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Glaubwürdig aus guten Gründen - Ulrich Wendel (Hrsg.) - Warum wir der Bibel vertrauen können

ISBN 978-3-417-22867-0 (E-Book)

Inhalt

Über den Autor

Vorwort

Warum ich glaube, dass die Bibel Gottes Wort ist (Christoph Schrodt)

Der Schatz in der Krippe (Roland Werner)

Die Entmythologisierung der Bibelwissenschaft (Guido Baltes)

„Ich glaube allem, was geschrieben steht“ (Horst Afflerbach)

Nur dieses Buch liest mich (Monika Deitenbeck-Goseberg)

Die Bibel wirkt, wo und wie sie will! (Christian Brenner)

Die Inspiration der Bibel (Armin D. Baum)

Ist die Heilige Schrift irrtumslos? (Friedhelm Jung)

Wenn die Bibel das Leben und das Leben das Bibelverständnis prägt (Jürgen Mette)

Die Bibel – das Medium meines Vertrauens (Hans-Werner Durau)

Das Schreckgespenst des „Domino-Effekts“ (Fred Ritzhaupt)

Weit mehr als menschliche Worte (Ulrich Wendel)

Das Wort und die Wörter (Michael Diener)

Die Autoren

Anmerkungen

Über den Autor

ULRICH WENDEL war Pastor in zwei freikirchlichen Gemeinden und Lehrbeaufragter für Neues Testament an der Evangelischen Hochschule Tabor. Jetzt ist er Redakteur des Magazins »Faszination Bibel« und Programmleiter für Bibel und Theologie bei SCM R.Brockhaus.

Vorwort

Ulrich Wendel

Es ist fast schon ein Ritual in unserem Land: Mit schöner Regelmäßigkeit erscheint im Magazin „Der Spiegel“ zum Jahresende ein Titelthema, das Religion, Christentum oder die Bibel mit Kritik überzieht. Die Bibel erscheint dabei meist entweder als ein Dokument religiöser Fantasien oder als ein Bollwerk kirchlicher Autoritäten, das gestürmt werden muss. Doch immerhin – über das Buch, das Christen die Heilige Schrift nennen, wird in der Öffentlichkeit diskutiert. Die Frage, ob und warum man der Bibel vertrauen kann, ist aktuell.

Die Debatten um die Bibel sind innerhalb der Kirchen und Gemeindebewegungen manchmal noch schärfer im Ton als die erwähnten „Spiegel“-Artikel. Wer diese Auseinandersetzungen beobachtet, kann den Eindruck gewinnen, es stünden sich zwei entgegengesetzte Lager erbittert gegenüber, die Aufgeklärt-Liberalen und die streitbaren Konservativen. Auf der einen Seite scheinen diejenigen positioniert, die in der Bibel alles hinterfragen und jegliches Vertrauen in Gottes Wort preisgeben. Auf der anderen Seite treten die auf, die jede Aussage der Bibel bis in den Wortlaut hinein verteidigen und alle Widersprüche mit bemühter Logik ausgleichen wollen. Doch diese Sichtweise ergäbe kein zutreffendes Bild. Viele Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu, vielleicht sogar die Mehrheit von ihnen, haben ein großes Grundvertrauen in Gottes Wort und streben danach, ihr Verhalten an der Bibel auszurichten – und stellen zugleich ohne Denkverbote ihre ehrlichen Fragen an Gottes Wort. Auch in den Bereichen derjenigen Kirchen und Gemeinden, die sich als konservativ, pietistisch oder evangelikal bezeichnen würden, gibt es viele Glaubende mit einer solchen Haltung. Wer die Diskussion über die Bibel nur von Extrempositionen her wahrnimmt, der übersieht also die breit aufgestellte Mitte von Christen, die Gottes Wort für glaubwürdig halten und gute Gründe dafür anführen können.

Das vorliegende Buch lässt wichtige Positionen aus dieser „frommen Mitte“ zu Wort kommen. Die einzelnen Beiträge setzen dabei unterschiedliche Akzente: Manche argumentieren vorrangig auf der Sachebene, andere beziehen bewusst die persönlichen Erfahrungen und die Lebensgeschichte der Autoren ein. Einige begründen vorwiegend, warum man der Bibel vertrauen kann, andere fragen eher danach, wie die Bibel angemessen zu verstehen ist (und wie eher nicht).

Das Schriftverständnis der hier vertretenen Autoren ist durchaus nicht einheitlich, sondern lässt eine beträchtliche Bandbreite erkennen. Und doch hält jeder von ihnen die Bibel für maßgeblich und bekennt sich zu Gottes Wort. Neben manchen Überschneidungen wird man in diesem Buch zu etlichen Einzelfragen voneinander abweichende, zum Teil sogar gegensätzliche Positionen finden. Das ist ein guter Ausgangspunkt, sich eine eigene Meinung zu bilden. Bezeichnend ist, dass der letzte Beitrag mit der Feststellung schließt, für ein gemeinsames protestantisches Bekenntnis zur Bibel als Wort Gottes sei „noch einiges zu tun“. Es geht also darum, sich eine Meinung zu erarbeiten – oder seine Meinung, wenn nötig, neu zu begründen. Die Beiträge in diesem Buch sind eine Einladung zum Gespräch, keine abschließenden Bekenntnistexte – oder, wie es einer der Autoren zum Schluss seines Beitrag formuliert: „Es ist nun an der Zeit, dass wir über diese Themen offen reden.“

Warum ich glaube, dass die Bibel Gottes Wort ist

Christoph Schrodt

Immer wieder kommt es in der Welt der Kultur zu spektakulären Fälschungen. Im April 1983 wurden beispielsweise an den „Stern“ für knapp 10 Millionen D-Mark Hitlers angebliche Tagebücher verkauft. Wenige Wochen später hat das Bundeskriminalamt Konrad Kujau der Fälschung überführt. 2011 wurde Wolfgang Beltracchi zu sechs Jahren Haft verurteilt, weil er gekonnt Bilder bekannter Künstler nachgemalt und verkauft hatte. Wahrscheinlich ist die Dunkelziffer enorm hoch, und viele Liebhaber, die ein teures Original zu besitzen wähnen, haben in Wirklichkeit Fake an den Wänden hängen oder in ihren Tresoren liegen.

Wie aber kann eine Fälschung erkannt werden? In jedem Fall braucht es dazu Vergleichswerte: Entweder man kennt bereits sicher identifizierte Kunstwerke des Künstlers und kann deshalb seinen Stil mit dem fraglichen Kunstwerk vergleichen. Oder man kann die Merkmale einer Epoche, einer Kunstschule, einer Stilrichtung usw. heranziehen, um die Echtheit eines Werkes zu diskutieren.

BÜV – oder: Von Experten geprüft?

Damit ist auch schon die Schwierigkeit auf dem Tisch, die mit dem Titel dieses Beitrags verbunden ist: „Ist die Bibel Gottes Wort?“ Wie um alles in der Welt sollen wir diese Frage denn beantworten können? Wie viele Bücher von Gott haben wir denn schon gelesen, um die Bibel daran messen zu können? Ein einziges Buch ist ein bisschen wenig zum Vergleichen … Und wer wären denn die Experten in Sachen Gott, um seinen „Stil“ zu beurteilen? Wer sich selbst in dieser Rolle sehen wollte, müsste sozusagen als neutraler Schiedsrichter auftreten können: Auf der einen Seite Gott, auf der anderen die Bibel – und dazwischen wir als vermeintliche „Fachleute“ … So funktioniert das natürlich nicht! Einen biblischen TÜV, sozusagen einen BÜV („Biblischen Überwachungsverein“) gibt es nicht.

Eine subtilere Form desselben Denkmusters liegt vor, wenn wir anfangen, darüber zu spekulieren, wie ein Buch denn sein müsste, das Gott schreiben würde, wenn er sich entschlösse, Schriftsteller zu werden. Dabei versuchen wir, vom Wesen Gottes und von seinen Eigenschaften auf sein Produkt zu schließen. Gott ist allmächtig, allwissend, fehlerlos … Also muss sein Buch auch perfekt und fehlerlos sein. Man leitet die Qualitäten eines hypothetischen Gottesbuches aus dem Wesen Gottes ab und konstruiert damit ein Ideal. Anschließend vergleicht man dieses Ideal mit der Bibel. Zielgedanke dabei ist natürlich zu zeigen: Da die Bibel den idealen Qualitätsmerkmalen entspricht, ist sie Gottes Wort. Es soll also sichtbar werden: Aufgrund dieser oder jener Qualitätsmerkmale ist die Bibel kein Buch wie jedes andere, sondern ein einmaliges, herausragendes, unvergleichbares Buch, eben das Buch Gottes, ein göttliches Werk.

Dieses Vorhaben löst aber gewaltigen Stress aus. Denn dabei kommt man in einen quälenden und nie endenden Begründungszwang: Man muss ja beweisen, dass die Bibel in jeder Hinsicht dem konstruierten Ideal entspricht. Die Beweislast liegt auf der Seite derjenigen, die von diesem Modell ausgehen. Im Klartext bedeutet das, dass bei jedem auftretenden Problem in bzw. mit der Bibel eine Lösung gefunden werden muss. Man muss schlüssig zeigen, dass die Bibel keine Widersprüche hat, keine Fehler enthält, dass alle Aussagen auch hinsichtlich naturwissenschaftlicher Bereiche, alle erwähnten Zahlen usw. „wahr“ sind. Man ist ständig in der Bringschuld, die Bibel im BÜV der selbst definierten rationalistischen Standards als „geprüft“ und für „göttlich“ befunden deklarieren zu können.

Es gibt auch noch andere Wege, die außerordentliche, göttliche Qualität des Bibelbuches beweisen zu wollen: Manchmal versucht man, anhand des Arguments der erfüllten Prophetien zu demonstrieren, dass die Bibel einen göttlichen Autor hat: Wenn es soundso viele hundert erfüllte Prophetien gibt, dann ist die Wahrscheinlichkeit gleich eins zu X Billionen, dass jemand sich das hätte ausdenken können. Klingt zunächst einmal schlüssig. Aber bei diesem „Beweis“ wird unbewusst ein schwerer methodischer Fehler begangen: Den biblischen Berichten wird nämlich, damit das Argument überhaupt ziehen kann, von vornherein Glaubwürdigkeit zugestanden. Man geht davon aus, dass die Prophetien „echt“ sind, und ebenso davon, dass die Erfüllungsberichte „Tatsachen“ darstellen. Der Gedanke, dass jemand die Berichte nachträglich bewusst fiktiv so gestaltet haben könnte, dass das das Erzählte zu den „Prophetien“ passt, wird ganz bewusst nicht zugelassen. Damit wird aber vorausgesetzt, was eigentlich bewiesen werden sollte (die zuverlässige Bibel wird als zuverlässig und damit göttlich „bewiesen“). Wir sehen also, dass es kaum möglich sein wird, in einer Art Beweisführung die Argumente wie Steine aufeinanderzusetzen, um schließlich bei Gott als Autor herauszukommen. Wer „göttliche“ Qualitätsmerkmale der Bibel objektiv, also messbar oder für alle überprüfbar beweisen will, hat es sehr schwer. Denn das ist unmöglich.

Kreisverkehr der Argumente

Um diesen Schwierigkeiten zu entgehen, kann man gewissermaßen von der entgegengesetzten Richtung auf die Frage zugehen: Man versucht, gar nichts zu beweisen, sondern behauptet einfach vermeintliche Tatsachen. Die Bibel ist Gottes Wort. Basta. Dies wird dann mit dem Stichwort „Autorität“ versehen. Eine Autorität muss sich ja auch nicht beweisen, sie ist es einfach. Gott und sein Wort sind der Maßstab – nicht der Mensch und seine Argumente. Die Bibel ist also per Setzung Gottes Wort. Wer etwa das Gegenteil behauptet, muss dies beweisen (was natürlich wiederum die Frage nach dem Maßstab aufwerfen würde, siehe oben). Dass man dabei im Kreisverkehr unterwegs ist, im Zirkel denkt, merkt man oft nicht. Ich selbst bin einmal als Schüler ziemlich selbstbewusst in eine Diskussion mit einem Lehrer getreten: „Die Bibel ist Gottes Wort!“ – „Woher weißt du das denn?“ – „Das sagt uns doch … die Bibel!“ Und erst, als ich diesen Satz ausgesprochen hatte, wurde mir klar, wie lächerlich ich mich gerade gemacht hatte. Bis dahin war mir das nicht aufgefallen. Denn in der christlichen Binnenkultur, in der ich verkehrte, hatte dieser Satz fraglos Gültigkeit. Aber sobald ich diese Kreise verließ, wurde der Satz ganz schnell brüchig.

Aber selbst wenn wir uns einmal versuchsweise auf diesen Denkweg einlassen: Sagt „die Bibel“ eigentlich, dass „die Bibel“ Gottes Wort ist? Das kann so nicht behauptet werden! Natürlich, in gewisser Weise spricht die Bibel über sich selbst, z.B. in 2. Timotheus 3,16: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben ...“ Doch was meint der Autor hier mit „alle Schrift“? Viele Ausleger gehen davon aus, dass damit nicht „die Bibel“ gemeint ist, wie wir sie heute haben (die Sammlung der biblischen Schriften wurde erst 367 n.Chr. endgültig kanonisiert), sondern vermutlich eher das Alte Testament. Und selbst wenn bei dieser Aussage sogar verschiedene neutestamentliche Schriften mit eingeschlossen sein sollten – seinen eigenen Brief wird der Autor wohl kaum in diese Aussage mit einbezogen haben. Und selbst wenn: Was ist mit den Schriften, die erst nach dem 2. Timotheusbrief geschrieben wurden? Die der Schreiber des Briefes also noch gar nicht kennen konnte?

Wir sehen: „Die Bibel“ als Ganzes, die Bibel als verbindliches Buch der christlichen Kirche bekommen wir in der Bibel selbst nicht definiert. Und klar ist auch, dass wir mit einer quasi wasserdichten, autoritativen, offenbarungstheologischen Ableitung aus biblischen Sätzen ebenfalls keinen Beweis führen können, dass die Bibel Gottes Wort ist.

Vom Donner gerührt

Der Denkweg kann also nicht durch einen logischen Aufbau von Beweisen, aber auch nicht durch bloße Behauptung der Autorität der Heiligen Schrift gelingen. Wie aber dann? Wieso glaube ich trotzdem, dass die Bibel Gottes Wort ist?

Als ich ungefähr acht Jahre alt war, lud unser Vater uns drei Jungs zum Weihnachtsoratorium von J.S. Bach ein; unsere Schwester war noch zu klein dafür. Ich war sehr skeptisch. Der Operngesang, den ich bis dahin aus unserem alten Mono-Radio gehört hatte, kam mir unnatürlich vor. Ich konnte mir nicht vorstellen, dreieinhalb Stunden altmodischen „Singsang“ zu überleben. Meinem Vater zuliebe ging ich mit – und erlebte eine der größten und prägendsten Überraschungen meines Lebens: Mit dem ersten Paukenschlag war ich wie elektrisiert. Beim Einsatz des Chores ergriffen mich eine unvorstellbare Ehrfurcht und das Gefühl, so etwas Schönes weder verdient zu haben noch begreifen zu können!

Argumente geben nicht den Ausschlag

Musikwissenschaftliche Argumente im Voraus hätten mich nicht überzeugt. Aber auch wenn mein Vater versucht hätte, mir den Besuch zu befehlen, hätte ich mich kaum gewinnen lassen. Mich überzeugte, dass mein Vater überzeugt war. Ich ließ mich gewinnen. Ich spürte, dass in dieser Einladung ein Privileg und auch ganz viel Liebe zu sehen war: weil mein Vater mein Vertrauen hatte und ich mich der von ihm geliebten Musik wenigstens einmal probeweise aussetzen wollte.

Ich glaube, bei der Bibel ist es nicht anders: Man muss sich ihr aussetzen, das Wagnis eingehen, auf sie zu hören und sie ernst zu nehmen. Wer die Bibel als Gottes Wort bekennt, ist von ihr getroffen, begeistert, überzeugt, überwältigt und überführt. Er oder sie hat bereits erfahren, dass Gott gesprochen hat und immer wieder neu redet. Er kann das nur als Wunder beschreiben. Er kann es nicht begründen oder herleiten, sondern dankbar und verwundert bestaunen. Die Bibel wird als Medium des Redens Gottes erfahren, ohne dass dieser Vorgang im Letzten einsichtig gemacht werden kann. Eine Sammlung von antiken Schriften wird auf überraschende und nicht letztlich erklärbare Weise zum Resonanzboden der Stimme Gottes.

Das bedeutet nun aber: Wie Gott spricht, wie seine „Stimme“ klingt, weiß ich erst, wenn er spricht. Ich weiß es nicht vorher (durch meine Einsicht in Gottes Wesen), um es dann zweifelsfrei identifizieren zu können. Und ich beweise es mir auch nicht dadurch, dass ich sein Reden als Experte mit vermeintlich objektiven Kriterien verglichen und für göttlich befunden habe. Sondern erst in der Erfahrung des Redens Gottes erkenne ich das Reden Gottes. Wie Gott redet, erkenne ich erst, wenn er redet.

Die Bibel spricht für sich selbst

Wenn wir also danach fragen, ob die Bibel Gottes Wort ist, dann beginnt alles nicht mit einem Beweis, auch nicht mit einer Behauptung, sondern mit einer – Erfahrung! Meistens lasse ich mich für die Bibel gewinnen von anderen Menschen, die von ihr überzeugt sind und denen ich wenigstens ein Mindestmaß an Vertrauen entgegenbringe.

Das bedeutet: Die Bibel packt, überzeugt und überführt zunächst einmal durch ihre Wirkung und dadurch, dass ihre Botschaft bei mir ankommt. Anders ausgedrückt: Die Eigenschaft der Bibel, Gottes Wort zu sein, besteht nicht in irgendwelchen besonderen, messbaren oder demonstrierbaren „Qualitätsmerkmalen“, sondern in ihrem Inhalt. Das, was da steht, redet plötzlich zu mir – oder vielmehr: Gott redet dadurch zu mir. Die Autorität der Bibel liegt eben darin, dass Gott dadurch spricht. Die Bibel überzeugt durch sich selbst. Die Bibel spricht für sich selbst! Sie braucht weder einen von Experten verliehenen Qualitätsstatus noch ein ihr von außen aufgedrücktes Autoritätssiegel. Die Bibel überzeugt – indem sie redet!

Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich das schon so erlebt habe. Manche Momente und Erfahrungen waren mindestens so intensiv wie mein musikalisches „Urerlebnis“. Andere waren eher leise, unaufgeregt, aber dennoch prägend. Eine Zeit lang gehörte es unabdingbar zu meiner Theologie, der Bibel Eigenschaften wie „widerspruchsfrei“ oder „irrtumslos“ beizulegen und das möglichst irgendwie beweisen zu können. Mittlerweile glaube ich nicht mehr, dass das gelingen kann oder dass wir dadurch der Bibel einen Gefallen tun. Das Seltsame war jedoch, dass mich die Botschaft der Bibel deshalb nicht weniger überzeugte. Ihre inhaltliche Überzeugungskraft war davon nicht abhängig. Meine tadellosen theologischen Standards konnten damals nicht bewirken, dass die Bibel tatsächlich für mich als Gottes Wort erfahrbar wurde. Und umgekehrt: Mein Verzicht heute auf eine vermeintlich objektive Qualitätssicherung der Bibel hat nicht dazu geführt, dass Gott aufgehört hätte, zu mir durch die Bibel zu sprechen.

Kommunikative Autorität

Sind es also einzelne, emotional aufgeladene, „mystische“ Erfahrungen, die mich glauben lassen, dass die Bibel Gottes Wort ist? Sind wir davon abhängig, solche einschneidenden Erlebnisse zu haben, wie es meine musikalische Urerfahrung für mich war? Ist der Glaube, dass die Bibel Gottes Wort ist, also eine Gefühlssache oder ausschließlich eine Angelegenheit des Herzens?

Vielleicht muss ich erzählen, wie es nach der ersten Begegnung mit dem Weihnachtsoratorium für mich weiterging: Ich beschäftigte mich danach intensiv mit klassischer Musik, allen voran mit der Musik Bachs. Ich verschlang Biografien, studierte etwas Musiktheorie und lernte zwei Instrumente. Mit der Zeit konnte ich Epochen, Stile und Gattungen einordnen, Musik erkennen und auf ihre Qualität hin beurteilen. Bach wurde für mich eine Art „Autorität“ in Sachen Musik. Ich finde nicht alles von ihm gleichermaßen gelungen. Manche Musik von ihm spricht mich nicht an. Aber vieles! Und wenn ich in ein Konzert gehe, wo ein mir bis dahin unbekanntes Stück von Bach aufgeführt wird, gehe ich mit einer guten Erwartung in dieses Konzert: Ich „kenne“ Bach, auch wenn ich dieses Stück nicht kenne. Ich lasse mich darauf ein, höre zu …

Die Bibel hat für mich Autorität. Sie ist „Gottes Wort“ für mich – nicht einfach das Produkt antiker religiöser Schriftstellerei. Doch die „Autorität“, von der ich hier spreche, fällt nicht vom Himmel, sie kommt nicht aus dem Nichts, und sie wird auch nicht einfach eingefordert. Sondern in der Regel wird sie erworben und zugestanden. Sie verdankt sich einem gelingenden Kommunikationsprozess. Natürlich können Menschen sich anderen gegenüber brutal durchsetzen oder sich mit Gewaltandrohung „Autorität“ verschaffen. Doch das ist eben Gewalt – aber nicht Autorität. Denn das Opfer beugt sich nur widerwillig, der Gehorsam ist erzwungen, selbst wenn er fadenscheinig unter dem Deckmantel der „Freiwilligkeit“ daherkommt.

Wahre Autorität zwingt nicht, sondern überzeugt. Aber sie verdankt sich weder der Willkür noch dem Zufall, sondern ist das Ergebnis einer erworbenen Anerkennung. Dies geschieht z.B. durch Kompetenz, Fürsorge, Vertrauen oder im Rahmen einer institutionalisierten Absprache. So kommt die Autorität von Eltern ihren Kindern gegenüber natürlich zunächst aus der rein physischen Überlegenheit; aber dies allein wäre elterlicher Machtmissbrauch. Es würde nicht lange dauern, bis Kinder gegen solchen massiven Missbrauch rebellieren. Erzwungener Gehorsam geht nicht auf Autorität zurück, sondern auf Angst vor Strafe oder Schmerz. Kinder, deren Eltern für sie Autorität haben, haben gelernt, dass die Eltern es gut meinen. Sie haben erfahren, dass die Eltern für sie sorgen, sich kümmern, sich sogar aufopfern für sie. Auch dort, wo sie die Entscheidungen der Eltern nicht immer nachvollziehen können, wissen sie, dass Eltern bemüht sind, ihre Entscheidungen zum Wohl der Kinder zu treffen. Elterliche Autorität ist also das Ergebnis einer jahrelangen gelungenen Kommunikation. So erlebe ich es auch mit der Bibel.

Wahrnehmen, verstehen, sich bewähren

Es stimmt: Ohne dass die Bibel wie durch ein Wunder im Herzen eines Menschen ankommt; ohne dass die Bibel überraschenderweise als Gottes Wort erfahren wird – ohne einen solchen Anfang wird niemand der Bibel vertrauen oder sie als Gottes Wort achten können. Aber die Autorität der Bibel verdankt sich nicht allein einem solchen Urerlebnis. Danach entsteht eine Art „kommunikative Autorität“, die sich aus verschiedenen Dimensionen zusammensetzt. Zunächst einmal höre ich auf die Bibel. Ich will noch mehr lesen und erfahren. Ich will wahrnehmen, was da steht. Ich will die Zusammenhänge einordnen, den Überblick bekommen, die großen Linien erkennen. Auf diese Weise lerne ich die „Story“ der Bibel kennen, die große Geschichte Gottes mit den Menschen. Es geht nämlich nicht darum, durch einzelne Bibelworte emotionale High-Erlebnisse zu bekommen, sondern den kennenzulernen, der solch eine Macht über mein Leben gewonnen hat. Diesen Gott, der zu mir gesprochen hat, umfassender zu hören.

Damit gelange ich früher oder später auch zum Zentrum der „Story“ und zur inhaltlichen Mitte der Bibel: Jesus Christus. Paulus hat es präzise ausgedrückt: „Ich schäme mich nicht für das Evangelium von Jesus Christus, denn es ist die rettende Kraft Gottes für alle, die ihm vertrauen“ (Römer 1,16; eigene Übersetzung). In diesem Satz spiegelt sich die eigene religiöse Urerfahrung von Paulus – und zugleich wird sichtbar, wie tief Paulus die „ganze“ Botschaft mit ihrem Zentrum wahrgenommen hat. Und noch etwas kommt in dem Satz aus Römer 1,16 zum Tragen: die überraschende Tatsache, dass dieselbe Erfahrung viele Menschen beim Hören des Evangeliums gemacht haben und noch machen werden. Das Bekenntnis, dass die Bibel Gottes Wort ist, ist deshalb immer auch ein Bekenntnis zu Jesus Christus. Denn Jesus Christus „ist“ das mensch- und fleischgewordene Wort Gottes, die personifizierte Anrede Gottes an uns (vgl. Johannes 1,1-18; Hebräer 1,1). Das Bibelbekenntnis ist nicht in erster Linie das Bekenntnis zu einem Buch, sondern zur Person Jesus Christus. Wer die Bibel als Gottes Wort bekennt, hat in ihr das Evangelium von Jesus Christus gehört und wurde von der Person und Botschaft, von der Autorität des Sohnes Gottes ergriffen und überzeugt.

Ohne Verständnis kein Gehorsam

Zu diesem Prozess gehört auch das Verstehen. Etwas, das nicht verstanden wird, hat keine Autorität. Ich kann ihm nicht folgen, es nicht anwenden. Ein Verbotsschild auf Chinesisch – und wenn es die Todesstrafe androht – wird keinerlei Reaktion bei mir auslösen, weil ich es nicht verstehe. Wenn ich meinen Kindern eine unverständliche Ansage mache, wissen sie nicht, was sie zu tun haben, selbst wenn sie mich als Person achten. „Wenn dich dein rechtes Auge ärgert, dann reiße es aus!“ (Matthäus 5,29) – wenn ich dieses Wort von Jesus nicht verstehe, dann verunsichert es mich vielleicht, aber es wird keine Auswirkungen auf mich haben.

Die Autorität der Bibel hat also auch etwas mit dem rechten Verstehen der Bibel zu tun. Das bedeutet nicht, dass ich meinen Verstand über die Bibel stelle. Aber ich vertraue darauf, dass mein Verstand durch die Bibel immer wieder angesprochen, überzeugt und gewonnen wird.

Um es theologisch auszudrücken: Die Autorität der Bibel ist auch eine hermeneutische Kategorie. Dazu gehört, dass ich Fragen stellen darf und Antworten finden muss: Sind die Berichte der Evangelien historisch zuverlässig? Ist Jesus wirklich auferstanden? Gelten die Gesetze des Alten Testamentes noch für die Christen? Muss ich die Bibel „wörtlich“ nehmen? Wenn ich auf solche Fragen keine Antworten finde, die ich mit meinem Intellekt nachvollziehen kann, wird die Bibel keine Autorität (mehr) für mich haben. Da nützt es nichts, wenn der Glaube „befohlen“ oder die „Autorität“ des Wortes Gottes beschworen wird! Wenn ich weder mir noch anderen Rechenschaft darüber geben kann, was ein Bibelwort bedeutet oder wie bestimmte Aussagen zu verstehen sind, dann ist das nur eine leere Hülse ohne Inhalt.

Gottes Wort umfasst meine ganze Wirklichkeit

Schließlich bekenne ich die Bibel als „Gottes Wort“, weil es sich in meinem Leben bewährt hat und immer wieder bewährt. Ich habe erlebt, dass ich ihm vertrauen kann, dass es mein Leben trägt. Ich gründe mein Leben nicht auf ein emotionales Geschehen, auf einzelne mystische Erfahrungen, sondern darauf, dass Gott, wie er sich in der Bibel offenbart, sich in meiner kompletten Wirklichkeitserfahrung bewährt hat und bewähren wird. Dazu gehört der Dialog mit anderen Menschen, Weltanschauungen und Religionen genauso wie der mit den verschiedenen Wissenschaften. Wenn die Bibel wirklich Gottes Wort ist, dann sollte dies auch im gesamten Bereich der Wirklichkeitsdeutung erfahrbar werden können. Das bedeutet nicht, dass ich alle Antworten auf alle Fragen habe. Es bedeutet auch nicht, dass die Bibel als wissenschaftliches Buch gelesen werden muss. Es geht darum, dass das, was sich mir im Hören auf die Bibel und im Verstehen des Evangeliums als „wahr“ erschließt, sich in meinem Leben, meinem Umgang und meiner Deutung der Wirklichkeit bewährt.

Ergreifen, weil ich ergriffen bin

Wenn die Autorität der Bibel als Gottes Wort zusammenhängt mit Wahrnehmen, Verstehen und Sich-Bewähren – dann ist das eine dynamische Angelegenheit. Und oft auch eine angefochtene! Denn es wird Zeiten geben, in denen ich wenig verstehe und an der „Bewährung“ der Bibel in meiner komplexen, verworrenen und mitunter schmerzhaften Wirklichkeitserfahrung beinahe verzweifle! Es wird Phasen geben, in denen manches wegbricht und ein alternatives Verstehen noch nicht da ist. Wegstrecken werden kommen, wo andere Stimmen lauter und überzeugender klingen und wo das Hören auf die Bibel schwierig ist. Wie könnte es anders sein! Ich lebe doch „von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes kommt“ (Matthäus 4,4). Ich bin doch darauf angewiesen, dass Gott uns dieses „tägliche Brot“ gibt (vgl. Matthäus 6,11). Mein Bekenntnis zur Bibel und auch alle bisherigen positiven Erfahrungen mit ihr können doch nicht garantieren, dass Gottes lebensrettendes Wort mich heute erreicht. Da bleibe ich abhängig von der Treue Gottes. Da gehe ich das Wagnis ein, in der Wüste meines Lebens „Hunger“ zu leiden.

Ich lebe nicht vom Glauben an die Bibel, sondern davon, dass Gott immer wieder neu durch die Bibel zu mir spricht. Wenn er es tut: hohes Glück! Wenn es nicht geschieht – nicht so, wie ich es mir erhoffe –: sehnliches Erwarten! Selbst das, was ich schon verstanden habe, muss immer wieder neu lebendig in mir werden (vgl. das Gebet des Paulus in Epheser 1,15-20). Ich vertraue darauf, dass Christus mich ergriffen hat und dass Gott mich trägt und hält. Und aus diesem Ergriffensein greife ich immer wieder zur Bibel und fange an zu begreifen, dass sie tatsächlich Gottes Wort ist.

Der Schatz in der Krippe

Von der bleibenden Geltung der Heiligen Schrift

Roland Werner

„Darum lass deinen Dünkel und Fühlen fahren, und halte von dieser Schrift als von dem allerhöchsten, edelsten Heiligthum, als von der allerreichsten Fundgrube, die nimmer genug ausgegründet werden mag, auf dass du die göttliche Weisheit finden mögest, welche Gott hier so alber [= einfach] und schlicht vorlegt, dass er allen Hochmuth dämpfe. Hier wirst du die Windeln und die Krippe finden, da Christus inne liegt, dahin auch der Engel die Hirten weist, Luc. 2,12. Schlichte und geringe Windeln sind es, aber theuer ist der Schatz, Christus, der drinnen liegt.“ (Martin Luther: Vorrede auf das Alte Testament)

„Der Herrn und Fürsten Briefe, sagt man, soll man dreimal lesen; aber wahrlich, unsers Herrn Gottes Briefe (denn so nennt St. Gregorius die Heilige Schrift) soll man dreimal, siebenmal, ja siebenzigmal siebenmal, oder, dass ich noch mehr sage, unendlichemal lesen.“ (Martin Luther zu 1. Mose 17,7)

Was auf dem Spiel steht

Kann man der Bibel vertrauen? Kann ich, will ich der Bibel vertrauen? Und wenn ja, warum und bei welchen Themenbereichen? Gibt es Teile der Bibel, die wichtiger sind als andere? Kann ich als Einzelner für mich entscheiden, welche Aussagen in der Bibel ich für verbindlich halte und annehme und welche nicht? Kann das eine einzelne Kirche oder Gemeinde für sich entscheiden? Oder ist die Gültigkeit der Bibel etwas, das nur die Gesamtchristenheit gemeinsam festlegen kann?

Fragen über Fragen. Fragen, die, wenn wir sie an uns heranlassen, richtig „aufregend“ im eigentlichen Wortsinn sind. Wir spüren, dass sich an der Frage unserer Stellung zur Bibel sehr viel entscheidet, ja alles: Wahrheit und Klarheit von Glaube und Lehre, Verbindlichkeit von Geboten und Werten, Kirchenordnung und persönlicher Glaube und vieles mehr. Unsere Dogmatik und unsere Ethik, unser Bild von Gott und vom Menschen, alles hängt von der Autorität ab, die wir der Bibel zubilligen – oder eben nicht.

Von der Autorität der Heiligen Schrift

Wer wie ich in der evangelisch-reformierten Tradition aufgewachsen ist, hat im Konfirmandenunterricht den christlichen Glauben aus dem Heidelberger Katechismus gelernt. Darin wird jede der 129 Fragen und Antworten ausführlich mit einer Reihe von Bibelstellen begründet. Insgesamt sind es über 700 einzelne Bibelzitate, davon etwa 25 Prozent aus dem Alten Testament, 75 Prozent aus dem Neuen Testament und sogar eine Schriftstelle aus den Apokryphen (Jesus Sirach 3,27).

Das heißt: Die Grundlage, auf der der Katechismus aufgebaut ist, und damit der Garant für die Wahrheit und Verlässlichkeit seiner Aussagen, findet sich vollständig und ausschließlich in der Heiligen Schrift, der Bibel. An ihrer Begründbarkeit durch die Bibel beweist sich jede Aussage.

Damit steht der Heidelberger Katechismus ganz und gar auf der Seite der Reformation, ja auf der Seite Martin Luthers, der das „Schriftprinzip“ als Grundlage aller kirchlichen Lehrentscheidungen einforderte, nämlich „dass allein die Schrift regiere“ (solam scripturam regnare). Ebenso ging er von ihrer „inneren und äußeren Klarheit“ (claritas interna et externa) aus sowie davon, dass „sie ganz sicher, ganz deutlich und ihr eigener Ausleger“ (certissima, apertissima, sui ipsius interpres) sei. Diese Gewissheit, dass die Bibel hinreichend sei, bildet seit der Reformation die Basis für alle „Proteste“ der Protestanten gegenüber den Versuchen von römisch-katholischer Seite, die Heilige Schrift als eben nur eine Quelle der Offenbarung zu sehen, die durch die Tradition der Kirche und das päpstliche Lehramt ergänzt und interpretiert werden müsse.

Der feste Grund

So zeigt auch sein Rekurs auf die Heilige Schrift, den Martin Luther 1521 – übrigens schon als Ketzer in den Kirchenbann getan – auf dem Reichstag in Worms vor dem Kaiser und den weltlichen und geistlichen Fürsten grundlegend und endgültig formulierte, die Bedeutung der Bibel für sein Verständnis des christlichen Glaubens: „Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, dass sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der Heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!“

So war für Martin Luther und die Reformatoren die Bibel als Wort Gottes gültige Grundlage und unverhandelbarer Maßstab für Glaube und Leben.

„Ob sie Christum treiben oder nicht“

Jedoch, und das wird häufig in der Diskussion um die Geltung der Bibel ins Feld geführt, fanden sich auch schon bei Luther Ansätze, eine gewisse Unterscheidung zwischen der Heiligen Schrift und dem Wort Gottes als solchem zu treffen. So schreibt er in seiner „Vorrede auf die Epistel S. Jacobi und Jude“ (Jakobus- und Judasbrief): „Darin stimmen alle rechtschaffenen Bücher überein, dass sie allesamt Christus predigen und treiben. Auch das ist der rechte Prüfstein, alle Bücher zu tadeln, wenn man sieht, ob sie Christum treiben oder nicht. Sintemal alle Schrift Christum zeiget und S. Paulus nichts denn Christum wissen will. Was Christum nicht lehrt, das ist nicht apostolisch, wenn es gleich S. Petrus oder Paulus lehrte. Wiederum, was Christum predigt, das wäre apostolisch, wenn’s gleich Judas, Hannas, Pilatus und Herodes tät.“ Diese und ähnliche Aussagen Luthers werden in Diskussionen über das angemessene Schriftverständnis immer wieder zitiert und als Beweis dafür bemüht, dass der Reformator es sich herausgenommen habe, von einem „christomonistischen“ Prinzip her frei und selbstständig über die Heilige Schrift zu urteilen („christomonistisch“ heißt: Es gibt keinen anderen Maßstab als ausschließlich Christus).

Doch wer genau hinschaut, entdeckt etwas anderes. Denn erstens erhebt Luther sein Prinzip „was Christum treibt und lehrt“ aus der Heiligen Schrift selbst und bestätigt damit ihre Autorität. Zweitens wagt er keine endgültige Festlegung, was in der Bibel bzw. welches Buch in der Schrift wirklich sein Kriterium erfüllt, sondern lässt es als offene Anfrage und nennt sogar Paulus (den er ja als Kronzeugen anführt) in der Aufzählung der biblischen Autoren, die danach zu lesen und zu beurteilen seien. Das bedeutet drittens, dass der Reformator sich eben nicht herausnimmt, aufgrund eines theoretischen (sei es formalen oder inhaltlichen) Prinzips „was Christum treibt und lehrt“ heraus endgültige Urteile zu fällen. Es zeigt sich, dass Luther keinesfalls selbstherrlich oder nach eigenem Gutdünken einen „Kanon im Kanon“ aufbauen wollte.

Auch hat er später seine früheren kritischen Urteile über biblische Bücher wie z.B. die Offenbarung zurückgenommen. Deshalb sind Luthers vielfältige Aussagen zur Inspiration der Heiligen Schrift durch den Geist Gottes mit in die Waagschale zu werfen. Sie zeigen, wie wichtig ihm die daraus folgende Verlässlichkeit und Geltung der Bibel war.

Verbum Dei manet in aeternum

So ist insgesamt festzuhalten, dass der Reformator eine sehr hohe Meinung von der Inspiration der Heiligen Schrift hatte und sie in allen seinen Reden und Schriften ohne Wenn und Aber als verbindliches Wort Gottes anführte, gerade in der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern. Nicht umsonst dichtete er frisch und frei: „Das Wort sie sollen lassen stahn und kein Dank dazu haben!“ Und nicht umsonst konnte er schreiben: „Wer nun diese Historien nicht vergeblich lesen will, der soll es gewiss dafür halten, dass die Heilige Schrift keine menschliche, sondern göttliche Weisheit ist: und alsdann wird er empfinden, dass sein Herz wunderbare große Liebe und Verlangen haben wird nach den Dingen, so in der heiligen Schrift sind“ (Martin Luther zu 1. Mose 25). Und als beim Reichstag zu Speyer die evangelischen Fürsten und ihr Gefolge mit dem Motto „Verbum Dei manet in aeternum“ („Das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit“) auf ihrer Kleidung erschienen, fassten sie mit diesem Zitat aus Jesaja 40 prägnant zusammen, was sie von Martin Luther und den anderen Reformatoren gelernt und als Begründung für ihren „Protest“ gegenüber der altgläubigen Partei unmissverständlich deutlich machen wollten. Für sie war unverkennbar die Bibel identisch mit diesem „Wort“, das „in Ewigkeit bleibt“.

Das Wort im Wort?

Eine Unterscheidung zwischen der Heiligen Schrift als Wort Gottes und dem „Wort Gottes“ wurde – nach einigen theologiegeschichtlichen Entwicklungen, die wir hier nicht im Einzelnen anschauen können – im 20. Jahrhundert in der ersten These der Barmer Theologischen Erklärung in klassischer Weise formuliert und damit weiten Kreisen bekannt gemacht:

„Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.

Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“ (These 1)

In dieser grundlegenden Standortbestimmung angesichts der theologischen und ideologischen Herausforderungen in der Zeit des sogenannten „Dritten Reichs“ wird also Jesus Christus als das eigentliche „Wort Gottes“ bezeichnet, das als „Gottes Offenbarung“ und „Quelle der Verkündigung“ zu gelten habe. Oberflächlich betrachtet hat es den Anschein, dass damit die Autorität und Verbindlichkeit der Bibel als „Wort Gottes“ ausgehebelt werden könne. So geschieht es zuweilen in gegenwärtigen theologischen Diskursen, die von „Barmen“ ausgehend eine Trennung zwischen Jesus Christus als dem eigentlichen Wort Gottes und der Bibel als nachgeordnetem Wort Gottes feststellen will.

Jesus Christus und die Heilige Schrift

Dazu ist zu sagen: Ja, „Barmen“ nennt Jesus Christus „das eine Wort Gottes“, aber hat damit in keiner Weise die Absicht, die Bibel als „Wort Gottes“ abzuwerten. Wer das in die Barmer Theologische Erklärung hineinzulesen versucht, widerspricht ihrer inneren Sinnhaftigkeit.

Um dieses mögliche Missverständnis von vornherein auszuschließen, schiebt die Barmer Theologische Erklärung selbst solch einer Abspaltung und Loslösung von Jesus Christus als dem „einen“ Wort Gottes von der Bibel – die ja ebenfalls „Wort Gottes“ ist – gleich einen doppelten Riegel vor. Zunächst einmal wird jede ihrer sechs Thesen mit jeweils zwei programmatischen Bibelzitaten eingeleitet, die damit offensichtlich den Status von verbindlichen, autoritativen Aussagen und Beweisen für die Wahrheit der jeweils folgenden These erhalten. In dieser Praxis folgt „Barmen“ deutlich dem Heidelberger Katechismus und den Reformatoren insgesamt, indem auf diese Weise jeweils – als eindeutig und zwingend verstandene – Schriftbeweise geführt werden.

Und zweitens wird unmittelbar und unverzüglich in These 1 ausgesagt, dass eben „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird …“, dieses „eine Wort Gottes“ ist. So werden hier Jesus Christus und die Heilige Schrift unmittelbar und untrennbar aufeinander bezogen und miteinander verknüpft.

Keine theologische Leerstelle

Mit anderen Worten: „Jesus Christus“ als „Wort Gottes“ ist kein „Theologoumenon“, keine theologische, geschweige denn philosophische Leerstelle, die beliebig gefüllt oder von der Heiligen Schrift abgelöst werden kann. Genau das war ja der Punkt, den die Thesen der Barmer Theologischen Erklärung in der Auseinandersetzung mit den sogenannten „Deutschen Christen“ machten. Die Erklärung führte „Jesus Christus nach der Heiligen Schrift“ als Gegenargument, als Korrektur gegen die Umdeutungsversuche an, die damals Jesus völlig losgelöst von der Geschichte und der Bibel als „Arier“ verstehen und darstellen wollten.

So hält „Barmen“ fest: Jesus Christus ist hier und nur hier, nämlich in der „Heiligen Schrift“, verbindlich bezeugt. Nur durch diese Heilige Schrift kommen wir überhaupt an Jesus Christus heran. Ohne sie wüssten wir nichts von ihm, wenn man von den mageren Notizen über ihn bei Josephus Flavius, im Babylonischen Talmud oder bei einigen antiken und frühchristlichen Autoren einmal absieht.

Jesus Christus ist nicht ohne die Bibel zu haben. Und deshalb ist er auch nicht als eigenes Kriterium „gegen die Bibel“ zu verwenden! Es geht nicht an, „solus Christus“ gegen „sola scriptura“