Die Drei Fragezeichen
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Schaurige Weihnacht

erzählt von Hendrik Buchna & André Minninger

Kosmos

Umschlagillustration von Silvia Christoph, Berlin

Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage

der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele

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© 2017, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan

Based on characters by Robert Arthur

ISBN 978-3-440-15972-9

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

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Stille Nacht, düstere Nacht

erzählt von Hendrik Buchna

Kosmos

001.tif

Noch 24 Stunden

23. Dezember, zwölf Uhr mittags.

»Wow …«, entfuhr es Peter. »Ein echtes Weihnachtsparadies.«

Staunend ließ er seinen Blick durch die gewaltige Halle schweifen, die vom Boden bis zur Decke mit Weihnachtsschmuck, Tannengrün und unzähligen Spielzeugen dekoriert war. Eine fröhliche, wenn auch etwas abenteuerliche Melodien-Mischung aus ›Jingle Bells‹, ›The First Noel‹ und ›Joy to the World‹ lag über dem bunten Treiben in den zahllosen Gängen.

Bob nickte zustimmend. »Genau so habe ich mir als kleiner Junge das Zuhause von Santa Claus am Nordpol vorgestellt. Na ja – vielleicht ohne die vielen Vertreter.«

»So ist das eben auf einer Messe«, erwiderte der ebenfalls sichtlich beeindruckte Erste Detektiv. »Und in diesem Fall handelt es sich sogar um die größte Spielwaren-Fachmesse diesseits der Rocky Mountains. Hier trifft sich allweihnachtlich die gesamte Branche, um sich über die neuesten Entwicklungen und Trends im kommenden Jahr auszutauschen. Fernab der neugierigen Öffentlichkeit, versteht sich.«

Peter wandte den Kopf zu einem riesigen Panoramafenster, hinter dem sich vor stahlblauem Himmel eine prachtvolle Berglandschaft erstreckte. Die tief verschneiten, leicht bewaldeten Anhöhen glitzerten malerisch im Sonnenlicht, was den Eindruck einer Postkarten-Idylle noch verstärkte. In der Ferne, gut eine halbe Meile abseits des abgeschirmten Messegeländes, zogen unzählige Urlauber wie bunte Ameisen ihre Bahnen und glitten auf Skiern oder Snowboards die perfekt präparierten Pisten hinab.

»Ein hochmodernes Tagungszentrum mitten in einem der schönsten Wintersportgebiete des Landes – die ideale Kombination für eine weihnachtliche Spielzeugmesse«, stellte der Zweite Detektiv fest.

»Freut mich, dass es euch auf der GameFame gefällt«, meldete sich nun ein etwas abseits stehender Mann mit leicht ergrauten braunen Haaren und freundlichem Lächeln zu Wort, dessen eleganter Anzug an der Hüfte etwas spannte.

»Und ob es das tut, Mr Nostigon«, bestätigte Justus mit leuchtenden Augen. »Ihre Einladung war wie ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk!«

Die drei ??? kannten den ehemaligen Kommissar seit ihrem Abenteuer auf der Geisterinsel. Damals hatten die Jungen Peters Vater zu einem Filmdreh an der Ostküste begleitet und waren einem Geheimnis auf die Spur gekommen, unterstützt von Mr Nostigon. Vor einiger Zeit war er allerdings aus dem Polizeidienst ausgeschieden und aus familiären Gründen an die Westküste gezogen. Nahe San Francisco hatte er sich als freier Sicherheitsberater selbstständig gemacht und war über Mr Shaw an einige erste Jobs in der Filmbranche gelangt. So hatte Nostigon sich rasch einen guten Ruf aufbauen können, der ihn für größere Aufgaben empfahl. Die vorläufige Krönung seiner neuen Tätigkeit war der Job als Sicherheitskoordinator auf der GameFame. Wie in den Vorjahren fand die große Spielwarenmesse in Crystal Pike statt, einem kalifornischen Wintersportresort nahe dem bekannten Mammoth Mountain.

Zum Dank für Mr Shaws Unterstützung hatte Mr Nostigon nach Absprache mit der Veranstaltungsleitung Peter, Justus und Bob zu der berühmten Weihnachtsmesse eingeladen. Natürlich hatten die drei Detektive begeistert zugesagt, zumal sie – offiziell angemeldet als Mitarbeiter des Sicherheitsteams – auch Einblicke hinter die Kulissen der GameFame erhalten würden.

»Hier ist es wirklich unglaublich«, bestätigte Bob. »Allein die schiere Größe dieser Halle … Da drin könnte man locker ein komplettes Kreuzfahrtschiff verstecken!«

»Solange ich nicht den An- und Abtransport übernehmen muss«, erwiderte Mr Nostigon amüsiert. »Aber du hast natürlich recht – auch ich war am Anfang vollkommen erschlagen von den Dimensionen hier. Und dabei ist das nur einer von mehreren Teilbereichen des Messegeländes.«

»Im Ernst?«, fragte Peter verblüfft. »Das hier ist noch gar nicht alles?«

»Bei Weitem nicht. Der gesamte Komplex umfasst drei Hauptareale: die Grand Lodge mit dem Hotelbereich im Osten, dann das derzeit ungenutzte Kongresszentrum im Norden und die Fairground Hall hier im Westen. Hinzu kommen fünf Innenhöfe mit Restaurants und Cafés und sogar ein eigenes Kino.« Nostigon seufzte. »Ihr könnt euch sicherlich vorstellen, was für einen Riesenaufwand es bedeutet, das alles vernünftig abzusichern.«

»Zweifellos eine Mammutaufgabe«, entgegnete Justus anerkennend. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie im Vorfeld eine evaluative Rückkopplung mit den vorhandenen Security-Ressourcen forciert haben?«

»Herrje …«, flüsterte Peter und wandte sich zum dritten Detektiv um. »Wenn du’s schaffst, das dreimal schnell hintereinander zu sagen, spendiere ich dir eine Wagenladung Zuckerwatte.«

Mr Nostigon schmunzelte. »Wie ich sehe, hat sich an deiner Vorliebe für hochgestochene Formulierungen nichts geändert, Justus.«

»Falls jemals der Tag eintritt, an dem sich unser Erster vom Aufstehen bis zum Schlafengehen vollkommen verständlich ausdrückt, schicken wir Ihnen sofort eine Postkarte«, versicherte Bob mit einem schiefen Grinsen.

Unwirsch winkte der Erste Detektiv ab. »Das ist doch wieder mal hoffnungslos übertrieben – ihr tut ja gerade so, als würde ich regelmäßig in Alt-Mesopotamisch mit euch reden!«

»Na, die alten Mesopotamier hatten bestimmt nix mit ›evaluativer Rückkopplung‹ am Hut«, murmelte Peter leise.

Doch bevor der Erste Detektiv auf diese spitze Bemerkung reagieren konnte, lenkte Mr Nostigon das Gespräch wieder auf das eigentliche Thema. »Um deine Frage zu beantworten, Justus: Hinsichtlich der Security waren hier keine Ressourcen vorhanden, auf die ich hätte zurückgreifen können.«

»Nicht?«, fragte Bob überrascht. »Aber die GameFame findet doch seit Jahren in Crystal Pike statt. Da müsste es doch eigentlich ein eingespieltes Sicherheitsteam geben.«

»Das gab es auch«, bestätigte Nostigon. »Aber im Unterschied zu den vergangenen Veranstaltungen hat die Messeleitung diesmal die gesamte Konzeption umgekrempelt. Alle Positionen wurden ausgewechselt. Auch die Stelle des Sicherheitskoordinators hatte man neu ausgeschrieben …«

Mit einer beschwingten Präsentationsgeste deutete Peter auf den Exkommissar. »… und der Gewinner waren Sie

»Nicht zuletzt dank der guten Jobs, die mir dein Vater vermittelt hat«, erwiderte Nostigon lächelnd. »Wegen des geänderten Konzepts musste ich hier allerdings ein völlig neu zusammengestelltes Team einweisen.«

Nachdenklich hob Justus die Augenbrauen. »Ziemlich ungewöhnlich, oder? Immerhin gab es hier eine erfahrene Sicherheitstruppe, die alles bis ins kleinste Detail kannte.«

»Wissen Sie, ob es einen bestimmten Grund für diese Änderung gab?«, erkundigte sich der dritte Detektiv.

Nostigon runzelte die Stirn. »Das kann ich nur vermuten. Diesmal gibt es nämlich eine ganz besondere Attraktion. Morgen um Punkt zwölf Uhr mittags wird –«

»Vorsicht, Bob!«, schrie Justus unvermittelt, doch da war es bereits zu spät. Zwei riesige Pranken mit spitzen Krallen packten den völlig überrumpelten dritten Detektiv an den Schultern und rissen ihn herum. Fassungslos starrten seine Freunde auf die unwirkliche Szenerie. Eine gewaltige, von oben bis unten mit rostbraunem Fell bedeckte Schreckgestalt hatte sich vor Bob aufgebaut und beugte sich nun zu seinem kreidebleichen Gesicht hinab. Der Kopf des Wesens hatte nichts Menschliches an sich, sondern glich einer grässlichen Affenfratze, aus deren aufgerissenem Maul lange Reißzähne herausragten.

»Duuu …«, knurrte die Kreatur mit abgrundtiefer Stimme, »… hast … gewonnen!«

Verdutzt hielten Justus und Peter, die soeben ihrem bedrohten Detektivkollegen zu Hilfe eilen wollten, inne.

Mit einem plötzlich gar nicht mehr schrecklich wirkenden Lächeln auf den fleischigen Lippen fingerte der Fellriese nun einen kleinen neonblauen Umschlag unter seinem stachelbewehrten Brustpanzer hervor und reichte ihn Bob, der immer noch kein Wort herausbringen konnte.

»Darin ist deine persönliche Glücksnummer für die große Verlosung morgen«, fuhr der Affenmensch munter fort. »Dort warten einzigartige Preise, exklusiv eingeflogen von meinem Heimatplaneten Neteria! Sei dir gewiss, kleiner Erdling …« Theatralisch riss der Koloss seine Fäuste nach oben. »… Spielspaß hat einen neuen Namen: HEROES OF THE UNIVERSE!«

In diesem Moment flackerte ein Glitzern der Erkenntnis in Peters Augen auf. »Jetzt weiß ich, woher ich den Typen kenne! Das ist doch Beastor – der Herr der Monster!«

»Du hast recht …«, murmelte Justus, dem ebenfalls ein Licht aufging. Erst jetzt bemerkte er, dass Mr Nostigon sich die ganze Zeit über abwartend im Hintergrund gehalten hatte. Mit einem vergnügten Lächeln trat er nun heran.

»So ist es. Leibhaftig und in voller Lebensgröße auf der GameFame, ebenso wie die anderen Mitstreiter von den HEROES. Genau davon wollte ich euch gerade berichten, als wir vom ›Monsterbändiger‹ unterbrochen wurden.«

In der Zwischenzeit hatte das Zottelwesen seinen leicht verrutschten Brustpanzer wieder sorgfältig zurechtgerückt und wandte sich zum Gehen. Zuvor beugte es sich jedoch nochmals zum dritten Detektiv hinab. »Also vergiss nicht, morgen zur großen Weihnachtspräsentation zu kommen.« Er grinste zwinkernd und entblößte dabei sein komplettes Raubtiergebiss. »Sonst werfe ich dich meinen Drachen zum Fraß vor!«

Nachdem Beastor davongetrottet war, drehte sich der immer noch völlig verdatterte Bob in Zeitlupentempo zu den anderen um. Den blauen Umschlag hielt er mit spitzen Fingern wie ein giftiges Insekt von sich weggestreckt. Er fühlte sich, als wäre er gerade aus einem verrückten Traum erwacht.

»Prä…sentation?«

»Genau!«, bestätigte Mr Nostigon fröhlich. Er deutete auf die Reisetaschen der Jungen. »Aber jetzt solltet ihr erst mal einchecken. Anschließend treffen wir uns wieder zum Essen und ich erzähle euch alles.«

»Ein ausgezeichneter Plan, Sir«, erwiderte Justus mit seliger Miene. »Nach diesem spektakulären Monsteralarm können wir eine kleine Stärkung gut gebrauchen …«

002.tif

Noch 23 Stunden

23. Dezember, ein Uhr mittags.

Nachdem die drei Detektive ihre im zwölften Stock der Grand Lodge gelegenen Zimmer bezogen hatten, begaben sie sich zum Lumberjack’s, wo Mr Nostigon sie bereits erwartete. In dem urigen, gleichfalls weihnachtlich geschmückten Restaurant im Holzfällerstil ließen sie sich ein deftiges Mountain-Menü schmecken.

Entschuldigend deutete der Exkommissar auf das Display des neben seinem Teller liegenden Mobiltelefons. »Verzeiht bitte, dass ich auch während meiner Mittagspause auf Empfang bleiben muss. Aber erfahrungsgemäß passieren gerade in den Auszeiten die meisten Störfälle.«

»Kein Problem«, erwiderte Justus lächelnd, während er ein üppiges Omelettstück auf seiner Gabel balancierte. »›Allzeit bereit‹ ist ein Motto, mit dem auch wir durchaus vertraut sind.«

»Als Detektiv ist man eigentlich immer im Dienst«, bestätigte Peter. »Wenn’s nach Just ginge, würden wir auch auf das lästige Schlafen verzichten, aber –« Verblüfft hielt er inne.

»Was hast du denn?«, fragte Bob irritiert. »Du machst ein Gesicht, als hättest du gerade den Grinch gesehen.«

»Nicht ganz, aber immerhin den stärksten Mann des Universums!« Unauffällig deutete Peter auf einen etwas entfernt sitzenden, halb nackten Hünen mit blonder Mähne, Lendenschurz und Fellstiefeln, dessen gewaltige Muskeln jeden Profi-Bodybuilder vor Neid hätten erblassen lassen.

»Tatsächlich – das ist Free-Man, der legendäre Anführer der HEROES OF THE UNIVERSE …«, erwiderte Bob mit gesenkter Stimme.

Justus schmunzelte. »Ich wusste gar nicht, dass der größte Held des Planeten Neteria eine Vorliebe für gegrillte Rippchen hat.«

»Das sind eben die exklusiven Geheimnisse, die man nur hier auf der GameFame erfährt«, stellte Mr Nostigon verschmitzt fest. »Womit wir wieder beim eigentlichen Thema wären.« Er schob seinen leeren Teller beiseite und lehnte sich zurück. »Wie ihr sicherlich wisst, war HEROES OF THE UNIVERSE eine außerordentlich beliebte Fantasy-Fernsehserie. Vor dreißig Jahren hat sie riesige Erfolge gefeiert und wegen einer landesweiten Nostalgiewelle steht sie nun wieder hoch im Kurs.«

Der Zweite Detektiv nickte. »Das kann man wohl sagen. Momentan laufen die Wiederholungen ja im Fernsehen rauf und runter. Diese total bekloppten Outfits und die Billigeffekte wirken heutzutage natürlich unfreiwillig komisch – aber irgendwie auch cool.«

»Ein echtes Phänomen«, stimmte Bob zu und blickte erneut zu dem muskelbepackten Krieger hinüber. Trotz des imposanten Körperbaus vermochten die zahlreichen Gesichtsfalten nicht zu verbergen, dass er sein fünfzigstes Lebensjahr schon vor geraumer Zeit überschritten hatte. »Aber ich wusste gar nicht, dass die Schauspieler von damals noch immer aktiv sind. Eigentlich dachte ich, dass die alle nach dem Serienende in der Versenkung verschwunden wären.«

»Das waren sie zum größten Teil auch«, bestätigte Nostigon. »Aber als vor einiger Zeit die große Retrowelle einsetzte, waren die vergessenen Helden plötzlich wieder gefragt. Seither sind sie beliebte Gäste auf Film-Conventions und Fanmessen. Auch wir haben sie als Show-Highlight für Autogrammstunden eingeladen – zumindest vordergründig.«

»Nur vordergründig?«, fragte Justus aufhorchend.

Mit bedeutungsvoller Miene hob der Exkommissar seinen rechten Zeigefinger. »So ist es – und genau hier kommt der heimliche Ehrengast der GameFame ins Spiel …« Er zog einen kleinen Prospekt aus der Innentasche seiner Anzugjacke und legte ihn aufgeschlagen in die Tischmitte, sodass jeder der drei Detektive einen Blick auf das abgedruckte Foto werfen konnte. Zu sehen war das sympathisch wirkende Gesicht eines lächelnden, etwa fünfundzwanzigjährigen Manns mit Nickelbrille, dessen ungebändigte braune Lockenpracht den Bildrahmen sprengte.

»›Dwight Fillmore – Informatiker, Tüftler, Visionär‹«, las Peter stirnrunzelnd den angefügten Kurztext vor. »Vielleicht tut sich da ja mal wieder eine dicke Bildungslücke bei mir auf, aber das sagt mir leider überhaupt nichts.«

»Es kommt zwar selten vor, aber diese Lücke teilen wir«, gab der Erste Detektiv zu.

»Kein Grund für überzogene Selbstkritik, Jungs«, versicherte Mr Nostigon und steckte den Prospekt wieder ein. »Derzeit ist Dwight Fillmore tatsächlich nur in Fachkreisen bekannt, aber das wird sich nach dem morgigen Tag mit Sicherheit ändern.«

Gespannt hob Bob die Augenbrauen. »Das Ganze hat nicht zufällig etwas mit der mysteriösen Präsentation zu tun, zu der ich auf so reizende Weise von dem Affenmonster eingeladen wurde?«

»Volltreffer!«, entgegnete Nostigon strahlend. »Morgen schlägt Dwights große Stunde, oder vielmehr: die große Stunde seiner Schöpfung.«

»Schöpfung?«, fragte Peter irritiert. »Sie meinen ein Spielzeug, das dieser Mr Fillmore entwickelt hat?«

Nun war es Mr Nostigon, der verschwörerisch die Stimme senkte. In seinem Blick lag ein geheimnisvolles Glitzern. »Nicht ›irgendein‹ Spielzeug, sondern eine revolutionäre neue Generation von Spielfiguren, die alle bisherigen Standards in den Schatten stellen wird.«

»Erzählen Sie!«, raunte Justus gespannt.

»Es ist so: Mr Fillmore, genauer gesagt Dr. Fillmore ist ein echtes Wunderkind. Schon mit einundzwanzig Jahren hat er sein Informatikstudium ›summa cum laude‹, also mit höchster Auszeichnung, abgeschlossen. Seine bahnbrechenden Forschungen auf dem Gebiet der sogenannten Smart Toys haben schnell die Aufmerksamkeit einiger führender Spielwarenkonzerne erregt.«

»Smart Toys?«, fragte Bob. »Also intelligentes Spielzeug?«

»Richtig. Dwights Schwerpunkt sind hochbewegliche Actionfiguren, die dank modernster Mikrochiptechnik und Optiksensoren völlig eigenständig agieren können.«

»Wahnsinn …«, entfuhr es Peter. »Diese Figuren laufen also … völlig frei herum?«

Nostigon nickte. »Sie laufen, springen, klettern – und natürlich kämpfen sie miteinander, wenn Gut auf Böse trifft. Je nach strategischer Ausrichtung können ganze Wettbewerbe ausgetragen werden. Aber natürlich besteht auch die Möglichkeit, in den Off-Modus zu schalten, wenn man ganz ›normal‹ mit den Figuren spielen will.«

»Das klingt in der Tat nach einer echten Revolution in der Spielzeugwelt«, stellte der Erste Detektiv fest. »Kein Wunder, dass Mr Fillmores Forschungen in der Branche für Aufsehen gesorgt haben. Wer als Erster mit einer so überlegenen neuen Technik an den Markt geht, kann das ganz große Geld machen.«

»So ist es«, bestätigte der ehemalige Kommissar. »Schon vor zwei Jahren ist deshalb der kalifornische Spielwarenkonzern Fun Fellows an Dwight herangetreten, um eine völlig neue Actionfigurenserie zu entwickeln.«

»Mit Erfolg«, mutmaßte Bob.

»Allerdings. Und der Clou des Ganzen: Dank geschickter Verhandlungen sicherte sich Fun Fellows die Rechte, diese Figuren in einer ganz besonderen Form herauszubringen, nämlich als perfekte Miniaturisierungen der –«

»HEROES OF THE UNIVERSE!«, ergänzte Peter.

Energisch wedelte Mr Nostigon mit den Händen. »Nicht so laut – bis morgen Mittag, Punkt zwölf Uhr, ist das noch streng geheim.« Er lächelte breit und deutete mit dem Kopf auf den blonden Hünen. »Dann nämlich wird Free-Man, der Anführer der Helden, während einer actiongeladenen Gala gegen Skulldor, den skelettgesichtigen Lord der Unterwelt, antreten.«

»Und anschließend erfolgt mit Glanz und Gloria die große Präsentation ihrer Miniversionen«, folgerte Justus. »Ein wirklich cleverer Schachzug: Man verbindet eine spektakuläre neue Spielzeugtechnik mit dem Design einer landesweit überaus populären Kultserie.«

»Hört sich nach einem perfekten Erfolgsrezept an«, erwiderte der dritte Detektiv.

»Absolut«, stimmte Nostigon zu. »Man munkelt, dass Fun Fellows eine geradezu astronomische Summe in die Produktion und Vermarktung der Figuren investiert hat. Entsprechend groß sind nun die Erwartungen, dass der Start der HEROES ein Riesenhit wird.«

Wie zur Bestätigung erhob sich der Free-Man-Darsteller nun von seinem Platz und reckte mit heroischer Geste ein mächtiges, silbern glänzendes Schwert in die Höhe. Sein folgender Ausruf klang dann allerdings deutlich weniger heldenhaft.

»Bei der Macht des Universums – ich will Nachtisch!«

003.tif

Noch 22 Stunden

23. Dezember, zwei Uhr mittags.

Satt und zufrieden begaben sich Mr Nostigon und die drei Detektive im Anschluss an das herzhafte Mahl zurück zur Fairground Hall. Peter schwelgte noch immer in Gedanken an die neue Spielzeugreihe. »Einfach fantastisch … eigenständig kämpfende Actionfiguren, Helden gegen Monster! Da möchte man glatt wieder ein kleiner Junge sein.«

Grinsend kramte Bob seinen Losumschlag hervor. »Falls ich einen der HEROES gewinne, darfst du damit spielen, versprochen.«

»Zu liebenswürdig«, entgegnete Peter sarkastisch.

»Mach dir nichts draus, Zweiter«, tröstete ihn Justus. »Beim Anblick dieser Wunderkämpfer wird wohl so mancher Erwachsene das Kind in sich wiederentdecken. Das gehört zweifellos ebenfalls zum Vermarktungskonzept.«

Obwohl der Weg vom Lumberjack’s zur Messehalle nur verhältnismäßig kurz war, benötigten sie eine ganze Weile für die Strecke, da es immer wieder etwas zu bestaunen gab. Beispielsweise einen prachtvollen Frosty-Schneemann, der mit beachtlichem Geschick sechs von innen beleuchtete Christbaumkugeln vor seinem mächtigen Bauch jonglierte. Darüber hinaus kosteten auch die zwei Sicherheitskontrollen, die sie durchlaufen mussten, einiges an Zeit.

»Wie ihr seht, kommt man hier überall nur mit gültiger Identifikations-Chipkarte weiter«, erklärte der Exkommissar. »Entweder man zeigt sie beim Wachpersonal vor oder man hält sie, wie gerade eben bei der Automatiktür, vor ein Lesegerät, damit man Einlass erhält. Außer dem geladenen Fachpublikum, der Presse und den Mitarbeitern der GameFame kommt also niemand auch nur in die Nähe des Kernbereichs.«

»Keine Chance für ungebetene Besucher«, stellte Justus fest.

»Nicht die geringste. Immerhin hat die GameFame den Ruf als exklusivste Spielwarenmesse des Landes zu verlieren.« Mit weit ausgreifender Geste deutete Nostigon in die riesige, weihnachtlich glitzernde Halle hinein. »Das Sicherheitssystem ist absolut lückenlos. Um hierher, ins Herz der Messe, zu gelangen, müssen ankommende Besucher insgesamt vier Checkpoints durchlaufen. Ein achtundneunzigköpfiges Securityteam befindet sich in Dauerbereitschaft und die Zentrale in der zweiten Etage ist rund um die Uhr besetzt. Darüber hinaus ist der gesamte Ausstellungsbereich, einschließlich der neun Zugangswege, kameraüberwacht.«

»Mit anderen Worten: Hier ist man so sicher wie in Abrahams Schoß«, fasste Bob die Erläuterung zusammen.

Peter grinste schief. »In diesem Fall wohl eher wie im Schoß des Weihnachtsmanns.«

Auch Nostigon lächelte. »Wie ihr wisst, ist das mein erster Job dieser Größenordnung, und da will ich natürlich alles –«

Bevor er den Satz beenden konnte, piepte das Mobiltelefon in seiner Jackentasche. Rasch holte er das kleine Gerät hervor und blickte angespannt auf das Display.

»Ein Störfall?«, fragte Bob.

»Das wird sich zeigen«, entgegnete Nostigon stirnrunzelnd. »Eine Reinigungskraft steht offenbar vor einem von innen verschlossenen Raum in Sektion D. Laut Plan handelt es sich um das Büro von Desmond Calbourn – einem prominenten Journalisten, der aber eigentlich erst heute Abend eintreffen soll. Auf Klopfen hin meldet sich niemand, deshalb werde ich mir das sicherheitshalber mal anschauen.« Er deutete auf den Hauptgang, wo an einem der zahllosen Stände gerade ein korpulenter Mann in schrillem Glitzer-Outfit mit einer Art Laser-Stift einen Tannenbaum in die Luft malte. »Wollt ihr mitkommen oder euch lieber ein bisschen umschauen?«

Justus tippte auf seine am Jackenkragen befestigte Identifikationskarte. »Als offizielle Mitglieder des Sicherheitsteams stehen wir Ihnen selbstverständlich zur Seite. Stimmt’s, Kollegen?«

»Klar doch«, pflichtete der dritte Detektiv bei. »Das Weihnachtswunderland läuft uns ja nicht weg.«

»Okay, dann folgt mir. Bis zur Freitreppe und zu den Aufzügen würden wir in dem Gedränge eine halbe Ewigkeit benötigen – deshalb nehmen wir einen kürzeren Weg.« Der Sicherheitschef lenkte seine Schritte zu einer Metalltür, die er eilig mit einer schwarzen Chipkarte entriegelte. Nacheinander betraten alle das dahinterliegende Treppenhaus. Die tristen, mattgrauen Wände und kaltweiß leuchtenden Neonlampen boten einen kaum größer vorstellbaren Kontrast zum schillernden Farbenmeer der Messehalle.

Mr Nostigon wies nach oben. »Wir müssen rauf in den sechsten Stock. So lernt ihr gleich mal eine Level-blau-Passage kennen.«

Irritiert zog Bob die Stirn kraus. »Level blau?«

»Damit bezeichnen wir alle intern genutzten, aber für die Öffentlichkeit gesperrten Areale. Im Notfall können diese Bereiche mit einer einzigen Freischaltung geöffnet werden, um eine schnelle Evakuierung zu ermöglichen.«

»Gut zu wissen …«, murmelte Peter, den es beim Gedanken an eine Massenflucht unwillkürlich fröstelte.

»Ist es … eigentlich normal, dass die … Pressevertreter eigene … Büros haben?«, fragte Justus schnaufend. Ihm wäre der Umweg zu den Fahrstühlen deutlich lieber gewesen.

»Nein, Mr Calbourn besitzt einen gewissen Sonderstatus. Er ist ein absoluter Branchenexperte und wird morgen die Festrede auf den Start der HEROES halten. Deshalb hat er von der Veranstaltungsleitung einen persönlichen Büroraum für Hintergrundgespräche und Interviews zur Verfügung gestellt bekommen.«

Wiederum meldete sich das Mobiltelefon, und der ehemalige Kommissar hielt inne, um die Nachricht zu lesen.

»Neuigkeiten?«, fragte Bob.

»Ja, das war die Zentrale. Mr Calbourn ist tatsächlich schon vor einer knappen Stunde hier eingetroffen und hat seine Chipkarte erhalten. Den Checkpoint vor dem Büroflur in Sektion D hat er um zwei Uhr passiert. Offensichtlich haben sich seine Pläne kurzfristig geändert.«

Nachdenklich runzelte Peter die Stirn. »Wenn er wirklich in dem Büro ist – wieso antwortet er dann nicht?«

»Vielleicht hält er ein Mittagsschläfchen, bevor er sich in den Messetrubel stürzt«, mutmaßte Nostigon. »Oder er telefoniert und hat das Klopfen nicht gehört. Wir werden ja gleich sehen, woran wir sind.«

Inzwischen hatten sie die sechste Etage erreicht und Mr Nostigon öffnete eine weitere Metalltür, hinter der ein heller, mit Tannengirlanden geschmückter Flur lag. In einiger Entfernung stand ein circa vierzigjähriger, schlanker Mann in blauem Overall mit einem Handwagen voller Putzutensilien. Er blinzelte nervös, als die vier Ankömmlinge an ihn herantraten. Das Namensschild an seiner Brust wies ihn als Frederic Barnes vom Serviceteam 3 aus.

»Gut, dass Sie da sind«, wandte er sich an Nostigon und deutete auf die Bürotür mit der Nummer 609. Auch sie verfügte über ein Chipkartenschloss, in dessen oberer Leiste ein kleines rotes Licht leuchtete. »Wie Sie sehen, wurde von innen die Verriegelung aktiviert. Dabei soll dieses Büro laut Raumplan erst in drei Stunden bezogen werden. Also habe ich geklopft und gefragt, ob ich eintreten darf, aber niemand meldet sich. Eine Fehlfunktion schließt die Zentrale aus.« Barnes hielt inne, so als müsse er seine Worte genau abwägen. »Außerdem habe ich … etwas gehört.«

»Gehört?«, entfuhr es Justus, dem noch im selben Moment bewusst wurde, dass ja nicht er hier die Ermittlungen leitete. Erleichtert stellte der Erste Detektiv fest, dass Mr Nostigon ihm diesen spontanen Vorstoß nicht übel zu nehmen schien.

Der Mann im Overall strich sich mit einer fahrigen Bewegung über das spitze Kinn. »Da war ein Geräusch. Eine Art … leises Kichern.«

»Ein Kichern?« Auf der Stirn des ehemaligen Kommissars zeichnete sich eine steile Falte ab. »Sie haben also gehört, wie Mr Calbourn gekichert hat?«

Energisch schüttelte Barnes den Kopf. »Das war kein Mann, auf keinen Fall, dafür war die Stimme viel zu hoch.« Mit sichtlichem Unbehagen blickte er zur Bürotür. »Ich kann es nicht richtig beschreiben, aber an diesem Kichern … stimmte etwas nicht.«

»Wie meinen Sie das?«, klinkte sich Peter ein, den das Frösteln wieder eingeholt hatte.

Unsicher rang der Servicemann die Hände. »Haltet mich nicht für verrückt, aber dieses Kichern hatte etwas … Böses an sich. Etwas Bedrohliches, das mir durch Mark und Bein ging. Als ich dann klopfte, verstummte es schlagartig.«

»Moment mal«, ergriff Mr Nostigon wieder das Wort. Seine Gesichtszüge hatten sich schlagartig verhärtet. »Sie haben das Kichern also gehört, bevor Sie an die Tür klopften?«

»Genau.« Zögernd deutete Barnes auf ein Handy, das er an seinem Werkzeuggürtel trug. »Als ich vor dem Büro ankam, habe ich eine SMS von meiner Frau bekommen. Natürlich weiß ich, dass wir während der Arbeit keine privaten Nachrichten annehmen sollen, aber Claire hat heute Geburtstag, verstehen Sie? Also habe ich ihr schnell zurückgeschrieben, dass ich heute Abend auf jeden Fall pünktlich zur Party kommen werde. Und währenddessen habe ich hinter der Tür plötzlich dieses unheimliche Kichern gehört.«

»Aber als Sie dann klopften, antwortete Ihnen niemand«, ergänzte Bob.

Der Servicemann nickte und wies den Flur hinunter. »Dann bin ich zum Checkpoint und habe Meldung gemacht.«

Man konnte Mr Nostigon deutlich anmerken, wie zwiegespalten er war. Natürlich wollte er keinesfalls in eine möglicherweise verfängliche Situation hineinplatzen. Schließlich war es ja nicht verboten, dass der Journalist in seinem Büro Besuch empfing und ungestört sein wollte. Doch auch die Jungen spürten, dass hier etwas nicht stimmte. Barnes machte ganz und gar nicht den Eindruck eines Wichtigtuers, der sich mit irgendwelchen Fantastereien in den Mittelpunkt stellen wollte.

»Es war völlig richtig, dass Sie uns Bescheid gesagt haben.« Mit festen Schritten trat Nostigon zur Tür, zückte erneut seine schwarze Chipkarte und führte sie zum Lesegerät. »Die Central Card deaktiviert automatisch den Verriegelungsmechanismus«, erklärte er an die Jungen gewandt. »Angesichts der besonderen Umstände übernehme ich die Verantwortung für das Öffnen des Büros.«

»Na, jetzt bin ich ja mal gespannt …«, murmelte Peter mit belegter Stimme.

Ein heller Piepton verkündete den Entriegelungsvorgang. Energisch umfasste Nostigon mit einer Hand die Klinke, mit der anderen klopfte er nochmals. »Mr Calbourn? Hier ist der Sicherheitsdienst. Ich werde jetzt reinkommen!«

Langsam öffnete er die Tür und trat ein. Zögernd folgten ihm die drei Detektive, während Barnes verunsichert auf der Schwelle stehen blieb. Im Inneren des Büros herrschte diffuses Halbdunkel, sämtliche Jalousien waren heruntergelassen. Fast wirkte es tatsächlich so, als hätte sich hier jemand für ein Nickerchen zurückgezogen, doch das Ledersofa auf der linken Zimmerseite war leer.

»Da drüben!«, rief Bob aufgeregt. »Hinter dem Schreibtisch – da liegt jemand auf dem Boden!«

004.tif

Noch 21 Stunden

23. Dezember, drei Uhr nachmittags.

»Tatsächlich – es ist Calbourn!« In höchster Sorge stürzte Mr Nostigon zu dem leblosen etwa fünfzigjährigen Mann hinüber, der neben einem umgefallenen Bürostuhl lag, und tastete mit geübten Griffen nach dessen Puls.

»Und? Lebt … er noch?«, fragte Peter stockend.

»Kaum noch Pulsschlag, keine Atmung feststellbar«, erwiderte der Expolizist gehetzt. »Ich beginne mit der Wiederbelebung. Barnes, alarmieren Sie den medizinischen Notdienst!«

»Ja, Sir!« Fassungslos griff der Servicemann nach seinem Handy und eilte nach draußen.

Sofort war Peter an Nostigons Seite, um ihm bei der Beatmung und Herz-Lungen-Massage zu helfen, die glücklicherweise rasch Wirkung zeigten. Für einen kurzen Moment erlangte Calbourn sogar wieder die Besinnung, sank jedoch nach leisem Aufstöhnen zurück in die Bewusstlosigkeit. Währenddessen wuchteten Justus und Bob einen schweren Konferenztisch beiseite, um Platz für das Rettungsteam zu schaffen, und zogen anschließend die Jalousien hoch. Kurz darauf trafen die Sanitäter ein. Dank der schnellen Ersten Hilfe befand sich der Journalist inzwischen nicht mehr in akuter Lebensgefahr, er war jedoch immer noch ohnmächtig. Nachdem die Männer ihn untersucht und anschließend auf einer Tragbahre abtransportiert hatten, wischte sich Mr Nostigon schwer atmend den Schweiß von der Stirn. Anerkennend klopfte er dem Zweiten Detektiv auf die Schulter. »Das hast du fabelhaft gemacht, Peter. Die Rettung kam buchstäblich in allerletzter Sekunde.«

»Wir waren ein gutes Team«, stimmte Peter schnaufend zu.

Justus nickte und schaute zu dem blassen Servicemann hinüber, der sichtlich erschüttert in einer Zimmerecke stand. »Ein Glück, dass Mr Barnes so schnell reagiert und die Zentrale informiert hat. Andernfalls hätte das hier ein schlimmes Ende genommen.«

»Damit … hätte ich ja niemals gerechnet«, murmelte Barnes und blinzelte heftig, so als könne er immer noch nicht fassen, was gerade geschehen war. Dann blickte er Nostigon an. »Kann ich … noch irgendetwas für Sie tun oder –«

»Gehen Sie ruhig«, erwiderte der Securitychef. »Aber halten Sie sich bitte für eventuelle Rückfragen zur Verfügung.«

»Natürlich, Sir.«

Nachdem Mr Barnes das Büro verlassen hatte, ließ sich Mr Nostigon kopfschüttelnd auf der breiten Lehne des Sofas nieder. »Sorry, Jungs – so hatte ich mir das heutige Messeprogramm für euch natürlich nicht vorgestellt.«

»Machen Sie sich deshalb keine Gedanken«, erwiderte der Erste Detektiv mit einem aufmunternden Lächeln. »Erfahrungsgemäß pflegen Notfälle sich nicht nach Programmen zu richten.«

»Die Hauptsache ist, dass Mr Calbourn gerettet werden konnte«, stimmte Bob zu. »Wohin wird er jetzt eigentlich gebracht?«

»Das Hotel hat eine eigene Krankenstation, dort erfolgt die weitere Versorgung. Im Anschluss wird man dann entscheiden, ob er in eine Klinik geflogen werden muss.«

Nachdenklich schaute Peter auf die Stelle am Boden, wo der Journalist gelegen hatte. »Offensichtlich hat er einen plötzlichen Zusammenbruch erlitten, der so heftig war, dass er keine Hilfe mehr alarmieren konnte.«

»Präzise zusammengefasst«, pflichtete Justus bei und ließ seinen sondierenden Blick durch das Zimmer schweifen. Dann deutete er auf die linke Seite des Stahlrohr-Schreibtischs. »Das umgefallene rote Fläschchen dort neben dem Faxgerät könnte diese These bestätigen.«

Neugierig trat Bob an den Tisch heran und begutachtete den Fund. »Das ist ein Minispray. Die Verschlusskappe ist noch drauf … Der Aufdruck lautet: Dorangin akut – 1 Sprühstoß zu 48 Milligramm enthält 0,4 Milligramm Glyceroltrinitrat

»Dorangin?«, fragte Peter aufhorchend. »Das sagt mir irgendwas.«

Mr Nostigon legte erstaunt den Kopf schief. »Im Ernst?«

»Ich glaube nicht, dass ich mich irre.« Grübelnd kratzte sich der Zweite Detektiv an der Schläfe. »Ab und zu mähe ich den Rasen bei einem alten Freund meines Großvaters. Der Mann ist schwer herzkrank und auf starke Medikamente angewiesen. Manchmal kommt er mit den Tabletten ein bisschen durcheinander, aber eine Sache hat er grundsätzlich immer bei sich.«

»Nämlich ein rotes Sprühfläschchen«, folgerte Justus.

»Genau. Er hat sich extra ein kleines Lederetui dafür anfertigen lassen, damit er es immer am Gürtel tragen kann. Irgendwann habe ich ihn einfach mal darauf angesprochen, und da hat er mir erklärt, wie dieses ›Dorangin‹ funktioniert: Bei einem Herzanfall muss er sich zweimal in den Mund sprühen, damit die Herzkranzgefäße sich wieder erweitern.«

»Die sogenannte Angina Pectoris«, schaltete sich nun wieder der Sicherheitschef ein. »Krampfartige Herzenge, ausgelöst durch fortgeschrittene Arterienverkalkung.«

Bob nickte ernst. »Dann ist die Sache also klar: Mr Calbourn hatte einen akuten Herzanfall, griff nach seinem Notfallspray, aber schaffte es nicht mehr, es zu benutzen.«

»Er ließ das Sprühfläschchen fallen und es rollte neben das Faxgerät«, ergänzte Peter. »Dann brach er neben dem Schreibtisch zusammen.«

»Das könnte auch das Geräusch erklären, das Mr Barnes vorhin gehört hat«, stellte Nostigon fest. »Wahrscheinlich war es gar kein Kichern, sondern ein ersticktes Röcheln.«

»Klingt durchaus plausibel«, erwiderte Justus. »Bleibt nur die Frage, ob es eine konkrete äußere Ursache für den Zusammenbruch gab. So ein Herzanfall kann meines Wissens sowohl durch körperliche als auch durch psychische Belastung ausgelöst werden. Und da wir sicherlich ausschließen können, dass Mr Calbourn in diesem Büro einen Marathonlauf unternommen hat, gehe ich von Variante zwei aus.«

Bob horchte auf. »Du meinst also, irgendetwas hat ihn so sehr aufgeregt, dass er eine Herzattacke bekam? Möglicherweise der Grund für seine verfrühte Anreise?«

»Falls ja, finden wir mit etwas Glück in seinem Terminplan einen Hinweis«, überlegte Peter und wies auf ein kleines Ringbuch, das auf einem Aktenschrank lag.

Erwartungsvoll blickte Justus Mr Nostigon an. »Denken Sie, es ist okay, wenn wir kurz hineinschauen?«

Der ehemalige Polizist verzog die Lippen zu einem erschöpften Lächeln. »Einmal Detektiv, immer Detektiv, stimmt’s?« Seufzend wischte er sich über das Gesicht, dann nickte er. »Da es hier um die Klärung eines gravierenden Vorfalls geht, halte ich diesen Eingriff in Mr Calbourns Privatsphäre für zulässig.«

Rasch nahm Justus den Terminplaner und blätterte zum 23. Dezember. »Hm … Leider Fehlanzeige. Hier sind erst ab sechs Uhr abends mehrere Termine notiert. Keine früheren Einträge für heute. Damit erhärtet sich zumindest unsere Vermutung, dass Mr Calbourn bis vor Kurzem noch geplant hatte, erst abends in Crystal Pike einzutreffen.«

»Doch dann veranlasste ihn irgendetwas dazu, seine ursprüngliche Planung über den Haufen zu werfen und deutlich früher anzureisen«, fügte Bob an.

»Offensichtlich etwas, das ihn sehr aufgewühlt hat«, ergänzte Peter.

Nostigon erhob sich. »Tja, Näheres werden wir wohl erst erfahren, wenn Mr Calbourn wieder ansprechbar ist. Bis dahin bleibt uns –« Irritiert verharrte er und betrachtete den Ersten Detektiv, der nun in gebeugter Haltung neben dem umgestürzten Bürosessel stand und grüblerisch die Augen verengte. »Du siehst aus, als wenn du etwas entdeckt hättest.«

»Möglicherweise. Lasst mir mal ein wenig Zeit«, erwiderte Justus angespannt und blickte eine Weile lang auf dem Boden hin und her.

»Darf man fragen, was du da machst?«, erkundigte sich Peter schließlich ungeduldig.

»Vielleicht sehe ich ja Gespenster, aber die Spuren dieses Rollsessels erscheinen mir höchst sonderbar.«

Überrascht hob Bob die Augenbrauen. »Die … Spuren des Rollsessels?«

»Exakt«, erwiderte Justus und deutete vor sich auf den Boden. »Auf dem weichen Teppich sind die frischen Abdrücke der Rollen trotz aller anderen, durch uns hinzugekommenen Spuren noch gut zu erkennen. Normalerweise beschränkt sich der Radius solcher Bürosessel ja auf die unmittelbare Schreibtischumgebung, also das kurze Vor- und Zurückrollen, wenn man sich hinsetzt oder aufsteht. Hier aber …«

»… führen die Spuren einmal quer durch den Raum bis zur Wand und wieder zurück«, beendete Mr Nostigon stirnrunzelnd den Satz. »Als wenn Mr Calbourn im Sitzen mehrere Meter nach rechts und anschließend wieder zurückgerollt wäre, bevor er zusammenbrach.«

»So ist es.« Der Erste Detektiv ließ sich in die Hocke nieder. »Die Schleifspuren an den Seiten deuten darauf hin, dass er sich mühsam rückwärts mit den Fersen vorangestemmt hat.«