Predigtstudien

Herausgegeben

von Wilhelm Gräb (Geschäftsführung),

Johann Hinrich Claussen, Wilfried Engemann,
Klaus Eulenberger, Doris Hiller, Kathrin Oxen,
Christopher Spehr und Birgit Weyel

Im Jahr erscheinen zwei Halbbände.

Predigtstudien

für das Kirchenjahr 2017/2018

Perikopenreihe IV – Erster Halbband

Herausgegeben

von Wilhelm Gräb (Geschäftsführung),

Johann Hinrich Claussen, Wilfried Engemann,
Klaus Eulenberger, Doris Hiller, Kathrin Oxen,

Christopher Spehr und Birgit Weyel

Redaktion: Martin Kumlehn

Logo

S004

Kreuz Verlag, Hamburg 2017

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Wunderlich&Weigand

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-946905-21-9

ISBN (Buch) 978-3-946905-14-1

Inhalt

Homiletischer Essay


Doris Hiller

Aussichtsreich predigen – Wider das Kleinreden der Gottesgeschichte

03.12.17 1. Advent


Offenbarung 5,1–5(5–14):

Böcklein & Büchlein

Ursula Roth/Martin Vorländer

10.12.17 2. Advent


Jesaja 63,15–16(17–19a)19b; 64,1–3:

Ein Klagepsalm im Sehnsuchtsland

Angelika Behnke/Kathrin Oxen

17.12.17 3. Advent


Römer 15,4–13:

Das Land, nach dem ich mich so sehne

Ralf Stroh/Wiebke Bähnk

24.12.17 4. Advent


2 Korinther 1,18–22:

Ja, aber … und Amen

Matthias Liberman/Lars Heinemann

24.12.17 Heiligabend (Christvesper)


Jesaja 9,1–6:

Immer wieder zum hellen Licht

Gerald Kretzschmar/Birgit Weyel

24.12.17 Heiligabend (Christmette)


Jesaja 7,10–14:

Immanuel, o süßes Wort

Christof Jaeger/Margrit Wegner

25.12.17 1. Weihnachtstag


1 Johannes 3,1–6:

Kinder Gottes sein

Tilman Fuß/Jeanette Kantuser

26.12.17 2. Weihnachtstag


Offenbarung 7,9–12(13–17):

Weihnachtliche Traumbilder

Holger Treutmann/Antje Eddelbüttel

31.12.17 1. Sonntag nach Weihnachten


1 Johannes 2,21–25:

Weihnachten über die Schwelle tragen

Ute Niethammer/Peter Riede

31.12.17 Silvester


2 Mose 13,20–22:

Schwellenzeit

Wilhelm Gräb/Martin Kumlehn

01.01.18 Neujahr


Josua 1,1–9:

Mutig und stark

Christian Stäblein/Ralf Meister

06.01.18 Epiphanias


Kolosser 1,24–27:

Es bleibt ein Geheimnis

Peter Martins/Peter Schaal-Ahlers

07.01.18 1. Sonntag nach Epiphanias


1 Korinther 1,26–31:

Leistungsfähigkeit und Liebenswürdigkeit

Albrecht Grözinger/Elisabeth Grözinger

14.01.18 2. Sonntag nach Epiphanias


1 Korinther 2,1–10:

Stille Wasser sind tief

Jennifer Marcen/Michael Böhme

21.01.18 Letzter Sonntag nach Epiphanias


Offenbarung 1,9–18:

Und ich sah …

Christine Schlund/Carolyn Decke

28.01.18 Septuagesimae (3. Sonntag vor der Passionszeit)


Jeremia 9,22–23:

Ruhm, Preis und Ehre

Christian Butt/Christian Braune

04.02.18 Sexagesimae (2. Sonntag vor der Passionszeit)


2 Korinther (11,18.23b–30)12,1–10:

Höhenflug und Gnadenlandung

Carsten Claußen/Traugott Roser

11.02.18 Estomihi (Sonntag vor der Passionszeit)


Amos 5,21–14:

»Wasser vom Himmel, fließe zur Erde«

Helge Martens/Martin Rößler

18.02.18 Invokavit (1. Sonntag der Passionszeit)


2 Korinther 6,1–10:

Willkommene Zeit

Christof Messerschmidt/Klaus Eulenberger

25.02.18 Reminiszere (2. Sonntag der Passionszeit)


Jesaja 5,1–7:

Im Weinberg des Lebens

Frank M. Lütze/Wilfried Engemann

04.03.18 Okuli (3. Sonntag der Passionszeit)


1 Petrus 1,(13–17)18–21:

Vom nichtigen und vom heiligen Wandel

Thomas Stahlberg/Adelheid Ruck-Schröder

11.03.18 Laetare (4. Sonntag der Passionszeit)


Philipper 1,15–21:

Mauern durchleuchten

Torsten W. Wiegmann/Barbara Hanusa

18.03.18 Judika (5. Sonntag der Passionszeit)


4 Mose 21,4–9:

Auf der Wanderung durch die Gefährdungen des Lebens

Friedhelm Hartenstein/Horst Gorski

25.03.18 Palmarum (6. Sonntag der Passionszeit)


Jesaja 50,4–9:

Das Lied eines Namenlosen geht um die Welt

Christina-Maria Bammel/Rajah Scheepers

29.03.18 Gründonnerstag


1 Korinther 10,16–17:

Was nicht ist, kann werden

Friedrich Brandi/Gabriele Hartlieb

30.03.18 Karfreitag


Hebräer 9,15.26b–28:

Eine Tür ins Licht öffnen

Ulrike Wagner-Rau/Klaus Eulenberger

31.03.18 Osternacht


1 Thessalonicher 4,13–14:

Wir werden uns wiedersehen!

Martin Zerrath/Andreas Kubik

01.04.18 Ostersonntag


1 Samuel 2,1–2.6–8a:

Du gibst meinen Schritten weiten Raum

Henning Theurich/Wibke Janssen

02.04.18 Ostermontag


1 Korinther 15,50–58:

Spiel mir das Lied vom Leben

Matthias Lemme/Christian Nottmeier

08.04.18 Quasimodogeniti (1. Sonntag nach Ostern)


Kolosser 2,12–15:

Kinderleicht überwinden

Frank Peters/Kord Schoeler

15.04.18 Miserikordias Domini (2. Sonntag nach Ostern)


1 Petrus 5,1–4:

Führen und führen lassen

Thomas Schlag/Ralph Kunz

22.04.18 Jubilate (3. Sonntag nach Ostern)


2 Korinther 4,16–18:

Innenansichten

Jörg Schneider/Andrea Morgenstern

29.04.18 Kantate (4. Sonntag nach Ostern)


Apostelgeschichte 16,23–34:

In die Freiheit

Friedrich W. Horn/Sebastian Feydt

06.05.18 Rogate (5. Sonntag nach Ostern)


Kolosser 4,2–4(5–6):

Beharrlich im Gebet

Bernhard Dressler/Stephan Schaede

10.05.18 Christi Himmelfahrt


Offenbarung 1,4–8:

Zeit-Weise offen

Wiebke Köhler/Cornelia Coenen-Marx

13.05.18 Exaudi (6. Sonntag nach Ostern)


Jeremia 31,31–34:

Der Sehnsucht Gottes verbunden

Ruth Poser/Kristin Merle

Perikopenverzeichnis

Anschriften

Homiletischer Essay

Doris Hiller

Aussichtsreich predigen – Wider das Kleinreden der Gottesgeschichte

I Homiletischer Kleinglaube

Sie finden sich vor allem in den Schlusssätzen einer Predigt. Die Rede ist von den vielen Kleinigkeiten und dem Etwas, das doch wenigstens ein Bisschen des Göttlichen im Weltlichen erkennbar machen möge. Es handelt sich, wie im Folgenden auf der Spur biblisch-theologischer Hermeneutik entdeckt werden soll, keineswegs um ein homiletisches Problem, das nur einfach rhetorisch zu lösen wäre. Wer klein redet, glaubt klein – so die hier provokant vorangestellte Behauptung.

Zunächst einige Beispiele, die den homiletischen Kleinglauben noch einmal anschaulich machen: Gottes Gnade – ein klein wenig wird davon sichtbar, wenn wir einander freundlich begegnen. Gottes Reich – in kleinen Dingen, wie dem liebevollen Blick einer Nachbarin, können wir es erahnen. Gottes Friede – öffnen wir unsere Arme wenigstens ein bisschen und wir spüren vielleicht, wie er sein kann. Für sich gelesen, klingen diese Sätze leicht karikierend. Wer ehrlich ist – und die Verfasserin dieser Zeilen weiß sich selbst gemeint – muss zugeben: So fern der Predigtrealität ist das homiletische Diminutiv nicht.

Es mag sein, dass die rhetorische Verkleinerungsform eine unbeholfene Reaktion auf die Kritik an den großen theologischen Richtigkeiten ist, die oft und ebenfalls eher am Ende einer Predigt zu Gehör gebracht werden. Die Großbegriffe Gnade, Liebe, Rechtfertigung u.a. werden aufgerufen, »formuliert in Sätzen von überzeugender theologischer Korrektheit« (Lütze, 21), fernab jeglicher Konkretion im Erfahrbarmachen des Evangeliums. Die verkleinernde Verkleidung des Großen macht dieses nun aber auch nur scheinbar konkret. Es handelt sich lediglich um eine Phrasierung des Abstrakten, die wiederum Anlass zu homiletischer Kritik an einer »Minimierung der Botschaft« (Engemann, 93f.) gibt. Das alte Dictum Karl Barths zu bemühen, dass wir Menschen sind und als solche nicht von Gott reden können, kann auch nicht als Argument zur Rettung des Kleingeredeten herhalten (vgl. Barth). Ihm folgt nämlich bekanntermaßen als Lösung des Problems das Wissen um das menschliche Unvermögen und deshalb die Aufforderung, Gott die Ehre zu geben. Wenn aber jemandem die Ehre gegeben werden soll, dann versteht es sich von selbst, dass ihm nichts Kleinmachendes angeboten wird.

Predigen ist eine Form, dem Wort Gottes in menschlicher Sprache Gestalt und Gehalt zu geben. Zu Ehren gebracht wird dieses Wort Gottes im Predigen so, dass es beim Menschen, in seiner Wirklichkeit und in seinem Leben ankommt. Weil es in der Predigt um nicht weniger geht als um eine erfahrungsbasierte Darstellung des Verhältnisses von Gott und Mensch, dürfen Gehalt und Gestalt der Sprache nicht in ein Missverhältnis gebracht werden. Wo dies geschieht, gerät die Kommunikation des Evangeliums in Schieflage. Die Rhetorik ist ein erster Indikator für diese Schieflage. Ihr Anspruch ist zu überzeugen, indem der Rede ein gefälliger Schmuck verliehen wird. Dinge klein zu reden, schmückt nicht und überzeugt selten. Dem Rhetorischen korrespondiert das Theologische, wenn es um die sprachliche Veranschaulichung des Evangeliums geht. Zu beobachten ist allerdings, dass es viel einfacher scheint, vom Gegenteil zu reden, von den schlechten Nachrichten und dunklen Botschaften. Rhetorisch machen die Erzählvorlagen und Nachrichtenbilder nicht nur ein klein wenig von der Gewalt, der Armut, dem Leid deutlich. Sie sind drastisch, nicht nur optisch, sondern auch sprachlich. Ein Anschluss an die Erfahrungswelt der Predigthörer und -hörerinnen ist einfach hergestellt. Evangelium erzählen, Frohe Botschaft narrativ gestalten, eine Bildsprache des Guten entwerfen, von der Fülle der Freude in Gottes Welt zu reden: Darin liegt die eigentliche Herausforderung im Predigtmachen. Erzählvorlagen im Biblischen gibt es genug. Diese Erfahrungen so zu vergegenwärtigen, dass sie im Leben der Predigthörer und -hörerinnen groß werden können, braucht nicht nur rhetorisches Geschick, sondern den geistlichen Mut, aus dem sich die theologische Kompetenz der Prediger und Predigerinnen speist, verbunden mit einer hermeneutischen Fähigkeit, die nicht dem Kleinglauben das Wort redet. Es bedeutet, sich im eigenen Verkündigen der Kraft des Wortes Gottes auszusetzen, die nicht im Faktischen, sondern im Möglichen ihre Kreativität entfaltet. Und diese beginnt … im Kleinen.

II Biblische Miniaturen

Schon ein kleiner Blick in die große Erzählung der Gottesgeschichte trägt zur Bestimmung des homiletisch zu gestaltenden Größenverhältnisses bei. Sich in seiner Größe klein zu machen, gebührt Gott selbst. Ein einziger Name genügt, um sich ansprechbar zu machen. Das Kürzel von vier Zeichen birgt seine ganze Geschichte mit den Menschen (Ex 3,14). In der letztmöglichen Gottesbewegung in die Welt hinein gewinnt Gottes Größe Gestalt, verortet in einer kleinen Stadt (Mi 5,1). Das Kind in der Krippe macht anschaulich: Gottes Anfänge sind klein, aber nicht niedlich. Wenn Predigt davon kommt, »dass Gott sich dem Menschen zeigt« (Engemann, 79), dann kann dies schlechterdings nicht so verstanden werden, dass der Mensch sich nun noch kleiner macht. Gott hat ihn so groß wie möglich geschaffen und das ist nur ein wenig niedriger als er selbst (Ps 8). Das gilt auch für den, der klein von Gestalt war (Lk 19,3), und für die Kinder sowieso (Mk 10,14f.). Sprechen die Evangelien davon, dass der erhöht wird, der sich selbst erniedrigt, dann deshalb, weil sich Menschen, seien es die Schriftgelehrten oder die Jünger selbst, im Göttlichen verstiegen haben (Mt 18,4; Mt 23,12).

Gottes Offenbarung dient dazu, den Menschen groß zu machen, indem er ihn aufrichtet, weil er ihn von Anfang an auf Augenhöhe geschaffen hat. Auch wenn die Menschheitsmythen am Anfang der Bibel davon sprechen, dass menschliches Tun mühevoll sein wird. Vom eigentlichen Schöpfungsauftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren, wird nicht abgerückt. Es gilt, auch jenseits von Eden nicht nur ein bisschen zu bebauen und ein wenig zu bewahren. Wer bebaut und bewahrt, der zeigt nicht nur ein klein wenig von Gottes Schöpfungswillen. Er ist in göttlichem Sinne kreativ. Vor diesem Hintergrund erhält auch das Gleichnis von den Talenten eine schöpferische Dimension. Der Kritik ausgesetzt ist der, der zu gering von sich denkt bzw. der sich noch nicht einmal am Minimum des Ertrags orientiert. Weil Kleines nicht klein bleiben soll, predigt Jesus vom Wachstum, das alle Dimensionen sprengt. Dafür steht das kleinste unter den Saatkörnern, das sich zum größten Strauch auswächst (Mk 4,30–32). Doch auch dieser botanische Superlativ reicht nicht, um den darin angelegten göttlichen Mehrwert zu entfalten. Das Kleinste tendiert zum Nichts und dieses ist das, zu dem Gott ruft, dass es sei (Röm 4,17), womit ein neuer, lebensorientierter Anfang gesetzt ist.

Diese göttlichen Miniaturen zeigen, dass vom Kleinen durchaus lebensweltlich orientiert zu predigen ist. Erkennbar ist aber auch: Es ist ein großer Unterschied, ob etwas klein ist oder verkleinert bzw. kleingeredet wird. Trägt man die hier beispielhaft aufgerufene Sprachkraft der biblischen Bilder in die sprachliche Gestaltung eines Gottesdienstes ein, wird die Notwendigkeit einer Hermeneutik der Kommunikation des Evangeliums noch einmal deutlicher: Im Psalmgebet öffnen sich weite Räume, die Lieder schlagen in ihren Texten selten leise Töne an. Niemand käme auf die Idee, die Gemeinde mit ein bisschen Frieden und ein wenig Segen zu entlassen. »Weniger ist mehr« mag zwar gelegentlich als Kritik an der Länge einer Predigt berechtigt sein, nicht aber bezüglich ihrer Botschaft und dem Kommunikationsgeschehen eines Gottesdienstes überhaupt. Dieses ist getragen von jenem Mehrwert, der in jedem Erzählen der Gottesgeschichte angelegt ist. Warum aber formelhafte Verkleinerungen, oft am Ende einer Predigt produziert, wenn am Anfang die Fülle des Gotteswortes steht und bis dahin starke Bilder und große Worte gemacht wurden?

III  Vom Diminutiv zur Metapher

Meine These zum »Warum« formelhafter Verkleinerungen, die zunächst bei der Sprachgestalt ansetzt, ist: Was im Predigen minimalistisch daherkommt, ist ein misslungener bzw. nicht zu Ende gedachter Wort Versuch, biblische Gleichnisrede aufzunehmen. Gleichnisse sind sprachlich über Vergleichsformulierungen gebaut (»ist wie«, »gleicht«), bleiben aber nicht im real-logischen Vergleichsschema stecken. Es geht Gleichnissen nicht darum, anschauliche Vergleiche aus der Lebenswelt der Angesprochenen zu finden, um diese in ihrem begrenzten Horizont zu bestätigen. Gleichnisse brechen das Reich Gottes nicht auf die Weltwirklichkeit herunter, sie brechen diese Weltwirklichkeit auf. Ihnen eignet eine Überbietungslogik und damit verbindet sich die sprachliche Gestalt mit dem zu vermittelnden Gehalt des zu Sagenden. Nicht im Vergleichswert, sondern im Mehrwert liegt die Aussagekraft. Darum funktionieren solche Texte auch noch in einer Zeit, in der die Lebenswelt eine andere geworden ist, und in Kulturen, die keine Senfbäume pflanzen.

Die Gleichnisrede ist eine Verdichtung des biblischen Sprachgeschehens, das in sich schon Kommunikation des Evangeliums ist. Hier setzen die hermeneutischen Überlegungen an und verbinden sich mit einer Predigtdidaktik, die nach der Absicht der Predigt fragt: Was willst du mit dem, was du sagst? (Vgl. Lütze, 295) Was soll ins Verstehen, in die Erfahrungswelt der Predigthörenden hineingesprochen werden?

Soll – und diese Absicht ist jedem Predigenden wohl zu unterstellen – die Überbietungslogik der Gottesgeschichte zum Ausdruck gebracht werden, dann gelingt dies nicht in der grammatischen Form des Diminutivs. Dieser reduziert auf menschliche Wirklichkeit und beschränkt sich auf einen real-logischen Vergleich. Reduktionen aber verlieren die Kraft des Metaphorischen und lassen das eigentlich zu Sagende absterben (vgl. Ricœur). Wird das Kleine hingegen als lebendige Metapher ins Predigtgeschehen hineingeholt, dann wird die menschliche Wirklichkeit auf Gottes Möglichkeit hin überboten. Die Sprachform des Evangeliums – so machen es die Gleichnisse explizit – ist die des Metaphorischen. Die poetische Dimension der Metapher liegt darin, »Wirklichkeit auf dem Umweg über die heuristische Fiktion neu beschreiben« (Ricœur, 238) zu können. Dabei ist das Metaphorische nicht auf ein Wort reduziert. Metaphern sind pointierte Erzählungen, d.h. Texte, denen eine »semantische Innovation« (Ricœur, VII) eignet. Wo von kleinen Anfängen erzählt wird, kann sich Neues ereignen, Mögliches geöffnet und Großes erwartet werden … auch in der Predigt.

IV  Aussichtsreich predigen

Wem das Herz voll ist, der verweist nicht auf kleine Gesten. Predigen ist ein vollmundiges Geschehen. Prediger und Predigerinnen, die sich ein Herz fassen, sind nicht hochmütig, sondern herzensmutig. Aus ihnen spricht Hoffnung, und ein hoffnungsvolles Predigen reduziert die Gegenwart nicht auf ein Vielleicht oder auf ein Irgendwann. Hoffnung sieht das »Mehr« im Hier und Jetzt. Das nahegekommene Reich Gottes wird sprachlich also nicht im Verweis auf ein bisschen Nähe sichtbar gemacht. Der glimmende Docht nötigt gerade nicht zu einer Predigt auf Sparflamme. Vielmehr trägt sie, weil der glimmende Docht nicht verlischt, die Kraft des brennenden Dornbuschs in sich.

Weil es in der Absicht des Predigens liegt, nicht weniger, sondern mehr zu wollen, ermutigt eine homiletische Hermeneutik zu einem aussichtsreichen Predigen, das die Überbietungslogik des Metaphorischen zur Sprache bringt. Wer von Gottes Gnade zu reden wagt, lässt Neues Ereignis werden: Menschen wissen zu erzählen, dass ein ermunternder Blick alles verändern kann. Um wieviel mehr verwandelt ein göttlicher Augenblick die Erfahrungen des Todes in ein Leben, das neu beginnen kann.

Wer von Gottes Reich zu reden wagt, öffnet Möglichkeiten in der wirklichen Welt: Menschen wissen zu erzählen, dass die offene Tür einladend einen Raum eröffnet. Um wieviel mehr lässt Gott in seiner Welt Räume entstehen, die die Grenzen des Wirklichen einladend sprengen, und es wird möglich, ein Leben zu wagen, das bisher undenkbar war.

Wer vom Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft, zu reden wagt, erwartet Großes. Menschen wissen zu erzählen, wie eine Umarmung die Spirale des Hasses gelöst hat. Um wieviel mehr verbreiten Gottes offene Arme die Hoffnung auf einen Frieden, der die Welt zur Ruhe kommen lässt.

Der Ausgestaltung dieser Leitsatz-Formulierungen zu den Großbegriffen Gnade, Reich Gottes und Friede in eine anschauliche und situationsgerechte Predigtsprache hinein sind keine Grenzen gesetzt. Aussichtsreich gepredigt wird, wenn sich Predigtsprache weder an theologischer, noch an grammatischer Richtigkeit abarbeitet. Gleichwohl sind theologische und grammatische Kenntnisse nicht unerheblich. Sie befähigen zum freien Umgang mit Sprache und zu begründeten Formulierungen in der Erfahrung des Glaubens. Das »recte docetur« (CA 7) zeichnet sich aber darin aus, dass Predigen an der poetischen Wahrhaftigkeit des Evangeliums orientiert wird. Große Worte müssen nicht begrifflich verkleinert werden, um verstanden zu werden. Sie müssen ausgesprochen werden, d.h. sprachlich ausgestaltet, ausgeschmückt, ausgespielt werden, indem sie offen und weit denk- und erfahrbar werden. Nicht durch grammatisch Kleines, das immer ein wenig (!) verschämt daherkommt, sondern im wahrhaft Kleinen des menschlichen Erfahrungsraums, der seiner wahren Größe im Möglichkeitshorizont der Gottesgeschichte gewiss ist, wirkt die schöpferische Dimension des Gotteswortes neu, offen und groß in der Lebenswelt von Menschen konkret. Was so gesagt wird, dass es als gewisslich wahr verstanden wird, hat beste Aussichten, gehört zu werden.

Literatur: Karl Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie (1922), in: Jürgen Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie, Teil I, München 1977, 197–218; Wilfried Engemann, Einführung in die Homiletik, Tübingen 22011; Frank M. Lütze, Absicht und Wirkung der Predigt. Eine Untersuchung zur homiletischen Pragmatik, Leipzig 2006; Paul Ricœur, Die lebendige Metapher, München 21991.


A

1. Advent

Offenbarung 5,1–5(5–14):

Böcklein & Büchlein


Ursula Roth

Eröffnung: Antiweihnachtlicher Kontrast

Dass wir uns Gott als einen Kommenden vorstellen, liegt – besonders in der Adventszeit – durchaus im Horizont des Erwartbaren. Ganz und gar nicht im vorweihnachtlichen Erwartungshorizont mag die Vorstellung liegen, dass Gottes Kommen begleitet wird von Erdbeben, Feuer, Krieg, Hunger, Pest, giftigen Heuschrecken, dem Wüten eines großen roten, siebenköpfigen Drachen und anderen endzeitlichen Schreckensfiguren. Zur Adventskranzidylle passt das so wenig wie zur weihnachtlichen Vorfreude auf die friedvolle Szene im nächtlichen Stall bei hell glänzendem Strahl.

Die Bilder aus dem Buch der Offenbarung befremden. Uns heute wohl noch mehr als die Leser und Hörer damals. Die Bilder wirken verwirrend, der Predigttext markiert womöglich für den volkskirchlich eingespielten Gemeindekontext die Grenze des Zumutbaren. Der Text reizt und fordert heraus.

Zwei Versuchungen, dem verstörenden Potenzial des Textes auszuweichen, möchte ich nicht erliegen. Zum einen ist man schnell verleitet, dem Text mittels akribischer Erklärungen und Erläuterungen zum historischen Kontext und zum Hintergrund einzelner Bildelemente seinen provokanten Gestus zu nehmen. Das Buch der Offenbarung religionshistorisch und philologisch einzuordnen, mag für einen Gemeindeabend interessant sein; als Ziel der Predigt ist es zu wenig. Zum anderen liegt es nahe, sich vorschnell auf einzelne Bilder zu konzentrieren und diesen in ungehemmter Assoziationslust nachzugehen. Das Bild vom ›Buch mit den sieben Siegeln‹ kann dann Ausgangspunkt für ein Räsonnement über die Unlesbarkeit der Welt im Allgemeinen oder des Lebens im Einzelnen werden. Auch das ist zweifellos interessant, hat als Thema der Predigt am biblischen Text gleichwohl keinen Anhalt. Der Text handelt von einem anderen Buch.

II  Erschließung des Textes: Gott kommt mit Gewalt

Der Textabschnitt Offb 5,1–14 ist eine der Schlüsselstellen innerhalb der Johannesapokalypse. Zum einen tritt hier der dramaturgische Rahmen des Textes besonders deutlich hervor. Durch die strikt in der 1. Person Singular konzipierten Sätze und das mehrmalige »und ich sah«, »und ich hörte« stellt sich der Erzähler selbst in die geschaute Szene und zieht über seine Perspektive auch die Hörer/Leser mit hinein: »[wi]r, das Publikum, schauen mit ihm, sehen, was er sieht« (Paulsen, 10). Die Johannesapokalypse ist ein »Hörspiel«, das die »hörend Sehenden« zu »Mitentrückten« werden lässt (Alkier/Paulsen, 456).

Dass der Perikope auch in inhaltlicher Hinsicht eine Schlüsselrolle zukommt, liegt an dem siebenfach versiegelten Buch, von dem Offb 5 handelt. Durch das Öffnen der Siegel, das allein dem Böcklein vorbehalten ist, werden jene endzeitlichen Ereignisse ausgelöst, die das göttliche Gericht ankündigen und letztlich vollziehen. Offb 5,1–14 fungiert daher wie ein Scharnier zwischen Beauftragung/Sendschreiben/Thronsaalvision einerseits und dem Hauptteil des Werkes, der Schilderung der endzeitlichen Geschehnisse, andererseits.

Stefan Alkier und Thomas Paulsen schlagen vor, ›arníon‹ nicht mit ›Lamm‹, sondern mit ›Böcklein‹ zu übersetzen. Statt des sonst im NT verwendeten ›amnós‹ (Lamm) wählt der Autor der Johannesapokalypse mit ›arníon‹ eine andere Vokabel. Die Übersetzung mit ›Lamm‹ betont den christologischen Bezug, weckt aber zu sehr die Assoziation des passiven, schutzlosen Opfertiers. Das in Offb 5 beschriebene Tier trägt sieben Hörner und ist mit Kraft und Macht ausgestattet (vgl. Paulsen, 19f., Anm. 40). ›Böcklein‹ scheint hier weniger missverständlich.

Aufgrund der dramaturgischen Schlüsselstellung von Offb 5,1–14 im Werkganzen lässt sich die Perikope meiner Ansicht nach nur im Kontext der Makrostruktur der Johannesapokalypse verstehen. Das Böcklein (= Christus) allein vermag die Siegel zu lösen und bringt durch die Entsiegelung in Gang, wovon die Johannesapokalypse insgesamt handelt – das Kommen Gottes zum Gericht und zur Verwirklichung seiner Macht (vgl. Alkier/Paulsen, 470).

Nach Alkier und Paulsen vollzieht sich im Durchgang der Johannesapokalypse eine grundlegende Transformation. Diese zeigt sich u. a. in dem fünffach (Offb 1,4.8; 4,8; 11,17; 16,5) gesetzten, jeweils gezielt variierten ›Gottesmotiv‹ (»der Seiende und der Immer-War und der Kommende« bzw. »der Immer-War und der Seiende und der Kommende«) (Alkier/Paulsen, 457ff.). Das jeweils drei Zeitperspektiven umfassende Leitmotiv in 1,4.8 und 4,8 erscheint in 11,17 und 16,5 verkürzt, nämlich ohne ›ho erchómenos‹/›der Kommende‹. Dann ist er »der Seiende und der Immer-War« (Alkier/Paulsen, 460); »mit der Darstellung der Verwirklichung seiner Macht ist er nicht länger als Kommender vorzustellen.« (Alkier/Paulsen, 470) – Am Ende ist Gott da.

Ausgangspunkt dieser Transformationsgeschichte ist die ›thlipsis‹, d. i. die Situation der Bedrängnis und Bedrückung, in der sich die Christusanhängerinnen und -anhänger befinden (Offb 1–3) und die durch Ankündigung und Durchführung des Gerichts (Offb 6–20) überwunden wird. Vor diesem Hintergrund – Gottes Kommen ist auf dem Weg, die Verwirklichung seiner Macht steht aber noch aus – lässt sich die erfahrene Bedrängnis als eine vorübergehende begreifen. Gott kommt und wird im Kampf gegen die Widermächte als Sieger hervorgehen.

III  Impulse: Schritte vom Irrealis zum Realis

Was wäre, wenn Gott käme?

Wie wird es sein, wenn Gott kommen wird?

Wie ist es jetzt, da Gott kommt?

Es kann nicht vorausgesetzt werden, dass der Erzählduktus oder die einzelnen Visionen der Johannesapokalypse bei den Predigthörerinnen und -hörern näher bekannt sind. Um die Szene mit dem Böcklein und dem versiegelten Buch in ihrer werkinternen Schlüsselfunktion deutlich zu machen, ist es erforderlich, mit wenigen Strichen den Erzählkontext zu skizzieren und die Perikope erzählend-erläuternd in den Handlungsrahmen einzupassen. Von wenigen erklärenden Hinweisen – etwa zur Funktion des Böckleins oder der Schriftrolle – abgesehen, genügt es dabei, auf der Erzählebene zu bleiben und nicht in die historische Information zu wechseln.

Die Vorstellung, dass Gottes Kommen zum Gericht noch aussteht, ist dem Christentum von Grund auf eingeschrieben. Sonntag für Sonntag sprechen wir es im Apostolischen Glaubensbekenntnis aus: Er (hier: Christus) wird kommen, zu richten … Und doch wirkt der Gedanke heute befremdlich und mutet widervernünftig, ja, irrational an. Die Perikope fordert dazu heraus, sich diesem eschatologischen Grundmotiv anzunähern und der Verheißung nachzugehen, dass Gott kommt. Ziel wäre, das irreale Gedankenspiel »Was wäre, wenn« zu überführen in ein adventliches »Gott kommt« – denn darum geht es im Advent.

a) Ganz unabhängig von den schaurig-scheußlichen Endzeitmotiven der Bibel bereitet mir die Vorstellung, dass Gott kommt, mehrfach Unbehagen. Wer will schon mit den eigenen Missetaten konfrontiert sein? Allein die Tatsache, dass plötzlich die eigenen Alltagsrelevanzen auf den Kopf gestellt wären, ist unbequem. Wieso noch den beruflichen und familiären Plänen und Pflichten nachgehen, warum noch Plätzchen backen, Geschenke besorgen, die Weihnachtstage planen, wenn Gott womöglich all dem zuvorkommt?

b) Gleichwohl kann ich der Vorstellung, dass Gott kommt, viel abgewinnen. Als Verheißung kann es vielleicht empfinden, wer sich in Bedrängnis fühlt. Wer Leid selbst erfahren hat oder mitfühlend mit dem Leid anderer verbunden ist. Wem der Boden unter den Füßen weggezogen scheint – weil es beruflich nicht so läuft wie (von mir/von anderen) erwartet, weil eine schlimme ärztliche Diagnose auf dem Tisch liegt, weil die Trennung vom Partner oder von der Partnerin droht, weil ein Familienmitglied oder jemand aus dem Freundeskreis im Sterben liegt. Auch die tagtägliche mediale Berichterstattung von den Kriegsschauplätzen der Welt, die Nachrichten von Terror und staatlicher Gewalt, von ertrunkenen Flüchtlingen und gefolterten Gefangenen, die Meldungen von Erdbeben und Überschwemmungskatastrophen können einem derart schmerzhaft zusetzen, dass die Sehnsucht nach dem Ende, danach, dass Gott erlösend und überwindend eingreift, wächst.

c) Apokalyptische Bildwelten können vertröstend wirken. Doch ebenso ist ihnen auch ein kritisches Potenzial eigen. Dass Herrschafts- und Machtverhältnisse als vergänglich geschildert werden, schafft Distanz zur vorgegebenen Wirklichkeit und kann die Geltung bestehender Machtansprüche infrage stellen. Das lässt sich auf den Machtmissbrauch im politischen Kontext ebenso beziehen wie auf erniedrigende Machtstrukturen im beruflichen und familiären Kontext, auf Einschüchterung und Benachteiligung, körperliche oder seelische Gewalt.

Wie plausibel apokalyptische Vorstellungen eines reinigenden, richtenden und rettenden Eingreifens einer ganz anderen Macht anmuten können, zeigt sich auch im Erfolg des Science-Fiction-Genres, das u. a. mit genau diesen Erzählmustern seit Jahrzehnten ein breites Publikum fasziniert.

d) Von der Hoffnung auf den Gott, der zum (rettenden und erlösenden) Gericht kommt, handeln eine Reihe von christlichen Liedern. Insbesondere das adventliche Liedgut enthält zahlreiche Bezüge auf das Kommen Gottes zum Gericht. Auch über ein entsprechendes Adventslied ließe sich der Zugang zur Bildwelt der Perikope öffnen.

Lieder: EG 7 »O Heiland, reiß die Himmel auf«, bes. Strophe 4: »Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?«; EG 11 »Wie soll ich dich empfangen«, bes. Strophe 10: »Er kommt zum Weltgerichte«.

Werkstück Predigt

(nach der Verlesung von Offb 5,1–14)

Ein Böcklein öffnet ein Buch. Ein Buch, das mit sieben Siegeln verschlossen ist. Es ist ein besonderes Buch. Sind die sieben Siegel des Buches einmal aufgebrochen, kommt ein endzeitlicher Schrecken nach dem anderen – apokalyptische Reiter, Krieg, Hunger, Krankheiten, Erdbeben, Feuer, giftige Heuschrecken, ein wütender siebenköpfiger Drache und mehr. Was das bedeutet? Für den Seher Johannes besteht kein Zweifel: Gott kommt. Gott kommt zum Gericht. Und zum Heil.

Gott kommt. Liebe Gemeinde, was wäre eigentlich, wenn Gott tatsächlich käme? Oder: Wie wird das sein, wenn er kommt? Oder vielleicht sollte ich richtiger fragen: Was ist jetzt, da er kommt? Wir feiern heute den ersten Advent. Das ist die Zeit, in der wir uns genau darauf einstellen: dass Gott kommt.

Literatur: Stefan Alkier/Thomas Paulsen, Der kommende Gott. Philologische, literaturwissenschaftliche und theologische Beobachtungen zur Komposition der Johannesapokalypse, in: ThLZ 141 (2017), 453–472; Thomas Paulsen, Zu Sprache und Stil der Johannes-Apokalypse, in: Stefan Alkier u.a. (Hg.), Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse, Tübingen 2015, 3–25.

B

Martin Vorländer

IV  Entgegnung: Geschlachtetes Lamm als Krippenfigur?

Ein Buch mit sieben Siegeln. Ein Böcklein, dem man die Kehle durchgeschnitten hat, das trotzdem noch auf den Beinen steht und zudem sieben Hörner und sieben Augen hat. Das ist tatsächlich eher der Stoff, aus dem Game of Thrones, Harry Potter und das Schweigen der Lämmer ist. Apokalypse zum ersten Advent – das ist steil. Da stimme ich A zu. Der Kontrast stachelt an herauszufinden, wie die gewaltigen Bilder der Offenbarung den Advent erschließen. Der Kontrast liegt bereits im Bibeltext selbst: Der Seher Johannes hört von einem Löwen – und sieht ein Lamm. Er erwartet Stärke – und sieht Schwäche.

A warnt vor der doppelten Versuchung, der Wucht des Predigttextes auszuweichen, indem man in die Erzählung der Zeit damals oder in die Erklärung der einzelnen Bilder flüchtet. Aber: Die Bilder wirken. Wenn ich dieses Kapitel aus der Johannesapokalypse höre, dann habe ich das sprichwörtliche Buch mit sieben Siegeln vor Augen. Ich höre den Löwen von Juda brüllen und sehe ein Lamm, umschwirrt von Engeln, Ältesten und seltsamen Wesen. Die Neutestamentler Stefan Alkier und Thomas Paulsen nennen das letzte Buch der Bibel ein Hörspiel. Dann muss ich damit rechnen, dass bei den Predigthörerinnen und -hörern ein Kino im Kopf abläuft. Was lösen die Bilder aus? Um nicht in der Bilderflut unterzugehen, begrenze ich den Predigttext auf die Verse 1 bis 5. Das schließt das Böcklein/Lamm zwar aus. Doch das Buch mit den sieben Siegeln ist apokalyptische Dosis genug.

A hält es für erforderlich, »die Perikope erzählend-erläuternd in den Handlungsrahmen« der Johannesapokalypse einzupassen. Wie das zu schaffen ist, weiß ich nicht. Aber ich nehme es als Impuls, den Seher Johannes und seine Vision vom kommenden Gott erzählerisch kurz vorzustellen.

A schlägt vier Zugänge vor: a) Was wäre, wenn Gott wirklich kommt? Was wird dann aus Plätzchen und Plänen? Das ist ein reizvoller Predigteinstieg, der den ganz anderen Advent stark macht; b) die Sehnsucht nach Gott derer, die leiden. Das kann an den emotional starken Vers 4 des Predigttextes anknüpfen: »Und ich weinte sehr«; c) Apokalypse als Kritik an den herrschenden Verhältnissen – die muss ich allerdings konkret machen, um nicht in ein allgemeines »Die Welt ist schlecht und Trump gefährlich« auszubrechen; d) Adventslieder mit der Erwartung, dass Gott den Himmel aufreißt und zum Weltgericht kommt. Das birgt meines Erachtens die Gefahr, dass ich eine Unbekannte durch eine andere zu erklären versuche. Zum Buch mit sieben Siegeln käme dann noch ein Heiland, der vom Himmel Schloss und Riegel reißt.

Erschließung der Hörersituation: Sehnsucht nach Geborgensein in der Welt

Der erste Advent ist der am drittbesten besuchte Gottesdienst im Jahr – nach Heiligabend und Erntedank. Deutschlandweit gehen über eine Million Menschen an diesem Sonntag in die Kirche (1 085 172 Teilnehmer und Teilnehmerinnen laut der jüngsten Erhebung der EKD von 2014). Was bewegt so viele am ersten Advent?

Die Adventszeit gehört zu der Welt an Sinneseindrücken, Bräuchen und Symbolen, die Matthias Morgenroth das »Weihnachtschristentum« nennt. Advent und Weihnachten – und nicht Karfreitag und Ostern – sind bei uns die heilige Zeit und das Christfest schlechthin geworden. Statt Erlösungstod am Kreuz geht es um das Kommen Gottes in die Welt als Kind in der Krippe.

Es ist eine Festzeit des Drinnen, des Privaten, der Kindheit, der Familie und des Poetischen, eingebettet in den Jahresrhythmus. Das freilich schließt aber Menschen aus, deren Leben nicht in die bürgerlich-moderne Familienwelt passt. Es sorgt für zwiespältige Gefühle, wenn die eigene Wirklichkeit weit hinter den hoch gespannten Erwartungen zurückbleibt.

Der erste Advent ruft Sehnsüchte wach etwa nach dem »Urbild vom Zuhause«, nach dem »Geborgensein in der Welt« (Morgenroth, 215). Endlich wieder »Macht hoch die Tür« und »Wir sagen euch an den lieben Advent« singen! Es »wird etwas ins Spiel gebracht, das durchscheinen lässt, wovon wir leben, und das vergegenwärtigt, wie offen die Welt geblieben ist« (Morgenroth, 145).

Der »liebe Advent« kommt im Predigttext völlig anders. Keine zarten Himmelswesen, die behutsam die Angst nehmen mit ihrem »Fürchtet euch nicht!«. Stattdessen ein starker Engel, der donnernd fragt: »Wer ist würdig?« Die einen fasziniert Apokalyptik, das spielerische »Was wäre, wenn morgen die Welt unterginge?«. Andere sind befremdet oder empfinden sogar Widerwillen gegen das abgefahrene Endzeit-Szenario.

Aus der Bilderfülle von Offb 5 bleibt mir das Buch mit sieben Siegeln im Ohr. Das ist sprichwörtlich geworden und macht mich neugierig, was es damit in seiner biblischen Ursprungsszene auf sich hat. Warum ist es versiegelt und das gleich siebenmal? Was steht drin, das so entscheidend ist? Verschlossenes zu öffnen, gehört zur Advents- und Weihnachtszeit – vom Adventskalender bis zum Weihnachtszimmer.

Weiter beschäftigen mich die Fragen: Was ist in meinem Leben wie ein Buch mit sieben Siegeln? Wo sehne ich mich danach, dass sich löst und auftut, was blockiert ist? Und wo reicht diese Sehnsucht über mich und meinen Lebenskreis hinaus?

Der Seher Johannes nimmt mich in seine Vision hinein: »Ich weinte sehr«, weil niemand die Siegel öffnen konnte. »Und einer der Ältesten spricht zu mir: Weine nicht!« Mir gibt das zwei Impulse für den Advent: Zeit für Tränen über das, was wie versiegelt ist. Zeit, die Hoffnung groß zu machen, dass einer öffnen kann, was Menschen verschlossen bleibt.

VI Predigtschritte: Der andere Advent

Ich will nicht mit Offb 5 gegen die gewohnte Adventsstimmung anpredigen. Ich will schauen, wie das Buch mit den sieben Siegeln aus der Johannesapokalypse an Schmerz und Sehnsucht in der Adventszeit rührt. Als Kanzelgruß bietet sich der Segenswunsch zu Beginn der Offenbarung an: »Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.« (Offb 1,4) Danach kann ich mir sieben Predigtschritte vorstellen:

1. Advent. Zeit der Geheimnisse. Zeit, die Türen am Adventskalender zu öffnen: Was verbirgt sich dahinter? Die ersten drei konnte man schon aufmachen.

2. Der Predigttext für den ersten Advent öffnet auch eine Tür, jedoch zu einem gewaltigen Bild. Der Seher Johannes zeigt einen ganz anderen Advent: Gott kommt nicht als das Kind in der Krippe, sondern als der Weltenrichter am Ende aller Zeit. Apokalypse im Advent: Offb 5,1–5 lesen.

3. Der erste Höreindruck: rätselhafte Sprache, seltsame Bilder – wovon ist hier die Rede? Worte und Visionen aus einer ganz anderen Zeit: Am Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus verfasst ein Unbekannter, der sich Johannes nennt, bildgewaltige und für uns heute schwer verständliche Offenbarungen über das bevorstehende Ende der Welt. Die Situation der Christen damals ist lebensgefährlich. Der römische Kaiser Domitian lässt sie systematisch verfolgen. Der Seher Johannes schreibt seine Visionen für Menschen, die wissen, was Leiden bedeutet. Er macht ihnen Hoffnung. Der Kampf der bösen Mächte tobt zwar noch. Aber Gott kommt und ist mächtiger als alle Gewaltherrscher dieser Welt.

4. Kein Mensch, sondern Gott sitzt auf dem Thron. Er hält in der rechten Hand ein Buch mit sieben Siegeln, innen und außen beschrieben. In der Antike sahen so die Schriftrollen für Rechtsdokumente und Testamente aus. Auf die Innenseite wurde geschrieben, was wie verfügt wird. Außen auf der Schriftrolle stand eine Zusammenfassung. Das Ganze versiegelt. Wenn die Siegel aufgebrochen werden, tritt in Kraft, was in der Buchrolle aufgeschrieben ist. Die Zahl Sieben steht für Vollkommenheit. Es ist absolut entscheidend, was in dieser Buchrolle steht. Sie enthält die Weltgeschichte und die Abläufe am Ende der Welt. Alle Tage meines Lebens, alle Tage dieser Welt. Niemand kann die Siegel öffnen. Der Seher Johannes weint darüber. Mit diesem Bibelwort aus der Offenbarung des Johannes gehört Weinen zum Advent. Der Schmerz über das, was ungelöst ist in der Welt, worunter ganze Völker leiden. Auch der Schmerz darüber, was wie versiegelt ist im eigenen Leben. Persönlich einfühlsame wie weltpolitische Beispiele beschreibt A unter III b).

5. Ein Buch mit sieben Siegeln, in dem alles, was geschieht, aufgeschrieben ist. Das kann erschrecken: Läuft mein Leben nach einem vorgeschriebenen Drehbuch ab? Die Christen damals haben das anders gehört. Die Vorstellung war ein Trost. Gewaltherrscher können uns viel antun. Aber das Weltgeschehen und unser persönliches Geschick liegen in Gottes Hand. In seinem Buch ist kein Tag verloren. Kein Leid wird vergessen.

6. Es gibt doch jemanden, der das Buch mit den sieben Siegeln öffnen kann: Christus (siehe Werkstück Predigt).

7. Welche Impulse nimmt die Predigerin, der Prediger aus Offb 5 für die Adventszeit mit? Für mich sind das zwei: Wo ist Zeit für mein Weinen und meinen Schmerz über Versiegeltes, Verschlossenes? Und für wen hoffe ich, dass sich etwas öffnet und auftut?

Lieder: EG 1 »Macht hoch die Tür«; EG 153 »Der Himmel, der ist, ist nicht der Himmel, der kommt«.

Werkstück Predigt

»Weine nicht«, sagt einer von den Ältesten, die um den Thron Gottes stehen, zu dem Seher Johannes. Es gibt doch einen, der das Buch mit den sieben Siegeln auftun kann. Die Hörer damals wussten, wer mit dem Löwen aus dem Stamm Juda, mit der Wurzel Davids gemeint ist: der Messias. Jesus Christus. Er bricht auf, was versiegelt ist. Christus zeigt, wie Gott kommt. Einerseits zart als das Kind in der Krippe. Darum Augen und Herzen auf im Advent für das Kleine und Zarte! Andererseits kommt Gott groß und mächtig. Christus hält alles, was geschieht, und auch das Ende der Welt in seinen Händen. Ich darf alles erwarten für mich und für die Welt. Die Zukunft ist nicht die Verlängerung der Gegenwart. Die Zukunft ist Advent, Gottes Kommen. Ich bin nicht ausgeliefert an Menschen oder Mächte, die mir mein Leben vorschreiben. Ich gehe auf Gottes Kommen zu. Gott kommt, so gewiss, wie ein Siegel nach dem anderen aufgetan wird. So gewiss, wie sich eine Tür am Adventskalender nach der anderen öffnet. Hinter der letzten Tür wartet nicht der Abgrund, sondern Gott, stark und sanft, mächtig und liebevoll.

Literatur: Matthias Morgenroth, Weihnachtschristentum. Moderner Religiosität auf der Spur, Gütersloh 2002.


A

2. Advent

Jesaja 63,15–16(17–19a)19b; 64,1–3:

Ein Klagepsalm im Sehnsuchtsland


Angelika Behnke

Eröffnung: Klage-Didaktik

Zwei Theologieprofessoren treffen sich. Fragt der eine: »Wie geht’s?« – Antwortet der andere: »Danke, ich kann nicht klagen!« Darauf entgegnet der erste, ein Alttestamentler: »Dann sollten Sie’s lernen – mit den Psalmen, mit den Psalmen!« Dieser Witz machte während meines Studiums die Runde.

Ja, Klagen will gelernt sein. Klagen auf hohem Niveau. Das schreibe ich vor dem Hintergrund der Erfahrungen als Neu-Dresdnerin, wo die Klage oder besser gesagt das Beschimpfen von Politikern und – allgemein-diffus – »denen da oben« zum allmontäglichen Ritual von um das christliche Abendland Besorgten geworden ist. Die Bestimmung der Predigtperikope durch Westermann als »wohl der gewaltigste Volksklagepsalm« (Westermann, 240) bekommt in diesem Kontext ein besonderes »Geschmäckle« – sind doch Wortzusammensetzungen mit »Volk(s)-« gerade en vogue. »Wir sind das Volk!« wird da (wieder) gebrüllt, von Menschen, die demokratisch gewählte Politikerinnen und Politiker als Verräter des Volkes titulieren. Volksklagelieder werden auch in anderen deutschen Städten gesungen; Mannheim distanziert sich daraufhin von seinen »Söhnen« (vgl. u.a. http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/marionetten-von-xavier-naidoo-soll-reichsbuerger-hymne-sein-14998067.html, abgerufen am 30.6.2017).

Klagen bis zur Niveaulosigkeit. Freilich, das spricht nicht gegen Klage an sich und noch weniger gegen die Versprachlichung beklagenswerter Zustände. Nur leider habe ich dann auch sofort wieder die Leute im Ohr, die sich empören: »Das wird man ja wohl mal sagen dürfen!« Ich halte daran fest: Der Ton macht die (Klagelied-)Musik – und Form, auch de-form-iert, ist Botschaft.

Klagen lernen – Könnte darin der Anspruch von Gottesdienst und Predigt am 2. Advent 2017 liegen?

II  Erschließung des Textes: Vaterpflichten – oder: Klagen nicht um der Klage willen, sondern um Gottes und der Menschen willen

Auf den ersten Blick wollen Adventsstimmung und Klagelieder nicht zusammenpassen. Alle freuen sich auf Weihnachtsmärkte, Plätzchenbacken, Familie, Lichterglanz. Stimmt das? Alle? – Der Ewigkeitssonntag liegt gerade mal zwei Wochen zurück. Vielleicht musste ein geliebter Mensch zu Grabe getragen werden, und der Verlust wiegt in der familienorientierten Adventszeit umso schwerer. Vielleicht grübelt die alleinerziehende Mutter, wie sie sich die Weihnachtsgeschenke für die Kinder vom Munde absparen kann. Vielleicht leiden Menschen unter der Hektik dieser Wochen und Tage und denken mit einiger Verzweiflung: Das Jahr ist schon fast wieder vorbei, aber habe ich in diesem Jahr überhaupt gelebt? Habe ich mich gespürt? Meine Lebendigkeit? Oder habe ich nur funktioniert, irgendwie … Vielleicht kriecht auch die Erinnerung an den 19. Dezember 2016 wieder hoch: der Anschlag an der Berliner Gedächtniskirche. Wie schnell kann es vorbei sein mit Friede, Freude, Eierkuchen, mit Glühwein und Konsum! Mit dem Leben …

Lange Nächte, kurze Tage. Fragen, diffuse Angst, innere Leere, Dunkelheit. Dagegen der »klägliche« Versuch, mit viel Licht und Beleuchtung zu blenden und Negatives auszublenden.

Vom »Kläglichen« zum Klagen, ja zum An-Klagen – so führt uns der Psalm im Buch des Tritojesaja. Und dies geschieht passenderweise in der Adventszeit – traditionell eine Bußzeit. Das Kirchenjahr ist gestalteter Raum für alle Gefühlslagen und Stimmungen, für das Auf und Ab des Lebens. Der Predigttext hatte seine Funktion im Gottesdienst. Beide Aspekte fließen zusammen in der Absicht, den Gottesdienst am zweiten Advent so zu prägen, dass er der gestalteten Klage Ausdruck verleiht und sie auch in seelsorglicher Weise aushält (vgl. Röm 12,15b).

Wann reißt der Himmel auf? Die Frage des Wartenden, der Sehnsuchtsvollen stellt sich nicht erst »Silbermond« im gleichnamigen Lied (vgl. http://www.songtexte.com/songtext/silbermond/himmel-auf-5b86cf7c.html, abgerufen am 30.06.2017). Die Frage der Wartenden, des Sehnsüchtigen lässt Menschen schon in uralten Zeiten die Erwartungen in Lieder kleiden. Diese werden nicht im stillen Kämmerlein ins Tagebuch gekritzelt, sondern den Sehnsuchtsvollen gehen Herz und Mund über; sie können nicht an sich halten: Mit den Liedern singen sie laut gegen das Dunkel an, gegen die »Gottesfinsternis« (Martin Buber, vgl. Westermann, 313). Ist es wie das Pfeifen des Ängstlichen im Wald? Oder verhält es sich so, weil Blut eben doch dicker ist als Wasser? In meinem Umfeld habe ich es schon mehrfach erlebt: Auch wenn Eltern ihre Kinder vernachlässigen, auch wenn Kinder es schmerzlich vermissen, dass ihnen ihre Eltern Liebe zeigen und Geborgenheit schenken, lassen die Kinder nicht ab von der Mutter, dem Vater; sie kümmern sich aufopfernd um die alt gewordene Alkoholkranke, ringen mit dem immer noch jähzornigen Greis, ringen weiter um Anerkennung und Liebe: »Du bist doch unsere Mutter, du bist doch unser Vater!« Väter und Mütter auf Erden kommen aus dieser Nummer sehr schwer heraus. Unser Vater im Himmel hingegen erbarmt sich, hört und erhört die Klage seiner Kinder. Nicht nur sie sind es, die warten. Auch Gott wartet. Er lässt sich erinnern an seine »Vaterpflichten«.