Cover

Willkommen auf Domaine Bordeur verkündete der Schriftzug auf dem Schild, bevor ihn jemand in Willkommen auf Domaine Boredome – Hauptstadt der Langeweile geändert hat. Aus diesem verlorenen Trailerpark im Süden Québecs nahe der US-amerikanischen Grenze will die fünfzehnjährige hochbegabte Tüftlerin Lisa ausbrechen. Éric ist der Einzige, der sie versteht. Doch wegen seiner chronischen Platzangst hat der junge Hacker das Haus seit Jahren nicht verlassen und lebt stattdessen in den digitalen Welten des World Wide Web. Gemeinsam schmieden sie einen tollkühnen Plan, der Lisa auf die ungewöhnlichste Weltreise seit Jules Verne schickt. Dabei spielt ein mysteriöser Container, der wie von Geisterhand auftaucht und wieder verschwindet, eine Schlüsselrolle. Die ehemalige Kreditkartenbetrügerin Jay wird Lisas Fährte aufnehmen.

»Ein famoser Autor, der leichthändig und charmant erzählt.«

(DER TAGESSPIEGEL)

»Dickners Blick auf die Welt ist subversiv.«

(DEUTSCHLANDFUNK)

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Inhalt

eins

1 – Lisa denke ans Geld …

2 – Nach sieben Jahren Winterschlaf …

3 – Lisa war Erics allererster Hack …

4 – Auf dem Rückweg von Flughafen …

5 – Lisa entfernt die Farbe …

6 – Mit der nötigen Muße …

7 – Die Sonne senkt sich …

8 – Es ist schon spät …

9 – Die Mirons sind …

10 – U-Bahn-Station Jarry …

11 – Wider Erwarten hat Herbert …

12 – Er heißt Zhōu Pavel …

13 – Der September vergeht …

14 – Die alte Werkstatt …

15 – Sobald Lisa mit ihrem …

16 – Im Industriepark Saint-Laurent …

17 – Der erste Schnee …

18 – Jay nimmt eine kochend …

19 – Die Monate verfliegen …

20 – Es sind nur noch zwei …

21 – Lisa geht nach Montréal …

22 – Jay steckt im Feierabendverkehr …

23 – Die Monate vergehen …

24 – Wieder zu Hause …

25 – Lisa lebt in …

26 – Im Stockwerk der Xenakis …

27 – Es ist sieben Uhr morgens …

28 – Jay steigt die Treppe hinauf …

zwei

29 – Nach achtundvierzig Stunden …

30 – Das ist ein Dodge RAM …

31 – Lisa und Robert gehen …

32 – Jay erinnert sich …

33 – Éric hat gesagt …

34 – Es ist sechs Uhr …

35 – An diesem Vormittag …

36 – Jay hat das Viertel …

37 – Der Februar bricht …

38 – Verkündet wurde die große Neuigkeit …

39 – Lisa kommt Ende Mai …

40 – Jay bibbert trotz …

41 – Lisa ist gerade …

42 – Jay fährt, noch halb benommen …

43 – Vor mittlerweile einer Woche …

44 – Nachdem sie den Recyclingbehälter …

45 – Sieben Wochen sind verstrichen …

46 – Zur morgendlichen Stoßzeit …

47 – Die Sonne senkt sich …

48 – Jay ist nicht die Einzige …

49 – Im Pavillon Westmacott …

50 – Tief in ihren ergonomischen Stuhl …

51 – Lisa liest gerade, als …

52 – Welche Gesellschaft? …

drei

53 – Jay und ihr Computer …

54 – An der Wohnzimmerwand …

55 – Der Fahrstuhl ist dezent …

56 – Ein Zug mit Jay an Bord …

57 – Gegen sechs Uhr morgens …

58 – Der Winter vergeht …

59 – Es ist Mitternacht …

Danksagung

Dieses Buch ist dem Gedenken an Larry Walters gewidmet.

eins
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1

Lisa denkt ans Geld.

Die Gasmaske fest ins Gesicht gedrückt, befördert sie mit der Mistgabel Klumpen von Vogelkot und Krimskrams, Nashornskelette und mottenzerfressene Nerzmäntel im hohen Bogen aus dem Dachfenster nach unten – und denkt ans Geld.

Sie sticht die Gabel in einen Berg alter, von Feuchtigkeit und Exkrementen verklebter Lundi-Magazine. Wie eine Paläontologin des schlechten Geschmacks gräbt sie sich durch die Sedimente der Zivilisation. Boy George. Michèle Richard und Michel Louvain in jungen Jahren. Drew Barrymores Selbstmordversuch. Montagslotto, zehn Millionen Dollar im Jackpot, Wochenziehung. Eine Schönheits-OP von Michael Jackson. Und wieder Montagslotto. Lisa hat sicher schon Montagslottoscheine im Wert von fünfhunderttausend Dollar weggegabelt. Obwohl das ganze Geld ja längst gewonnen und ausgegeben ist – und wofür? Schnickschnack, Klamotten, Reisen, Weihnachtsgeschenke – die mittlerweile alle auf dem Müll gelandet sind, als Kalorien verbrannt oder in die Luft geblasen.

Lisa sticht in den Haufen wie eine Berserkerin. Die Magazine fliegen durchs Dachfenster und landen mit dumpfem Knall im Abfallcontainer zwei Stockwerke tiefer. Zwischendurch hört man den Rasenmäher eines Nachbarn, vorbeifahrende Autos, die Reisstärlinge auf den Feldern und den Hund vom New-Holland-Agrartechnikhandel, der einer Bisamratte hinterherbellt. Das weiße Rauschen des Sommers, wie ein schlecht eingestelltes UKW-Radio.

Lisa hat den Eindruck, zwischen zwei Welten festzuhängen. Von September bis Juni läuft in den engen Fahrrinnen des Schulalltags alles wie auf Autopilot. Keine Zweifel, keine schwierigen Entscheidungen. Aber der Sommer erinnert sie ständig daran, dass sie ihr Geschick nicht selbst steuert. Sie träumt von babylonischen Türmen und Reisen ums Kap Hoorn, Durchquerungen der Sahara und Teilchenbeschleunigern, aber immer fehlt – selbst in bescheidenen Mengen – das Geld, für jedes noch so kleine Vorhaben. Das Geld für ein Fahrrad. Das Geld fürs Autokino. Das Geld, um eine Drohne zu bauen, einen Kompass zu kaufen, ein Mikroskop. Das Geld für einen Segelkurs oder Kung-Fu-Stunden. Das Geld, um die Welt zu erobern.

Mit ihren fünfzehn Jahren befindet sich Lisa in einem Zwischenzustand: Sie ist alt genug, um Ideen für Projekte zu haben, aber zu jung, um eine Arbeit zu bekommen, die diesen Namen verdient – denn interessante Aushilfsjobs gibt es nicht wie Sand am Meer. Diesen Sommer hatte sie die Wahl, entweder zusammen mit mexikanischen Saisonarbeitern Erdbeeren zu pflücken oder, für ein symbolisches Gehalt, ihrem Vater zu helfen – und jetzt mistet sie den Dachboden von Haus Baskine aus und fragt sich, ob sie nicht doch lieber in die Erdbeeren gegangen wäre. Dort hätte sie immerhin ein paar Brocken Spanisch gelernt.

Seit zwei Tagen wirft sie nun schon prähistorische Pumps, Kleiderständer, kaputte Korbstühle, halbe Schaufensterpuppen, Pfauenfedern, Globen, Klapphocker und Ballen von Samtvorhängen aus dem Dachfenster. Und was ihr dabei alles auf die Gabel kommt: Mäusenester, Weidenkörbe, Bündel von Gemeindeblättern. Eine Wiege mit blaugrünen und rosafarbenen Kaninchen darauf. Zerlegte Möbel. Ein Grundig-Kurzwellenradio, durch dessen offene Rückseite durchgebrannte Vakuumröhren zu sehen sind. Das Briefpapier eines Hotels, das Bühnenbild einer Theateraufführung. Knallpistolen. Wasserpistolen. Knochen.

Unzählige Pappkartons voller Reiseerinnerungen, mit Aufschriften wie Standard Oil und Чарльз Баскин. Bemalte Rumbarasseln. Ein Wandteppich mit einem Vollmond vor Palmen und dem Schriftzug Punta Cana am unteren Rand sowie dem Aufdruck Hecho en China auf der Rückseite. Mehrere Flaschen Spiced Rum (leer) und Kokosöl (voll). Tauchermasken, mit Schuhcreme geschwärzte indianische Antiquitäten. Halsketten aus Nüssen, Muscheln, Gewürzen, kleinen Knochen, Federn und Pepsi-Verschlüssen.

Die großen Handelsrouten des 20. Jahrhunderts führten offenbar alle durch diesen Dachboden, und während Lisa gabelt, was das Zeug hält, fragt sie sich, was für ein geopolitischer Wahn es wohl war, dass diese Gegenstände begehrt, gekauft, gehortet, benutzt, geliebt und dann Schicht für Schicht auf diesem verranzten Dachboden gelandet sind, bis sich an einigen Stellen eine von Vogelkot und toten Fledermäusen nicht zu unterscheidende Masse gebildet hat.

Noch eine Stunde, dann hat sie es geschafft.

Haus Baskine mit seinen Spitznamen »Spukhaus«, »Chemikervilla« oder »Feuernest« ist ein großes verfallenes Anwesen auf halber Strecke zwischen Huntingdon und der amerikanischen Grenze. Sechs aufeinanderfolgende Besitzer haben es ohne Geschmack und Verstand jeweils renoviert und schließlich den Elementen überlassen. Seine Mauern aus Quadersteinen, dick wie die einer Burg, sind pompös mit Simsen verziert und tragen ein Kupferdach, das schon einige Wirtschaftskrisen überlebt hat. Es wurde gebaut, als sich das Dominion Kanada langsam nach Westen ausbreitete, und strahlt sogar noch im Verfall den gnadenlosen Optimismus der Kolonialmächte aus.

Robert Routier hatte schon seit Jahren ein Auge auf Haus Baskine gehabt. Für einen Sanierungsprofi war es ein Glücksfall – das erhabenste und künstlerischste seiner Renovierungsprojekte und ein Gegengewicht zu all den eintönigen Bungalows, die er seit Jahren wie am Fließband instand setzte, ohne dass er dabei finanziell auf einen grünen Zweig gekommen wäre. Gerade war er vierundsechzig geworden und spürte, wie ihm die Zeit davonrannte. Aus seiner Sicht war Haus Baskine die letzte Chance, noch etwas Großes zu vollbringen, bevor alles zu Ende ging.

Zu seinem Leidwesen gehörte das Objekt seiner Begierde allerdings einem chinesischen Großkonzern. Die Chinesen rissen sich in dieser Region alles unter den Nagel: Waldstücke, altehrwürdige Bauten, aber auch einfache Bauernhöfe. Man sah sie in geliehenen Fords herumfahren, bewaffnet mit aufbruchsicheren Koffern und Satellitentelefonen. Diese stille Annektierung der Gegend führte jedoch zu keinerlei Geschäftstätigkeit, keinem sichtbaren Profit. Es handelte sich um eine reine Fiskaloffensive, die einem rational denkenden Menschen unsinnig erscheinen mochte – einem irrationalen oder steuerrechtlich versierten Menschen übrigens auch –, so dass Haus Baskine nach einigen Jahren während der Finanzkrise im Portfolio eines Maklers auftauchte.

Ein kurzer Besuch von Robert Routier reichte aus, um zu verstehen, warum das »Feuernest« ohne jede Gewährleistung in den Verkauf kam: Wenn das Gebäude schon von außen keine Augenweide war, so bot es von innen wahrlich keinen schönen Anblick. Es schien fast, als wäre das Haus längere Zeit besetzt gewesen, ein Eindruck, der von den riesigen angelaufenen Spiegeln mit ihren blinden Flecken und schwarzen Löchern nur verstärkt wurde, die einander gegenüberhängend einen unendlichen Flur erschufen und Übelkeit beim Betrachter hervorriefen, wenn er allzu lange in sie hineinschaute. Abgesehen von dieser unheimlichen Spiegelgalerie zeichnete sich das Haus durch die allgemeine Abwesenheit gerader Wände und rechter Winkel aus. Alles war krumm und schief. Die Luft war muffig, die Tapete blätterte ab, die Fußböden waren morsch, doch dieser Zustand änderte nichts an Robert Routiers Entschlossenheit: Liebe macht blind, taub und sogar ein bisschen blöde. Als könnte es ihm nicht schnell genug gehen, sich ein für alle Mal zu ruinieren, war der Kaufvertrag nach kaum achtundvierzig Stunden notariell besiegelt.

Seit dem Johannistag waren Robert & Tochter nun im Haus zugange und entdeckten Tag für Tag neue verdeckte Mängel. Die Bauarbeiten drohten, sich noch bis Weihnachten hinzuziehen, und Robert beschlich allmählich der leise Zweifel, ob er nicht, mal eben so, die jüngste einer spektakulären Reihe von Fehlentscheidungen getroffen hatte.

Der Nachmittag neigt sich dem Ende zu, als Robert den Kopf durch die Dachbodenluke steckt – die Brauen weiß vom Gips und mit dem Abdruck seiner Schutzbrille um die Augen. Seine Tochter hat ganze Arbeit geleistet, den Fußboden freigelegt und sogar einigermaßen blankgescheuert und gefegt. Durch dicke Schwaden Staub lässt sich Lisas graue Gestalt erahnen, wie sie den Inhalt des letzten Pappkartons untersucht. Robert rümpft die Nase. Es riecht nach Ruß und zermahlener Mumie.

»Fünf Uhr!«

Lisa hebt den rundglasigen Gasmaskenblick zu ihrem Vater. Um sie herum auf dem Fußboden liegen wie auf einer Flohmarktdecke ein Dutzend alter Fotoapparate. Lisa zieht die Maske ab und betrachtet im schmutzigen Licht, das durch die Bodenluke hereinfällt, eine Leica.

»Darf ich die haben? Bitte.«

Er greift sich eine Polaroidkamera mit Faltenbalg und hält sie sich unter die Nase. Der Apparat stinkt wie eine tote Ratte.

»Was willst du damit?«

Sie zuckt die Schultern.

»Weiß nicht. Einfach behalten.«

Robert reibt sich den Schnurrbart, wie immer, wenn er ratlos ist, und wirbelt dabei ein Gipswölkchen auf. Schließlich winkt er gönnerhaft ab: Nachdem sein Fräulein Tochter diesen Augiasstall ausgemistet hat, steht es ihr gewiss zu, eine Handvoll Kram zu behalten, wenn ihr danach ist. Jedem seine Freude.

Er steigt wieder hinab, wo es sich besser atmen lässt. Lisa schiebt ihre Maske auf die Stirn wie ein Krieger seinen Helm und trägt, geheimnisvoll lächelnd, ihren Karton übelriechender Kameras auf der Hüfte davon. Anders als gerade behauptet, weiß sie ganz genau, was sie mit den Fotoapparaten vorhat.

Vater und Tochter ziehen den Gartenschlauch bis auf den vorderen Rasen und säubern sich mit einem großen Besen und ordentlich Wasserdruck. Lisa betrachtet den Trümmerberg, der aus dem Container quillt, und kann kaum glauben, was sie da alles durchs Fenster geschickt hat.

In Roberts altem Van, einem Dodge RAM, kehren sie mit heruntergelassenen Fenstern zurück ins traute Heim. Der Wind tut gut, aber Lisas Hals und Nase fühlen sich immer noch nicht frei an. Sie hustet und schnieft und flucht. Elender Dachboden.

Es geht durch Wald und Felder, so als rasten sie ins Nirgendwo. Sobald sie die Hinweistafel Grenze USA/Border U.S.A. 500 m passiert haben, sind sie da. Eine Abzweigung nach rechts führt auf einen Schotterplatz, den eine Reihe Briefkästen säumt. Neben einem Müllcontainer steht ein Schild mit der Aufschrift Willkommen auf Domaine Bordeur. Vor ein paar Jahren war das Schild zur Zielscheibe eines wortspielenden Vandalen geworden, der, wie heute noch zu lesen ist, in Neonorange Willkommen auf Domaine Boredom – Welthauptstadt der Langeweile daraus gemacht hat.

Niemand weiß, warum dieser unbedeutende Trailerpark Domaine Bordeur heißt. Die gängige Erklärung lautet, es handele sich um eine Abwandlung des Wortes border. Weitaus erstaunlicher ist allerdings die Bezeichnung Domaine, die nahelegt, die Bewohner dieses Platzes würden irgendetwas dominieren. Doch in dem Punkt macht sich keiner etwas vor.

Hinter dem Parkplatz verlaufen Straßen mit leicht anarchischer Trassenführung. Die ersten Trailer wurden hier als Jagdhütten abgestellt, als sich der Wald noch in alle Richtungen erstreckte. Bewohnt wurden sie damals nur im Sommer. Nach und nach wichen die einfachen Caravans mobilen Wochenendhäusern und die Wochenendhäuser schließlich Dauerwohnsitzen. Die neuesten Mobilhäuser auf der Domaine waren am Fließband gefertigte Serienmodelle, die in Plastik verschweißt wie ein neuer iPod per Lastwagen angeliefert und vor Ort ausgepackt wurden.

Doch egal ob neu oder alt, die vermeintlich mobilen Häuser ruhen nun allesamt auf Betonsockeln und erfreuen sich der Anschlüsse an die moderne Zivilisation: Strom, Telefon und Klärgrube. Dennoch hatte die Domaine nichts von ihrem transitorischen Wesen und ihrer deprimierenden Vorläufigkeit verloren.

Zu Hause angekommen springt Lisa mit ihrem Karton Fotoapparate sofort aus dem Wagen und stürmt in die Werkstatt ihres Vaters, einem alten Maersk-Container hinter dem Haus.

Die Leuchtstoffröhren flackern auf und erhellen die Wände, an denen merkwürdige Werkzeuge hängen: Fuchsschwänze, die noch aus der Zeit zwischen den Weltkriegen stammen, aber kunstfertig scharf gehalten wurden; Schraubenzieher, wie sie heute niemand mehr herstellt; und von obskuren Schmiedemeistern gefertigte Hohleisen und Beitel. Schon oft hat Lisa sich gefragt, woher diese Werkzeuge kommen. Auf ihr Fragen reagierte Robert mit Geschichten über Flohmärkte und vage Erbschaften, denen immer ein Beiklang von Verschwiegenem und Heimlichtuerei anhaftete. Lisa weiß nur, dass der Vater an Samstagabenden, wenn ihn die Schwermut packt, zu seinem Werkzeug geht wie andere zum Altar einer bösen Gottheit oder zu einer Kiste alter Playboy-Hefte.

Sie breitet die Apparate auf der Werkbank aus. Viel Ahnung hat sie nicht davon, doch scheint es eine reiche Beute zu sein: eine Kodak Retina IIa, eine lederummantelte Leica III, eine Mercury Satellite 127, mehrere kleine Instamatics 110 mit schwarzem Kunststoffgehäuse, und nicht zu vergessen, die Alterspräsidentin des Kartons, die Polaroid mit Faltenbalg. Lisa knipst die Arbeitslampe an, holt eine Flasche Methanol, Pinsel und Lappen und macht sich daran, diesen altehrwürdigen Damen wieder etwas Glanz zu verpassen.

Während sie pinselt, muss sie die ganze Zeit schniefen und husten. Was hat sie sich auf dem ungesunden Dachboden bloß eingefangen? Eine Asbestose, neurotoxische Sporen oder einen Überrest der Spanischen Grippe? Oder diese Krankheit, die von Fledermäusen aus den USA eingeschleppt wurde, das Weißnasen-Syndrom?

Als ihr Vater sie zum Abendessen ruft, glänzen die Apparate im Schein der Lampe, riechen aber weiterhin nach Dachboden. Man müsste sie auslüften lassen. Lisa legt sie vorsichtig zurück in den Karton und wäscht sich dreimal mit viel Seife die Hände.

Auf dem Tisch dampfen zwei Teller Spaghetti à la Bob, mit Tomatenpüree und Bacon-Imitat, die sie andächtig schweigend verschlingen. Lisa spürt ein leichtes Brennen in den Armen. Sie lernt vielleicht kein Spanisch, bekommt dafür aber bestimmt Muckis.

Nach dem letzten Bissen zieht Lisa schnell das Geschirr durchs Spülwasser und verkündet, sie sei den Abend weg. Im Vorbeigehen schnappt sie sich ihren grauen Kapuzenpulli und den Karton mit den miefenden Apparaten und rauscht davon. Unnötig zu sagen, wohin.

Draußen erwartet sie einer dieser perfekten Abende, wie es sie nur im August gibt. Irgendwo am Rand des Parks kläfft ein Hund. Nachbarn streiten sich. Venus steigt herab zum Horizont. Vor dem Nachbarhaus werkelt Monsieur Miron versessen am Motor seines Datsun herum, über seinem Kopf eine baumelnde Handleuchte. Konzentriert wie Kasparow vor Deep Blue scheint er sich zu fragen, ob er nicht doch der Faulheit nachgeben und den Motorblock komplett austauschen soll.

Lisa geht die Rue du Bonheur hinauf, macht einen Bogen um die jungen Evel Knievels, die zum Zeitvertreib auf ihren BMX-Rädern über die Bremsschwellen springen, biegt ab über den Baugrund, der seit zwei Jahren zum Verkauf steht, und folgt der Rue de l’Allégresse bis zum Cul-de-sac de la Gaieté, einer Sackgasse.

Das Grundstück der Le Blancs befindet sich ganz am Ende dieser Sackgasse, wo die Erdbeerfelder der Covey-Hill-Farm beginnen. Jeden Sommer werden Dutzende Mexikaner dorthin geschafft. Mexikaner, Guatemalteken und bald auch Salvadorianer, Honduraner und alle möglichen anderen Olmeken. Sie kommen im Mai. Ernten Blattsalat, Erdbeeren, Kohl. Und wenn der Mais durch ist, gehen sie wieder. So spät im Sommer sind die Erdbeerfelder allerdings verwaist, und das Haus der Le Blancs wirkt wie ein einsamer Vorposten der Zivilisation.

Lisa tritt ein, ohne zu klopfen. Die Fliegentür kracht ihr in die Hacken.

Madame Le Blanc sitzt auf dem Sofa, lackiert sich die Fußnägel und liest in Dänisch für Dummies, das sie mit Haarklammern am Zuklappen hindert. Sie ist eine verführerische Frau, und im Gegensatz zu Lisas Vater hat sie noch ein gutes Stück ihres Lebens vor sich. Mit einem strahlenden Lächeln wendet sie sich Lisa zu.

»Hallo, meine Liebe! Éric ist in seinem Heiligtum.«

In Érics Zimmer ist es tatsächlich so blitzsauber wie in einer Kapelle. Nicht ein schmutziges Kleidungsstück liegt auf dem Boden, weder alte Socken noch stinkige Espadrilles – doch erinnert sich Lisa auch nicht, wann sie Éric das letzte Mal mit Socken oder Schuhen gesehen hätte. Kein überflüssiger Gegenstand auf dem Schreibtisch, und die Bücher im Regal sind nach einem komplizierten System geordnet. Der Vogelkäfig steht geöffnet in einer Ecke des Zimmers, und auf dem obersten Regalbrett thronen drei vollkommen gleich aussehende Wellensittiche, jeder auf seinem Lieblingsbuch.

Éric sitzt auf seinem Bett, das Handy auf dem Schoß, Kopfhörern in den Ohren und zwei Liter Billig-Traubensaft in Reichweite, und debuggt Codes. In zehn einander überlagernden Fenstern auf seinem Bildschirm wird eifrig vor sich hin gedownloadet, kompiliert, gerechnet und gewartet. Neben ihm liegt eine Digitalkamera, eine gewöhnliche Canon PowerShot minderer Qualität.

Die drei Wellensittiche fliegen auf, flattern eine Runde durchs Zimmer und lassen sich wieder auf dem Bücherregal nieder, wo einer von ihnen auf den Schnitt eines Robert Heinlein ein winziges Semikolon Kot setzt.

An der Türschwelle zieht Lisa ihre Schuhe aus und stellt ihren Karton altehrwürdige Damen wortlos neben die PowerShot. Ein Jahrhundert Fototechnik auf einem Quadratmeter.

Éric zieht sich schweigend die Stecker aus den Ohren und betrachtet den Karton einige Sekunden lang. Schließlich greift er nach der Mercury Satellite. Auf dem Kunststoffgehäuse folgt ein reliefartig hervorstehender Sputnik einer elegant elliptischen Umlaufbahn.

»Was ist das?«

Strahlend lässt sich Lisa auf das Bett fallen.

»Die Lösung all unserer Geldprobleme.«

2

Nach sieben Jahren Winterschlaf kommt Jay mit ihrem noch druckfrischen Reisepass, ihrem Bewilligungsschreiben voller Stempel und Unterschriften und einer einfachen Umhängetasche an den Flughafen Trudeau. Ohne Gepäck zum Aufgeben. Die Behörde hat ihr zweiundsiebzig Stunden gewährt, also hat sie für zweiundsiebzig Stunden gepackt. Sie hat weder Laptop noch USB-Stick, CDs, SD-Karten, Fotoapparat oder Handy dabei, nichts, was Verdacht erregen könnte.

Bei der Sicherheitskontrolle wird sie mit größter Sorgfalt durchsucht. Man leert ihren Ziploc-Beutel aus und schnuppert an ihrer Zahnpasta und Handcreme. Die kleinste Naht ihrer Tasche wird umgestülpt, betastet, mit der Taschenlampe untersucht. Sie wird in ein Büro gebeten, in dem eine Beamtin ihr Adressbuch fotokopiert und ihr Portemonnaie entleert. Auch der dritte Band von Jules Vernes Gesammelten Werken, eine gebundene Ausgabe mit wattiertem Einband in Kunstlederoptik, wird genau unter die Lupe genommen. Die Beamtin betastet den vertäuten Gasballon auf dem Cover. Ganz offensichtlich hat sie beschlossen, dass diese drei Millimeter unbekanntes Weiches ein Risiko für die nationale Sicherheit darstellen – und Jays Meinung in dieser Sache ist nicht gefragt.

Und schuld an allem ist Horacio Guzman.

Nachdem er ausreichend viele Davidoffs gequalmt hatte, um dem Bruttoinlandsprodukt einen Buckel zu verpassen, fünfzehn Jahre durchgehustet und Blut und Schleim gespuckt hatte und komplett bis ins kleinste Vitalorgan samt Hirn von Metastasen befallen war, legte Horacio Guzman sich auf sein Bett im zweiten Obergeschoss und erklärte, nie wieder aufstehen zu wollen.

Kurz darauf äußerte er zwischen zwei Hustenanfällen den Wunsch, man möge die pequeña benachrichtigen.

Dieses Ansinnen versetzte alle in Erstaunen. Niemand wusste mehr, wo oder wie sich die pequeña erreichen ließe. Schon seit Jahren war sie verschwunden. Einige hatten sie sogar vergessen. Es brauchte zwei Wochen intensiver Recherchen, bis ein Freund eines Freundes der Familie Jay über eine alte verspamte Yahoo-Adresse kontaktieren konnte.

Die Mitteilung bestand aus fünf Worten (sechs, wenn man die Unterschrift mitzählt): »El viejo se está muriendo.«

Es dauerte gerade einmal so lange, wie es braucht, eine internationale Telefonkarte zu kaufen (mit Bargeld bezahlt) und eine Telefonzelle zu finden, schon meldete sich Jay im Hauptquartier des Guzman-Clans. Ein Neffe bestätigte ihr die Nachricht: Mit Horacio gehe es zu Ende, Horacio liege im Sterben. Jay versprach, ins nächste Flugzeug zu springen, und legte auf.

Sie bereute es im selben Augenblick.

Zum einen hatte sie kein Recht zurückzukehren. Zum anderen war sie nicht sicher, ob zwischen der Guzman-Sippe und ihr noch eine echte Verbindung bestand. Vor der Mail und dem Anruf hatten sie sieben Jahre lang keinen Kontakt gehabt.

Doch für metaphysische Fragen fehlte die Zeit. Horacio hustete sich den Rest seiner Lunge aus dem Leib. Jay musste handeln.

Als Erstes musste sie das Aufenthaltsverbot aufheben lassen.

Jay trat ihren Kreuzweg an. Sie besuchte unaufgefordert zahlreiche Dienstzimmer, plädierte in eigener Sache und arbeitete sich die steile Wand der Hierarchie hinauf. Überall begegnete man ihr mit Zurückhaltung. Das Problem war nicht die Reise an sich, sondern das Wiedersehen mit Horacio Guzman. Ob sie in Mexiko nicht lieber zehn Tage All-inclusive-Urlaub machen wolle?

Schließlich ging sie bis hoch zur Kommission für bedingte Haftentlassung. Nach einer langen Telefonkonferenz mit der Bewährungshelferin, der Unterkriminaldirektorin von der Bundespolizei und einer rätselhaften Madame Bourassa wurde Jay eine »zeitweilige Aufhebung der Klausel 5(b) und der Nebenverordnung IV aus humanitären Gründen bewilligt, unter Berücksichtigung ihrer sehr guten Führung im Lauf der bislang verstrichenen sechs Jahre, acht Monate und zwölf Tage«.

Besagte Aufhebung würde für zweiundsiebzig Stunden gültig sein, egal ob sie genutzt würde oder nicht.

Jay nutzte sie.

Der wattierte Buchdeckel des Jules-Verne-Bandes ist schließlich mithilfe eines Cutters aufgeschlitzt und mit der Taschenlampe untersucht worden, was die Grenzbeamtin zu beruhigen scheint. Jay darf also ihre Habseligkeiten zusammenpacken und die internationale Transitzone betreten.

Auf dem Weg zum Flugsteig rechnet sie dennoch damit, von einem Angestellten der Flughafensicherheit abgefangen zu werden, der ihr sagt, man habe es sich anders überlegt, sie dürfe doch nicht reisen. Bestimmt würde man sie in der nächsten Minute verhaften.

Aber niemand hält sie auf.

Sie presst die Kiefer zusammen, hält voller Unglauben die Luft an und entspannt sich erst zehn Minuten nach dem Abflug, sobald das Flugzeug nach Süden schwenkt und den Montréaler Luftraum verlässt. Die Motoren ändern die Drehzahl, die Anzeigeleuchten mit den Sicherheitsgurten erlöschen. Jay kann es immer noch nicht fassen, dass man sie ziehen lässt. Sie fühlt sich leer. Für einen Moment ist ihr nach Weinen zumute.

Sie verbringt die taghelle Zeit des Fluges – den Zwischenstopp in Toronto inbegriffen – in bleischwerem Schlaf und wacht erst wieder auf, als das Fahrwerk die Piste des Flughafens von Las Américas berührt.

Ihre Trommelfelle schmerzen. Das Flugzeug vibriert und wird langsamer, rollt dann gemächlich über die Betonplatten des Flughafens. Jay macht einen Druckausgleich. Da und dort wird geklatscht. Ihre Nachbarin bekreuzigt sich, küsst ihre Fingerspitzen. Ein paar Sitzreihen vor Jay möchte eine Dame ungeachtet der Warnhinweise aus den Lautsprechern einen überdimensionierten Koffer aus dem Gepäckfach nehmen. Er rutscht ihr aus der Hand, trifft jemanden am Kopf, eine Wasserflasche rollt über den Boden, es folgen Flüche auf Englisch und Spanisch.

Unvermittelt greift die Flugbegleiterin wieder zum Mikrofon: Alle Passagiere müssten auf ihren Plätzen sitzen bleiben, einige Sicherheitsbeamte würden die Passagierkabine untersuchen und erst danach sei das Verlassen des Flugzeugs erlaubt.

Die Maschine hat die Position an der Gangway erreicht, und alle Bordsysteme ersterben: die Motoren, die Lüftung, die Beleuchtung. Nur einige Kompensatoren in der Flugzeugwand knacken. Die Leute beginnen, in verschiedenen Sprachen zu grummeln. In der ersten Klasse macht sich ein gewisser Ungehorsam breit, die Passagiere springen ähnlich hart mit den Gepäckfächern um wie auch mit dem Bordpersonal. Endlich öffnet sich die Kabinentür, und zwei Polizisten treten ein.

An den ersten kann sich Jay sogar erinnern. Wie heißt er noch gleich? Sein Name liegt ihr auf der Zunge. Der Mann kommt den Gang entlang, den Blick auf die Sitznummern gerichtet, statt auf die Passagiere, als misstraue er seinem visuellen Gedächtnis. Endlich findet sein Blick die Nummer 17B und richtet sich auf Jay. Einige Sekunden lang ist alles im Fluss: Die beiden Gegenüber erkennen einander wieder.

»Usted no cambió

Jay antwortet nicht, weiß aber noch, dass der Typ sie damals geduzt hat.

Die zwei Uniformierten geleiten sie in den vorderen Teil der Kabine. Sie schaut starr vor sich hin, ungerührt, und ignoriert das Stimmengewirr ringsum. Erst beim Verlassen des Flugzeugs wird ihr bedeutet, die Hände vorzustrecken. Die Handschellen sind sonderbar warm auf ihrer Haut, als wären sie gerade erst jemand anderem abgenommen worden.

Das Trio geht die Gangway hinauf zum Flughafengebäude. Durch die dünnen Wände spürt Jay die feuchte Hitze, riecht das Kerosin. Am Flugsteig warten zwei Männer im Drillich, beide mit einer M16 in der Armbeuge. Irgendwo im Terminal spielt eine Bachata-Version von Lady Gaga.

Jay schaut den Gang hinunter, der zu den Einreiseschaltern führt. Heute gibt es kein Einreisevisum für die pequeña.

Im Büro der Flughafensicherheit sitzen in einer Ecke die beiden Beamten. Der ältere, nach dessen Namen Jay immer noch sucht, hängt am Telefon, während der andere den Reisepass und das Bewilligungsschreiben begutachtet. Sie scheinen zu überlegen, was als Nächstes zu tun sei.

Ein weiterer junger Beamter durchsucht Jays Umhängetasche, zieht den dritten Band von Jules Vernes Gesammelten Werken heraus. Er untersucht die frisch aufgeschlitzte Stelle, blättert kurz im Buch herum.

»¿Qué tal es?«

»Pésimo.«

Er nickt.

»A mi me gusta Émile Zola. Estoy leyendo El paraíso de las damas por tercera vez.«

Am anderen Ende des Raums legt der telefonierende Beamte endlich den Hörer zur Seite und kommt mit gerunzelter Stirn auf sie zu. In seiner Hand das Bewilligungsschreiben. Die Formulierung on humanitarian grounds macht ihn fassungslos.

»Usted vino a visitar a Horacio Guzman.«

Es ist keine echte Frage, dennoch antwortet Jay mit einem Nicken: Ja, sie ist extra den weiten Weg gekommen, um Horacio Guzman zu besuchen – und was noch besser ist: mit der Zustimmung der kanadischen Bundespolizei.

Der Beamte faltet den Brief zusammen.

»Llegó tarde. Ya murió anoche.«

Die Nachricht klingt unwirklich. Horacio soll gestern Abend gestorben sein? Jay hat nicht einmal mehr die Kraft, den Beamten als Lügner zu beschimpfen – um ehrlich zu sein, glaubt sie ihm aufs Wort. Sie weiß, dass er keinen Grund hätte zu bluffen. Er hat die absolute Macht, die totale Kontrolle über die Ereignisse. Todopoderoso, wie man so schön sagt: allmächtig, als oberster Befehlshaber. Er hat Jay komplett in der Hand.

Nur dieses Bewilligungsschreiben stört ihn ein bisschen: Es bestätigt Jays doppelten Status. Gefährlich, aber unter Schutz.

Er entfernt sich ohne ein weiteres Wort, und die Situation entspannt sich wieder. Die Leute kommen und gehen, aber um Jay kümmert sich niemand mehr. Jay wird die Zeit lang. Draußen dämmert es, die Sonne versinkt im Tarmac. Auch Jay dämmert vor sich hin. Der Anruf kommt gegen Mitternacht: sofortige Ausweisung.

So endet diese Episode.

Ein Beamter begleitet sie bis an ihren Platz und postiert sich dann neben dem Cockpit bis zum Schließen der Kabinentür. Jay ist gefasst. Auf ihrem Schoß liegen der immer noch jungfräuliche Reisepass und das leicht zerknickte Bewilligungsschreiben. Als das Flugzeug nach einer Ewigkeit abhebt, lehnt sie sich ans Fenster und blickt auf das verbotene Land weit unter ihr. Die Maschine schwenkt in Richtung Meer und überfliegt das Hafenterminal von Caucedo. Dort warten Tausende übereinandergestapelte Container wie die bunten Spielsteine eines unbekannten Spiels.

3

Lisa war Érics allererster Hack.

Als Kleinkind verstümmelte er Worte und Sätze. Seine Mutter musste ihm jeden neuen Namen zerlegen wie einen Flusskrebs. Als er am ersten Tag im Kindergarten das Nachbarmädchen mit den blonden Zöpfen vorgestellt bekam, das gerade neben den Mirons eingezogen war, hielt man ihn an, schön deutlich É-lii-sa-beth zu sagen. Mit langem i.

Éric war sofort in Élisabeth verliebt und gab acht, alle Silben ihres Vornamens deutlich auszusprechen. Diese artikulatorische Anstrengung hielt er einige Tage durch, bis das É dann doch hopsging. »Lisabeth«, sagte Éric – und das oft, da die beiden den ganzen Tag zusammen verbrachten, wie Pech und Schwefel. Dieser ersten Amputation folgte ein kurzes Schwanken zwischen Lisabeth und Sabeth, bis Éric sich letztlich auf Lisa festlegte. Seitdem heißt Lisa Lisa, und bald nannten sie auch alle anderen so. Ihr Vater, ihre Mutter, die Freunde, die Lehrer, die Schulsekretärin.

Éric hatte sie erfolgreich umprogrammiert.

Zum allgemeinen Erstaunen blieben die beiden unzertrennlich. Die Leute hielten sie für grundverschieden, tatsächlich aber waren sie komplementär. Éric konnte räumlich denken. Er hatte eine Vorliebe für Puzzles, detaillierte Landschaftsbilder und Symmetrien. Er stellte sich immer auf die gleiche Art vor: »Ich heiße Éric Le Blanc. Le Blanc in zwei Worten, mit Lücke in der Mitte.« Lisa dagegen war synthetisch und narrativ begabt, sie interessierte sich für Übersichten und Subtexte. Fragte man sie nach ihrem Namen, antwortete sie: »Lisa Routier-Savoie. Ungefähr 95 % Routier und 5 % Savoie.«

Er sprach wenig, sie füllte die Stille. Er lebte in seinem Kopf, sie beobachtete ständig die Welt um sich herum. Sie tat die Fragen auf, und er fand die Antworten, wobei Lisas Fragen genauso klug und eigenartig waren wie Érics Antworten.

Sie fühlten sich nur wohl, wenn der andere da war, wie Geschwister, die zu lange getrennt gewesen sind. Oft saßen sie Rücken an Rücken irgendwo in einer Ecke auf dem Boden und lasen, wie zwei Körper, die von derselben Wirbelsäule ausgehen.

Diese fröhliche Symbiose dauerte bis zur Sekundarstufe, als Éric begann, an einer heftigen Form von Agoraphobie zu leiden, an Platzangst: Über einen Zeitraum von sechs Monaten führte sie bei ihm zur fast völligen Unfähigkeit, das Haus zu verlassen, wodurch seine Ambitionen, Astronaut zu werden, hinfällig wurden. Er, der in der Internationalen Raumstation hätte arbeiten wollen, musste sich nun mit seinem Zimmer zufriedengeben. Er erfüllte seine Schulpflicht im Heimstudium und schaffte es, innerhalb von achtzehn Monaten die Sekundarstufe abzuschließen, mit drei Jahren Vorsprung. Da er zu jung war, um aufs Cégep zu gehen – und sowieso das Haus nicht verlassen konnte –, wurden ihm die Tage mit einem Mal sehr lang und einsam. Womit sollte er sich während all der Stunden beschäftigen, in denen seine Mutter in Valleyfield bei der Arbeit war? Er hätte sich Bilder von brennenden Autos, Zombies, Mädchen im Monokini oder die musikalische Gesamtproduktion der Neunzigerjahre aus dem Netz holen können. Er interessierte sich aber eher fürs Programmieren, und bald begann er, mit einer eigentümlichen Leichtigkeit die Handbücher von Python, C und Ruby durchzuackern.

Diese Leidenschaft brachte ihm eine große Erkenntnis: Alles, aber wirklich alles funktioniert mit Betriebssystemen und Anwendungsprogrammen: Verkehrsampeln, alle Arten von Apparaten, Mikrowellenherde, Telefone, Geldautomaten bis hin zu medizinischen Geräten. Außer dem alten Datsun Sunny von Monsieur Miron gab es eigentlich nichts mehr, das rein analog war.

Plötzlich fühlte sich Éric, als hätte er eine Brille mit Röntgenblick. Seine Umgebung wurde hochgradig hackbar, im Guten wie im Schlechten. Er machte verschiedene, mehr oder weniger erfolgreiche Experimente. Sein Versuch, die Firmware des familieneigenen DVD-Players zu hacken, erwies sich als ebenso legendärer wie totaler Fehlschlag, und Madame Le Blanc erklärte, es gebe wirklich Grenzen und falls sie Éric dabei erwischen sollte, wie er den Herzschrittmacher des Nachbarn hackte, dann dürfte er nur noch mit ihrem alten 14,4-Bauds-Faxmodem hinten aus dem Schrank ins Netz gehen. Trotz ihrer freundlichen Erscheinung beherrschte Madame Le Blanc sehr wohl die althergebrachte Kunst des Drohens.

Jeden Abend lief Lisa also in den Cul-de-sac de la Gaieté und gab sich alle Mühe, Érics ruhige Routine zu stören. Er verbrachte zu viel Zeit vor seinem Bildschirm, wie ein Tier im Käfig, und Lisa dachte sich tausend lustige Dinge für ihn aus. Sie schlug ihm vor, aus Rasendünger Sprengstoff zu kochen, einen Van-de-Graaff-Blitzgenerator zu bauen und eine ballistische Rakete über die amerikanische Grenze zu schießen. Einmal hatte sie die Idee, Benjamin Franklins legendäres Experiment nachzustellen und mit einem Drachen Blitze einzufangen und zu zähmen. Wie hätte Éric da widerstehen sollen? Das Unterfangen war amüsant und nicht teuer und, bei Zeus, wie oft hatte man schon die Möglichkeit, eine elektrische Ladung von 50.000 Ampere in der Hand zu halten? Lisa bereitete alles Material vor, aber Éric entschied sich in letzter Minute um: Schon die Vorstellung, das Haus zu verlassen, war für ihn schwer erträglich, aber das Donnergrollen machte es ihm völlig unmöglich.

Mit dem Drachen unterm Arm stand Lisa unter dem bedrohlich zuckenden Himmel, sah in 20.000 Metern Höhe den Kamm der Cumulonimbus vorbeiziehen und hatte das deutliche Gefühl, etwas Wichtiges zu verpassen. Doch egal, sie hatte noch viele andere Pläne, um Éric aus der Reserve zu locken. Hauptsache, ihre Eltern erfuhren nichts davon.

Zweifelnd beugt sich Éric über den Pappkarton. Diese alten übelriechenden Kameras sollen die Lösung all ihrer Geldprobleme sein? Lisa nickt energisch.

»Wir verkaufen sie auf eBay.«

Die Apparate erscheinen ihm plötzlich in einem neuen Licht. Er betrachtet jeden einzelnen, drückt auf die Auslöser, öffnet vorsichtig die Gehäuse. In einer der Instamatics ist sogar noch ein Film, den er aber drinlässt. Ein Mehrwert.

In den letzten Monaten haben Éric und Lisa so viele verschiedene Sachen ausprobiert, um zu Geld zu kommen, dass sie kaum noch sagen können, wie viele. Lisa hat Pfandflaschen gesammelt und Rasen gemäht. Für die Arbeit im Haus Baskine bekommt sie ihren Lohn erst am Ende der Ferien. Éric wiederum hat einige Computer in der Nachbarschaft flottgemacht und online Kaffeetassen verkauft. Er sucht im Netz nach gewinnbringenden Tricks, aber das Rechtssystem verstellt den Weg zum Glück ständig mit Hindernissen.

Kurzum, alte Fotoapparate auf eBay verkaufen? Die Idee ist auch nicht schlechter als andere.

»Wie viel fehlt uns noch?«

»Ungefähr zweihundertfünfzig Dollar.«

»Die kriegen wir nicht sofort verkauft. Das kann Wochen dauern. Oder Monate.«

»Vielleicht hätte ich besser Erdbeeren gepflückt.«

»Zeitverschwendung.«

Er geht auf die Startseite von eBay und tippt einige Modellnummern ins Suchfenster. Der Markt für alte Fotoapparate scheint zu florieren. Er addiert die Preise. Die Sache könnte klappen.

Während Lisa die Apparate wieder einräumt, deutet Éric mit dem Zeh auf einige kyrillische Schriftzeichen am Kistenrand.

»Ist das Russisch?«

»Sieht Russisch aus.«

»Man müsste rausfinden, wer in dem Haus gelebt hat.«

»Auf jeden Fall jemand Reiches. Ich habe gestern den ganzen Nachmittag Nerze und Martinigläser weggeschaufelt. Das würde auf eBay ein Vermögen bringen, wenn die Fledermäuse nicht alles vollgekackt hätten.«

Daraufhin schweift Érics Aufmerksamkeit schnell von dem Karton ab, er hält Lisa einen seiner Kopfhörer hin und widmet sich wieder seiner Arbeit. Lisa schiebt den Stecker ins Ohr und befindet sich mitten in einer Wolke aus polnischem Industrial Punk. Sie wirft einen Blick auf die Reihen Quellcode auf dem Bildschirm.

»Und, wie läuft’s?«

»Hm. Ich versuche, mit CHDK einen Bug zu reparieren. Das Ding zeigt einen lens error. Wahrscheinlich habe ich das ROM zerschossen. Meine Mutter reißt mir den Kopf ab.«

Lisa verzieht das Gesicht.

»Ach, ist alles für die Wissenschaft.«

Und während sie das sagt, denkt sie, mit dieser Entschuldigung könnte man alles, also wirklich alles rechtfertigen.

Einer der Wellensittiche setzt sich oben auf den Bildschirm und betrachtet den Quellcode, als überwachte er die Nomenklatur der Variablen. Nichts ist nerviger als ein Papageienvogel, der sich mit Programmiersprachen auskennt.

Lisa überlässt Éric seiner Arbeit. Wenn er derart besessen ist, kann man nichts mit ihm anfangen. Sie lässt ihm die Fotoapparate da, damit er sie am darauffolgenden Tag bei eBay reinstellt.

Im Wohnzimmer döst Madame Le Blanc auf dem Sofa liegend vor einem Gangsterfilm in einer germanischen Sprache, auf der die Protagonisten lange herumkauen müssen. Es gibt Schusswechsel und englische Untertitel.

Lisa verdrückt sich, darauf bedacht, die Fliegentür nicht zufallen zu lassen, und geht nach Hause.