cover_feldzug-des-greifen_benz.jpg

 

Der Feldzug des Greifen

 

 

Historisch-fantastische Novelle

von Isabella Benz

 

ISBN 978-3-943531-37-4 (ePub)

ISBN 978-3-943531-36-7 (Kindle E-Book)

 

© Burgenwelt Verlag | Jana Hoffhenke

Hastedter Osterdeich 241 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Dirk Röse | Jana Hoffhenke

Umschlaggestaltung | Coverillustration: Detlef Klewer

Satz | Gestaltung: Jana Hoffhenke

Ebook-Realisierung: Eridanus IT-Dienstleistungen

 

November 1135

 

Zügig schritt Mathilda die Stufen des Turmes hinauf. Das hellblaue Kleid schlingerte um ihre Waden. Hinter ihr keuchte Stephen und schluckte schwer. Offenbar versuchte er, vor ihr zu verbergen, dass er bereits völlig außer Atem war. Er war es nun einmal nicht gewohnt: Reiten, ja, Jagen auch, der Schwertkampf ab und an zu Übungszwecken, doch er ging nicht gerne Treppen hoch, nicht wie sie, die beinahe jeden Tag hier hinauf stieg.

»Wo führst du mich denn hin?«

Mathilda lächelte. »Du wirst es gleich sehen«, erwiderte sie geheimnisvoll. Zehn Jahre waren sie nun verheiratet. Anfangs eine arrangierte Ehe, doch je besser sie sich kannten, desto mehr verstanden sie sich, und mittlerweile konnte sich Mathilda ein Leben ohne ihren Ehemann nicht vorstellen.

Die Treppe endete unmittelbar vor einer Steinmauer. Stephen stieß gegen ihren Rücken, strauchelte überrascht. »Was soll das?«, fauchte er. »Das ist eine Sackgasse.«

Mathilda wandte sich zu ihm um und legte eine Hand auf seine Wange. Nun würde sich zeigen, ob Stephen ein wahrer Graf Boulognes war. Mathilda schlug das Herz hart gegen die Brust. Gleich würde sie eine Antwort bekommen, bei der eine Lüge ausgeschlossen war: »Sag, liebst du mich, Graf Stephen von

Mortain?«

Er küsste ihre Handfläche, barg ihre Finger in seinen und nickte. »Das weißt du doch.«

Mit der freien Linken zog sie einen Dolch aus der Kordel, die sie an ihrer Hüfte trug, und streckte ihn Stephen entgegen. »Beweise es mir!«

Er hob seine Brauen. »Was verlangst du von mir, Mathilda?«

Sie lehnte sich vor und küsste ihn sanft, ehe sie gegen seine Lippen murmelte: »Ein Tropfen Blut genügt. Stich dir in den Finger und leg die Hand auf die Steine. Wenn du mich wirklich liebst, wirst du ein Wunder erleben«, versprach sie ihm, drückte ihm den Dolchknauf in die Hand und trat dann einen Schritt zurück, sodass er mühelos an ihr vorbei zur Mauer kam.

Einen Moment zögerte er. Mathilda nickte ihm aufmunternd zu. Sie zweifelte nicht daran, dass er ihre Gefühle erwiderte. Es war keine Prüfung, es war eine Bestätigung, die sie suchte, und der Wunsch, dass ihr Ehemann das Geheimnis der boulognischen Grafen mit ihr teilte.

Stephen setzte den Dolch an, stach sich in den Zeigefinger und presste die Lippen aufeinander, um einen Schmerzenslaut zu unterdrücken. Langsam hob er die Hand, legte sie auf die grauen Quader. Zuerst geschah nichts. Mathilda zwang sich zur Ruhe, es dauerte immer eine Weile, bis er die Anwärter geprüft hatte, bei angeheirateten noch länger als bei Blutsverwandten. Nur ihre Familie ließ er zu sich, ihr alter Freund, der größte Schatz des Grafenhauses von Boulogne.

Endlich glomm ein schwaches Licht unter Stephens Fingern auf. Vor Erstaunen weiteten sich seine Augen, während ihr Herz freudig sprang: Er liebte sie wirklich, war Teil ihrer Familie! Das Licht breitete sich weiter aus, kroch über die Steine und schmolz sie hinweg, bis der Weg ins Innere des Turmzimmers frei war. Neugierig trat Stephen ein und sein Blick wanderte sofort in die Höhe. Die runden Steinmauern hatten kein Dach, ungehindert schien die winterliche Abendsonne auf sie herab. Ein kalter Wind zerrte an Mathildas Kleidern und fuhr durch ihre braunen Haare. Sie folgte Stephen, bis er sich zu ihr umwandte.

»Was ist das?«, fragte er und gestikulierte in Richtung des Durchganges. »Zauberei? Bist du eine Hexe? Dass das ja der Bischof nicht erfährt, und ich bin auch dagegen, dass du es Eustach oder der kleinen Mathilda zeigst. Können unsere Kinder das auch? Und Balduin? Wusste er davon? Ist er deshalb gestorben?«

Die Fragen donnerten unablässig auf Mathilda ein. Unter der letzten zuckte sie gepeinigt zusammen. Sie wusste, dass Stephen noch immer um seinen ältesten Sohn trauerte, ebenso wie sie, auch wenn ihr Freund sie beruhigt hatte und ihr Kraft gab. Aber dass Stephen sie für Balduins Tod verantwortlich machen könnte, hatte sie nicht erwartet. »Ich habe es Balduin gezeigt, ja, aber das hatte nichts mit seinem Tod zu tun.« Sie zitterte. »Außerdem bin ich keine Hexe, ich habe die Steine nicht verschwinden lassen.«

»Wer war es dann?«

»Das war ich«, erklang eine tiefe Stimme.

Heimdall tauchte aus dem Nichts auf. Er stand aufrecht auf der Mauer Stephen gegenüber, die vorderen Löwenfüße den beiden Menschen entgegen gestreckt, während die Hinterpranken sich in die Zinnen gruben, und die Flügel ausgebreitet, sodass ihn der Wind hielt. Sein imposanter Schnabel leuchtete im Abendrot und seine schwarzen Knopfaugen funkelten Stephen belustigt an. Der wich einen Schritt zurück. Schützend trat sie vor ihn und verneigte sich ehrfürchtig vor ihrem alten Freund.

»Seid gegrüßt, Greif Heimdall, Wächter des Grafengeschlechts Boulogne.«

»Seid auch Ihr gegrüßt, Gräfin Mathilda, Tochter des Eustace. Ebenso wie Ihr, Graf Stephen, Enkel von William, dem Eroberer. Es freut mich, Euch endlich persönlich kennen zu lernen. Mathilda hat viel von Euch erzählt.« Er stieß sich von den Zinnen ab und landete auf allen Vieren vor ihrem Gatten.

Mathilda unterdrückte ein Kichern. Bei ihrer ersten Begegnung mit Heimdall war es ihr nicht anders ergangen. Er war furchteinflößend, mit seinen Pranken und dem riesigen Schnabel. Stephen überwand seine Furcht allerdings schnell. Stolz reckte er die Brust und erwiderte den Blick des Greifen fest. »Die Freude ist ganz meinerseits, doch muss ich gestehen, dass ich bislang nichts von Euch wusste, Herr Greif.«

»Nennt mich Heimdall. Und es ist im Interesse des Grafengeschlechts von Boulogne, dass niemand von mir weiß, der nicht zu diesem Geschlecht gehört. Eure Frau ist nicht dumm. Sie würde es nie riskieren, den Zorn ihrer Ahnen auf sich zu ziehen.«

Mathilda spürte, wie ihre Wangen glühten. Beschämt senkte sie den Kopf.

»Wieso bestehen deine Ahnen darauf, dass niemand von ihm erfährt?«, fragte Stephen.

Doch es war Heimdall, der für sie antwortete: »Könnt Ihr Euch das nicht denken, Graf Stephen?« Als er den Kopf schüttelte, seufzte Heimdall. »Ich sehe, Ihr wisst nicht viel über uns Greife.«

»Ich weiß nichts über Euch. Ich hielt Euch für ein Fabelwesen. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass Ihr tatsächlich existiert. Ich bitte um Verzeihung.«

Heimdall schüttelte den Kopf. »Es ist nicht uneigennützig von mir, niemandem von meinem Dasein zu berichten. Ich muss gestehen, ich bin nicht gerne mit euch Menschen zusammen. Bis auf ein paar Ausnahmen versteht sich.«

Unwillkürlich schmunzelte Mathilda. Sie war eine der wenigen, die sich wirklich mit Heimdall verstand, nicht wie ihr Vater und Großvater nur darauf bedacht, den Greifen auszunutzen. Sie unterhielt sich gerne mit ihm.

, hatte Heimdall ihr bei ihrem nächsten Besuch offenbart. Tief atmete Mathilda durch. Sie kam zurecht in ihrem Leben, auch ohne die Zukunft zu wissen. Und lieber ließ sie es auf sich zukommen als beeinflusst zu werden!