Inhaltsverzeichnis

Zur Einführung

1. Buch
Die erste Vision: Von der geistlichen Einsicht.
Die zweite Vision: Vom Fall der Engel und Menschen
Dritte Vision: Vom Weltall.
Die vierte Vision: Von Seele und Leib.
Die fünfte Vision: Von der Synagoge.
Die sechste Vision: Von den Engelchören.

2. Buch
Die erste Vision: Vom Erlöser.
Die zweite Vision: Von der Dreifaltigkeit.
Die dritte Vision: Von der Taufe.
Die vierte Vision: Von der Firmung.
Die fünfte Vision: Von den drei Ständen.
Die sechste Vision: Von der Eucharistie und Buße.
Die siebte Vision: Vom besiegten Teufel.

3. Buch
Die erste Vision: Vom Engelsturz.
Die zweite Vision: Von der Gottesstadt.
Die dritte Vision: Vom Turm der Vorbereitungszeit.
Die vierte Vision: Von der Säule des Gottesworts.
Die fünfte Vision: Vom Zorn Gottes.
Die sechste Vision: Vom alten Bund.
Die siebte Vision: Von der Dreifaltigkeit.
Die achte Vision: Die Säule des Erlösers.
Die neunte Vision: Der Turm der Kirche.
Die zehnte Vision: Die erste von der Zukunft der Kirche.
Die elfte Vision: Die zweite von der Zukunft der Kirche.
Die zwölfte Vision: Vom Jüngsten Gericht.
Die dreizehnte Vision: Von den Chören der Seligen.
Hildegard von Bingen

Der Weg der Welt

(Alle 3 Bände)

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
musaicumbooks@okpublishing.info
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-1739-7

Die vierte Vision: Von der Firmung.

Inhaltsverzeichnis


1. Dann sah ich einen großen runden Turm, der ganz aus weißen Steinen bestand und an seiner Spitze drei Fenster hatte. Aus ihnen leuchtete solcher Glanz, daß auch das Dachgewölbe in jener Helligkeit zu erblicken war. Die Fenster selbst waren mit schönsten Smaragdsteinen geschmückt. Dieser Turm schien gleichsam mitten auf den Rücken der weiblichen Gestalt gelegt, und auch diese konnte wegen seiner Stärke nicht fallen. Dieser Turm ähnelte solchen, wie sie eine Stadtmauer krönen. Jene kindlichen Gestalten, die aus dem Leibe der weiblichen Figur hervorgingen, sah ich in großer Klarheit leuchten, denn manche von ihnen waren von der Stirne bis zu den Füßen in goldene Farbe gehüllt, andere waren nur hell, wieder andere entbehrten auch dessen. Einige von ihnen untersuchten den rein und klar leuchtenden Glanz, andere aber wanderten mit dem unruhigen und rötlichen Schimmer nach Osten. Die den rein und klar leuchtenden Glanz betrachteten, hatten zum Teil klare Augen und. starke Füße und schritten mutig in den Leib jener Gestalt. Die kranke Augen und Füße besaßen, wurden hier und dorthin vom Wind geschleudert. Aber sie hielten Stäbe in den Händen, drehten sich vor der Gestalt und schlugen sie zuweilen ein wenig. Es waren auch solche da, die heitere Augen und schwache Füße hatten; diese liefen vor der Gestalt hier und dorthin auseinander. Langsam bewegten sich jene vor der Gestalt, die kranke Augen, aber kräftige Füße hatten. Einige von ihnen betrachteten den unruhigen rötlichen Glanz, wieder andere gingen wohl geschmückt in die Gestalt hinein, andere enteilten ihr, ja griffen sie an und brachten ihre Einrichtungen in Unordnung. Mehrere solche kehrten bußfertig in Demut zu ihr zurück, andere blieben aber wegen ihrer Mißachtung in der sich überhebenden Verhärtung des Todes zurück. Wiederum hörte ich eine Stimme vom Himmel zu mir sprechen: »Die neue Braut ist geschmückt in der feurigen Glut des hl. Geistes und befestigt für die Vollendung ihrer Schar. So ist es auch mit dem gläubigen Menschen, der die Wiedergeburt im hl. Geiste und Wasser erlangt hat und durch die Salbung des himmlischen Lehrers geschmückt und bestärkt werden muß.

2. Der Turm bedeutet die lodernde Glut der Gaben aus dem hl. Geiste, welchen der Vater auf die Welt sandte aus Liebe zu seinem Sohne; dieser ließ sich auf die Herzen seiner Jünger gleich feurigen Zungen nieder, und sie wurden gestärkt im Namen der heiligen und wahrhaftigen Dreifaltigkeit. Durch seine Ankunft sind sie so stark geworden, daß sie vor keiner Strafe mehr zurückschreckten, sondern sie starkmütig ertrugen. Die Kraft dieses Turmes ist so groß, daß er die Kirche so sehr stärkt, daß keine Raserei teuflischer Wut sie überwinden kann.

3. Der Turm ist groß und rund, ganz besetzt mit weißen Steinen; denn unermeßlich groß ist die Wonne des hl. Geistes und reicht an alle Geschöpfe mit ihrer Gnade heran. Keine Verderbnis schwächt die Fülle ihrer Gerechtigkeit, denn sie gleicht einem Gießbach, die Ströme der Heiligkeit brechen in leuchtender Klarheit aus ihr hervor. Nie fand man in ihr eine Makel, weil der hl. Geist die brennende und leuchtende Klarheit selbst ist.

4. Was bedeuten die drei Fenster an der Spitze, die mit ihrem Glanz auch das gewölbte Dach des Turmes mit hellem Glanze erleuchten? Die unaussprechliche Dreifaltigkeit zeigt sich in der Ausgießung ihrer Gaben aus dem erhabenen hl. Geiste; aus dieser glückseligsten Dreieinheit geht der Glanz der Gerechtigkeit in der Lehre der Apostel hervor, damit die mächtigste Kraft der Gottheit, welche unbegreiflich in der Höhe ihrer allmächtigen Majestät herrscht, dem sterblichen Menschen offenkundig werde. Die Fenster haben herrlichsten Smaragdschmuck, weil die seligste Dreifaltigkeit in jugendlichster Kraft und Mühsal der Apostel niemals die träge Glaubensdürre gefühlt hat, wie es in der ganzen Welt offenbar ist. Weil nun die Kirche durch das Wehen des hl. Geistes so von ihnen gestärkt wurde, deshalb will sie auch und fordert es, daß ihre Söhne mit dem Zeichen des hl. Geistes in dieser Salbung geschmückt werden. Er kam in feurigen Zungen durch den Willen von Gott, dem Vater, in die Welt. Daher muß auch der Mensch nach der Taufe des Heils mit der Salbung des Lehrers gestärkt werden, wie auch die Kirche auf einem festen Felsen aufgebaut ist.

5. Der Turm lagert sich mitten auf dem Rücken der weiblichen Gestalt und ähnelt einem Stadtturm; und die Gestalt konnte wegen seiner Schwere nicht fallen. Auch der hl. Geist hat in der höchsten Stärke der Menschwerdung jenes, der der wahre Bräutigam der Kirche ist, wunderbar seine Herrlichkeiten gewirkt. Die Kirche ist so stark in ihrer Verteidigung, daß sie nie wegen dieser Stärke, mit der sie von dem Feuergeist begabt wurde, in irgendeinen Irrtum fallen kann. Vielmehr wird sie stets durch himmlischen Schutz in der Liebe ihres Bräutigams ohne Fehl und Makel sich freuen.

6. Kinder siehst du den Leib der Gestalt unter großer Helligkeit betreten; dies sollen jene bedeuten, die in der Unschuld eines reinen Herzens durch den Bronnen der Wiedergeburt Kinder ihrer Mutter, nämlich der Kirche, geworden und als Kinder des Lichts nach der Abwaschung ihrer Sünden lebten. Einige von ihnen tragen von ihrer Stirn bis zu ihren Füßen eine goldene Farbe an sich, weil sie vom Anfange guter Werke bis zum Ende ihrer Heiligung durch die leuchtenden Gaben des hl. Geistes in der Salbung wahrer Gläubigkeit durch die Hand des Bischofs mit dem Chrisma geschmückt sind. Wie das Gold mit kostbaren Steinen ausgezeichnet wird, mit denen man es besetzt, so wird auch der geschmückt, der mit dem Chrisma durch die Hand des Bischofs in Treuem getauft wurde und nun in der Salbung der Taufe geschmückt erscheint.

7. Andere Kinder hatten nur einen goldenen Glanz, weil sie zwar in der Taufe abgewaschen und gereinigt wurden, nicht aber die Salbung mit Chrisma durch den Bischof erlangten, die das Zeichen des heiligen Feuergeistes ist. Die Salbung zur Stärke durch die Gabe des hl. Geistes bleibt nur bischöflichem Amte vorbehalten, das dem gläubigen Volke nach der Wiedergeburt aus dem Wasser und Geiste zugewandt werden muß, wenn der gläubige Mensch auf dem festen Felsen gestärkt werden soll.

9. Einige dieser Kinderschar schimmern in reinem und hellem Glanz, andere aber wandten den unruhigen und rötlichen Schimmer nach Osten. Dies bedeutet, daß von den Söhnen der Kirche, welche sie in Unschuld durch Gottes Kraft hervorbringt, einige in Reinheit des geistlichen Lebens in heiterster Kraft glänzen, indem sie Irdisches zertreten und aus Liebe zur wahren Sonne in Erwartung sind, einige aber fleischliche Wege wandeln und durch mancherlei Laster verwirrt werden. Dennoch erglühen auch sie in rechtem Glauben und seufzen zum Ewigen, weil sie himmlische Vergeltung ersehnen. Die Betrachter des reinen und hellen Glanzes haben teils klare Augen und kräftige Füße. Mit Macht schreiten sie in den Leib der Gestalt; die Himmlischem nachfolgen, richten ihre Betrachtung und ihren Fortschritt auf die göttlichen Gebote und wandeln gleichsam in innigster Umarmung mütterlicher Liebe, weil sie weder in Vergänglichem noch in Irdischem ihre Hingabe sicher stellen. Andere sind krank an Augen und Füßen, weil sie weder eine klare Einstellung noch kraftvolle Ausführung des Werkes zur Vollkommenheit besitzen, deswegen werden sie auch jetzt vom Geist hier und dorthin geworfen, denn durch vielfache Versuchungen zur Überhebung werden sie zu verschiedenen Sitten verleitet. Sie halten Stöcke in ihren Händen und bewegen sich vor der Gestalt herum und schlagen sie zuweilen ein wenig. Dies ist so, weil sie schändliches Vertrauen auf ihre eigenen Werke setzen, der Kirche sich in falscher Meinung zeigen, durch Verstellung weise erscheinen wollen vor den Menschen, töricht aber vor Gott in eitlem Ruhm sind. Andere haben heitere Augen, aber kranke Füße und wandeln hier-und dorthin in der Luft vor der Gestalt; mit den Augen erspähen sie die Gebote durch schauende Betrachtung. Die Füße hinken, und die Braut Christi sieht sie in ihrem unbeständigen Durcheinanderlaufen; sie suchen die Weisheit im Schatten und glauben sie schon unter ihrer Macht zu haben, bevor sie in ihren Geist einging, und sie irgendwie ihrer mächtig sind. Wieder andere besitzen kranke Augen, aber kräftige Füße und schwanken dennoch vor der Gestalt, weil ihre Einstellung auf das gute Werk gar schwach ist. Sie eilen nicht einfältigen Herzens in den kirchlichen Einrichtungen, weil sie ihren Geist mehr an das Irdische als an das Himmlische heften. Sie gelten töricht vor Gott, weil sie mit weltlicher Klugheit begreifen wollen, wozu sie nicht gelangen können. Die Betrachter jenes unruhigen rötlichen Glanzes sind zum Teil weltlich geschmückt und wandeln kraftvoll daher. Obwohl sie mancherlei irdisches Gut besitzen, so tragen sie dennoch ebenfalls in der Kirche den Schmuck ihrer Mühen, da sie es nicht verschmähten, ihren Fuß im göttlichen Gesetz gerade wandeln zu lassen und nehmen gehorsam den Geboten Gottes Fremdlinge auf, kleiden Nackte und nähren Hungrige. Es gibt aber auch solche, die sich von der Gestalt losreißen und sie sogar bestürmen samt ihren rechtmäßigen Einrichtungen. Diese haben die mütterliche süße Nahrung der Kirche verlassen und ermüden sich in verschiedenem Irrtum. Deshalb zerstören sie die aufgestellten Gesetze durch vielfältigen Angriff. Sie kehren erst demütig zu der Gestalt zurück, nachdem sie würdige und schwere Buße zur Wiederherstellung des Lebens auf sich genommen haben. Andere verharren aber aus Mißachtung in der Überhebung, die zum Tode führt.

Die dreizehnte Vision: Von den Chören der Seligen.

Inhaltsverzeichnis


1. Dann sah ich wieder ganz helle Luft, in der ich in allen den geschilderten Sinnbildern wunderbar verschiedene Musik hörte in Freudenliedern der Himmlischen. Dieser Schall kündete wie der Gesang einer großen Menge Zusammenklang: »Hellster Edelstein, heitere Sonnenzier ist dir eingegossen, du, dem Herzen des Vaters entspringender Quell, der das einzige Wort dessen ist, durch das er den Urstoff der Welt schuf, den Eva trübte«. Ruhmreichstes lebendiges Licht, ihr Engel, die ihr in der Gottheit die göttlichen Augen in dem mystischen Dunkel jeder Kreatur anschaut und vor Sehnsucht dabei glüht, die nie gesättigt werden kann, welch herrliche Freuden besitzt ihr in eurer Gestalt, die in euch nie von einem bösen Werk berührt wurde! Ihr prächtigen Männer, ihr alten Heiligen, habt vorhergesagt die Erlösung der verbannten und dem Tode verfallenen Seelen. Ihr kreistet wie Räder und spracht von den Mysterien des Berges, der den Himmel berührt und viele Wasser benetzt, unter euch erhob sich die helle Leuchte, die dem Berge vorauseilt und erleuchtet. Du, strahlende Apostelschar, erhebst dich in wahrer Erkenntnis, bist das klarste Licht in der schwärzesten Finsternis und die stärksten Säulen, welche die Braut des Lammes tragen, durch dessen Freude die Mutter selbst und die erste Jungfrau Bannerträgerin ist. Das Lamm ist nämlich der makellose Bräutigam, wie auch seine Braut ohne Fehle ist. Welch großen Lohn habt ihr nun, da ihr ja eure Leiber, als ihr lebtet, verachtet habt, weshalb euch das Lamm Gottes wieder einsetzte in die Erbschaft. Ihr gleicht Rosenblüten, die glücklich sind in der Vergießung ihres Blutes. Wiederum sprach die Stimme: »Ihr Nachfolger des tapfersten Löwen, ihr herrschtet für ihn dienend zwischen Tempel und Altar, wie die Engel in Lobgesängen ihre Stimme erklingen lassen und den Völkern mit ihrer Hilfe nahe sind! Ihr Nachahmer der erhabenen Persönlichkeit in dem kostbarsten und ruhmreichsten Symbol, wie herrlich ist euer Schmuck, wo der Mensch löst und bindet in Gott die Faulen und Verbannten, die Weißschimmernden und Schwarzen ziert und große Lasten nachläßt. Ihr vollziehet Engeldienst und wißt, wo die starken Grundlagen zu legen sind. Daher habt ihr auch eure große Ehre!« Ferner sprach die Stimme: »Ihr schönen, Gott anblickenden, o ihr seligen Jungfrauen, wie edel seid ihr? In euch betrachtete sich der König, und der lieblichste Garten seid ihr, der duftet in allen Wohlgerüchen.« Jetzt klagte die Stimme, als wenn eine Menge wehklagte, um zurückzurufen zu den Stufen in Harmonie: »Das ist das Wehgeschrei des größten Schmerzes! Weh, weh!« Dann sprach die Stimme, als wenn eine große Menge den Menschen zu helfen und den Teufelskünsten Widerstand zu leisten ermahnte: »Die Tugenden überwanden die Laster, und die Menschen kehrten endlich durch göttliche Eingebung zur Buße zurück.« Wir Tugenden sind in Gott und bleiben in Gott. Wir streiten für den König der Könige und sondern das Gute vom Bösen. Deshalb wollen wir jetzt kämpfen und Hilfe bringen denen, die uns anrufen und zurücktreiben die teuflischen Künste, geleiten aber zu seligen Wohnungen, die uns nachahmen wollen.

2. Klagen der Seelen, die im Fleische weilen:

»Wir sind Fremdlinge. Was taten wir, indem wir uns auf den Abweg der Sünden begaben? Königstöchter sollten wir sein und stürzten in den Schatten der Sünden. O lebendige Sonne, trage uns auf deinen Schultern zur gerechten Erbschaft, die wir in Adam verloren haben. König der Könige, in deiner Schlacht kämpfen wir!«

Die treue Seele:

»Süße Gottheit, wonniges Leben, in dem ich das herrliche Kleid tragen und empfangen möchte, welches ich verloren habe beim ersten Erscheinen, zu dir seufze ich und rufe alle Tugenden an!«

Die Tugenden:

»Glückliche Seele, süßes Gottesgeschöpf, das du erbaut bist auf die tiefgründige Höhe göttlicher Weisheit, du liebst stark!«

Die treue Seele:

»Gern käme ich zu euch, um mir den Herzenskuß geben zu lassen.«

Die Tugenden:

»Wir müssen mit dir streiten, Königstochter!«

Die treue Seele:

»O schwere Arbeit und hartes Gewicht, das ich trage in diesem Lebensgewande, da es mir allzu schwer fällt, gegen das Fleisch zu kämpfen!«

Die Tugenden:

»O, auf den Willen Gottes gegründete Seele, glückliches Werkzeug, warum bist du so schwach gegen das, was Gott in der jungfräulichen Natur zertreten hat? In uns mußt du den Teufel überwinden!«

Die treue Seele:

»Eilet mir zu helfen, damit ich stehen bleiben kann!«

Die Erkenntnis Gottes:

»Siehe, Tochter der Erlösung, was das ist, was du anzogst; sei standhaft, und du wirst nie fallen!«

Die treue Seele:

»Ich weiß nicht, was ich tun soll, noch wohin fliehen. Weh mir, ich kann nicht vollenden, was meinem Gewand entspricht! Wohlan, ich will es abwerfen!«

Die Tugenden:

»Unseliges Gewissen, armselige Seele! Weshalb verbirgst du dein Antlitz vor deinem Schöpfer?«

Die Gotteserkenntnis:

»Du weißt, siehst noch kennst den, der dich erschaffen hat.«

Die getreue Seele:

»Gott schuf die Welt, ich tu kein Unrecht, wenn ich sie genießen will.«

Der Teufel:

»Törin, Törin, was nützt es dir, wenn du dich abmühst? Schau die Welt an, und sie wird dich umfangen mit großer Ehre.«

Die Tugenden:

»Weh, weh! Wir Tugenden klagen und trauern, weil das Schäflein des Herrn das Leben flieht.«

Die Demut:

»Ich bin die Demut, die Königin der Tugenden, und sage: Kommet zu mir alle Tugenden, und ich will euch stark machen, um die verlorene Drachme zu suchen und die Glückliche in ihrer Ausdauer zu krönen!«

Die Tugenden:

»Glorreiche Königin und süßeste Mittlerin, wir kommen gern!«

Die Demut:

»Darum, geliebteste Töchter, halte ich euch im königlichen Brautgemach. O Töchter Israels, unter dem Baume erweckte euch Gott, erinnert euch also in dieser Zeit seiner Pflanzung, freut euch, Töchter Sions!«

Der Teufel:

»Was ist das für eine Macht, die Gott besitzt, da nichts außer ihm ist? Ich sage also: Wer mir und meinem Willen folgen will, dem gebe ich alles. Du aber und die deinen besitzest nichts, um es zu geben, weil ihr alle nicht wißt, was ihr seid.«

Die Demut:

»Ich und meine Gefährtinnen wissen wohl, daß du der alte Drache bist, der zur höchsten Höhe fliegen wollte, aber Gott selbst stürzte dich in den tiefsten Abgrund.«

Die Tugenden:

»Wir aber wohnen alle in der Höhe.«

Die getreue Seele:

»O ihr königlichen Tugenden, wie herrlich seid ihr, erglänzend in der höchsten Sonne! Wie lieblich ist eure Wohnung, darum wehe mir, die ich euch mied!«

Die Tugenden:

»Komme, o Flüchtige, komme zu uns, Gott wird dich aufnehmen!«

Die getreue Seele:

»Ach, ach, verbrennende Wonne verschlang mich in Sünden, und so wagte ich nicht, bei euch einzutreten.«

Die Tugenden:

»Fürchte dich nicht und fliehe nicht, denn der gute Hirt sucht in dir sein verlorenes Schäflein.«

Die getreue Seele:

»Jetzt müßt ihr mich aufnehmen, da ich schlecht rieche in meinen Wunden, mit denen die alte Schlange mich befleckte.«

Die Tugenden:

»Flüchtige Seele, sei stark und bekleide dich mit den Waffen des Lichts!«

Die getreue Seele:

»Du ganze königliche Tugendschar, weißschimmernde Lilien, Purpurrose, neigt euch zu mir, weil ich fern von euch in der Verbannung weilte: Helft mir, damit ich im Blute des Gottessohnes aufstehen kann. Du wahre Arznei, Demut, hilf mir, weil der Stolz in vielen Lastern mir viele Narben beibrachte. Jetzt fliehe ich zu dir! Nimm mich auf!«

Die Tugenden:

»Eile zu uns und folge jenen Spuren, auf denen du nie in unserer Gesellschaft fallen wirst, und Gott wird dich heilen.«

Die getreue Seele:

»Ich Sünderin, die das Leben floh, voll Geschwüren komme ich zu euch, damit ihr mir den Schild der Erlösung darreichet.«

Die Demut:

»Alle Tugenden, nehmt die arme Sünderin mit ihren Narben um der Wunden Christi willen auf und führet sie zu mir!«

Die Tugenden:

»Wir wollen dich zurückführen und nicht verlassen; die ganze himmlische Heerschar freut sich über dich, darum wollen wir vereinten Jubelgesang erklingen lassen.«

Die Demut:

»Arme Tochter, ich will dich umarmen, weil der große Arzt harte und bittere Wunden deinetwegen erlitten hat.«

Der Teufel:

»Wer bist du, und woher kommst du? Du hast mich umarmt, und ich habe dich in die Weite geführt, aber jetzt beschämst du mich in deiner Rückkehr, und ich werde dich in meinem Kampf vernichten.«

Die getreue Seele:

»Ich erkannte, daß alle deine Wege böse seien, und floh vor dir. Jetzt aber, o Spötter, kämpfe ich gegen dich. Darum, o Königin Demut, hilf mir mit deiner heilenden Kraft!«

Die Demut:

»Sieg, der du ihn im Himmel überwunden hast, eile mit deinen Gefährten hinzu und bindet den Teufel!«

Der Sieg zu den Tugenden:

»Ihr tapfersten und herrlichsten Krieger, kommt und helft mir, den Betrüger zu besiegen!«

Die Tugenden:

»Süßeste Streiterin, im brausenden Gießbach ward der reißende Wolf verschlungen, glorreich Gekrönte, wir wollen gern mit dir kämpfen wider den Betrüger der Seelen.«

Die Demut:

»Bindet jenen also, ihr herrlichen Tugenden!«

Die Tugenden:

»Dir, als unserer Königin, gehorchen wir und erfüllen alle deine Befehle.«

Der Sieg:

»Freut euch, Schwestern, die alte Schlange ist gefesselt.«

Die Tugenden:

»Lob sei dir, Christe, König der Engel! O Gott, wer bist du, der du in dir selbst so große Weisheit hast, mit der du in Zöllnern und Sündern das Höllengebräu vernichtest, welche jetzt in übernatürlicher Güte erstrahlen. Lobpreis sei dir, o König, allmächtiger Vater, aus dir fließt die Quelle in feuriger Glut, führe deine Söhne auf rechten Weg und laß rechten Wind die Segel schwellen, so daß wir sie zum himmlischen Jerusalem geleiten.«

3. Diese Stimmen waren so laut, als wenn es eine ganze Menge von Stimmen wären. Ihr Klang durchdrang mich so, daß ich sie ohne Mühe verstehen konnte.

4. Ich hörte eine Stimme aus derselben hellen Luft zu mir sprechen: »Lobpreis muß dem höchsten Schöpfer ohne Unterlaß mit Herz und Mund dargebracht werden, da er nicht nur die Stehenden und Aufrechten, sondern auch die Fallenden und Niedergebeugten in seiner Gnade auf himmlische Sitze sich niederlassen heißt.«

5. Daher siehst du, o Mensch, die hellstrahlende Luft, welche den Glanz der Freude der Himmelsbewohner darstellt. In ihr höre ich in allen den gesagten Sinnbildern auf wunderbare Weise verschiedenartige Musik, Lobgesänge auf die freudigen Himmelsbewohner. Diese haben tapfer auf dem Weg der Wahrheit ausgehalten; zu ihnen gesellen sich die klagend Zurückgerufenen zum Lob ihrer Freuden, denn die Luft faßt und erhält alles, was unter dem Himmel ist. Wie in allen dir dargezeigten Wundertaten Gottes hörst du eine liebliche und süße Freudensymphonie, die Wunder der Auserwählten in der himmlischen Stadt, die in Gott mit lieblicher Ehrfurcht stehen. Klage erschallt über die Niederbeugung jener, welche die alte Schlange zu zerstören trachtete, die göttliche Kraft aber machtvoll in die Gemeinschaft glückseliger Freuden führte, indem sie in ihnen jene Geheimnisse hervorbrachte, welche dem zur Erde gewandten Geist unbekannt sind. Dann hörst du die Wechselchöre der sich anspornenden Gotteskräfte, den Völkern zu helfen, mit denen teuflischer Neid kämpft; sie sind es auch, die die Teufelskünste niedertreten, so daß die gläubigen Menschen dennoch von den Sünden zum Himmel durch Buße gehen. Nachdem sie aber mit größter Anstrengung überwunden sind, kehren die in Sünden gefallenen Menschen durch göttlichen Willen zur Buße zurück, indem sie ihre früheren bösen Taten erforschen und beweinen und spätere sorgfältig meiden.

6. Dieser Klang, der wie eine Menge von Stimmen in Lobpreis vom Himmel in Harmonie zusammen erklingt, will in einmütigem Jubelgesang den Ruhm und die Ehre der Himmelsbürger preisen, so daß er himmelwärts erhebt, was das Wort eröffnet.

7. So stellt das Wort den Körper dar, die Symphonie aber den Geist. Die Himmelsharmonie verkündet die Gottheit und das Wort die Menschheit des Sohnes Gottes.

Hildegard von Bingen

Der Weg der Welt