Buchcover

Leo Frank-Maier

Die Bestie vom Bisamberg

SAGA Egmont

Die Bestie vom Bisamberg

Vorwort

Herr Kommissar, was bearbeiten Sie denn gerade für einen Fall?« fragte die alte Dame lüstern, und es wurde totenstill in der Stammtischrunde.

Ich habe solche und ähnliche Fragen oftmals gestellt bekommen. Vierzig Jahre lang war ich Kriminalbeamter, und nie habe ich verstanden, warum viele Zeitgenossen diesen Beruf für besonders interessant halten. Und warum über die Arbeit eines Kriminalbeamten so erschreckend falsche Vorstellungen herrschen.

Doch wie bin ich zu meinem Beruf gekommen?: Ich bin 1925 in Wien geboren, mein Vater war Fabrikarbeiter, meine Mutter Hausfrau, bescheidene Verhältnisse. »Bub, lern was«, hörte ich von meinem Vater immer wieder. »Nur was du im Kopf hast, kann dir niemand wegnehmen.« Unter großen finanziellen Opfern ließ er mich ein Gymnasium besuchen. Noch nicht achtzehn, werde ich großdeutscher Soldat, Gefreiter der Infanterie, nach Rußland geschickt, zweimal verwundet – ein Schicksal wie das so vieler anderer. Nach dem Krieg finde ich die elterliche Wohnung ausgebombt, den Vater in Gefangenschaft, die Mutter in einem Barackenlager. Ich werde Polizist, weil mir sonst nichts einfällt und ich Lebensmittelmarken brauche.

Mein Vater hatte recht: Was man im Schädel hat, kann einem niemand nehmen. Ich spreche englisch und russisch, kann mich also mit den Herren Besatzungsoffizieren verständigen. Und Leute mit diesen Sprachkenntnissen sucht man bei der Kriminalpolizei, also werde ich Kriminalbeamter.

Es ist in diesem Beruf wie in jedem anderen auch. Der eine hat Glück, ist erfolgreich. Der andere bringt es trotz Fleiß nur zur Mittelmäßigkeit. Ich hatte unerhört viel Glück, immer wieder. Hätte ich dieses Glück auch in meinem Privatleben gehabt, ich wäre heute Multimillionär und vielleicht Haremsbesitzer. Und bräuchte keine Krimis zu schreiben. Aber das kam alles viel später.

Vorerst wirbelt es mich, den Inspektor Maier, ordentlich herum. Ich habe in allen Sparten der Kripo gearbeitet, mit Ausnahme der Abteilung Wirtschaftsbetrug. Dazu muß man schon ein regelrechter Buchhalter sein, muß Bilanzen lesen können. Doch da Mathematik schon immer meine große »Schwäche« war, würde ich mir nie erlauben, einen Kriminalroman zu schreiben, der in der Welt der Großbetrüger spielt. Meiner Meinung nach kann oder zumindest sollte man nur über die Dinge schreiben, von denen man etwas versteht. Es macht mich richtig betroffen, jetzt, als »alter« Mann, sehen zu müssen, daß viele der Krimis, die in Kinos und im Fernsehen gezeigt und auch als Buch veröffentlicht werden, nicht die geringste Sachkenntnis in der Behandlung der Themen erkennen lassen. Und ein wenig selbstgefällig erlaube ich mir, Bertrand Russell zu zitieren: »Es ist ein Jammer auf dieser Welt, daß die Dummköpfe so selbstsicher sind und die Klugen so voller Zweifel.«

Damit sind wir beim Thema. Seit zehn Jahren schreibe ich Kriminalromane, seit zwei Jahren auch Drehbücher für Kriminalfilme. Was bedeutet, daß ich mich in beiden Sparten informieren muß – ich schmökere in Krimis und sehe mir Kriminalfilme an, was ich früher nie getan habe. Und dabei kommt mir das Grausen. Langsam beginne ich zu begreifen, wie die vielen falschen Vorstellungen über den Beruf des Kriminalbeamten entstehen konnten.

Erstaunt erblicke ich am Bildschirm den smarten Kommissar im Nadelstreif, wie er am Tatort verdachtschöpfend um sich blickt. Die Leiche wird abtransportiert. Kamera groß auf die seelenvollen Augen des Kommissars. »Seltsam«, murmelt er. Kamera schwenkt auf die elegante Einrichtung des Tatortes, einer eleganten Villa. Natürlich hatte dieser Mord im gehobenen Milieu Stil: Der Herr Direktor hat ein Verhältnis mit seiner Sekretärin, was keinem verborgen bleibt. Seine ermordete Frau ging fremd mit dem Gärtner. Aha, denkt Lieschen Müller, entweder war es die Sekretärin oder doch wieder, wie üblich, der Gärtner. Enttäuscht gehe ich schlafen. Meine Frau und Tochter gucken weiter.

Als Kriminalbeamter war ich immer sehr ehrgeizig. Wieso, weiß ich eigentlich heute gar nicht mehr so recht. Aber als Drehbuchautor habe ich jetzt auch Ehrgeiz entwickelt. Ich will einmal einen Stoff liefern, in welchem kein Mord, keine Schießerei und keine Verfolgungsjagd vorkommt. Und der trotzdem spannend ist. Je besser ich aber die Regisseure kennenlerne, desto pessimistischer werde ich, ob mir das gelingt.

Ich muß also Konzessionen machen. Natürlich gebe ich zu, daß professionelle Regisseure, TV-Redakteure und Produktionsleiter eben von der Filmbranche mehr als ich verstehen. Aber ihren Argumenten kann ich mich nicht anschließen. »Leo«, lächeln sie milde, »das verstehst du nicht. Was wir brauchen, ist Action. Die Zuschauer wollen das. Ohne Knallereien und Bremsenquietschen schlafen uns die Leute ja ein.«

Ist das wirklich so?

Ich kann es nicht glauben. Und ich stelle mir die Frage: Soll man schreiben und produzieren, was die »Leute« (angeblich) wollen? Oder soll man versuchen, den Menschen etwas anderes zu bieten? Etwas zum Nachdenken, nicht nur »Action«. Menschliche Werte lassen sich in allen Stoffen vermitteln. Auch in Krimis.

Der Alltag des Kriminalbeamten beginnt überall auf der Welt mit einer Art Frühbesprechung, bei welcher die angefallene Arbeit verteilt wird. In Österreich nennt man das den Frührapport, in England morning briefing, in Deutschland hat man verschiedene Bezeichnungen dafür. Das System aber ist überall das gleiche. Die Akten werden nach Sachgebieten den einzelnen zuständigen Referaten zugewiesen. Die Referatsleiter bestimmen, wer was zu bearbeiten hat und wie das geschehen soll. Arbeitsgruppen werden zusammengestellt, je nach Notwendigkeit der Sachlage wird Verbindung zu anderen Dienststellen aufgenommen. Auch sind die Sachgebiete im wesentlichen überall gleich. Da gibt es die Abteilung für politische Delikte, für Gewaltverbrechen, für Einbruch, Diebstahl, Betrug, Jugend und Sitte, Rauschgift, Brand. Und natürlich die Kriminaltechniker, das sind die Spurensucher usw. Der oft zitierte Ausdruck »Mordkommission« ist blanker Unsinn. Ist ein Mord passiert, wird er von den Kriminalbeamten der Gruppe »Gewaltverbrechen« bearbeitet. Und diese sind für alle Bereiche zuständig, in denen Gewalt im Spiel ist. Vom schweren Raubmord bis zur leichten Körperverletzung. Was gewiß einleuchtet, denn glücklicherweise passieren Morde seltener als Ladendiebstähle, und eine reine »Mordkommission« hätte ja, wäre sie wirklich nur für Mord zuständig, kaum etwas zu tun. Auch die Bezeichnung »Mordspezialist« ist falsch und einfach lächerlich. Jeder Mord ist anders, und man kann sich nicht darauf spezialisieren. In der Realität. Anders ist es natürlich bei dem eingangs zitierten TV-Kommissar im Nadelstreif.

Und damit sind wir wieder beim eigentlichen Thema. Mit den Kritiken meiner bisher ausgestrahlten »Tatort«-Filme kann ich ganz zufrieden sein. Bemängelt wurde verschiedentlich nur die vulgäre Ausdrucksweise der handelnden Personen. »Muß das sein?« werde ich gefragt. Aber ich kann doch nicht Zuhälter, Huren oder Rauschgifthändler wie Burgschauspieler sprechen lassen! Die wirkliche Sprache der Kriminalszene kann ich im Drehbuch ohnehin nicht wiedergeben. Sie wäre nur ganz wenigen verständlich. Aber doch annähernd will ich mich an die Wirklichkeit halten. Denn meine Stoffe sind keine Mordfälle in besseren Kreisen.

Ich habe es mir in den Kopf gesetzt, Kriminalfälle in Romanen darzustellen. Natürlich werden auch in den sogenannten »besseren Kreisen« Verbrechen begangen. Aber das ist ganz und gar nicht typisch. Manchmal, so glaube ich, siedeln Regisseure und Drehbuchautoren ihre Handlung nur deshalb in höheren Gesellschaftskreisen an, um mit der gezeigten Eleganz der Wohnungen, der neuesten Mode und einer Menge Schmuck den Neid des Publikums zu wecken …

Wenn ich diese Ansichten in Freundes- oder Feindeskreisen vertrete, höre ich sinngemäß immer wieder folgenden Einwand:

Das Schreiben von Spannungslektüre kann doch nicht nur den Kriminalbeamten bzw. Kriminellen vorbehalten sein. Wo käme man denn da hin? Der Verfasser eines Ärzteromans muß ja auch nicht Mediziner sein, der Autor eines Zirkusromans nicht unbedingt Feuerschlucker oder Seiltänzer.

Das ist richtig.

Aber in den beiden letztgenannten Fällen informieren sich die Autoren zweifellos bei den Spezialisten. Sie recherchieren. Warum geschieht dies bei Krimi-Autoren so selten? Es wäre doch ganz einfach. Überall würden freundliche Kriminalbeamte gerne jede gewünschte Auskunft geben. Ich weiß das aus eigener Erfahrung, denn vierzig Jahre war ich in diesem Beruf tätig. Doch bei mir hat sich nie jemand nach Details meiner Arbeit erkundigt. Bei meinen Kollegen ebensowenig.