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Alles war in bester Ordnung, bis René Koslik, ein Mann Anfang vierzig mit geregeltem Alltag, wegen Verdachts auf einen Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert wird. Mit ihren labyrinthartigen Gängen und ihrer undurchschaubaren Choreographie von Ärzten und Pflegern erscheint ihm die Klinik wie eine Parallelwelt. Die übrigen Patienten gleichen Schauspielern in einem absurden Theaterstück: Kosliks duldsamer Bettnachbar Friese, der redselige Rheinländer Bude, die esoterische Maltherapeutin Klemm – und eine Gestalt im Bademantel, die sich als Frank entpuppt, ein ehemaliger Kommilitone und ewiger Konkurrent von Koslik. Die angekündigten Untersuchungen verzögern sich, und eine diffuse Unruhe ergreift von ihm Besitz; er fühlt sich wie ein Angeklagter, der vergeblich auf sein Urteil wartet. Als dann auch noch seine Exfreundin Marlies auftaucht, droht alles aus den Fugen zu geraten …

Mit ihrem Debüt Koslik ist krank ist Julia Rothenburg ein eindrucksvolles Kammerspiel gelungen, eine literarische Endoskopie eines Mannes mittleren Alters mit dem Finger auf der Reset-Taste.

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Inhalt

1 – In der Nacht starrt Koslik …

2 – Koslik wacht am nächsten Morgen auf …

3 – Als später die Tür ins Schloss fällt …

4 – Ein bisschen wie ein Gefangener …

5 – Es ist kurz nach elf …

6 – Bude liest im Zimmer Zeitung …

7 – Der Weg zurück führt über …

8 – In der Nacht wirft Koslik …

9 – Später läuft Koslik im Zimmer …

10 – Mit dem schwarzen Gerät um den Hals …

11 – Die ganze Nacht kommt ihm …

für Adam

1

In der Nacht starrt Koslik an die Wand. Am gleichmäßigen Atem von Friese kann er erkennen, dass dieser noch lebt. Ein Lämpchen wirft rhythmisch rote Schatten auf seinen offenen Mund.

Koslik liegt regungslos da, denn immer, wenn er sich bewegt, raschelt das Bettzeug. Er hat Angst, dass Friese aufwacht. Aber Friese hat sich keinen Zentimeter bewegt, seit Koslik am Abend angekommen ist.

Als der Pfleger die Zimmertür für Koslik geöffnet hatte, sagte er: Das ist Herr Friese. Na, Herr Friese, wie geht es uns heute? Friese schwieg, und das Licht des roten Lämpchens fiel auf seine Wange, draußen hatte es schon zu dämmern begonnen. Koslik wartete eine ganze Stunde, saß auf dem Stuhl neben seinem Bett und musste immer wieder nach dem Blinken schauen. Das leere Bett sah aus, als wäre es nie berührt worden. Selbst der Knick im Kissen wirkte beiläufig. Er wollte Friese nicht stören. Wenn jemand ein Recht darauf hatte, hier zu sein, dann war es Friese.

Jetzt raschelt Koslik doch, als er sich langsam zum Ende des Bettes schiebt. Er hat seine Kleidung angelassen, nur die Schuhe liegen unter dem Gestell. Die Decke hat er nicht benutzt. Er will nicht, dass das Bett schmutzig wird.

Bevor Koslik seine Beine abstellt, reibt er mit den Fingern darüber, kneift hinein. Die Berührung auf der Haut fühlt sich warm an, als spürte er sie zum ersten Mal. Vor Erleichterung klopft ihm das Herz. Die Stoffbeine, die dort vorhin noch gelegen hatten, sind verschwunden.

Koslik schaut auf seine Armbanduhr, im Dunkeln glitzert der Zeiger, die Zahlen am Rand sind nur Schemen. Er steigt aus dem Bett, erneut ein Rascheln, und er lauscht nach Friese, aber da ist nichts, was nicht gleichmäßig wäre.

Koslik schleicht zum Ausgang. Der Gang ist leer, der Fußboden schimmert, als wäre er frisch geschrubbt. Irgendwo hinten lacht jemand. Koslik macht einen Schritt hinaus, der Boden ist kalt, er hat vergessen, seine Schuhe anzuziehen.

Na, kann ich helfen?, fragt ein Pfleger, der plötzlich neben ihm aufgetaucht ist. Es ist der Mausgesichtige, der, der ihn durch die Krankenhausflure hierhergeführt hat.

Es sollte heute Nacht eine Untersuchung geben, sagt Koslik. Damit ich morgen früh gleich wieder nach Hause kann.

Nach Hause, sagt der Pfleger. Na, Sie haben’s ja eilig. Wie geht’s denn der Taubheit?

Schon besser, alles weg, sagt Koslik.

Die Beine?, fragt der Pfleger.

Normal, sagt Koslik und zuckt ein wenig mit den Beinen.

Aha, sagt der Pfleger. Also, MRT ist angeordnet. Das muss auch bald so weit sein. Ist grad aber noch besetzt. Dauert sicher noch ’ne Stunde. Oder zwei. Nachts geht immer alles langsamer. Der Pfleger schaut den Gang auf und ab, aber da ist niemand. Legen Sie sich doch noch mal ins Bett. Ruhen Sie sich aus.

Glauben Sie denn, sagt Koslik, aber der Pfleger hat sich schon umgedreht, schiebt einen Wagen, aus dem an der Seite blaue Handschuhe quellen.

Rufen Sie, wenn Sie was brauchen, sagt der Pfleger, und der Wagen klappert leicht, während er sich entfernt. Und als Koslik kurz weggeschaut hat, ist der Pfleger verschwunden, als hätte ihn jemand fortgesaugt wie einen Fussel.

Koslik geht zurück ins Zimmer, legt sich auf das Bett, aber das Rascheln hört man nicht mehr, denn Friese atmet jetzt lauter. Es klingt wie das Röcheln im Film, wenn einer Blut in der Lunge hat. Koslik schreckt hoch, schaut hinüber. Frieses geschlossene Augen lassen ihn aussehen wie eine Schildkröte. Seine Haare, die mal weiß und mal plastikrot sind, sind auf dem Kissen ausgebreitet. Er ruckt ein bisschen beim Atmen, und sein Mund steht offen, die Lippen spröde.

Koslik dreht sich um, sodass er ihn nicht mehr sehen muss. Doch das Röcheln wird immer lauter. Selbst wenn Koslik versucht, nur an den Kurs morgen zu denken, nur daran, dass er hier bald wieder weg ist, röchelt es ihm in den Ohren.

Als Koslik aus dem Zimmer tritt, läuft eine Pflegerin den Gang entlang. Sie hebt etwas vom Boden auf, wirft es auf einen Wagen, dreht sich um.

Entschuldigung, sagt Koslik, und die Pflegerin schaut ihn an und blinzelt. Der Herr Friese in meinem Zimmer, er röchelt ziemlich. Vielleicht ist nicht alles okay?

Ach, der Friese, sagt die Pflegerin und lacht, sie sagt es, als würde man sich schon seit Jahren kennen und wüsste um die gegenseitigen Schwächen. Der ist ein Guter. Aber er hat ganz schreckliche Nasenpolypen. Wollen Sie Ohropax?

Nein, schon gut, sagt Koslik. Ich warte auf eine Untersuchung, danach gehe ich ohnehin nach Hause.

Gut, sonst rufen Sie einfach, wenn Sie was brauchen, sagt die Pflegerin und schiebt den Wagen davon.

Als Koslik endlich geholt wird, hat er schon eine Ewigkeit in die Schwärze draußen gestarrt. Aber in den Gängen flimmert es weiß von den Röhren an der Decke – das fahle Weiß der Kranken, in dem Kosliks Hände aussehen wie dünne Spinnen.

Der Mann, der Koslik geholt hat, läuft vor ihm, er wippt beim Gehen, aber seine Haare wippen nicht mit, sondern stehen in Büscheln von seinem Kopf ab. Sie steigen in einen surrenden Fahrstuhl, und als sie unten sind, tun Koslik die Beine weh.

Hier warten, sagt der Pfleger, der von vorne fast aussieht wie von hinten, der Bart ein Gestrüpp, hinter dem die Haut sich in kleinen Fetzen schält, und dreht sich um. Dann holt Sie jemand, sagt der Pfleger.

Im Flur sind Stühle an die Wand geschraubt, eine lange Reihe in schmutzigem Weiß, sie stehen in den Gang hinein wie Zähne in einem Plastikgebiss. Koslik dreht sich noch einmal um, aber die Fahrstuhltür hat sich geschlossen, der Pfleger ist verschwunden.

Koslik setzt sich und schaut in den Gang, links und rechts kahle Türen, alle geschlossen. Von ferne hört man ein Brummen.

Koslik legt die Hände in den Schoß und schaut auf seine Finger. Wenn man sie ansieht, könnte man meinen, sie gehörten nicht ihm, viel zu schlank sind sie, auf den Rücken schwarze Haare, obwohl Kosliks Kopfhaar doch braun ist.

Irgendwo klappert es, Koslik setzt sich auf, dann wieder Stille, selbst das Brummen schweigt, Stimmen, danach wieder nichts, als drehte jemand an einem Radio.

Koslik steht auf, läuft drei Schritte, kehrt wieder um. Die blanken Türen machen ihn nervös. Vorne ist eine Tür aus Milchglas, Koslik läuft auf sie zu, bleibt dann aber stehen.

Er setzt sich wieder auf einen Stuhl, diesmal einen anderen, weiter vorne, er fühlt sich kalt an, der eben war schon warm geworden. Er weiß nicht, wie spät es ist, vielleicht zwölf oder ein Uhr nachts, eine Uhr gibt es nirgends, auch keinen Hinweis auf den Stationsnamen. Er weiß nicht einmal, in welchem Stockwerk er ist.

Wenn ich das hinter mir habe, denkt er, kann ich morgen ganz normal in den Kurs gehen. Er versucht sich zu erinnern, bei welcher Lektion sie waren, es fällt ihm nicht mehr ein, drei oder zwei, vielleicht auch vier, er hat sie zu oft unterrichtet. Er wird müde sein, sicherlich, wenn er hier jetzt noch weiter sitzt, aber ansonsten wird er die Stunde schon schaffen, hat er noch immer, selbst mit Erkältung, Koslik mag keinen Verzug.

Koslik schaut nach oben, wo das Neonlicht weiß flackert, schaut wieder auf den Boden, den Gang auf und ab, als hielte er Wache. Die Zeit dehnt sich langsam zur Ewigkeit, ihr Takt ist das Flimmern auf dem Boden.

Als Koslik sich fragt, ob überhaupt irgendjemand weiß, dass er hier sitzt, dass es immer später wird und er nur keine Ahnung hat, wie spät, geht vorne die Glastür auf.

Einen Moment noch, es ist noch jemand im MRT, sagt ein Mann, er sagt es vorwurfsvoll, als hätte er Kosliks Gedanken gehört.

Die Glastür schwingt zu, und Koslik sitzt weiter da, mit den Füßen klopft er auf den Boden, lässt es aber sein, weil die Vibration so stark ist, dass der Stuhlrücken zittert.

Er denkt an den Anfall, und sofort klopft ihm das Herz wieder. Wie er auf einmal nichts mehr spürte, sein linkes Bein nicht und seinen Arm, seinen Rücken, wie alles sich drehte und wie sein Herz, genau wie jetzt, in ihm raste. Mittlerweile kommt ihm das alles vor wie längst vergangen, auch wenn sein Herz noch genauso pocht. Koslik greift an seinen Rücken und tastet seine Haut ab wie ein Blinder den anderen, klopft gegen seine Muskeln, aber es scheint alles okay zu sein.

Koslik atmet tief ein und aus und kneift mit seinen Händen in die Beine. Es wird schon alles okay sein, denkt Koslik, und der Gedanke beruhigt ihn.

Als der Mann schließlich hinter der Glastür hervorkommt, hat Koslik sich wieder erinnert, dass es Lektion drei war, und den Anfang im Kopf noch einmal hervorgeholt.

Sie können jetzt, sagt der Mann, und Koslik fällt auf, dass sein Kittel so nachlässig geknöpft ist, dass der eine Ärmel über die Hand hängt.

So, bitte Ohrenschutz aufsetzen. Haben Sie Metall am Körper?

Nein, sagt Koslik.

Gut, dann Ohrenschutz aufsetzen.

Ja, sagt Koslik und nimmt ihm die Ohrenschützer ab, die groß und plüschig sind.

Dann hierherlegen, sagt der Mann. Es wird laut, nicht bewegen.

Okay, sagt Koslik und setzt die Ohrenschützer auf, was der Mann dann sagt, kann er schwer hören.

Es dauert zehn Minuten, sagt der Mann. Sie können auch mit uns reden, wenn etwas ist.

In der Röhre versucht Koslik, an nichts zu denken, und denkt wieder an seine Lektion. Die Bücher sind immer gleich aufgebaut, Koslik nimmt ab und zu ein anderes, damit die Beispiele sich nicht wiederholen.

Wenn doch nicht alles in Ordnung ist, sollte er morgen anrufen. Am besten früh, damit noch allen Bescheid gesagt werden kann. Vor seinen Augen taucht das Bild auf, wie seine Schüler vor dem Raum auf ihn warten, unruhig den Gang mit den Augen absuchen. Wenn die Volkshochschule leer ist, hallt dort alles so merkwürdig.

Die Röhre verfällt in ein widerwärtiges Brummen, gegen das die Ohrenschützer nichts ausrichten können. Koslik schaut an die Decke, die sich über ihn spannt wie ein Sarg. Hier ist nur dieses Weiß, ohne Maserung, ohne Muster, es gibt eine Naht, die geradeaus verläuft, aber Koslik kann ihr nicht folgen, weil sein Kopf festgeschnallt ist.

Als sie ihn endlich aus der Röhre ziehen, klingt ihm das Brummen noch in den Ohren nach.

Sieht alles okay aus, sagt der Mann. Weiß aber natürlich nicht, was genau die rausfinden wollen. Krieg hier nur die Anweisungen, sonst nichts.

Ich hatte eine Art Anfall, will Koslik sagen, aber der Mann hat sich umgedreht, kehrt zurück in seine Kabine.

Ich rufe jemanden, der Sie abholt, sagt der Mann.

Als Koslik wieder im Gang ist, steht auf der Spiegelfläche schon ein Pfleger.

Das Zimmer kommt Koslik jetzt doch schon vertraut vor. Nicht mehr wie heute Nachmittag, als man ihn herbrachte. Nicht mehr wie eine Arrestzelle oder ein Zimmer in einer Irrenanstalt.

Jetzt sieht alles so friedlich aus. Friese liegt auf der Seite, der Mund steht offen, und seine Lider glänzen. Die Decke auf Kosliks Bett ist zerwühlt, und Koslik setzt sich erst auf die Kante, hört auf Frieses Atem, der ganz ruhig ist. Hier drinnen ist es dunkel, nur bei Friese blinkt es rot.

Koslik legt sich auf sein Bett und schaut nach draußen, wo der Mond wie ein helles großes Auge über dem Schwarzwald steht.

Am nächsten Morgen ist Friese schon wach. Als Koslik langsam die Augen öffnet, starrt er zu ihm herüber. Friese hat ganz helle Augen, beinahe weiß, aber wäre er blind, würde er nicht so gucken. Koslik schaut weg, alles andere käme ihm albern vor.

Na, Herr Friese, wie geht es uns heute?, sagt der Pfleger und schiebt einen Wagen mit Bettwäsche zu Friese. Würden Sie mal kurz, fragt der Pfleger, ohne Koslik anzuschauen.

Natürlich, sagt Koslik und geht zur Tür, während hinter ihm Friese unter kehligen Lauten seine Wäsche bekommt.

Im Gang ist es noch stiller als gestern, entfernt hört man ein leises Klappern verebben.

Koslik läuft zum Führerhäuschen nach vorne, in Gedanken nennt er es Führerhäuschen, aber eigentlich ist es eher eine Art Aquarium, in dem eine Pflegerin sitzt und schreibt.

Hallo, sagt Koslik.

Die Pflegerin schaut auf, aber erst beim zweiten Mal bleibt ihr Blick an ihm hängen.

Der Frühstücksraum ist da hinten, sagt sie und nickt mit dem Kopf.

Ich wollte mit dem Arzt sprechen, sagt Koslik. Wegen der Ergebnisse von gestern Nacht.

Ach, Ergebnisse gibt’s bei der Visite, sagt die Pflegerin. Da müssen Sie noch kurz warten.

Wann geht das denn los?, fragt Koslik. Ich muss um zwölf einen Kurs geben.

Also, den sagen Sie besser ab, sagt die Pflegerin.

Und wann kommt der Arzt?, fragt Koslik.

So genau kann man das nicht sagen, sagt die Pflegerin. Es geht ja immer bei der Stroke Unit eins los, dann erst kommt die zwei. Das kann man also nicht sagen. Der Frühstücksraum ist da hinten, wieso gehen Sie nicht was essen?

Der Frühstücksraum erinnert Koslik an eine Wartehalle im Flughafen. Verstreut, sodass zwischen ihnen möglichst viel Platz ist, sitzen darin vier einzelne Menschen. Ganz hinten in der Ecke, in der sich nur schummrig das Licht auf dem Boden spiegelt, starrt einer auf sein Brötchen, während er mit dem Finger auf den Tisch klopft, ohne dass es ein Geräusch macht. Ein anderer, zwei Tische entfernt, klein und mickrig mit schmutzig weißen Haaren, schaut mit konzentrierter Miene auf seine Hände, die wie tot links und rechts von seinem Teller liegen. Zwei Frauen blicken zum Fenster, wo statt Flugzeugen nur die obersten Wipfel des Schwarzwaldes zu sehen sind. Die eine trägt einen lächerlichen Turban, orange gemustert, irgendwie unpassend zum Grau des Bodens und zum nebeligen Grau hinter dem Fenster, das hineinläuft, als gäbe es keine Trennwand zwischen der Klinik und dem Draußen.

Koslik steht vor der Glastür und überlegt, umzukehren. Eigentlich ist ihm von der stickigen Luft hier drinnen ohnehin eher schlecht. Als wäre sein Magen schon gefüllt. Dann erinnert er sich daran, dass die Krankenschwester gesagt hat, es würde lange dauern. Bis mittags mindestens. So lange kann er nicht warten. Mit einem seltsamen Gefühl von Schuld drückt er die Tür auf.

Niemand sieht auf, als er zur Theke geht, auch wenn seine Schritte dröhnen. Koslik ist nicht wirklich hungrig, aber ein Brötchen nimmt er sich doch, etwas Butter, ein Plastikdöschen mit Marmelade. Gespenstisch still ist es hier drinnen. Man hört den Mann hinten schwer atmen und das Bröseln des Brötchens, das der Mann mit den wirren weißen Haaren mit seiner Hand zerquetscht.

Koslik setzt sich. Erst als er sich umblickt, merkt er, dass er die Choreografie vervollständigt. Zwischen jedem von ihnen sind mindestens zwei Tische frei. Als hätten sie es vereinbart.

Koslik schneidet das Brötchen auf. Nur das Nötigste ordnet er darauf an, die Quittenmarmelade lediglich auf der einen Hälfte. Es kommt ihm vor, als hätte er dieses Essen geklaut. Muss er dafür eigentlich bezahlen? Er weiß überhaupt nicht, wie man das in Krankenhäusern macht. Einmal nur ist er in einem gewesen. Wegen seiner Mutter, sie hatte damals irgendetwas am Darm. Koslik weiß nicht einmal mehr, was es war. Aber er, Christine und seine damalige Freundin – war es Kerstin? – waren zu Besuch gewesen. Wenn er daran zurückdenkt, kommen ihm nur Fernsehbilder in den Sinn. Lange Gänge, hektische Ärzte mit wehenden Kitteln, die männlichen Ärzte grauhaarig, die Frauen mit hochgesteckten Haaren. Vielleicht noch ein Tropf, in dem die Flüssigkeit hinabrinnt.

Wirklich erinnern kann er sich nur noch an die Handgelenke seiner Mutter. Wie dünn sie auf der Bettdecke aussahen, darüber dieser lächerliche blaue Kittel, den sie tragen musste. Das Krankenhaus war ihm vorgekommen wie eine Parallelwelt, in die nur manche ein- und austreten konnten. Wie ein Loch hatte sich der Besuch später angefühlt, so sauber aus seinem Tag getrennt, dass jede Erinnerung wie ausgelöscht war.

Koslik schaut aus dem Fenster, aber die Frau mit dem Turban sitzt so, dass sein Blick um ihr Gesicht nicht herumkommt. Sie hat ein teigiges Gesicht, und die eine Seite hängt etwas mehr als die andere. Sie bewegt ihre Hände nur langsam. In dem Moment, als er mit den Augen schon halb beim Fenster ist, treffen sich ihre Blicke. Ihr Augenlid zuckt, als schlüge es einen Rhythmus.

Koslik schaut zurück auf das Brötchen und zwingt sich, das letzte bisschen in seinen Mund zu drücken. Schlucken fällt ihm heute schwer. Auch seine Kaugeräusche sind unerträglich laut. Also lauscht Koslik und findet noch ein anderes Geräusch: Die Vitrine hat zu summen begonnen. Obwohl die Wipfel des Schwarzwaldes hin und her wiegen, hört man von draußen nichts. Nur das Summen, das immer lauter wird.

Als Koslik den letzten Bissen schluckt, räuspert sich die Frau mit dem Turban. Koslik zuckt zusammen, als hätte ihm jemand einen Schlag verpasst. Aus den Augenwinkeln sieht er, dass er nicht der Einzige ist. Der Stuhl vom alten Mann vorne knarrt. Der ganz hinten steht knallend auf, kurz darauf fällt die Glastür. Die Frau mit dem Turban räuspert sich noch einmal, aber es ist nicht die Art von Räuspern, der Reden folgt.

Hach ja, sagt der Mann mit den wirren Haaren und faltet die Hände. Dann ist es still.

Koslik ist froh, dass nicht er es ist, der die Regeln bricht.

Weil Koslik nicht angekreuzt hat, was er zu Mittag will, kommt ein kleines Würstchen in einem Haufen Kartoffelbrei, der an den Rändern so trocken ist, dass er aussieht wie Lehm, dessen Kruste bereits bricht. Als der Arzt mit einer Gruppe Studenten kommt, hat Koslik ein Loch in den Kartoffelbrei gefräst.

Na, Herr Koslik, sagt der Arzt und schaut dann zu Friese, dessen Lämpchen im Tageslicht beinahe nicht mehr leuchtet. Herr Friese, gut geschlafen?

Weil Friese nicht antwortet, scharen sich die Studenten um Koslik. Ihre Blicke schweifen über ihn hinweg, nur einer bleibt mit seinem Blick an ihm kleben, ein Schmächtiger mit Ziegenbärtchen, die anderen schauen zum Fenster.

Vorhin hat Koslik auch eine Weile aus dem Fenster geschaut. Zu sehen ist ein Springbrunnen, darum herum gereiht wie in einem Theater mehrere Bänke, auf denen die Zuschauer sitzen und sich nicht rühren. Die Fenster sind schalldicht, sodass man von draußen nichts hört.

Der Arzt, ein Mann, der in seinem Kittel beinahe schon zu verschwinden scheint, so farblos sind Haare und Haut, blättert in den Unterlagen.

Wie geht es Ihrem Bein?, fragt der Arzt. Und dem Arm?

Alles weg, sagt Koslik.

Keine Taubheit?, fragt der Arzt.

Nein, keine, sagt Koslik.

Kein Schwindel mehr?

Nein, sagt Koslik, alles okay.

Sonst irgendein Unwohlsein? Kribbeln? Kopfschmerzen? Übelkeit? Sehstörungen? Sonst irgendwas?

Nein, wirklich, alles ist wieder gut.

Was kam bei der Untersuchung raus?, fragt Koslik dann, weil der Arzt nichts sagt, sondern in seinen Unterlagen blättert.

Die Untersuchung, ja, sagt der Arzt und schaut auch kurz aus dem Fenster, wo am Springbrunnen wirklich jeder einzelne Platz besetzt ist.

Wir werden noch ein paar weitere machen müssen. Wissen Sie, ich möchte da auf Nummer sicher gehen.

Aber mir geht es gut, sagt Koslik. Alle Probleme sind verschwunden. Und ich kann ja nicht wegen nichts von der Arbeit wegbleiben.

Bei diesen Worten zuckt ihm das schlechte Gewissen wieder durch den Magen. Vorhin hat er nur den Anrufbeantworter im Sekretariat erreicht. Das Bild, wie sie alle vor seinem Raum warten, kriecht ihm von ganz alleine vor die Augen. Er versucht, nicht daran zu denken, aber der Arzt redet ohnehin schon weiter.

Nun, lassen Sie es mich so sagen, sagt der Arzt. Gefunden haben wir nichts. Das ist ja die gute Nachricht. Keinen Tumor, auch kein Gerinnsel, da scheint jetzt erst mal akut alles in Ordnung zu sein. Aber die Symptome, die Sie beschreiben, das ist ja schon recht ungewöhnlich bei einem Mann Ihres Alters, da möchte man nichts riskieren. Deswegen wollen wir noch weitere Untersuchungen vornehmen.

Aber ich könnte das doch auch von zu Hause machen, oder?, fragt Koslik und merkt, wie sein Herz immer schneller pocht.

Sie meinen ambulant, sagt der Arzt und verlagert sein Gewicht. Wie Schatten regen sich die Studenten hinter ihm.

Genau, sagt Koslik. Für die Untersuchungen herkommen. Und ansonsten normal arbeiten, ich habe heute ohnehin schon meine Veranstaltung verpasst. Mehr würde ich mir eigentlich nur ungern erlauben.

Das wäre umständlich, sagt der Arzt. Das machen wir nicht. Wir behalten die Leute immer stationär, bis wir alles ausgeschlossen haben. Wissen Sie, so was, was Sie haben, das hat man ja nicht mal einfach so. Das ist durchaus ernst zu nehmen.

Oh, sagt Koslik. Es wäre aber nicht ausgeschlossen, dass ich nach Hause ginge?

Passen Sie auf, sagt der Arzt und klickt mit einem Kugelschreiber, den er noch gar nicht benutzt hat und jetzt trotzdem wie nach getaner Arbeit in seine Kitteltasche steckt.

Sie können natürlich nach Hause gehen, aber das geschieht dann gegen ärztlichen Rat. Sie müssen dann auch unterschreiben, dass Sie gegen ärztlichen Rat gehandelt haben, dass Sie das selber so wollten. Aber ich empfehle Ihnen Folgendes: Bleiben Sie hier, machen Sie sich ’ne schöne Zeit, und wir überprüfen das noch ein wenig weiter. Klingt das nicht vielversprechend?, sagt der Arzt, und an der Art, wie er den Hals dreht, sieht Koslik, dass er die Unterhaltung bereits beendet hat.

Nun, sagt Koslik. Ja, okay, dann eben so. Er fühlt sich, als hätte man ihn über den Tisch gezogen, ihn in etwas hineingeredet, er weiß nur nicht, in was.

Wir finden schon raus, was da los ist, sagt der Arzt. Für morgen machen wir dann ein Herzecho, da kommt dann aber noch eine Kollegin und erklärt Ihnen das.

Ja, sagt Koslik, aber niemand hat auf seine Antwort gewartet. Die Studenten sind schon aus dem Zimmer gehuscht, und kurz darauf fällt die Tür zu.

Friese schaut nach oben an die Wand. Vielleicht schaut er aber auch nirgendwohin.

Ich bleibe hier, denkt Koslik und guckt aus dem Fenster zum Springbrunnen, wo Wasser spritzt, ohne Geräusche zu machen. Arbeit noch einmal anrufen, Anziehsachen, noch mal nachfragen, wie lange. Auf einmal hat er Angst.

Koslik dreht sich zum Fenster, als er Charlottes Nummer wählt. Er will nicht, dass seine Stimme zittert, aber verhindern kann er es auch nicht.

Einen Moment lang überlegt er noch, ob er nicht lieber Christine anrufen soll. Christine ist von seinen Schwestern die ruhigere, wenn er schon selbst nicht weiß, wie er sich fühlen soll, wird sie es ihm wenigstens nicht sagen. Aber Charlotte wohnt nun mal in der Nähe, und irgendjemand wird ihm ein paar Sachen bringen müssen.

Charlotte geht erst beim zweiten Versuch ans Telefon. Hallo, sagt sie, kannst du mal kurz warten. Nein, hört er im Hintergrund. Ich telefoniere, sagt sie dann genervt. Ja, genau, dann gleich eben. Jetzt mach doch mal, ja, verdammt.

Hallo, sagt sie dann direkt in den Hörer. Weißt du, du hättest ruhig mal Bescheid sagen können, dass du nächste Woche ohnehin keine Zeit hast zum Grillen. Das hätte mir einiges an Planung erspart.

Ich bin gerade im Krankenhaus, sagt Koslik und versucht es nicht so dramatisch klingen zu lassen.

Was?, fragt Charlotte und klingt dabei viel lauter als vorher. Wieso denn? Oh Gott, hattest du etwa einen Unfall? Du bist doch nicht etwa schon wieder mit diesem Schrottding …?

Nein, sagt Koslik, es war was anderes. Eine Art Anfall vielleicht. Ist gestern passiert, am Schreibtisch. Schwindel, dann die Beine taub und die Arme. Ich bin hierhergefahren, um das abklären zu lassen.

Auf der anderen Seite hört man, wie Charlotte schnauft, Luft zieht.

Das sind Symptome eines Schlaganfalls!, sagt sie dann laut.

Ja doch, ich bin doch auch gleich ins Krankenhaus gefahren.

Und?, fragt Charlotte.

Ist noch nicht raus, sagt Koslik. Sieht nicht so aus und ist auch ohnehin alles wieder gut, also alles okay, deswegen ruf ich nicht an.

Aber jetzt, wo er es ausgesprochen hat, klingt es doch so, als müsste man sich Sorgen machen. Auf einmal glaubt Koslik wieder den Schwindel zu spüren, auch wenn er auf dem Bett sitzt, als schwankte der Boden, als wögen seine Füße unterschiedlich viel.

Das ist ja schrecklich, sagt Charlotte. Oh Gott, dass so etwas passiert! Hätt’ ich das gewusst, oh Gott. Wenn du irgendetwas brauchst. Oh, soll ich kommen? Warte, morgen geht es nicht, aber ich kann schnell kommen, wenn es nötig ist.

Ich brauche nur ein paar Anziehsachen, sagt Koslik. In der unteren Schublade sind die Hemden und darüber …

Ja, ich weiß doch, sagt Charlotte. Ich bring sie dir, oder ich schick Rolf, gleich morgen schick ich ihn.

Danke, sagt Koslik.

Du, sagt Charlotte, können wir später noch mal telefonieren, da ist gerade.

Ja, sagt Koslik, ist ohnehin besser, ich glaub, man darf hier gar nicht telefonieren. Wegen der Elektronik oder so.

Aber du sagst Bescheid, wenn du was brauchst, ja? Du sagst Bescheid, sagt Charlotte.

Jetzt, wo Koslik wieder im Zimmer ist, allein mit Frieses Atem, merkt er, dass sein Herz ganz anders schlägt. Vielleicht, denkt er, ist das der Anfang. War da nicht ein Flackern in den Augen des Arztes gewesen? Eine Ahnung vielleicht. Und die Studenten, die hatten so schweigsam dagestanden, ihn nicht angeschaut.

Das Gefühl, man habe ihn in etwas hineingeredet, verschwindet, jetzt, wo er daran zurückdenkt. Eine Ahnung, denkt Koslik. Aber noch will er nicht weiter darüber nachdenken. Morgen oder übermorgen, denkt er. Wenn nicht heute, dann komme ich eben morgen oder übermorgen hier raus. Wenn alles gut ist. Sicher ist sicher.

Er versucht, nicht zu Friese zu schauen, als er sich auf das Bett legt. Aber als er doch hinguckt, sieht Friese ihn an, milchige Augen.

Koslik überlegt, etwas zu sagen, er schaut hin und wieder weg. Friese zuckt nicht einmal mit den Augenbrauen.

Koslik guckt kurz aus dem Fenster, schlägt dann die Bettdecke zurück. Ganz warm ist das Bett, weil er so lange darauf gesessen hat.

Ich mache mal ein Nickerchen, sagt er im Geiste zu Friese. Er sagt es nicht laut. Es ist zu spät, um sich einander jetzt noch vorzustellen.