwert von sich, das auf den Usurpator gerichtet war.

Während aber all dies geschah, hatte Nefer sich in dem Gemach nebenan lautlos den Dolch ins Herz gestoßen.

»Du hast deine Strafe und ich – wenigstens einen Teil meiner Rache«, sagte Her-Hor, befriedigt auf sein Werk blickend. Triumphierend nahm er das sterbende Mädchen in seine Arme, stürzte mit ihr in den Thronsaal und legte sie Teti zu Füßen.

»Hier, deine Tochter!« rief er unter gellendem Hohngelächter.

»Sie will dir Glück wünschen zu deinem Triumph!«

»Schwester!« schrie Mirinri.

Teti stand wie erstarrt.

»Nefer – meine Tochter?« stöhnte er auf, indem er sich über das bleiche Gesicht des Mädchens beugte und ihr Haar streichelte. »Schurke, erkläre mir, wie ...«

»Sie hat sich das Leben genommen, das sie ohne Mirinris Liebe nicht ertragen wollte!«

»Ist es wahr, mein Kind?« fragte er die Sterbende. Mit letzter Kraft brachte sie ein »Ja« hervor; dann sank ihr Haupt zur Seite. Mirinri und die Prinzessin knieten schmerzerfüllt bei ihrer Leiche nieder.

Schweigen trat ein.

Dann aber richtete Teti sich wieder auf. »Und nun zu dir, Elender!« wandte er sich mit flammenden Blicken an den Oberpriester. »Ich weiß, daß du alles darangesetzt hast, diesen erhabenen Augenblick zu vergiften, wo es mir vergönnt war, wieder zu meinem Volk zu sprechen.«

»Hast du Mitleid mit mir gehabt? Tue, was du willst! Seitdem du mich aus dem Tempel gejagt hast, hat mich nur der eine Gedanke beherrscht, meine Rache an dir zu kühlen. Ja, deshalb habe ich deine Tochter auf Mirinris Spuren geschickt!«

Mirinri wollte sich auf den Priester stürzen, doch Teti hinderte ihn daran.

»Laß ab – er soll das Schicksal haben, das man dir zugedacht hatte. Sobald Nefer in der Pyramide unserer Dynastie feierlich beigesetzt ist, soll er in einer Totenkammer lebendig begraben werden! Ich aber verzichte auf den Thron um deinetwillen, mein Sohn, und kehre in die Wüste zurück.«

Und Teti nahm die Uräusschlange, die er seinem Bruder abgenommen hatte, und befestigte sie an Mirinris Stirn. »Volk Ägyptens«, rief er, »vernimm meinen letzten Willen! Ich übergebe die Herrschaft meinem Sohn Mirinri, der würdig ist, mein Nachfolger zu werden. Er wird euch gütig und weise regieren. Sein Charakter bürgt mir dafür. Pepi, mein Bruder, wird begnadigt, da er der Vater eurer künftigen Königin ist. Er soll in die Verbannung gehen. Ata, das tapfere Haupt meiner Anhänger, soll dem jungen Pharao als Ratgeber zur Seite stehen. Lebt wohl und gedenkt meiner, der ich mit meiner toten Tochter jetzt in die Wüste ziehe!«

Als er geendet hatte, hallte der Ruf aus tausend und abertausend Kehlen wider: »Es lebe Mirinri, der neue König von Ägypten!«

Am Ufer des Nils

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Tiefes Schweigen herrschte an den Ufern des majestätischen Flusses. Hinter den hohen Wipfeln der Fächerpalmen ging soeben die Sonne in einem Feuermeer unter. Bronzefarbig erschienen die Fluten. Im Osten kündigte ein immer dichter werdender Dunst die Abenddämmerung an.

Am Strand stand ein junger Ägypter. Sein Blick schweifte träumerisch über das Wasser, das murmelnd zwischen den Papyrus StaudenPapyrus In alten Zeiten muß beinahe der ganze Nillauf mit Papyrus, einer heute fast verschwundenen Pflanze, bedeckt gewesen sein. Die Schiffahrt erlitt durch sie bedeutende Stockungen. Die Pflanzen verbreiteten sich so schnell, daß die ägyptische Regierung von Zeit zu Zeit die Fahrrinnen durch Tausende von Arbeitern davon befreien lassen mußte.
Man gewann aber auch viele nützliche Dinge aus der Papyruspflanze: Der bei der Wurzel abgeschnittene untere Teil diente der armen Bevölkerung als Nahrung. Aus den Blättern fertigte man Körbe, Fächer u. a., aus den Fasern Papier und aus den schichtweise übereinandergelegten Häutchen Sandalen. Aus den zusammengefügten, biegsamen Stämmen machte man leichte Kanus, die den Nil befahren konnten.
zerrann. Er mochte wohl neunzehn Jahre zählen, hatte breite Schultern und nervige Arme mit langen, schlanken Händen und schöne, regelmäßige Gesichtszüge.

Sein Gewand bestand aus einem faltenreichen Hemd, das an den Hüften durch eine weiß- und blaugestreifte Leinenbinde zusammengehalten wurde. Als Kopfbedeckung trug er ein dreieckiges Tuch mit buntem Besatz, das bis auf die Schultern herabfiel. Ein schmaler Pelzrand umschloß die Stirn.

Der Jüngling beachtete nicht, daß sich bereits die Schatten der Nacht herabsenkten und so den Aufenthalt am Ufer gefährlich machten. Seine dunklen Augen schienen ein in der Ferne entschwundenes Idol zu suchen. Er seufzte: »Sie wird nie mehr wiederkehren! Sind es doch nur die Pharaonen,Pharao Die ägyptischen Herrscher wurden als Pharaonen bezeichnet; ihre Machtfülle war groß. Papyrusblätter erzählen, daß das ganze Gebiet zwischen dem Roten Meer im Osten und der libyschen Wüste im Westen vor Jahrtausenden von einem Gott bewohnt gewesen sei, der einigen zufolge Osiris, andern zufolge Horus hieß, und daß diese Gottheit, eines Tages müde geworden, ihre Macht in die Hände eines menschlichen Wesens namens Menes gelegt habe. Menes wurde so der erste Pharao. Aus dieser Legende leitet sich auch der Name »Sonnensöhne« für die Pharaonen her. die von den Göttern begünstigt werden, wir Sterbliche nicht!«

Die Purpurröte am Himmel war im Nu verschwunden. Schon blitzten die Sterne auf.

Als der Jüngling sich heimwandte, sah er zwischen dem Gras und den trockenen Blättern am Boden einen glänzenden Gegenstand liegen. Es war ein goldenes, bunt emailliertes Schmuckstück in Form einer kleinen, hochaufgerichteten Schlange mit Geierkopf. Erstaunt hob er das Kleinod auf.

»Ein Uräus? Das Symbol der Macht über Leben und Tod?« murmelte er sinnend. »Nur Pharaonen dürfen den Schmuck tragen. Sah ich ihn nicht auch an der SphinxSphinx Ein Mischwesen mit Löwenkörper und Menschenkopf. Bei den Ägyptern verkörperte es die Königsmacht; zugleich wurden aber auch Götter als Sphinxe dargestellt. in unserer Felsenhöhle an der Stirn des göttlichen Osiris?«

Grübelnd, mit gesenktem Haupt, schritt er weiter. Seine Gedanken schweiften zu dem Tag zurück, an dem er Gelegenheit hatte, ein junges Mädchen aus dem Rachen eines Krokodils zu retten. Er hatte sie für eine Nilgöttin gehalten, die plötzlich aufgetaucht war. Nun kam ihm die Erinnerung, daß es ja gerade dieser Schmuck war, der in ihren Haaren geglänzt hatte ...

Angstschweiß bedeckte seine Stirn bei dem Gedanken.

Unterdessen war es völlig finster geworden. Der Jüngling ging wie ein Nachtwandler, der weder Auge noch Ohr für seine Umgebung hat. Die Grillen zirpten, und die Wasser gurgelten unter den Papyrusstauden und Lotosblumen.

Schon hatte er den Waldsaum erreicht, als ihn eine Stimme aus seinen Träumen weckte: »Mirinri! Siehst du denn nicht, daß die Sonne schon lange untergegangen ist? Hörst du nicht das Geheul der Hyänen? Du vergißt, daß wir mitten in der Wüste leben.«

Ein alter Mann von priesterlichem Aussehen mit langem, weißem Bart war unter einer Akaziengruppe hervorgetreten. Seine stattliche Gestalt umschloß ein langes Leinenhemd. Die leicht gebräunte Haut war durch das Alter pergamentähnlich geworden, aber seine Augen glänzten noch lebhaft.

»Seit einer Stunde suche ich dich, mein Sohn«, sagte er mit sanftem Vorwurf. »Warum kommst du jetzt alle Tage so spät heim? Du weißt, daß die Nilufer gefährlich sind, daß die Krokodile sich nicht nur auf weidende Stiere, sondern auch auf Menschen stürzen und sie in die Fluten ziehen!«

»Die fürchte ich nicht«, entgegnete der junge Mann lächelnd.

»Aber du hast dich um mich gesorgt, Unis. Verzeih.«

Der Alte erhob die Hand zum Himmel. »Siehst du den Stern dort oben im Osten glänzen? Deine Augen können besser als meine unterscheiden ...«

Der Jüngling folgte der Weisung. »Es ist ein Komet, ein Stern mit einem Schweif!« rief er.

»Er ist es«, sprach der Greis. »Ich habe ihn heute nacht erwartet! Er bezeichnet die Stunde, wo ich dir eine Weissagung offenbaren soll. Dein Schicksal ist an diesen Stern gebunden!«

Damit neigte er sich vor dem Jüngling und küßte den Saum seines Gewandes.

»Was tust du, Unis?« fragte dieser überrascht und trat einen Schritt zurück.

»Ich grüße den künftigen Herrn von Ägypten.«

Mirinri schaute den Priester sprachlos an.

Plötzlich schoß es wie ein Blitz durch seine Seele. »Dann brauche ich mich ja nicht mehr vor dem Symbol der Macht über Leben und Tod zu fürchten! Aber – wie sollte ich dir Glauben schenken?« fragte er.

Unis nahm seinen Zögling bei der Hand und führte ihn heimwärts über eine sandige Steppe, auf der nur hier und dort dürre Sträucher und halb vertrocknete Palmen standen. Beide schwiegen, in Gedanken versunken, während der Stern über ihnen leuchtete.

So gelangten sie zu einem steilen, vegetationslosen Felsen. Er erhob sich in Pyramidenform und trug einige gespenstisch aufragende Kolossalstatuen.

Mirinri ließ sich widerstandslos leiten.

Ein in den Hügel eingelassener Pfad führte in eine tiefe Höhle, die von einer kleinen Lampe erleuchtet wurde. Letztere war aus Ton und hatte die Gestalt des Ibis, des heiligen Vogels.Ibis Bei den alten Ägyptern waren die Ibisse heilige Tiere. Die Dienste, die der kleine Vogel verrichtete, wurden von den Pharaonen sehr geschätzt, um so mehr, als sein Erscheinen die wohltätige Periode der Nilüberschwemmung ankündigte.
Der Gott der Weisheit, Thot, wurde mit einem Ibiskopf dargestellt. Heute findet man den Vogel nur noch in Oberägypten. Es gibt keine religiöse Verehrung des Ibis mehr.
Die Einrichtung der Höhle bestand aus Büffel- und Hyänenfellen, die als Betten dienten, einem niedrigen Tisch und etlichen am Boden stehenden Amphoren. Einige kurze Schwerter und Schilde lehnten an den Wänden. In einer Ecke brodelte in einem hängenden Gefäß eine appetitlich duftende Suppe auf einem aus Steinen hergerichteten Herd.

Nach seinem Eintritt ließ sich der Jüngling auf ein Fell nieder und bat den Alten inständig, ihm mehr von der seltsamen Weissagung zu erzählen.

Dieser begann, während seine Augen zärtlich an Mirinri hingen: »Ich habe dich meinen Sohn genannt, und, wie du weißt, dir mein ganzes Leben gewidmet. Du bist aber nicht eines Priesters Sproß, sondern ein Königssohn.«

Der Jüngling sprang erregt auf. »Sprichst du die Wahrheit? Noch kann ich deinen Worten nicht trauen!«

»Ich spreche die Wahrheit!«

»Wohl fühle ich in meinen Adern Kriegerblut rollen! Ich träumte oft, daß ich im Heer kommandierte und Länder eroberte ... Oh, sollten denn meine Träume von Ruhm und Größe, die mich jahrelang verfolgten, einst verwirklicht werden?«

Der Alte nickte ihm lächelnd zu.

»Vor allem sag mir: Wie kommt es, daß ich dann hier am Rande der Wüste wie der Sohn eines armseligen Hirten aufgewachsen bin, fern von dem Glanz und der Pracht der Hauptstadt?«

»Setz dich wieder und höre mir zu«, sagte Unis ruhig. »Deine Frage ist berechtigt. Aber hätte man dich unten in Memphis gelassen, so lebtest du zu dieser Stunde nicht mehr.«

»Erkläre mir das!«

»Weil ein Elender den Thron deines Vaters einnimmt! Schon seit siebzehn Jahren regiert König Teti, den das Volk ›Den Großen‹ nannte, nicht mehr ...«

»Und ich sollte der Sohn Tetis sein?« fiel ihm der Jüngling ins Wort. »Du treibst deinen Spott mit mir! Gib mir Beweise!«

»Die sollst du haben. Morgen noch vor Sonnenaufgang werden wir die Memnonsäule und die Blume des Osiris befragen. Wenn der Stein tönt und die Wunderblume sich wieder belebt, werden dies Zeichen sein, daß du ein Königssohn bist. Willst du mit mir kommen?«

»Ja!« rief Mirinri, dem Schweißtropfen auf der Stirn perlten. »Erst nach diesen beiden Proben werde ich dir glauben!«

»Gut, so vernimm jetzt deine und deines Vaters Geschichte.«

Gerade als der Greis beginnen wollte, fiel sein Blick auf das goldene Schmuckstück, das Symbol der Macht über Leben und Tod, das der Jüngling an seinem Gewand angebracht hatte.

»Ein Uräus!« rief er erschrocken aus. »Woher hast du ihn?«

Nach einigem Zögern antwortete Mirinri: »Ich fand ihn am Nilufer.«

»Weh mir, nun wird all mein Mühen, dich zu verbergen, all meine Vorsicht umsonst sein! Sie werden deinen Aufenthalt entdeckt haben. Sie sind sicher auf deiner Spur! Du weißt wohl nicht, daß nur ein König dies Symbol tragen darf.«

»Oder – eine Königstochter«, sagte Mirinri lächelnd und betrachtete zärtlich den Schmuck.

»Was heißt das?« rief der Priester jetzt zornig. »Warum verheimlichst du mir etwas? Womöglich ein Erlebnis, das dich den Kopf kosten kann! Du hast mir von einer Göttin gesprochen ... Wo hast du sie gesehen?«

»Am Nilufer. Sie kam in einer großen, goldglänzenden, mit prächtig gekleideten Negern bemannten Barke. Es war ein wunderschönes Mädchen.«

»Und in ihren Haaren glänzte dieser Schmuck?«

»So ist es. Sie wird ihn am Ufer verloren haben.«

Unis ging in furchtbarer Erregung auf und nieder.

»Und seitdem ich das Mädchen gesehen, ist mein Friede, mein Frohsinn dahin«, fuhr der Jüngling fort. »Sie hat mir ein Stück meines Herzens genommen. Schließe ich die Augen, sehe ich nur sie. Schlafe ich, so träume ich nur von ihr. Säuselt der Wind durch die Palmen längst des Nilufers, so glaube ich ihre Stimme zu hören. Raube mir nicht die Vision – es war eine Göttin.«

»Erzähle, was geschah!«

»Als sie sich über den Rand der Barke neigte, hinter ihr die hohen, mit Straußenfedern besetzten Fächer, die ihre Diener hielten, kam seitlich ein Krokodil heran und packte sie mit seinen Zähnen. Noch höre ich ihren Aufschrei, noch fühle ich den Schauer, der mich durchrieselte, als ich hinzusprang und sie befreite, sie in meine Arme nahm und ans Ufer trug. Dort legte ich sie ins Gras nieder ... und so wird der Haarschmuck ihr entfallen sein.«

»Unglücklicher!« Der Alte stand vor ihm mit flammenden Augen.

»Nun, wenn es wahr ist, daß ich ein Königssohn bin, warum sollte ich dann nicht eine Jungfrau aus königlichem Geschlecht lieben?« fragte Mirinri keck.

»Weil du jenes Geschlecht, dem sie angehört, hassen sollst! Du kennst noch nicht die Geschichte deines Vaters, kennst nicht all die Leiden, die er ertragen mußte ...«

»Erzähle«, bat Mirinri bekümmert. »In deinen Worten soll mein Schicksal liegen.«

»So höre!«