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JULIA KISSINA (HG.)

REVOLUTION
NOIR

AUTOREN DER RUSSISCHEN
»NEUEN WELLE«

Aus dem Russischen von
Olga Kouvchinnikova, Ingolf Hoppmann,
Annelore Nitschke und Olga Radetzkaja

Suhrkamp Verlag

Revolution Noir

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Artur Aristakisjan

Kinosaal für tote Prostituierte

Das kleine rumänische Kino in Kischinjow lag Wand an Wand mit einem Seuchenkrankenhaus; man beschloss, eine Leichenhalle daraus zu machen. Dort begegnete ich zum ersten Mal einer toten Prostituierten, sie war nackt, ihre schwarzen Augen offen — man hatte den sehnlichen Wunsch, in sie einzugehen. Sie lag mit dem Kopf an der Stelle, wo die Rumänen vor dem Krieg die Leinwand hatten. Jetzt prangte dort eine schmutzige leere weiße Wand, als würden noch immer Filme gezeigt. Aus einem unbekannten Grund hatten sich die Augen der getöteten Prostituierten nicht geschlossen. Aber nicht wie bei einer kaputten Puppe. Die Prostituierte setzte ihr Gewerbe nach dem Tode fort, obwohl es nur noch ein Körper ohne Seele war. Aber wenn man eine Prostituierte anheuert, dann zahlt man auch für einen Körper ohne Seele. Ein Sanitäter stand neben mir und sagte, ich würde ihn erregen. So wie ich die tote Hure betrachte, fange er auch schon an, sie wie ein Perverser anzustarren. Der Sanitäter spürte, dass ich mit meinen Augen etwas Verbotenes tat. Ich sah, dass die tote Prostituierte nicht auf dem Tisch lag. Obwohl sie dort lag, nackt, wie es sich für eine Prostituierte gehört, stand sie noch immer an der Bordsteinkante. Und vollführte noch immer die billigen Tricks einer Prostituierten. Auch der Tod war einer ihrer billigen Tricks. Als könne er meine Gedanken lesen, erklärte der Sanitäter, er habe keine Angst zu sterben. Das hieß, er hatte keine Angst, sich auszuziehen und sich neben sie zu legen. Die Bezahlung, die die tote Prostituierte für ihre Dienste von uns nahm, war eine Währung puren Wahnsinns. Rumänische Lei, deutsche Besatzungsmark, amerikanische Dollar, russische Rubel wurden just in diesem Augenblick an der Kasse des ehemaligen Kinos in die Währung der toten Prostituierten gewechselt.

Der Blick des Künstlers, dachte ich, ist der Blick der toten Prostituierten aus dem Jenseits. Wenn du einen Film drehst, lass eine getötete Prostituierte durch die Kamera schauen, und sie verleiht dir den Blick des großen Künstlers. Die getötete Prostituierte schaut aus dem Jenseits mit den Augen eines Künstlers. Ob Ingmar Bergman eine getötete Prostituierte war? Man konnte ihn nicht mit schönen Interieurs in die Irre führen. Ein Filmregisseur begeistert sich schnell für schöne Interieurs, schöne Dinge, schöne Menschen. Die Prostituierte aus dem Jenseits glaubt nicht an diese Schönheit, sie sieht besser und weiter. Und sie ist bereit, diese Fähigkeit zu verkaufen. Der Regisseur hat eine zu hohe Meinung von sich selbst, er schaut durch die Kamera und besetzt den Platz, der leer sein sollte. Er hindert die Tote daran, durch die Kamera zu sehen. Ihr dürft eine tote Prostituierte nicht daran hindern, mit euren Augen durch die Kamera zu sehen. Wenn du der getöteten Prostituierten deine Augen zur Verfügung stellst, wird sie dir aus dem Jenseits ihre Augen geben, damit du von dort auf dein Leben schauen kannst.

Nur so kann man im Sinne des Evangeliums mit der getöteten Prostituierten schlafen. Die heilige Lucia hat sich ohne Narkose die Augen herausgeschnitten und sie ihrem Freier im Freudenhaus gegeben, weil er sie so gern besitzen wollte. Dann ist sie gestorben. Eine getötete Prostituierte — das ist der allgemeine demokratische Mechanismus der Übertragung von Wahrnehmung als Macht. Sie verkauft jedem, den danach verlangt, mit ihrem Körper auch ihre Augen, die aus dem Jenseits blicken. Und der Kunde kann sie benutzen. Wenn er bereit ist, mit dem Sehen zu beginnen. Wer mit einer getöteten Prostituierten schläft, der zahlt ehrlich für ihr Sehvermögen, das aus dem Jenseits direkt in die Kamera eingeht. Wenn man einen Film anschaut, sieht man sofort: Hat der Regisseur für die Kamera bezahlt, oder will er den Film für lau drehen. Hat der Regisseur mit der getöteten Prostituierten geschlafen oder nicht. Oder hat er nur so getan.

Der Sanitäter hat als Erster neben der toten Prostituierten mit den offenen Augen die Stelle gefunden, von der aus man ihr direkt in die Augen schauen konnte, damit auch sie ihm direkt in die Augen sah. Der Sanitäter schaute von diesem Punkt aus und sagte, ihre Augen fingen an, lebendig zu werden. Sie sahen ihm direkt ins Hirn. Anscheinend war ihr Mörder der Letzte, mit dem sie geschlafen und den sie angeschaut hatte und weiterhin anschaute. Der Sanitäter zog sich aus, legte sich neben sie, umarmte sie. Er verlor den Verstand, und ich nahm seinen Platz ein, an jenem Punkt, den er gerade noch eingenommen hatte, damit sie auch mir in die Augen sähe, so wie ihm. Aber der Punkt war nicht mehr dort, wo er hätte sein sollen. Gemäß der euklidischen Geometrie. Der Sanitäter hatte diesen Punkt in seinem Kopf mitgenommen. Gemäß dem Evangelium, gemäß den Geboten der Glückseligkeit. Der Künstler, wie die Prostituierte, verführt den Sanitäter, der Sanitäter aber geht darüber hinaus: er verliert den Verstand.

Ich heiße Elvira

Ich versprach einer Frau, deren beide Söhne im Tschetschenienkrieg umgekommen waren, mit ihr in ein Kloster in der Nähe von Moskau zu gehen und mir dort einen Dämon austreiben zu lassen. Sie schlief mit den Fotos ihrer Söhne. Jetzt wollte sie mich von unreinen Kräften befreien. Ich konnte es ihr nicht abschlagen. Weil ich die Fotos ihrer Söhne gesehen hatte. Der Exorzismus fand im Dreifaltigkeitskloster von Sergijew Possad statt. Man wollte mir einen Dämon namens Elvira austreiben. Es hatte damit begonnen, dass ich auf der Straße einen Tscheburek aß. Mir wurde übel, und ich übergab mich nicht weit von einer orthodoxen Kirche in der Pokrowka-Straße. Dabei bin ich dieser Frau aufgefallen. Sie kam zu mir und gab mir geweihtes Wasser aus einer Flasche zu trinken. Und sie sagte, in mir sei ein böser Geist. Als ich mich übergab, erschien ich ihr als Frau. Rein weibliche Bewegungen waren aus mir hervorgebrochen. Eine Frau war aus mir hervorgekrochen. Ich beschloss, die Wahrheit zu sagen: Es sei eine Prostituierte, die sich auf diese Art in mir zeige, immer wenn mir schlecht sei. Als wir zu ihr nach Hause kamen, sie wohnte in der Nähe der Kirche, gestand ich ihr, dass ich mich ständig als Prostituierte empfände und sogar ihren Namen kenne, sie heiße Elvira. Elvira wurde vergewaltigt und ermordet, ungefähr zu der Zeit, als ich anfing, meinen ersten Film zu drehen. Damals ist es mir gelungen, etwas Ungewöhnliches auf dem Filmstreifen zu fixieren, weil die getötete Prostituierte Elvira aus dem Jenseits durch meine Kamera schaute. Die orthodoxe Frau sagte, das sei ein Dämon. Ich erlaubte dieser Frau mit Namen Anastasija, Mutter zweier gefallener Helden Russlands, mich in das Kloster des heiligen Sergius von Radonesh zu bringen, damit man dort Elvira aus mir austreibe. Anastasija sagte, sie werde das Ritual bezahlen. Sie hat mich de facto angeheuert. Ich amüsierte mich, wie immer. Ich wollte den Dämon aus ihr hervorlocken. Ich wollte ihre rohe weibliche Impulsivität genießen. Aber sie erwies sich als schlauer. Mich reizte es als spontanes erotisches Spiel, aber für sie war es ernst. Sie nahm sich meiner an. Sie zwang mich, ihr die Worte eines Gebets nachzusprechen. Sie schaltete mein Gewissen ein, und ich konnte ihr nichts abschlagen. Ich schämte mich vor der einsamen frommen Frau, vor ihren Heldensöhnen. Ich konnte sie nicht enttäuschen. Mein Gewissen hieß mich, ihr zu folgen, mein nach Lob gierendes Gewissen willigte ein, die getötete Prostituierte Elvira aus mir austreiben zu lassen. Ich stellte mir vor, wie es sein würde, wenn man mir die getötete Prostituierte ausgetrieben hätte. Das Lesen der Beschwörungsformeln, das heilige Kreuz, das Weihwasser würden das ihre tun. Huren haben im Körper eines orthodoxen Mannes nichts zu suchen! Ich werde ein normaler Gläubiger sein. Ich werde aufhören, mich allen möglichen Perversitäten von Körper und Seele hinzugeben. Ich mache Gymnastik und schaue mir nur noch anständige Filme an, in denen das Gute das Böse besiegt. Ich musste mich einfach retten lassen. Die streng- und rechtgläubige Weiblichkeit stand in Kopftücher gehüllt da und wartete gespannt darauf, wann denn Elvira aus mir ausfahre, damit sie sie in Stücke reißen konnte. Elvira! Sie werden sie wahrhaftig vernichten. Sie sind bereit, die schon Getötete zu töten. Sie sind bereit, sie unzählige Male zu töten. Wie die Abgeordneten der Staatsduma Russlands, die Boris Nemzow auch nach seinem Tod noch unzählige Male töten wollen. Immer wieder töten. Die Prostituierte in mir sträubte sich, sie biss und schrie. Sie wollte partout nicht aus mir heraus. Sie wollte in mir leben, sie wollte mir helfen, sie wollte mir so viel zeigen. Aber ich hatte beschlossen, mich Gottes Willen zu fügen. Ich habe Elvira verraten. Ich gestattete der frommen Menge, meine Prostituierte mit Steinen zu bewerfen. Die Rechtgläubigen in der Kirche freuten sich und bejubelten ihren Sieg über den Teufel. Elvira konnte die Folter durch das Weihwasser nicht ertragen. Wenn ich mich heute an jenen Exorzismus erinnere, dann möchte ich euch warnen, für den Fall, dass man euch jemals mit Weihwasser foltern sollte: Folter mit Weihwasser ist für den Dämon keine Folter, nur für den Menschen. Wenn man Weihwasser versprengt, macht das dem Dämon nichts aus, er wäscht sich, lacht, spielt ein wenig, aber für den Menschen ist es eine wahre Folter. Man hat mir den Menschen ausgetrieben. Nach der Austreibung von Elvira fühlte ich mich zwar tatsächlich besser und gesünder. Ich erinnere mich, ich schaute mir Antonionis Der Schrei an. Und konnte nicht begreifen, wie man sich so einen depressiven Mist ansehen kann. Dann schaute ich mir Schreie und Flüstern von Bergman an — und hielt auch hier nicht bis zum Ende durch. Nur ein sehr kranker Mensch konnte so was drehen. Das hat ein kranker Mensch für kranke Menschen gedreht. Das Tagebuch eines Landpfarrers schaute ich etwa bis zur Mitte und fühlte mich krank. Um nicht wirklich krank zu werden, schaltete ich aus und warf den Film weg. Seit man mir die Prostituierte ausgetrieben hat, habe ich keinen einzigen Film mehr gedreht. Weil ich meine schöpferische Sehweise verloren habe. Als wäre jemand aus mir gefahren, dem meine Augen das Sehen verdankten. Mit meinen Augen sieht niemand mehr. Ich sehe so wie alle. Ich begann, in die Kirche zu gehen. Ich hatte eine schöne Braut. Ich kam zu Geld. Ich fand eine große Vierzimmerwohnung an den Tschistye Prudy. Ich stellte mir schon meine Kinder vor. Ich zeigte die Ferkel meinen Eltern, sie waren gerührt. Ich präsentierte die Ferkel der Welt, und alle waren glücklich. Die Ferkel waren sauber gewaschen, hatten rosa Unterhosen, Eimerchen und Schäufelchen. Kein Kinosaal für die Toten. Allein der Gedanke daran ist mir peinlich. Ich weiß, viele wollen meine Elvira besitzen, um sie auszubeuten, um mit den Augen eines Künstlers zu sehen. Denn das Sehen, wie ich schon sagte, kommt zum Künstler durch die getöteten Prostituierten.

Eine Prostituierte ist die Magie, mit der man die Wesenheiten anlockt. Sie halten sich verborgen, doch auf Prostituierte springen sie an. Und zerbrechen dann dem Menschen das Leben. Aber sie schenken Sehvermögen. Die Prostituierte sieht, was sich in der Welt ereignet. Was mit den Menschen geschieht. Ein normaler Familienvater kommt zu einer Prostituierten und macht Hackfleisch aus ihr, schneidet sie in Stücke. Die Prostituierte weiß wie niemand sonst, was in den Menschen steckt. Was sie aus den Menschen herausholt! Als sie noch in mir wohnte, zog es außergewöhnliche, ungewöhnliche Menschen zu der getöteten Prostituierten Elvira. Nach ihrer Austreibung verschwanden diese Menschen aus meiner Welt. Von da an zog es mich zu den Prostituierten, weil ich ohne Elvira erstickte. Ich hasste die Kirche, ich jagte meine Braut fort. Ich ließ alle möglichen Perversen mit mir tun, was sie tun wollten, damit ich meine innere Prostituierte spürte, damit meine Elvira zu mir zurückkehrte, die gesteinigt und unendlich viele Male getötet worden war. Toulouse-Lautrec, fiel mir ein, war ins Bordell gegangen und hatte sich dort, angekleidet, zu den Prostituierten gelegt, die sich auf ihren Diwanen ausruhten. Die Frauen saßen um ihn herum, rauchten, unterhielten sich, er aber lag einfach nur da. Er malte seine Bilder mit dem Körper, wie eine Prostituierte. Er lebte monatelang im Bordell, um eine Prostituierte im Inneren zu bekommen. Um seinen ungelenken, kurzbeinigen Körper für die Malerei aufzuerwecken. Eine Prostituierte arbeitet mit dem ganzen Körper, wie ein Pferd. Es gibt wenige, die mit ihrem ganzen Körper arbeiten. Die heiligen Gebeine des ehrwürdigen Sergius von Radonesh arbeiten nicht so viel, wie eine Prostituierte mit ihrem Körper arbeitet. Und sie geben nicht dieses Sehvermögen, das eine Prostituierte geben kann, umso mehr eine getötete, eine wie meine Elvira. Eigentlich arbeiten die Gebeine des ehrwürdigen Patriarchen Sergius schon seit Jahrhunderten wie eine getötete Prostituierte. Nur als getötete Prostituierte kann er dem Menschen ein Gefühl aus dem Jenseits übermitteln. Die Zuhälter der Kirche prostituieren seinen Körper immer noch, aber sie gestehen es sich selbst niemals ein. Sie haben die Gebeine der Heiligen immer ausgebeutet, genau wie die Körper der getöteten Prostituierten. Aber nur wenige von ihnen, die Eingeweihten, kannten das Geheimnis — was man mit dem Körper einer getöteten Prostituierten machen kann. Eine getötete Prostituierte kann zum Leben erwecken. Eine Prostituierte, die noch am Leben ist, kann zum Leben erwecken. Nur die Amoralität kann zum Leben erwecken. Die Moral macht die Menschen zu Toten. Die lebendigsten Wesen sind die amoralischen. Aber ein amoralisches Wesen verhält sich nicht notwendigerweise amoralisch, es empfindet sich einfach als amoralisch. Und dann bleiben die Gefühle aus der Finsternis an ihm haften. Ein Künstler überträgt auf Leinwand-Papier-Filmrolle das, was ihn die getötete Prostituierte aus dem Jenseits sehen lässt. Wahrhaft empfinden kann man nur aus dem Jenseits und nur wenn man amoralisch ist wie eine Prostituierte. Eine Prostituierte steht auf der Straße. Es ist nicht ihre Aufgabe, gut zu sein. Damit hat sie sich nicht getötet. Eine gute Erziehung stumpft die Gefühle ab: Dies darf man nicht fühlen, jenes ist zu gefährlich zu fühlen, ein drittes ist unmöglich zu fühlen. Deshalb kann man nur aus dem Jenseits wahrhaft fühlen. Nur wenn man amoralisch ist. Deshalb die Prostituierte. Weil eine Prostituierte selbst ein jenseitiges Wesen ist.

Nur wenn ein Mensch stirbt, sieht er, was um ihn herum geschieht. Weil sein fühlendes Wesen beginnt, aus ihm hervorzubrechen. Als mein Nachbar starb, kam er für einen Moment noch einmal zu Bewusstsein, schaute seine Verwandten an und sagte: »O Gott, was seid ihr bloß für Idioten.« Er sprach aus tiefstem Herzen. Er sah die Absurdität des Lebens. Und dass niemand sie sah. Von dort aus sah er, dass niemand sie sah. Dass seine Seele nie gelebt hatte. Er hat ohne Gefühl gelebt, wie Watte, sagte seine Tochter. Und plötzlich, kurz vor seinem Ende, brach das Gefühl aus ihm hervor. Und etwas, das Ähnlichkeit mit einer Frau hatte. Er schob seinen dünnen Arm an der Wand empor, an der er lag. Schaute ihn an und sagte: »Was für einen schönen Arm ich habe.« Nur der Tod verleiht solch einen Blick. Um die Schönheit zu sehen, braucht man den Tod. Man braucht den Blick des Todes, um die Schönheit zu sehen. Weil der Blick des Lebens davor zurückschreckt. Deshalb ein Kinosaal für die Toten. Der Blick des Lebens schreckt zurück vor der Schönheit der abgezehrten Gefangenen auf Fotografien oder in Dokumentarfilmen, die in Ghettos und Konzentrationslagern gemacht wurden. Weil der Blick des Lebens vor der entblößten Schönheit zurückschreckt. Für den Genuss an der reinen Schönheit kann man selbst im Lager landen. Das Leben sieht nicht die Schönheit der Ruinen, weil das Leben daran denkt, wie man sie einrichtet, wie man den Komfort in ihre Mauern zurückbringt. Das Leben denkt nur an den Komfort. Eine andere Aufgabe hat es nicht. Das Leben denkt genauso wie die Frau des KZ-Kommandanten in dem Film Sophies Entscheidung, die zu ihrem Mann sagt: »Kannst du dir vorstellen, was diese Gefangene getan hat? Sie ist in die Küche gekommen! In die Küche, wo unsere Kinder essen.« So spricht das Leben. Unsere Kinder!, sagt das Leben. Aber die Kinder gehen in den Keller, um dort vergewaltigt zu werden. Um wenigstens irgendein Gefühl zu empfinden. Wohlerzogene, süße Kinder gehen in die Baracke zu den schrecklichen Gefangenen, die ausgezehrt sind wie Gespenster. Um ein Gefühl zu empfinden. Das Gefühl, das ist nicht der Blick des Lebens. Gefühle sind gefährlich für das Leben. Du blickst durch den Sucher der Kamera auf dieses Leben und spürst sofort, dass das nicht der Blick des Lebens ist. Als Elvira in mir lebte und mit meinen Augen schaute, war das nicht der Blick des Lebens. Ich gehe in den Kinosaal für die Toten, ich gehe in den Kinosaal für die getöteten Prostituierten, ich gehe in den Kinosaal für die vergewaltigten Kinder, damit Elvira mir verzeiht und in mein Leben zurückkehrt, zurückkehrt zu mir, zurückkehrt in mich. Ich bin bereit, ihr meinen Körper zu geben. Ich bin bereit, ihren Namen anzunehmen. Ich weiß es immer, wenn sie heimlich kommt und mit meinen Augen auf den Bildschirm schaut.

Ein flüchtiger Mensch

Iwan Wassiljewitsch, der Direktor der letzten Schule, in die ich ging, drohte mir Gewalt an. Er würde jetzt gleich die Fassung verlieren, das waren seine Worte.

»Ich mach dich fertig wie die allerletzte Hure. Das meine ich ernst, ich habe nichts zu verlieren«, erklärte er eines Tages leise und bestimmt.

Ich hätte ihn, wie er sagte, mit meinen subversiven jüdischen Klügeleien erregt, den armenisch gepuderten. Er hielt die Armenier für Juden, die in der Türkei oder im Kaukasus leben.

In jeder Unterrichtsstunde hob ich die Hand und stellte ein und dieselbe Frage: Warum verheimlichen uns die Lehrer, dass wir alle sterben müssen. Das habe ich auch die Psychiaterin gefragt, aber die komische Tante sagte, die Fragen hier stelle sie.

Ich folgte Iwan Wassiljewitsch auf die Direktorentoilette, ich »warf den Fehdehandschuh«, wie man so sagt. Er spürte, dass ich ihm folgte, und beschleunigte seinen Schritt. Während er pinkelte, stand ich in der Kabine und horchte. Danach wusch er sich sehr gründlich die Hände. Ich blieb so lange still und unbeweglich stehen, bis er fragte:

»Wartest du?«

Da kam ich aus der Kabine heraus.

»Offen gestanden, ja«, sagte ich und stellte mich in die Ecke neben das Waschbecken. »Iwan Wassiljewitsch, warum haben Sie die Psychiaterin kommen lassen? Ich habe nichts Dummes gefragt. Es ist doch offensichtlich, dass ich recht habe: Warum befasst sich die Schule nicht mit der wichtigsten Frage, der nach unserem Tod? Wir werden doch alle sterben …«

Er sagte, in der gegebenen Situation sei es unabdingbar gewesen, die Psychiaterin zu rufen, es sei zu spät. »So sind die Spielregeln. Es musste sein. Glaub mir …«

Ich sagte, vielleicht gäbe es den Tod nach dem Tod gar nicht. »Glauben Sie nicht auch, Iwan Wassiljewitsch?«

»Geh in die Leichenhalle auf dem armenischen Friedhof«, sagte er. »Da ist ein Kriegskamerad von mir Arzt. Sag ihm, ich habe dich geschickt. Dann lässt er dich rein und zeigt dir …«

»Und was sehe ich da?«

»Gar nichts siehst du da: Äußere Objekte, Leichen liegen da und grinsen. Aber Menschen gibt es dort nicht. Ich habe an der Front so viele Tote gesehen, ich wurde selbst zweimal getötet. Ich war zu drei Vierteln eine Leiche. Nach dem Tod gibt es keinen Tod, denn nach dem Tod gibt es nichts. Und das Nichts gibt es auch nicht …«

Er schubste mich zurück in die Kabine und verriegelte die Tür, dann knöpfte er sich das Hemd auf, löste den Gürtel und zeigte mir seine furchtbare Narbe, obwohl man das schon nicht mehr Narbe nennen konnte, es war eine totale Verunstaltung am Bauch und darunter.

Ich verstand, warum er nichts zu verlieren hatte. Frau und Kinder besaß Iwan Wassiljewitsch nicht.

»… Das hat mich 43 vor Rshew erwischt«, sagte er. »Mit meinen eigenen Händen habe ich meine Eingeweide über die Frontlinie getragen, damit meine Leiche nicht den Deutschen in die Hände fiel …«

Ich sagte: »Das müssen Sie doch zeigen, vor jeder Unterrichtsstunde, vor jeder Klasse, damit sie es sehen. Das wird alle verändern …«

Er sagte, das sei gegen die Regeln.

»Das darf man nicht. So sind die Spielregeln. Und merk dir: Ich habe kein Problem mit den Juden. Ich sage das über die Juden, weil es sein muss. So ist es besser für dich. Und jetzt hilf mir, mich wieder anzuziehen.«

Vor ungefähr zehn Jahren war ich zum letzten Mal in Kischinjow. Ein kleiner, ungepflegter Grabstein, bald würde man ihn räumen, damit er dem Nächsten nicht den Platz wegnahm. Auf dem Stein hatten irgendwelche Flegel, ein paar nicht genug verprügelte Scheißgören, ihre Lebenszeichen hinterlassen: ein Hakenkreuz, einen Judenstern und das Wort »Schwanz«.

Das Foto auf dem Stein war gut erhalten; Iwan Wassiljewitsch hatte es wahrscheinlich von der Front an seine Familie geschickt. Iwan Wassiljewitsch war darauf zwanzig Jahre alt, er trug eine Armeeuniform, lächelte … Vor ihm lag ein langes Leben. Und darunter eine Inschrift.

Iwan Wassiljewitsch: ein flüchtiger Mensch. 1920-1991

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Polina Barskova