1
Eine Epidemie von Revolutionen breitete sich in den Jahren 1830 und 1831 in ganz Europa aus. Das Kaisertum Österreich war nicht so sehr betroffen wie seine Nachbarn, da Fürst Metternich mit Polizeigewalt und Bürokratie einen mächtigen Deckel auf allen freiheitlichen Bewegungen halten konnte. Bald schon war das revolutionäre Fieber wieder abgeklungen, und alles fügte sich erneut in die ultrakonservative Ordnung der Heiligen Allianz, die scheinbar für alle Ewigkeit über Mittel- und Osteuropa herrschen sollte.
Zu Novemberbeginn des Jahres 1833 fiel feiner Schnee auf die noch zwischen unnütz gewordenen Basteien eingezwängte Wiener Altstadt. Der Abend war bereits fortgeschritten, als drei Offiziere durch die Doppeltür des Kaffeehauses Steidl in der Heumarktgasse traten. Dieses Etablissement schien sich nicht zwischen zwei verschiedenen Arten von Kundschaft entscheiden zu können und bediente sowohl das kleine wie das mittlere Bürgertum. Seine abgewetzten, aber sorgfältig gebürsteten Bänke, die auf Hochglanz polierten, altmodischen Leuchter und die dunklen, tausendfach geschrubbten Wände strahlten sauberen Verschleiß aus, gepflegt für ein Altern in Würde. Die drei Offiziere legten ihre langen, schweren Mäntel ab. Während sie sich setzten, achteten sie darauf, ihre feinen weißen Uniformen mit den königsblauen Hosen nicht zu beschmutzen. Für die Offiziere des österreichischen Kaisers war es eine heilige Pflicht und ständige Sorge, diese Uniform, die sie den Sold von mehreren Monaten gekostet hatte, in tadellosem Zustand zu halten. Sie entledigten sich ihrer Tschakos, legten ihre langen Säbel ab und zogen ihre weißen Handschuhe aus. Bei den Stammgästen, die im Steidl ihre Zeitungslektüre in behaglicher und würdevoller Langeweile in die Länge zogen, blieb dieses Zeremoniell unbeachtet.
Graf Alexander Korvanyi, oder, seiner magyarischen Herkunft entsprechend, Gròf Korvanyi Sándor, wäre lieber allein geblieben, um in seiner nagelneuen, prächtigen Uniform eine Melange zu genießen. Mit seinen nur achtundzwanzig Jahren war er kurz zuvor mit einer schönen Erbschaft und zudem vorzeitig mit dem Hauptmannsgrad bedacht worden, was bei seinen Bekannten eine Mischung aus Neid und eigennützigen Gunstbezeugungen zur Folge hatte. Denn die akribische Gründlichkeit, die er im Dienst an den Tag legte, wurde als streberhafte Überheblichkeit empfunden und sein zurückhaltendes Wesen als hochmütige Kälte. Aber auch Hauptmann Graf Korvanyi betrachtete seine Kollegen mit immer weniger Wohlwollen. Die undurchsichtigen bürokratischen Seilschaften des Generalstabs, in den berufen zu werden er die besondere Ehre gehabt hatte, gaben ihm zudem das Gefühl, langsam Staub anzusetzen. Eine glänzende Karriere stand ihm bevor, aber von Monat zu Monat wuchs sein Verdruss.
Während er zu schnell sein erstes Glas leerte, bedauerte er, der Einladung eines Vorgesetzten nicht entkommen zu sein, dem er, kaum dass er es zu Wohlstand gebracht hatte, in großmütigem Überschwang etwas Geld geliehen hatte. Major Brupzka saß Graf Korvanyi gegenüber, auf der anderen Seite des kleinen, blank gescheuerten Tisches. Seine andauernde vorübergehende Unfähigkeit, seine Schulden zu begleichen, verleitete ihn zu aufdringlichen Freundschaftsgesten. Der Major befand sich in Begleitung eines Oberleutnants, den er protegierte, weil sie beide aus dem gleichen trostlosen Städtchen in Mähren stammten. Dieser junge Oberleutnant zeichnete sich an diesem Abend in den Augen des missgelaunten Grafen Korvanyi durch seinen entsetzlichen tschechischen Akzent und seine übermenschliche Geduld angesichts des allzu vorlauten Majors Brupzka aus.
Um den Abend durchzustehen, bediente sich Graf Korvanyi der militärischen Technik der kontrollierten Geistesabwesenheit, die darin bestand, notwendige Pflichten zwar ordnungsgemäß zu erfüllen, dabei aber den Gedanken freien Lauf zu lassen … Als sein Vater starb, war Alexander Korvanyi noch ein sehr junger Leutnant, der frisch von der Militärschule kam. Er erbte ein riesiges Konvolut väterlicher Schriften, eine umfangreiche Bibliothek und ein Herrenhaus von so geringer Größe, dass man es gerade noch als ein solches bezeichnen durfte, und das sich drei Tagesreisen südlich von Wien, im Burgenland, befand. Das Anwesen war zu weit von den Garnisonen entfernt, in die er, so glaubte er zum damaligen Zeitpunkt, gute Chancen hatte, berufen zu werden. Also verkaufte er sein Elternhaus, besserte seinen Sold auf und bezahlte seine Schulden. Auf seinen Wohlstand bildete er sich durchaus etwas ein, da er ihm seiner Herkunft angemessen schien. Das Vermögen galt ihm als Entschädigung für die Entbehrungen, die er seit seiner Kindheit auf sich genommen hatte, um dem Wunsch des Vaters zu folgen und ein tadelloser Offizier zu werden. In seinen Augen waren die ererbten materiellen Vorteile in erster Linie ein Mittel, um endlich das darzustellen, was sein Vater immer von ihm erwartet hatte: Als wären es, mehr noch als die Besitztümer, der Wille und Geist des Vaters, die auf ihn übergegangen waren.
Einige Jahre später starb auch sein junger Cousin Antal, Graf Korvanyi der älteren Linie. Er war verblutet, als er auf einem seiner einsamen Ausritte mit dem Pferd über einen Zaun stürzte und sich eine Schlagader durchtrennte. Alexander fand sich somit als einziger Graf Korvanyi wieder, alleiniger Besitzer unermesslich großer, aber weit entfernter Ländereien, auf die weder er noch sein Cousin jemals einen Fuß gesetzt hatte. Tatsächlich mieden die Grafen Korvanyi das Land ihrer Vorfahren seit fast fünfzig Jahren und beschränkten sich auf den schriftlichen Austausch mit ihren Gutsverwaltern, bei denen sie sich über die schwachen Erträge der Felder, Herden und Wälder beschwerten. Nachdem er geerbt hatte, war Alexander Korvanyi zum Hauptmann befördert und in die Hauptstadt berufen worden. Dieser Erfolg hatte die Zweifel an seiner künftigen Rolle im Heer nicht zum Verschwinden gebracht, sondern lediglich in einem Anflug von Eitelkeit kurzzeitig verstummen lassen.
Major Brupzka schenkte Hauptmann Korvanyi in sein noch halb volles Glas nach. Ohne Hoffnung, sich an diesem Abend noch freizumachen, ließ Alexander Korvanyi etwas zu essen auftragen – in Hinblick auf den bevorstehenden Alkoholgenuss wählte er handfeste Kost. Ein feister Ober, jung und bereits fettleibig, mit schwarz glänzendem, am Kopf klebendem Haar, brachte Bauernomelette und Tafelspitz. Die Unterhaltung verlief zäh, trotz der Bemühungen des Majors, Graf Korvanyi zum Sprechen zu bringen. Dieser hielt mitten im Satz inne, als zwei Offiziere der Kavallerie das Steidl betraten und, nachdem sie den Saal kurz überblickt hatten, direkt auf ihren Tisch zusteuerten. Sie salutierten vor dem Major, und Hauptmann Korvanyi war gezwungen, sie einander vorzustellen. Rittmeister Freiherr von Wieldnitz-Wochenburg war Sohn und Enkel von Generälen, er befand sich in Begleitung von Rittmeister Sergert. Die zwei Hauptleute trugen die weiße Uniform mit dem karmesinroten Revers und den gleichfarbigen Aufschlägen der Dragoner von Windisch-Graetz. Seitdem er in Wien war, war Graf Korvanyi ihnen häufig in den Salons der guten Gesellschaft begegnet. Aber er hatte nie herausgefunden, ob die beiden Reiter allerbeste Freunde waren, oder ob Sergert nur ein Günstling war, der auf die Protektion von Wieldnitz wegen seiner Karriere setzte … Die beiden Dragoner schienen den Abend bereits in einem Heurigen in der Nachbarschaft gut begonnen zu haben, bevor sie beschlossen hatten, den Weinkeller des Steidl in Angriff zu nehmen. Von Wieldnitz ließ, äußerst angeheitert, einen zweiten Tisch heranrücken und bestellte für Sergert und sich selbst ein üppiges Abendessen und ausreichend zu trinken. Die beiden redseligen Neuankömmlinge erlaubten es Alexander, erneut unauffällig in seine Erinnerungen abzutauchen.
Vor sechzehn Monaten war er noch ein mittelloser Oberleutnant in der Garnison von Bad Schelm in der Steiermark gewesen, als am Tag vor dem Johannisfest das Dach der Kaserne abbrannte. Die Ermittlungen ergaben, dass es ein Unfall gewesen war, aber im Ort hielt sich das Gerücht, die Flaschen mit dem fünfundsiebzigprozentigen Alkohol, die der stellvertretende Quartiermeister für den Verkauf an die dienstfreien Soldaten unauffällig auf dem Dachboden gelagert hatte, hätten das Feuer erheblich angefacht. Die Truppensoldaten mussten danach das Ende des Sommers in Zelten verbringen, während die Offiziere sich ihrem Stand gemäß in der Stadt einquartierten: die ranghöchsten und vermögendsten im Hotel, die am meisten beneideten im Nebengebäude des Bordells und die anderen bei Privatleuten. Alexander Korvanyi für seinen Teil suchte Baron von Amprecht auf, dessen Sommersitz weniger als eine Meile von der Kaserne entfernt lag. Er musste nicht einmal erwähnen, ein ehemaliger Schulkamerad des zweitältesten Sohnes der von Amprechts zu sein, damit man ihm leichthin und mit größter Selbstverständlichkeit anbot, ihn bei sich aufzunehmen.
Seine dienstlichen Pflichten beschränkten sich wegen des Durcheinanders, das nach dem Brand herrschte, auf ein Minimum. Und so verbrachte Alexander Korvanyi den ganzen Sommer über mehr Zeit bei den von Amprechts in deren Jagdschloss von Bad Schelm als im provisorischen Lager, das neben der zerstörten Kaserne aufgeschlagen worden war. Damit sich seine Uniform nicht abnützte, stattete man ihn für die Jagd mit einigen abgelegten Kleidern der Brüder von Amprecht aus. Niemals hatte er unter solch angenehmen Bedingungen gejagt. Er entdeckte, wie das Leben in einer wirklichen Familie war. Die Herrin des Hauses war eine junge italienische Dame, eine geborene Livia Montecorvo d’Amicini. Baron von Amprecht hatte sie nach langer Witwerschaft im Frühjahr geheiratet und widmete sich ganz seinem neuen ehelichen Glück. Drei seiner fünf Kinder aus erster Ehe wohnten auf Bad Schelm. Sie nahmen Alexander bereitwillig in ihren Reihen auf, mit der Beiläufigkeit und kameradschaftlichen Ungezwungenheit, wie sie bei so vielen Geschwistern auf natürliche Weise besteht. Der älteste Sohn, Ruprecht von Amprecht, legte Korvanyi im Hochgefühl, endlich in die Verwaltung des Gutes einbezogen worden zu sein, begeistert alle Einzelheiten des Anwesens dar. Der jüngste Sohn, der elfjährige Albert und ein Schulkamerad, der die großen Ferien bei ihnen verbrachte, ärgerten zusammen das französische Kindermädchen, indem sie Baumhäuser zimmerten oder im Wintergarten das Zelt eines türkischen Paschas nachbauten, bevor beide wieder ins Internat mussten. Schließlich war da noch Cara, wie alle die junge Charlotte-Amélie von Amprecht nannten, die gerade achtzehn Jahre alt geworden war und den Großteil ihrer Zeit mit Ausritten und Jagdausflügen verbrachte, zu denen sie oft ihren Bruder Ruprecht und Alexander mitnahm. Notfalls ritt sie auch allein aus, mit etwas Abstand begleitet von dem alten Jagdmeister des Landguts, der angesichts der Geschicklichkeit der kleinen Baronesse sogar sein Rheuma vergaß.
Alexander liebte die Ausritte und die blutige Jagd auf das Wild, die Düfte des Sommers, die langen hellen Abende und die milden Nächte. In dieser für ihn neuen und freien Stimmung nutzte er schon nach wenigen Tagen jede Gelegenheit, um mit Cara allein zu sein, sei es tagsüber im Wald oder am Abend, vor oder nach dem Essen. Cara ließ sich gelassen auf dieses Spiel der heimlichen Begegnungen ein. Alexander war ratlos und nicht in der Lage, ihre Gefühle für ihn zu verstehen. Zudem verzweifelte er daran, die richtigen Worte für seine plötzliche Verliebtheit zu finden, die er bei jedem anderen als sich selbst für absolut unangebracht gehalten hätte: Er sah sich die Gastfreundschaft ihres großzügigen Vaters verraten, jedes Mal, wenn auch nur ansatzweise eine Liebeserklärung in seinen Gedanken aufkeimte.
Eines Abends ging die Gesellschaft wie immer nach dem Essen im Park noch etwas frische Luft schnappen. Korvanyi, der mit seinem Verlangen, seinen Skrupeln und seiner Ratlosigkeit spazieren ging, stieß in der Biegung eines Laubengangs auf Cara, die sich zuvor von ihm entfernt hatte. Seite an Seite gingen sie eine Weile denselben, weit abgelegenen Abschnitt der Allee auf und ab. Nach einigen gewohnt harmlosen Bemerkungen breitete sich Stille zwischen den beiden aus. Alexander hatte aufgehört zu zählen, wie oft sie den Weg schon hin- und hergegangen waren, und es schien ihm, als könnte er nie wieder ein Wort hervorbringen. Ein Dutzend Mal wollte er schon die Hand der jungen Frau ergreifen. Endlich legte er mit einer seltsam einfachen und natürlichen Bewegung den Arm gleich um Caras Taille und zog sie an sich, ohne auf Widerstand zu stoßen. Seinen langsamen, mechanischen Schritt hatte er dabei nicht unterbrochen. Er spürte nur noch die Zartheit und Biegsamkeit dieser Taille unter seinem Arm. Schließlich hielten sie inne und drehten sich zueinander, um sich zum ersten Mal zu küssen. Als er die Umarmung löste, setzten sie instinktiv ihren Weg Arm in Arm fort, und er gestand ihr seine Überraschung darüber ein, wie empfänglich sie für seinen ersten Annäherungsversuch war, so kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten. Cara antwortete lebhaft: »Aber Alexander, ich hatte mich schon gefragt, wann du dir endlich einen Ruck geben würdest! Bereits vorgestern Abend auf dem Balkon dachte ich, der Augenblick wäre gekommen, aber du hast nichts getan. Es war zum Verzweifeln!« Es war das erste Mal, dass sie ihn duzte, und sie tat es mit großem Ernst, mit dem besonderen Ernst, der aus einem großen Glücksgefühl entsteht. Nach diesem Tadel beeilte sich Graf Korvanyi, die verlorene Zeit wiedergutzumachen, und in derselben Nacht, als alle zu Bett gegangen waren oder vorgegeben hatten, zu Bett zu gehen, geschahen im Park von Bad Schelm Dinge von herrlicher Unumkehrbarkeit.
Welch ein Wunder! – Ein Wort, das Alexander Korvanyi als einziges angebracht schien, um die Plötzlichkeit und die Vollkommenheit seines Glücks zu beschreiben, das rund, voll und glatt war wie der Brunnen, an dessen Rand ihre ersten Liebesspiele stattfanden … Als er es jedoch in einer der gemeinsamen Nächte einmal wagte, von der Zukunft zu sprechen, bat sie ihn zu schweigen. Er versuchte es noch ein weiteres Mal, aber sie wehrte heftig ab: »Ich weiß es nicht! Ich habe dir gesagt, dass ich nicht daran denken will. Wenn dir an unserem guten Ruf gelegen ist, ist es am besten, wenn meine Familie niemals davon erfährt.«
»Aber sollte doch …«
»Selbst wenn man uns überrascht … Ich werde niemals eine dieser Offiziersgattinnen, die sich ständig gegenseitig in ihre winzigen Wohnungen einladen. Ich habe sie in der Stadt gesehen, die Armen, die dauernd umziehen müssen, von einer Garnison in die nächste Festung, ständig auf dem Weg vom einen zum anderen Ende des Kaiserreichs, all ihr Hab und Gut auf Karren wie Zigeunerinnen!« Von da an fand sich Alexander damit ab, den Augenblick zu genießen, im sicheren Bewusstsein, dass dieses Wunder nur von kurzer Dauer sein würde. Und so ging das Leben der Familie von Amprecht um ihre Liebschaft herum mehrere Wochen lang unverändert seinen Gang.
Als der Sommer sich seinem Ende zuneigte, erhielt das Regiment des Oberleutnants Korvanyi den Befehl, das Winterquartier in Lemberg[1] zu beziehen. Keiner war davon begeistert: »Wir werden im Winter dort in der alten Kaserne mehr frieren, als wenn wir hier in unseren Zelten blieben!«, klagten die Soldaten, während die Offiziere sich gegenseitig bedauerten: »Das ist zu dumm! Drei Jahre haben wir schon dort verbracht, und kaum sind wir an einem ordentlichen Ort, schickt man uns dorthin zurück. Ich sage euch, wir werden für den Brand bestraft.« Der Oberst war gezwungen, inoffiziell verlauten zu lassen, dass man keinem Versetzungsantrag an andere Einheiten stattzugeben bereit war, so zahlreich waren sie.
Als der Zeitpunkt der Trennung gekommen war, wurde Alexander Korvanyi einmal mehr von Cara überrascht. Er hatte allen Mut zusammengenommen und sich ein paar klägliche Sätze zurechtgelegt, um sie zu trösten, aber er brauchte sie nicht, denn sie erklärte, während sie allzu leicht die Tränen zurückhielt: »Ich habe mich entschieden, nicht zu leiden, dieser Sommer war zu schön, um jetzt alles zu ruinieren, nichts darf daran traurig sein.« Und entschlossen wandte sie sich ab, ging in gerader Haltung davon, ohne in schnellen Schritt zu verfallen oder sich auch nur umzudrehen. Korvanyi spürte seine Enttäuschung, sie angesichts dessen, was andere als eine Tragödie bezeichnet hätten, nicht trösten zu müssen. War denn ihre Liebesgeschichte so wertlos für sie, dass sie ihr ein Ende setzte, wie man nach einem Ausritt ein Pferd absattelt? Am nächsten Tag, als er offiziell Abschied nahm, zeigte Cara dieselbe freundschaftliche Zuneigung wie alle anderen Mitglieder der Familie von Amprecht.
Nach Theaterschluss, als im Kaffeehaus Steidl noch einmal Hochbetrieb herrschte, nahm das Gespräch der Kollegen von Hauptmann Korvanyi eine heikle Wendung. Rittmeister von Wieldnitz vertrat die Ansicht, dass nichts einer verheirateten Geliebten gleichkomme, kein Mädchen, wie schön es auch sein möge oder welches besondere Geschick es auch habe, könne ihm diese köstliche und erregende Mischung aus Angst, Eile, überbordender Sinnlichkeit und Schuldgefühl bieten. Graf Korvanyi, der durch diese Rede und mehr noch durch die bewundernden Blicke der Zuhörer gereizt war, fragte laut in die Runde, ob unter diesen Voraussetzungen der Genuss nicht durch den Gedanken geschmälert werde, dass man die Ehre eines Ehemannes beflecke? Die Erwähnung einer Ehrverletzung, so leise sie auch geäußert sein mochte, reichte aus, um selbst die weniger betrunkenen Offiziere zusammenzucken zu lassen. Von Wieldnitz mochte sich vielleicht angegriffen fühlen, aber er wich trotz seiner fortgeschrittenen Trunkenheit instinktiv aus. Scheinbar ohne die Unterbrechung bemerkt zu haben, fuhr er gleich darauf in versöhnlichem Ton fort, im Glauben, mit einer Selbstverständlichkeit alle auf seine Seite zu ziehen: »… aber am angenehmsten, nicht wahr, ist doch die Zuneigung eines unverheirateten jungen Fräuleins. Sie müssen zugeben, dass einige von denen durch ihre Freizügigkeit schon jetzt erahnen lassen, dass sie immer bessere Geliebte sein werden als Ehefrauen.« Der treue Sergert grinste albern. Major Brupzka und der Oberleutnant lächelten einmütig. Sie ergriffen immer seltener das Wort, ihr betrunkener Zustand konnte sie nicht über das Gefühl ihrer sozialen Unterlegenheit hinwegtäuschen. Ganz anders von Wieldnitz, dem der Alkohol das glühende Gefühl der Unverwundbarkeit zu geben schien. Er fuhr fort: »Es ist doch wohl klar, dass in solchen Fällen dem Gatten selbst zuzuschreiben ist, was ihm widerfährt!«
»Aber Sie können doch nicht behaupten …«, begann Hauptmann Korvanyi mit wachsender Empörung und wurde sogleich vom Rittmeister unterbrochen, den nichts in seinem Eifer aufhalten konnte – wie in seinen Träumen, wenn er in der polnischen Ebene mit seiner Reiterschwadron angriff: »Wenn man sich mit denen auskennt, dann sieht man gleich, welche besser zur Geliebten als zur Ehefrau taugen wird. Sehen Sie, zum Beispiel darf man sich keinen falschen Vorstellungen von dieser kleinen Baronesse hingeben … die ist eine echte Diana, eine Göttin der Jagd! Wissen Sie, diese Kleine von Amprecht, die jagt wild …«
»Sie sind widerlich!«, rief Alexander Korvanyi und sprang außer sich von seinem Stuhl auf. Von Wieldnitz, verblüfft und durch den Wein begriffsstutzig, konnte nicht verstehen, warum sein Gegenüber ihn plötzlich beleidigte, und wie im Reflex, weil es die Ehre verlangte, war ihm nach Wiedergutmachung. Als er sich, katastrophal betrunken, wie er war, erheben wollte, überkam ihn ein Schwindel, und er spürte, wie er das Gleichgewicht verlor. Vergeblich versuchte er, sich irgendwo festzuhalten, riss einen Tisch um und stürzte, heftig mit den Armen rudernd, zu Boden. Seine rechte Hand umklammerte dabei krampfhaft die Scheide seines Säbels, wobei der Bügel am Griff des Säbels Graf Korvanyis Braue streifte und sie aufschlitzte. Von dem plötzlichen starken Schmerz wie geblendet, wich Korvanyi zurück, leichenblass, während die anderen von Wieldnitz halfen, wieder auf die Beine zu kommen. Die Bediensteten des Kaffeehauses, die herbeigeeilt waren und nicht wussten, wer sich mit wem überworfen hatte, konnten die Offiziere nicht trennen, da sie nicht wagten, ihre Uniformen zu berühren. Sie hätten schon für weniger eine Tracht Prügel bezogen. Und so bemühten sie sich im tumultartigen Auflauf der überraschten und neugierigen Zuschauer, Tisch und Stühle wieder aufzustellen und die Scherben aufzukehren.
Sobald er Gelegenheit dazu fand, verkündete Graf Korvanyi, das linke Auge unter der stark blutenden Wunde zugekniffen, dem Rittmeister Sergert, der den verstörten von Wieldnitz stützte, er werde schon am kommenden Tag seine Sekundanten schicken. Er wandte sich zum Ausgang, vergaß darüber, vor Major Brupzka zu salutieren. Als er über die Türschwelle trat, den Mantel über den Schultern und mit der Hand ein Taschentuch auf sein Auge pressend, wurde er von der Nacht, der Kälte und der plötzlichen Ruhe der Straße erfasst. Innerhalb weniger Minuten, während er mit raschem Schritt nach Hause ging, wichen Wut und Schmerz einem sonderbaren Gefühl von Leichtigkeit und Überschwang. Seine Gedanken wirbelten ebenso ungestüm, kristallklar und eisig wie die Schneeflocken im Lichtkegel der wenigen Laternen.