CHRISTIAN DÖRGE (Hrsg.)

 

 

DREIZEHN SCHATTEN

- 13 SHADOWS, Band 5 -

 

 

 

Horror-Erzählungen

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DREIZEHN SCHATTEN 

Mervyn Peake: DANSE MACABRE 

Michael Moorcock: DER HERR DES CHAOS 

William Tenn: MITTWOCHSKIND 

Robert Presslie: DER NOTRUF 

Brian W. Aldiss: DIE BLUMEN DES WALDES 

E. C. Tubb: DER NEUE 

Eric Williams: EIN GARTEN IN PARIS 

Theodore Sturgeon: FRIEDHOFSLEKTÜRE 

Christian Dörge: DREIZEHN SCHATTEN 

 

Einzelnachweise 

 

Das Buch

 

Angst und Entsetzen sind allgegenwärtig. Überall und zu jeder Stunde greifen sie in mannigfaltiger Gestalt und mit eiskalten Klauen nach ihren Opfern...

...wie in der Geschichte von einem ganz speziellen Totentanz...

...oder in der Geschichte von dem Schloss, welches am Rand der Welt und somit an der Grenze zum entfesselten Chaos liegt...

...oder in der Geschichte von der Frau mit Namen Mittwoch...

...oder in der Geschichte von der harmlosen Telefonzelle, die sich in eine Schreckenskammer verwandelt, aus der es kein Entrinnen gibt...

...oder in der Geschichte von der ermordeten Hexe, deren Geist grausame Rache an ihrem Mörder nimmt...

...oder in der Geschichte von einem Vampir, der sich in einer post-apokalyptischen Welt ernste Probleme mit einem Ghul, einem Werwolf und einem anderen Vampir einhandelt...

...oder in der Geschichte von einer ganz besonders perfiden fleischfressenden Pflanze...

...oder in der Geschichte von dem Mann, der das Grab seiner verstorbenen Frau zu lesen lernen will...

...oder in der Geschichte von der jungen Frau und ihrem Zwiegespräch mit einer Epidemie, die bereits die gesamte Menschheit ausgelöscht hat.

 

DREIZEHN SCHATTEN, der fünfte Band der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht, versammelt neun ausgewählte Horror-Erzählungen von Mervyn Peake, Michael Moorcock, William Tenn, Robert Presslie, Brian W. Aldiss, E.C. Tubb, Eric Williams, Theodore Sturgeon und Christian Dörge. 

DREIZEHN SCHATTEN

 

 

 

  Mervyn Peake: DANSE MACABRE

 

 

  Ich weiß nicht, ob es der Vollmond war, der mich weckte. Mag sein. Vielleicht war aber auch jene Melancholie, die von mir Besitz ergriffen hatte und in meine Träume hineinspielte, so unerträglich stark geworden, dass sie in meinen Schlaf eingebrochen war. Da lag ich nun plötzlich, wach und zitternd.

  Es gehört nicht hierher, von den unglücklichen Umständen zu berichten, die meine geliebte Frau dazu veranlasst hatten, sich von mir zu trennen. Ich kann nicht von dieser schrecklichen Trennung erzählen. So möge es genügen, wenn ich sage, dass wir trotz oder gerade wegen unserer unglückseligen Liebe auseinandergetrieben wurden, obwohl, wie Sie gleich hören werden, dieser Verzweiflungsakt am Ende nur zu Grauen führte.

  Als ich zu Bett ging, hatte ich die Vorhänge zurückgezogen, denn die Nacht war dunkel. Jetzt aber fiel das helle Mondlicht, das mein Schlafzimmer erfüllte, in meine weit aufgerissenen Augen.

  Da ich auf der Seite lag, sah ich direkt auf den Kleiderschrank. Es war ein großes Möbelstück, und mein Blick wanderte über die verschiedenen Täfelungen, bis er an einem der metallenen Drehknöpfe hängenblieb. Obwohl mir etwas unbehaglich zumute war, hatte ich bis dahin keinen konkreten Anlass, irgendetwas zu fürchten. So hätte ich wohl versucht weiterzuschlafen, wäre nicht plötzlich etwas eingetreten, das mir das Herz bis zum Hals schlagen ließ. Denn der Metallknopf, den ich immer noch anstarrte, begann sich ganz langsam und völlig lautlos zu drehen.

  Ich kann mich wirklich nicht mehr genau erinnern, was für Gedanken mir während der endlosen Drehung jenes Türknopfes durch den Kopf gingen. Nur das eine weiß ich, dass sie mich wie Fieberschauer überliefen und mein Gehirn nicht weniger zu schwitzen begann als mein Körper. Aber ich vermochte die Augen nicht abzuwenden und sie auch nicht zu schließen. Ich konnte lediglich zusehen, wie die Schranktür mit schreckenerregender Langsamkeit aufging, bis sie in dem vom Mond durchglänzten Raum weit offenstand.

  Und dann - geschah es... es geschah in völliger Lautlosigkeit, noch nicht einmal vom Ruf einer Eule aus dem nahen Wald gestört oder von einem Aufseufzen der Blätter im Nachtwind. Mein Abendanzug samt Bügel segelte mit unendlicher Geschmeidigkeit aus den Tiefen des Schrankes und blieb mitten in der Luft vor meinem Toilettentisch stehen.

  Dies war so unerwartet und zugleich so merkwürdig, dass ich zu meinem Erstaunen nicht einmal aufschrie. Aber das Entsetzen schnürte mir die Kehle zu. Ohne einen Laut von mir zu geben, sah ich zu, wie die Hose vom Quersteg des Bügels glitt, bis der untere Rand der Hosenbeine nur noch ein paar Zentimeter vom Boden entfernt war. In dieser Haltung blieb sie stehen, locker und leer. Gleich darauf wies eine Bewegung in den Anzugsschultern darauf hin, dass die weiße Weste und die Frackjacke ebenfalls versuchten, vom Bügel loszukommen. Endlich hatten sie es geschafft, der Bügel ließ einen Geist ohne Kopf, Hände und Füße zurück und verschwand wieder in den Tiefen des Schrankes.

  Doch nun schienen die schlaffen Arme, obwohl sie ohne Hände waren, in einer Art Pantomime eine weiße Krawatte um den weißen Kragen zu binden. Dann neigte sich das inhaltslose Etwas höchst sonderbar mitten in der Luft in einem Winkel von dreißig Grad zum Fußboden, schwang die leeren Armel nach vorn, als ob es zum Tauchen ansetzen wollte, und mit einem plötzlichen Schlenker der Frackschwänze segelte es durch den Raum und zum Fenster hinaus.

  Bevor ich wusste, was ich tat, stand ich am Fenster und bekam gerade nach mit, wie weit drüben, schon jenseits der Wiese, mein Abendanzug sich seinen Weg zum Eichenwald hin bahnte. Dort verschwand er dann im Dunkel der Bäume.

  Ich weiß nicht, wie lange ich am Fenster stand und auf die Wiese starrte, und auch nicht, wie lange ich den Türknopf des Kleiderschrankes anstierte, bis ich endlich den Mut fasste, ihn zu drehen und die Tür aufzureißen. Schließlich aber tat ich es und sah den leeren Holzbügel an der Stange hängen.

  Ich warf die Tür zu und kehrte dem Kleiderschrank den Rücken. Wie im Fieberwahn und von bösen Ahnungen geschüttelt, ging ich im Zimmer auf und ab. Zu guter Letzt fiel ich erschöpft aufs Bett. Erst als die Dämmerung heraufzog, verfiel ich in einen tiefen Schlaf.

  

  Als ich erwachte, war es heller Tag. Die Landschaft hallte wider von vertrauten Geräuschen. Die Spatzen schilpten im Efeu an der Hauswand, ein Hund bellte, und ein paar Felder weiter brummte ein Traktor. Und während dies alles noch in meinen Halbschlaf drang, brauchte ich eine ganze Minute, um mich an den Alptraum zu erinnern. Natürlich war es ein Spuk, was sollte es anderes gewesen sein? Auflachend warf ich das Bettzeug zurück, sprang auf die Füße und begann, mich anzuziehen. Erst als ich den Kleiderschrank öffnen wollte, zögerte ich ein wenig. Der Traum war zu lebhaft gewesen, um ihn ganz beiseite zu schieben, selbst im strahlenden Licht eines Sommertages

  Als ich die Tür des Kleiderschrankes öffnete, stieß ich einen Seufzer der Erleichterung aus, denn im Halbdunkel des Schrankes hing recht ordentlich mein Abendanzug. Ich nahm eine Tweedjacke vom Bügel und war im Begriff, die Tür wieder zu schließen, als ich am Knie meiner Abendhose einen Grasbüschel hängen

sah.

  Nun war es immer meine Gewohnheit, ja fast eine Manie, meine Kleider in ordentlichem Zustand zu halten. Ich hatte also auch diesen Anzug ein paar Tage zuvor ausgebürstet und hielt es daher für sonderbar, dass Schmutz daran sein sollte. Wie kam es, dass ich das Grasbüschel nicht bemerkt hatte? So seltsam es mir auch schien, ich redete mir ein, dass es eine ganz natürliche Erklärung geben müsste, und verbannte das kleine Problem aus meinen Gedanken.

  Ich weiß nicht so recht warum, aber ich sprach zu keinem Menschen von dem Traum, wahrscheinlich, weil ich einen Widerwillen gegen alles Merkwürdige und Bizarre habe. Und so nahm ich, vielleicht zu Unrecht, an, dass diese Dinge auch auf andere Widerlich wirken müssten. Der Gedanke an diese scheußliche Nacht verfolgte mich den ganzen Tag. Sicher wäre es eine Erleichterung gewesen, diesen verrückten Traum dem einen oder anderen anzuvertrauen, aber, wie gesagt, ich wollte nicht, dass man mich für überspannt hielt. Das nächtliche Ereignis war ja nicht nur erschreckend, es war auch drollig. Mehr Anlass zum Lächeln als zum Fürchten. Nur eben, ich konnte nicht lächeln.

 

  Die kommenden sechs Tage vergingen recht ereignislos. Am siebten Abend, einem Freitag, ging ich später als üblich zu Bett. Freunde waren zum Abendbrot gekommen und bis weit nach Mitternacht geblieben. Als sie fort waren, begann ich zu lesen. So ging es schon auf zwei Uhr zu, als ich in mein Schlafzimmer hinaufging, angezogen auf das Bett fiel und mindestens zwanzig Minuten lang in meinem Buch weiterlas.

  Inzwischen war ich schläfrig geworden, aber bevor ich aufstehen konnte, um mich auszuziehen, stellte ich fest, dass mein Blick magisch am Kleiderschrank festhing. Zwar war ich felsenfest davon überzeugt, dass der Traum von neulich wirklich ein Traum gewesen war und nichts anderes, aber trotzdem hatte ich die grässliche Gewohnheit angenommen, als letztes vor dem Einschlafen auf den Türöffner zu starren.

  Und nun bewegte er sich wieder, und ich empfand das gleiche Entsetzen wie beim ersten Mal. Völlig lautlos drehte er sich langsam weiter, und mein Herz hämmerte gegen meine Rippen, als ob es mit dem Geräusch gegen die Stille der grausigen Nacht ankämpfen wollte. Der Schweiß trat mir aus allen Poren, mein Mund wurde trocken vom Vorgeschmack des Entsetzens.

  Die Tatsache, dass alles noch einmal ablaufen sollte, dass es eine Wiederholung war, half mir in keiner Weise.

  Langsam, unerbittlich, drehte sich der Knauf, die Schranktür sprang auf, und mein Abendanzug segelte heraus, wie er es schon einmal getan hatte, die Hose glitt hinunter, bis sie den Boden berührte, der Bügel rutschte aus den Schultern. Das absurde, aber grausige Ritual schien unverändert abzulaufen, bis der Augenblick kam, in dem die Erscheinung sich zum Fenster wenden sollte. Diesmal aber wandte sie sich in meine Richtung, und obwohl sie kein Gesicht hatte, wusste ich, dass sie mich selbst ansah.

  Dann, als das ganze Gebilde sich heftig zu schütteln begann, schloss ich für einen kurzen Augenblick die Augen, ganz gewiss nicht länger als eine Sekunde. Aber in dieser Zeit waren die Kleider durch das offene Fenster entschwunden.

  Ich sprang auf die Füße und stützte zum Fenster. Zuerst konnte ich nichts sehen, denn ich hatte meinen Blick auf die Wiese geheftet, die sich etwa fünfzig Meter bis

zum Waldrand hin erstreckte. Kein Geschöpf, ob Geist oder Sterblicher, hätte es geschafft, diese Entfernung in den paar Sekunden zu überwinden, die ich gebraucht hatte, um ans Fenster zu gelangen. Dann aber gewahrte ich im Halbdunkel eine Bewegung und sah nach unten. Dort stand es, direkt unter mir auf dem schmalen Kiesweg. Mit dem Rücken stand es zum Haus, beide Ärmel leicht nach oben gerichtet. Und das, obwohl sie leer waren.

  Da ich mich unmittelbar über dem kopflosen Etwas befand, musste ich notgedrungen in das entsetzliche schwarze Loch sehen, das vom steifen weißen Kragen umrahmt war. Während ich gegen einen Brechreiz an kämpfte, glitt oder schwebte das Ding nun zur Wiese hin. Seine Art, sich fortzubewegen, ist schwer zu beschreiben, die Frackschwänze waren unnatürlich nach Oben gerichtet und die Hosenbeine schienen fast über das Gras zu schleifen, obwohl sie den Boden in Wirklichkeit nicht berührten.

  Es war wohl die Tatsache, dass ich noch angezogen war, die mir den Mut gab, trotz meines Grausens die Stiegen hinunter und aus dem Haus zu rennen. Ich kam

gerade unten an. als die Gestalt im Begriff war, im Wald jenseits der Wiese zu verschwinden. Im Laufen merkte ich mir den Punkt, wo sie zwischen den Bäumen untergetaucht war. Und in meiner Angst, das abscheuliche Ding könnte mir entwischen, rannte ich in fieberhafter Eile über die breite Wiese.

  Es war gut, dass ich gerannt war, denn als ich den Rand des Eichenwaldes erreichte, wanderte die Erscheinung rechts von mir zwischen den Bäumen dahin. Natürlich kannte ich den Wald bei Tageslicht sehr gut, aber nachts schien er völlig anders zu sein. Dennoch stolperte ich so gut ich konnte voran, und es gelang mir auch, das Ding im Auge zu behalten, als es vor mir durch die Bäume huschte. Unbeirrbar ging es sei-nen Weg. Der Richtung nach, die es einschlug, mussten wir auf eine der langen Schneisen zusteuern, die den Wald von Osten nach Westen durchziehen.

  Und so war es auch. Sekunden später begann sich das Blattwerk über meinem Kopf zu lichten, und ich befand mich am Rand der langen, grasbestandenen Eichenallee. Keine hundert Schritt von mir entfernt entdeckte ich meinen körperlosen Anzug.

  Körperlos mochte er sein, aber er machte trotzdem keineswegs diesen Eindruck. Ganz deutlich zeigte es sich nämlich, dass die Kleidungsstücke in einem Zustand starker Erregung waren, sie wandten sich hierhin und dahin, gingen manchmal um eine Eiche am anderen Ende der Allee. Dann wieder schwebten sie mit tief herabgebeugten Schultern ein paar Zentimeter über dem Boden, beinahe so, als ob das Gebilde die lange, gewundene Lichtung hinabspähte.

  Plötzlich fing mein Herz wie rasend an zu hämmern, denn mein Abendanzug (die Manschetten und der Kragen schimmerten in dem trüben Licht) hatte heftig zu zittern begonnen. Als ich dahin blickte, wohin sich der Anzug gewandt hatte, sah ich von einer der großen Ausfallstraßen her ein eisblaues, Abendkleid herangleiten.

  In müheloser Anmut schwebte es näher, der Saum des langen Kleides schleifte am Boden. Aber es war ohne Füße, Arme und Hände. Auch der Kopf fehlte. Und dennoch schien es mir irgendwie vertraut. Als das Kleid schließlich meinen Anzug erreichte, sah ich, wie sich der Armel meiner Jacke wie von selbst um die eisblaue, seidene Taille der hohlen Dame legte. Und dann begann ein Tanz, der mir das Blut gerinnen ließ. Denn obwohl die Bewegungen gemessen, ja, fast beiläufig waren, zitterte das kopflose Etwas wie die abgerissene Saite einer Violine.

  Ganz im Gegensatz dazu bewegte sich das Abendkleid auf eine seltsam starre Weise, die durch das Fehlen der Arme noch hervorgehoben wurde. Beim Zusehen überkam mich furchtbare Übelkeit, und die Knie wurden mir weich. Haltsuchend griff ich nach einem Zweig, der zu meinem Entsetzen abbrach.

  In der Stille ringsum wirkte das Knacken wie ein Pistolenschuss.

  Ich verlor das Gleichgewicht und sank in die Knie, kam aber sofort wieder zu mir und schaute mich nach den Tänzern um. Sie waren fort, als ob sie nie dagewesen wären. Die Eichenallee lag friedlich und still im Mondschein.

  Und dann erblickte ich etwas, das nach einem kleinen Haufen Stoff aussah, der unordentlich auf dem Rasen lag. Ich riss mich zusammen, trat in den Mondschein hinaus und näherte mich Schritt für Schritt dem reglosen Haufen. Als ich auf ein paar Meter herangekommen war, sah ich, dass er aus schwarzem Tuch bestand, und dazwischen befand sich schönerer Stoff von eisblauer Farbe.

  Ich kann nicht sagen, wie lange ich dort stand, aber der Schweiß trat mir aus allen Poren, und Übelkeit erfasste meinen Magen und mein Gehirn. Aber nun kam Bewegung in den unordentlichen Haufen. Schnell hatten sich die Kleidungsstücke auseinandersortiert, in der Luft in die richtige Ordnung gebracht, und einen Augenblick später waren sie verschwunden. Das hübsche Abendkleid glitt über das Gras in die Richtung, aus der es gekommen war, bis es in der Ferne zu einem eisblauen Tupfer zusammengeschrumpft war. Mein Abendanzug machte sich nicht weniger schnell in der entgegengesetzten Richtung davon, und ich blieb allein zurück.

  Ich weiß immer noch nicht, wie ich nach Hause kam. Es führte mich wohl eher der Instinkt als der Verstand, denn ich fieberte und war todmüde.

  Als ich die Stiegen hinaufgestolpert und in meinem Zimmer war, versagten mir die Knie, und es dauerte einige Minuten, bis ich wieder auf die Beine kam. Dann aber wandte ich mich zum Kleiderschrank und starrte den Messingdrücker an. Endlich hatte ich den Mut, den Knopf zu drehen und die Tür zu öffnen.

  Am Bügel hingen, ordentlich wie immer, meine Frackjacke und die Hose.

 

  In der darauffolgenden Woche lebte ich in einem Zustand nervöser Erregung. Es war höchst eigenartig: Ich hatte Angst und war zugleich fasziniert. Meine Gedanken drehten sich nur noch um den kommenden Freitag. Was wurde da passieren? Freunde, die mich in der Nähe meines Hauses trafen, waren über mein Aussehen entsetzt; normalerweise hatte ich eine frische Gesichtsfarbe, nun wirkte ich eingefallen und grau. Von dem nächtlichen Ereignis sprach ich zu keinem Menschen. Nicht aus Tapferkeit, es war eher eine gewisse Feigheit. Immer schon hatte ich eine Abneigung gegen das Unirdische gehabt oder gegen etwas, dem nur der Hauch des Übernatürlichen anhaftete. Und wäre ich abgestempelt worden als einer, der einen metaphysischen Sparren hat, nie wieder hätte ich es gewagt, in die Öffentlichkeit zu treten. So wollte ich trotz aller Ängste die Sache lieber allein durchstehen. Soweit es möglich war, ging ich meinen Freunden in den nächsten sieben Tagen aus dem Wege. Eine Verabredung besonderer Art aber konnte und wollte ich nicht umgehen.

  Ich hatte fest zugesagt, an einer kleinen Abendeinladung bei Freunden teilzunehmen. Aber es war nicht nur dies, sonst hätte ich eine glaubhaft klingende Entschuldigung erfunden. Nein, die Sache hatte noch einen anderen Grund: Meine Frau sollte nämlich auch kommen. Unsere gemeinsamen Freunde, die ja die ganzen

Hintergründe nicht kannten, waren eifrig darauf aus, uns wieder zusammenzubringen. Es war ihnen aufgefallen, dass wir mehr und mehr unter unserer Trennung litten. Bei mir war einiges durcheinandergeraten, denn in Wirklichkeit war ich ohne sie nur ein halber Mensch. Und wie stand es bei ihr? Sie hatte mich verlassen, weil sie keine Hoffnung mehr für uns sah, sondern nur noch jenes eigenartige und furchtbare Etwas, das die Menschen zur Selbstzerstörung treibt. Je stärker sie lieben, desto mehr möchten sie verletzen. Was war mit ihr? Wie meine Freunde sagten, verfiel auch sie immer mehr.

  Und wir waren stolz darauf, aus eigenem Willen zusammenzutreffen. Aber war es Stolz oder Eigensucht? Und nun hatte man das Dinner geschickt arrangiert. Ich traf ein, begrüßte die Gastgeber und mischte mich unter die übrigen Gäste.

  Nach dem Abendbrot wurde ein wenig getanzt, und ich hätte den Abend sehr genossen, wäre ich von all dem Spuk an den Freitagen zuvor nicht derart belastet gewesen. So starrte ich eine kleine Stil-Uhr auf dem Kaminsims an, dann wanderte mein Blick zur Tür hinter den Vorhängen, die in die Eingangshalle führte.

  Es wurde immer später und ich immer bedrückter.

  Aber nun erschien sie. Mein Herz schlug bis zum Halse, und ich zitterte am ganzen Leib. Sie war so schön wie eh und je, aber ich blickte nicht zuerst auf ihr Gesicht, sondern auf ihr Abendkleid. Es war eisblau. Wir gingen aufeinander zu, als ob wir nie getrennt gewesen waren. Und obwohl wir wussten, dass man unserem Zusammentreffen nachgeholfen hatte, erfüllte uns plötzlich eine solche Freude, dass kein Gedanke an die Verstimmung zwischen uns sie hatte trüben können.

  In unsere aufkommende Freude aber mischte sich Angst, denn unsere Augen sagten uns, dass wir den gleichen nächtlichen Spuk durchgemacht hatten. Während

wir miteinander tanzten, wussten wir, dass unsere Kleider nur darauf warteten, dass zwei Stunden später das Gefürchtete eintrat und sie sich mit anderem, seltsamem Leben erfüllten. Was konnten wir aber tun? Eines war uns sofort klar, wir mussten von hier weg, fort von der Musik und der Gesellschaft, die es sichtlich genoss, uns zusammengebracht zu haben, denn wir wirkten wie ein Liebespaar, als wir Hand in Hand und zitternd den Raum verließen.

  Wir mussten zusammenbleiben, das war uns klar. Wir wussten aber auch beide, dass nur Angriff den Zauber brechen konnte und dass wir unsere Rolle zu Ende spielen mussten. Aber wie? Was konnten wir tun? Erst einmal zusammenbleiben und dann unsere Abendkleidung anbehalten.

  Die letzten Stunden bis drei Uhr waren so lang wie alle Tage unseres Lebens zusammen. Ich hatte sie zu meinem, zu unserem Haus, zurückgefahren. Dort hatten wir dann die meiste Zeit schweigend gewartet. Zuerst ergingen wir uns in Vermutungen, was das alles wohl bedeuten könnte, aber es überstieg unser Begriffsvermögen. Irgendein Damon hatte uns wohl zu seinem Spielzeug erkoren.

  Schon waren wir eingeschlafen, als es mir kalt über die Wirbelsäule kroch. Meine Frau schlief, ihr Kopf lag an meiner Schulter. Nun schreckte sie mit einem Ruck hoch und sah mich aufspringen. Ich zitterte am ganzen Leib. Mein Anzug begann sich am Rücken und an den Schultern leicht aufzublähen wie ein Segel. Obwohl vor Entsetzen fast gelähmt, wandte ich mich zu ihr um. Auch sie erhob sich nun, mühelos, als ob eine fremde Kraft sie emporzöge. Und nun glitt eine Art Schleier über ihr Gesicht, als ob ihre schönen Züge an Realität verlören.

  »Oh, Harry«, rief sie, »Harry, Wo bist du?«,  und sie streckte angstvoll die Hand nach mir aus. Wie gut tat es doch, unsere Finger zu spüren, denn sie schienen schon nicht mehr da zu sein. Inzwischen waren auch unsere Gesichter, unsere Hände und Füße verschwunden. Dennoch konnten wir den Boden unter unseren Füßen spüren und den Druck unserer eiskalten Hände.

  Dann überfiel uns ein nicht enden wollendes Zittern, und das Böse nahm seinen Anfang. Ich sah nur noch ihr eisblaues Kleid. Aber irgendein böser Geist schien sich in unsere Kleider drängen zu wollen. Die Unruhe war grauenvoll, und wir wurden auseinandergerissen. Von dem Augenblick an war es mir nicht mehr möglich, sie noch mal anzufassen die wohltuende Berührung ihrer Fingerspitzen zu empfinden Dann zog es uns zu den Fenstern hin, und ich hörte nochmals ihre Stimme, sehr schwach und weit entfernt, obwohl wir nahe beieinander standen: »Harry, Harry, lass mich nicht allein!«

  Ich konnte nichts tun, denn wir wurden zusammen durch die großen Fenster ins Freie gerissen und draußen in der Luft hin und her gebeutelt, als ob unsere Kleider nur ein Ziel hätten: uns loszuwerden. Wie lange dieser stumme Kampf dauerte, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass böse Mächte gegen uns kämpften.

  Mit der Zeit ließ das Ungestüme nach. Nicht dass das Böse weniger fühlbar vorhanden gewesen wäre, nein, es hatte eher den Anschein, als ob unsere Kleider müde würden. Als wir in den Wald eintraten, ruhten sie sich offenbar auf uns aus. Wir konnten zwar keinen Laut hören, aber es war doch, als ob sie Luft schnappen oder Kraft schöpfen wollten. Sie schienen den Willen zu haben, uns umzubringen, aber nicht zu wissen, Wie. Bis zur Lichtung schritten wir kräftig aus, ein wenig später brachen wir beide unter der Eiche zusammen.

 

  Es war schon fast Morgen, als ich wieder zu mir kam. Der eiskalte Tau hatte mich völlig durchnässt. Ich musste mich erst darauf besinnen, wo ich war. Dann kam die Erinnerung zurück, und ich sah mich nach meiner Frau um. Sie war verschwunden.

  Todesangst überfiel mich. Ich stolperte nach Hause, die Treppe hinauf und ins Schlafzimmer. Es war dunkel und ich hatte völlig die Orientierung verloren. So strich ich ein Zündholz an. Im schwachen Schein des Lichtes sah ich es dann. Ich stand vor dem Toilettenspiegel, und aus diesem blickte mir ein kopfloser Mann entgegen. Hemdbrust, Kragen und Manschetten schimmerten hell.

  Entsetzen ergriff mich, nicht allein über den Anblick, sondern bei dem Gedanken, dass die Erscheinung immer noch herumgeisterte und unser Kampf mit dem Dämon nichts genützt hatte. Ich wandte mich zum Bett hin und entzündete ein neues Streichholz.

  Zwei Menschen lagen dort nebeneinander. Bei genauerem Hinsehen sah ich, dass wir friedlich lächelten. Meine Frau lag nahe am Fenster und ich an meinem gewohnten Platz im Schatten des Kleiderschrankes.

  Wir waren beide tot.

 

 

 

 

 

 

  

  Michael Moorcock: DER HERR DES CHAOS

 

  Von den glaslosen Fenstern des steinernen Turmes aus war zu sehen, wie sich der breite Fluss zwischen unbefestigten, braunen Ufern dahinwand, wie er ein unwegsames Gelände durchzog, das von dichtem Gestrüpp besät war; Gestrüpp, das dann allmählich in die Masse des eigentlichen Waldes überging. Und aus dem Wald ragten Klippen empor, grau und lichtgrün, und je höher sie anstiegen. desto dunkler wurden die moosbewachsenen Felsen, bis sie eins wurden mit den niedrigeren, aber noch Wuchtigeren Steinen des Schlosses. Das Schloss selbst  beherrschte die Landschaft in drei Richtungen und zog den Blick auf sich, ob man nun vom Fluss, vom Fels oder vom Wald her kam. Seine hohen Mauern waren aus dickem Granit, und darüber erhoben sich Türme, ja, ein ganzer Wald von Türmen, die angeordnet waren, als ob einer dem anderen Schatten spenden müsste.

  Wie können Menschen dies bloß erbaut haben, fragte sich Aubec von Malador - der den Bau bewundernd betrachtete - wenn kein Zauber mit im Spiel war! Das Schloss, geheimnisvoll und gebietend, wirkte herausfordernd, denn es stand am Ende der Welt.

  In genau diesem Augenblick warf der Abendhimmel ein eigentümlich tiefgelbes Licht auf die Westseiten der Türme und hob so die unberührte Schwärze der Schatten noch hervor. Die vorbeijagenden grauen Wolken rissen auf und gaben den Blick frei auf große Flächen blauen Himmels, rote Wolkenberge drangen herein und bewirkten eine ständig wechselnde Farbkomposition. Dennoch konnte man den Blick nicht von der wuchtigen Anhäufung der schroffen, von Menschenhand geschaffenen Klippen wenden, die das Schloss Kaneloon bildeten.

  Graf Aubec von Malador wandte sich erst vom Fenster ab, als es draußen bereits vollkommen dunkel war und Wald, Klippen und Schloss sich nur noch wie Schatten von der allumfassenden Dunkelheit abhoben. Mit seiner schweren, knochigen Hand strich er sich über den fast kahlen Schädel und begab sich gedankenversunken zu dem Strohhaufen, der ihm als Bett dienen sollte.

  Das Stroh war in einer Nische zwischen einem Stützpfeiler und der Außenmauer aufgeschüttet. Maladors Laterne spendete helles Licht. Aber die Luft war kalt, als er sich auf dem Strohhaufen niederlegte, die Hand fest um den Zweihänder geklammert. Dies war seine einzige Waffe. Sie schien für einen Riesen geschmiedet zu sein - in der Tat war Malador ein großer Mann -, mit dem breiten Quersteg, dem schweren juwelenbesetzten Heft und der fünf Fuß langen Klinge. Daneben lag Maladors alte, schwere Rüstung, der Helm mit den etwas zerfledderten schwarzen Federn, die sich leicht im Winde wiegten.

  Malador schlief.

  Wie üblich verfolgten ihn wirre Träume, in denen gewaltige Armeen über ein weites Feld hereinbrachen, Banner von hundert Nationen im Winde flatterten und Lanzenspitzen und Kriegshelme glänzten, soweit das Auge reichte. Dazu erschollen der tapfere, wilde Klang von Kriegshörnern, Hufgeklapper und das Sin-

gen und Schreien der Soldaten. Dies waren Träume aus seiner Jugend, als er für Königin Eloarde von Lormyr die Südlande erobert hatte und fast bis zum Rand der

Welt vorgedrungen war. Nur Kaneloon, das am äußersten Saum lag, hatte er nicht erobert, weil ihm keine Armee dorthin folgen wollte.

  Für einen, der so kriegerisch aussah, waren diese Träume überraschend unwillkommen, und Malador schreckte in jener Nacht mehrere Male hoch und schüttelte den Kopf, um sie zu verjagen. Lieber hätte er von Eloarde geträumt, obwohl sie die Ursache seiner Ruhelosigkeit war. In seinem Schlaf sah er sie jedoch nicht, weder ihr weiches, schwarzes Haar, das das blasse Gesicht umschmiegte, noch ihre grünen Augen und roten Lippen, noch ihre stolze, her- ausfordernde Haltung. Eloarde hatte ihm diese Aufgabe übertragen, und er war ungern gegangen, obwohl ihm keine andere Wahl blieb, denn sie war nicht nur seine Geliebte, sondern auch seine Königin. Der Ritter der Königin war gemäß der Tradition auch ihr Liebhaber - und für Graf Aubec war etwas anderes undenkbar. Als Ritter von Lormyr hatte er zu gehorchen und loszuziehen, um ohne Hilfe das Schloss Kaneloon zu suchen, zu erobern und zum Teil ihres Reiches zu erklären, damit sich sagen ließe, das Land der Königin Eloarde reiche vom Drachensee bis zum Rande der Welt.