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H. W. Stein
DER TOD UND DAS LEBEN



In dieser Reihe bisher erschienen

5001 Christian Montillon Aufbruch

5002 Oliver Müller Sprung ins Ungewisse

5003 Vanessa Busse Dunkle Energie

5004 Vanessa Busse Angriff aus dem Nichts

5005 Oliver Müller Gefangene der Doppelsonne

5006 Achim Mehnert Das Vermächtnis der Moraner

5007 Rainer Schorm Jedermanns Feind

5008 H. W. Stein & Oliver Müller Die Sklavenwelt

5009 Achim Mehnert Todesdrohung Schwarzer Raumer

5010 Vanessa Busse Entscheidung Risiko

5011 Ben B. Black Zegastos Kinder

5012 Michael Edelbrock Fremde Seelen

5013 Achim Mehnert Böser Zwilling

5014 Achim Mehnert Sternentod

5015 Achim Mehnert Das Ende der Promet

5016 Achim Mehnert Tötet Harry T. Orell!

5017 Achim Mehnert Das galaktische Archiv

5018 H. W. Stein Der Tod und das Leben

5019 Achim Mehnert Die Delegation



H. W. Stein


Der Tod und das Leben



RAUMSCHIFF PROMET
Band 18






Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!
Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung
ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.
Infos unter: 
www.BLITZ-Verlag.de

© 2018 BLITZ-Verlag
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Fachlektorat: Ralf Locke
Exposé und Textvorlage: Udo Mulder
Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati
Umschlaggestaltung: Mark Freier
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-578-4

Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!



Planet: Dìqiú (Erde), Region: Zhong-guo, 58. Zyklus, Jahr des Holz-Hundes

Zheng Zheng Xho blickte angestrengt in der Abenddämmerung über die weiten Ebenen des Gānsù, die sich längs des Huang Ho Stromes ausbreiteten. Gelblichgraues Sediment, das vorwiegend aus feinem Gestein bestand, und das das Wasser aus dem fernen Hochland heranführte, gab diesem Strom seinen Namen. Der gelbe Fluss. Xho war hier geboren. Er war hier aufgewachsen, er lebte hier, er hatte hier geheiratet, seine Frau hatte ihm Kinder geboren, und er würde hier sterben. Irgendwann. Noch war es nicht soweit, denn sein Leben zählte erst einundvierzig Sommer, bald zweiundvierzig. Bisher waren die shen ihm einigermaßen wohlgesonnen gewesen. Sein Leben war hart, aber bislang in steten Bahnen verlaufen. Nichts und niemand hätte Zheng Zheng, den Ehrlichen, von hier vertreiben können. Nicht die Steuereintreiber des Generals An ­Lushan, dem Statthalter der nördlichen Provinzen, der gern Erster Minister werden wollte. Nicht das Zensorat Li Linfus, das jegliche Kritik an der Führung verbot. Und auch nicht die Schergen des Kaisers Xuangzong, die von Zeit zu Zeit Soldaten für die nicht enden wollenden Auseinandersetzungen an der reichen Handelsroute Sīchóu zhī lù rekrutierten. Als sie das letzte Mal kamen, hatten sie seine beiden ältesten Söhne mitgenommen. Er wurde traurig, als er im stimmungsvollen Sonnenuntergang wie so oft daran denken musste.

Dem goldenen Zeitalter des Friedens, der Gelehrsamkeit und der Kultur war im Lande zuletzt ein jäher ­Niedergang unter Kanzler Zhang Jiuling gefolgt. Es wurde gemunkelt, dass Yang Guifei, eine Konkubine des Kaisers, in Wahrheit die Amtsgeschäfte kontrollierte. Xuangzong war im Laufe der Jahre müde geworden. Aber verlässliche Nachrichten erreichten die Provinz sowieso eher spärlich, nicht selten erst nach Zyklen. Zuletzt Lǐ Bái, dem in der Region gebürtigen Dichter, der auf seinem langen Weg nach der Hauptstadt Chang‘an durch die Lande zog, war es vergönnt gewesen, aktuellere Neuigkeiten zu übermitteln, da er viele Leute kannte und von ihnen einiges erfuhr. Im letzten Jahr erst war Lǐ Bái Xho im Dorf begegnet.

Zheng Zheng murmelte gleichwohl optimistisch und melodisch ein Gedicht vor sich hin, das aus der Feder jenes Lǐ Bái stammte. „Chuáng qián míng yuè guāng - yǐ shì dì shàng shuāng - jǔ tóu wàng míng yuè - dī tóu sī gù xiāng.“ Es waren dies lyrische Jìngyèsī, Gedanken zur Nacht, die nun allmählich auch über Zhong-guo hereinbrechen würde.

Der in den Versen genannte yuè, der Mond, stand bereits voll am Himmel, obwohl Tàiyáng, die Sonne, noch nicht völlig untergegangen war. Es wurde Zeit, heimzukehren. Heim zu seinem Weib Lining und den fünf der sieben Kinder, denen sie bislang das Leben geschenkt hatte. Ein achtes trug sie gerade unter ihrem Herzen.

Das Haus seiner Familie lag nicht weit von hier. Er konnte es auch aus der Ferne und trotz der länger werdenden Schatten deutlich erkennen. Nur selten ging Zheng Zheng so weit, dass es ihm aus dem Blickwinkel geriet. Der Weizen war ausgebracht, nun konnte er auf eine gute Ernte im späten Sommer hoffen. Was fehlte, war der Regen, der noch auf sich warten ließ. So mochten die shen ihm in diesem Jahr gütig sein.

Zheng Zheng Xho ließ sein Arbeitsgerät an Ort und Stelle, niemand würde es stehlen. Mit großen Schritten eilte er durch den niedrigen Bewuchs. Es gab keinen Weg, keine Straße. Lediglich ein alter Reiterpfad führte von den Tälern der baumbestandenen Hügel herüber zum Fluss und dann an diesem entlang in entgegengesetzter Richtung. Niemand war dort zu sehen.

Lining blickte kurz auf, als er durch die Holztür eintrat, die weder verriegelt noch sonst wie abgesichert war. Wozu auch? Die kaiserlichen Soldaten hätten keine Mühe, sie aufzubrechen, und der nächste Nachbar befand sich viele Li von hier entfernt. Bei den Bewohnern des Gānsù gab es nichts zu holen, ihr wertvollster Besitz waren die Söhne. Sie konnten bei der Feldarbeit helfen, wenn sie alt genug waren. Bis die Soldaten sie holten.

Das kleine Haus, kaum mehr als eine Lehmhütte mit fellverhängten Durchlässen, war karg möbliert. Als einzige Auffälligkeit konnte man einen niedrigen Tisch in der Mitte des Hauptraumes bezeichnen, der schlichte Zeichnungen in sorgsam drapierten Rahmen enthielt, die Gottheiten, Ahnen oder wichtige Personen des öffentlichen Lebens zeigten.

Lining saß in ihrem fleckigen Kleid auf einem Kissen am Boden und schälte Gemüse in den vor ihr stehenden weiten Topf. Aufgrund ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft hatte sie die Beine etwas gespreizt und von sich abgewinkelt, um den Bauch zu entlasten. Sie hatte keine Hemmungen, sich ihrem Manne gegenüber so zu zeigen. Ein Stück weit entfernt von ihr befand sich eine schwach brennende Feuerstelle. Holz knackte.

„Die Kinder?“, fragte er, ohne sie dabei anzusehen.

„Schlafen. Bis auf Yong, denke ich. Du bist spät zurück.“

„Der Boden ist hart. Es gab noch kaum Regen in diesem Mond.“

„Dann werden wir keine gute Ernte haben.“

„Es ist nur noch wenig zu bestellen.“ Zheng Zheng begab sich in einen der kleineren Nebenräume, um bequemere Kleidung anzulegen als die, die ihn gegen die noch frischen Temperaturen der Jahreszeit geschützt hatte. Als er wieder herauskam, hatte Lining den großen Topf mit dem Gemüse bereits in die Stange über der Feuerstelle eingehängt und schürte davor kniend die Glut. Er nahm ihr mit Ruhe den Eisenstab ab und vollendete die Arbeit. „Du sollst dich doch nicht überanstrengen“, sagte er. Die Flammen loderten auf. „Denke an das Kind.“

„Das Kind ... Sieben habe ich dir geboren. Zwei sind vor einem halben Jahr mit den Reitern gegangen. Was wird aus Tsz Kin werden, wenn er einmal in das Alter der Reife kommt?“

„Tsz Kin?“ Er lächelte, als er die Worte wiederholte, die in ihrer Sprache so viel wie gesunder Sohn bedeuteten. „Soll das sein Name werden?“, fragte er.

„Wenn du einverstanden bist. Dein Großvater hieß auch so.“ Sie warf einen flüchtigen Blick an ihrem Mann vorbei auf eines der schöneren Bildnisse auf dem Tisch, eine Kalligraphie voller Kontur und Ausdruck. Zheng Zheng sah ihr ein wenig ähnlich.

„Tsz Kin. Wenn es ein Sohn wird. Aber wenn es ein Mädchen wird?“

„Das weiß ich noch nicht. Ich hoffe, es wird kein Mädchen“, antwortete Lining. „Ich habe dir schon drei nutzlose Töchter geboren, die wir mit durchfüttern müssen.“

„Vielleicht kommt jemand aus dem Dorf, der auf Brautschau ist. Oder sogar aus Tianshui.“

Das war die nächstgelegene Stadt.

„Vielleicht kommt ja auch der Kaiser persönlich“, spottete sie.

„Taehyung von den drei westlichen Feldern hat einen reifen Sohn. Er zeigte sich interessiert, dass dieser Yingtao zur Frau nehmen solle.“

„Taehyung ist hässlich, wie sein Sohn. Yingtao ist unsere Hübscheste“, bemerkte Lining.

„Die äußere Schönheit ist vergänglich. Es ist die Schönheit des Herzens, die zählt“, gab Zheng Zheng theatralisch an.

Lining lächelte. Das erste Mal, seit er von der Aussaat zurückgekehrt war. „Ist das auch ein Vers von diesem Lǐ Bái, der im letzten Winter hier durch zog?“, fragte sie.

„Nein, das ist ein Vers von mir“, sagte er mit Bestimmtheit, doch es war offensichtlich, dass sie ihm kein Wort glaubte. Sie rührte das Gemüse langsam mit einem Schaber um, damit es nicht anschmorte. Nicht mehr lange, und er würde eine gute Mahlzeit bekommen. „Die Kinder haben bereits gegessen?“, fragte er.

Seine Frau nickte stumm. Ihr Lächeln war längst wieder verschwunden. Das Tagwerk war hart in diesen Zeiten. Bevor sie zu essen begannen, entzündete Zheng Zheng vier Weihrauchstäbchen, die er einem kleinen Kästchen aus einem grob gezimmerten Regal an der Wand, nahe dem Feuer, entnahm. Er ergriff mit jeder Hand zwei, dann kniete er vor dem Tisch nieder und formulierte Gebetsverse, während er leicht vor und zurück wippte. Die Stäbchen steckte er anschließend in ein Gefäß, sodass sie weiter vor sich hin glimmen konnten. Der Duft verteilte sich im gesamten Raum. „Die Götter scheinen uns wohlgesonnen. Ich habe das Gefühl, dass sheng bao meine Bitten erhört.“

„So musst du ihm ein würdiges Opfer bringen.“

„Ist der Weihrauch nicht genug?“

„Betrüge nicht die Geister um das, was ihres ist“, mahnte sie.

„Ich erflehe, dass es regnet, nicht, dass es gießt“, entgegnete er.

Beide lächelten. Dann erst widmeten sie sich dem Mahl. Beide aßen mit Bedacht, denn das Gemüse war eine Delikatesse. Um sie herum herrschte die Stille der frühen Nacht.

Er legte die Stäbchen beiseite und nahm einen Schluck Wasser aus dem Hartlederbecher, den Lining ihm hingestellt hatte. Als er den Becher wieder abstellte, brach die Hölle über sie herein. Die Erde begann zu beben, als hätte eine göttliche Faust auf den harten Boden der Ebene des Gelben Flusses geschlagen.


*


Unmittelbar zuvor, im fernen Orbit.

Der Y-förmige Einmannraumer beendete den Transit. Der von Meteoriteneinschlägen übersäte Umläufer, der den Planeten Schedo umkreiste, erschien in voller Größe auf dem Bildschirm vor dem Piloten. Nach einer nur Sekundenbruchteile währenden Orientierungsphase zündete Dar Elak die Manövriertriebwerke und brachte seinen Jäger mit Unterlichtgeschwindigkeit vom Transitionsendpunkt fort. Die Hülle des kleinen Raumers wies eine Vielzahl von Beschädigungen auf, doch keine war so stark, dass sie den Flug durch das Parakon beeinträchtigt hatte. Rechts neben, über und unter ihm erschienen in Abschnitten von Sekunden ebenfalls Schiffe, die desselben Bautyps waren. Insgesamt zehn. Alle führten unmittelbar darauf dasselbe vorgesehene Manöver aus und gingen in eine weite Kurve über. Dies geschah keinen Augenblick zu früh. Im selben Moment transitierte ein weiteres Schiff, das sich allerdings in Größe und Bauart völlig von den vorherigen unterschied. Es besaß die Form einer Hantel, mit zwei Kugeln an den Enden einer dicken Röhre, die beide miteinander verband. Das gesamte Konstrukt war schwarz. Hätte es nicht zwischen Sonne und Mond gestanden, so wäre es selbst dem aufmerksamsten Beobachter entgangen. Allerdings gab es keinen Zweifel an den Anzeigen auf dem Annäherungsschirm. Sie zeigten das Schiff in einer einfachen Vektorgrafik. Es folgte der kleinen Staffel. Das Schiff war mindestens fünfhundertmal so groß wie ein einzelner Jäger. Auf der vorderen Kugel hatte sich ein Wulst gebildet, und dort war deutlich etwas zu erkennen, das wie ein bösartiges rot strahlendes Auge aussah. Ein scharfer Energiestrahl schoss kurz aus dem Auge, traf einen der Jäger, setzte aus, traf einen zweiten, und verfehlte nach abermaliger Unterbrechung einen Dritten. Die beiden Y-Jäger, die der Strahl getroffen hatte, zerplatzten im Vakuum. Es gab keine Rettung – auch keine Trümmer. Nur kosmischen Staub.

Dar Elak befahl den Gegenangriff. Ihm war bewusst, dass dies nicht ohne weitere Verluste bleiben konnte. Aber um den Schwarzen Raumer zu stoppen, musste alles getan werden. Alles! Er gab zwei kurze Kommandos, die als Stimmen in den anderen Cockpits zu hören waren, während ein weiterer Jäger durch den Energiestrahl des Angreifers zerbarst. Die verbliebenen neun gingen in einen Fächerflug über, teilten sich in alle Richtungen, um in einer weiten Überschlagskurve Kurs auf ihr Ziel zu nehmen. Schedo zog unter der durchsichtigen Cockpitverglasung hinweg, hinter der Dar Elak saß.

Sie feuerten aus allen Rohren, die zuckenden Lichtblitze erhellten für jeweils Sekunden den Raum um das Geschehen. Doch schien es so, als ob ihre Hochfrequenzlaser gegen die Hantel wirkungslos waren. Tatsächlich wirkte dort offenbar ein gewaltiger Schutzschild. Stattdessen wurde erneut ein Jäger getroffen. Sie waren nur noch zu acht. Von vormals vierundzwanzig. Die Hälfte von ihnen wurde zerstört, bevor sie per Nottransition ins Parakon fliehen konnten.

Dar Elak näherte sich mit seinem Y-Jäger in einem günstigen Flugwinkel dem Ziel, den die Taktiker auf der Basis ermittelt hatten. Schreibtischkrieger, wie er verächtlich dachte. Keiner von denen war jemals hier draußen gewesen. Niemand kannte die Wirklichkeit dieses Krieges, der in seine entscheidende Phase gegangen war. Sie mussten siegen. Alles andere als ein Sieg war unakzeptabel. Darin zumindest stimmte er mit den Generälen überein.

Das bösartige Auge nahm eine andere Farbe an. Es wechselte von einem furchterregenden Rot in ein giftiges grün. Der Kommandant der Staffel hatte eine Ahnung, was dies bedeutete. „Bei den Cegiren!“, entfuhr es ihm. „Sie benutzen die Gravitationskanone!“

„Wir sind zu nahe an dem Planeten“, meldete sich eine andere Stimme. Sie kam nicht aus einem Lautsprecher. Sie wurde durch Gedankenkraft übertragen.

„Er wird uns alle vernichten! Und er wird Schedo vernichten!“, rief eine andere Stimme.

Wenn ein Pilot der Staffel aus dem Cockpitfenster sah, konnte er die Landmassen erkennen, die sich unter ihm ausbreiteten. Es schien ein gewaltiger Kontinent zu sein, der sich gegenwärtig von einem Ende des Blickfeldes zum anderen zog. Und wenn man genau hinsah, dann konnte man an einer Stelle dieses Kontinents etwas sehen, das wie ein gewaltiger menschengemachter Wall aussah. Ein zweiter Kontinent lag dem ersten beinahe zu Füßen, sah aus wie ein Faustkeil, den seine Ahnen vor vierzigtausend Jahren wohl benutzt hatten. Zwischen den Landmassen gab es blauschillernde Ozeane, beides bedeckt von weißen, zerrissenen Wolkengebilden, die von einer sauberen, präindustriellen Atmosphäre zeugten.

„Schedo ist ein neutraler Ort. Zu unbedeutend, als dass er für die Schwarzen Raumer von Interesse sein könnte. Sie reiten dort noch auf Tieren. Wer weiß, ob sie überhaupt jemals diesen Planeten verlassen werden.“

Dar Elak feuerte. Es schien so, als bekäme der massive Schutz des gewaltigen Schiffes erste Risse. An einer Stelle wurde die Außenhülle angekratzt. Er schoss erneut, verfehlte aber die genaue Stelle trotz der vollautomatischen Zielerfassung. Punktgenau zu schießen, war bei den Geschwindigkeiten, mit denen sie sich bewegten, eine Kunst. Ein Handwerk, das er eigentlich beherrschte. Die Vektorgrafik zeigte exakt die Stelle an, die es zu beschießen galt.

„Eben. Kein Interesse. Was sollte die Zyklopen also hindern? Sie brauchen diesen Planeten nicht, und auch nicht seinen Umläufer“, hörte er jemanden reden.

„Wir müssen es verhindern. Auf Schedo gibt es intelligentes Leben. Humanoide wie wir“, wusste Elak zu berichten.

„Wir haben keine Chance.“

Mehrere Stimmen schwirrten gleichzeitig durch die Pilotenkanzeln der einzelnen Raumer. Die Angst war bei allen spürbar. Ein letztes Mal feuerte Dar Elak und schien genau den Punkt zu treffen, den die Zielerfassung vorgegeben hatte.

Der Schwarze Raumer feuerte seine Kanone ab. Es handelte sich nicht um ein offenes Rohr, aus dem irgendeine Art von Projektil verschossen wurde. Auch gab es keinen Lichtblitz. Dennoch geschah etwas. Es hatte den Eindruck, als würde sich das Raum-Zeit-Gefüge für einen Augenblick verschieben. Der Blick auf die Sterne außerhalb des hiesigen Sonnensystems verzerrte sich, schrumpfte zusammen, um sich dann schlagartig auszudehnen.

Alle Y-Schiffe wurden von dem, was man laienhaft als Gravitationswelle bezeichnen mochte, mitgerissen. Die meisten von ihnen zerplatzten gleichzeitig. Dar Elaks kleines Schiff wurde ebenfalls von der Welle erfasst, jedoch nur am Rande. Vielleicht lag es daran, dass er sich mit seinem Jäger gerade nahe bei dem Schwarzen Raumer aufgehalten hatte und der Winkel, von dem die Welle ausging, zu kurz war. Trotzdem geriet er ins Trudeln. Mehrere Anzeigen in seinem Cockpit begannen, hektisch zu blinken. Die Waffenkontrolle war ausgefallen, der Vektorbildschirm tot. Der Jäger glitt unter dem Raumer hinweg, um auf der anderen Seite wieder zum Vorschein zu kommen.

Der Y-Jäger rotierte unkontrolliert um seine Längsachse und trat mit glühendem Rumpf in die Stratosphäre von Schedo ein. Geschwindigkeit verringern, hallte es in Elaks Kopf, so, als würde er die Stimme seines Ausbilders auf seiner Heimatwelt hören. Er zündete Bremsraketen und Manövrierdüsen. Der Jäger entfernte sich vom Angriffsziel und gewann eine halbwegs stabile Lage. Ein Blick aus dem Cockpit zeigte ihm, dass seine Kameraden ein schlechteres Schicksal erfahren hatten. Sofern deren Schiffe nicht durch die Gravitationswelle erfasst worden waren, trudelten sie schwer beschädigt durch die Mesosphäre. Dar Elak konnte nichts tun. Er musste hilflos mitansehen, wie sie starben.

Es würde einige wenige Hodd dauern, bevor der große Schwarze Raumer erneut feuern konnte. Daher schlug er ein Looping in der Schwerelosigkeit und ging ein letztes Mal zum Angriff über. Die Feinde durften dieses Sonnensystem nicht wieder verlassen. Mehrfach schoss er seinen Laser ab, und erstmals war bei dem Ziel so etwas wie eine erkennbare Reaktion zu bemerken. Ein Feuer brach für einen Moment im freigelegten Inneren aus, wurde jedoch sofort vom Vakuum erstickt. Das Auge flackerte und verlor sein intensives Giftgrün. Dann raste die Hantel ohne Richtungskorrektur in einer weiten Tangente an Schedo vorbei, hinaus in den Raum, der Sonne abgewandt. Offenbar hatte der letzte Treffer gesessen – sie flohen! Die Anzeigen im Cockpit spielten verrückt. Dar Elak wusste, dass er das Schiff nicht mehr retten konnte. Seine einzige Hoffnung war Schedo. Er brachte seinen Y-Jäger auf Kurs, so gut das mit den verbliebenen Steuereinrichtungen möglich war. Das Manövriertriebwerk fiel aus. Die Maschine stürzte. Die Anziehung des Planeten erfasste das kleine Schiff. Es würde in weniger als zwei Hodd explodieren. „Aussteigen!“, befahl eine Computerstimme.

Dar Elak nahm die Hände von der Steuerung. Für einen Moment lang konzentrierte er sich, leerte seinen Geist. Seine Gedanken strömten hinaus ins Universum. Sekunden vergingen. Es muss funktionieren! Er erreichte eine Höhe von vierzehntausend Metern über Grund, als er den Notausstieg einleitete.


*


Die Gravitationswelle des Hantelraumers traf die Oberfläche des Planeten, und die Welt ging unter. Seine Welt ging unter. Alles, woran Zheng Zheng Xho dachte und glaubte, alles, wofür er lebte, schien sich augenblicklich aufzulösen. Aus heiterem Himmel, von einer Sekunde zur anderen.

Der Boden hob und senkte sich unter seinen Füßen. Sein Stuhl wurde umgerissen und er stürzte gegen den Tisch. Etwas Gewaltiges, Ungreifbares fegte die Wände des Hauses hinfort, riss ihn, seine Frau und seine Kinder mit. Ein Orkan fraß sie alle auf. Zheng Zheng Xho wurde durch die Luft gewirbelt. Die shen. Ich habe die shen um ihr Opfer betrogen, und nun rächen sie sich, dachte er noch. Berge stürzten ein, Hügel veränderten Form und Lage, Bäume brachen wie Weihrauchstäbchen. Es war, als befände man sich in einer Nussschale auf dem Meer, getrieben, hin und her geworfen von den Wellen. Risse in der Erdoberfläche entstanden, verschlangen Vieh und Menschen, verschwanden wieder, als sei nichts geschehen. Xho verlor das Bewusstsein.

Das Hauptbeben währte etliche Minuten. Das Dorf, das sich in einigen Li Entfernung befand, wurde völlig zerstört. Die Auswirkungen waren bis nach Tianshui zu spüren, und sogar die gerade im Gange befindlichen Kampfhandlungen an der Handelsroute kamen für kurze Zeit zum Erliegen. Menschen schrien, Häuser stürzten ein. Feuer brachen aus. Chaos. Die Tektonik geriet in Bewegung. Mehrere Nachbeben folgten und richteten weiteren Schaden an.


*


Ungefähr 1357 Jahre später, Jap-Asien, Mega-Beijing, von Samstag auf Sonntag, 12.11.2090

Su Xho schreckte hoch. Von einer Sekunde zur anderen saß sie kerzengerade im schmalen Bett. Schweißgebadet, verwirrt, heftig atmend. Die bunte Neonwerbung der Wolkenkratzer außerhalb fiel in einem ständigen on-off-Wechsel durch die nicht verhängten, zweifach geteilten Scheiben auf ihr Gesicht. Die Lichter erhellten in grellen Farben von Mal zu Mal eine Stupsnase, einen kleinen Mund und die dunklen, tiefgründigen Mandelaugen. Ein optisches Gewitter, das den soeben durchlebten Alptraum der Zerstörung noch einmal im Zeitraffer widerspiegelte.

Die Chinesin keuchte aufgeregt, ihr Blick irrte im dunklen Raum umher. Außer dem Bett gab es nur wenige Möbelstücke. Das Zimmer, eines von zweien der Wohneinheit, war klein. Aber es war ihr Zuhause. Ein Kunststoffschrank, ein Tisch mit wenigen technischen Geräten darauf, ein Nahrungsmittelaufbereiter, eine Ecke mit Sitzkissen und kleinem Tischchen zur Teezelebration, ein Regal mit alten Büchern. Ein digitales Wandbild zeigte 2:34 Uhr nachts an. Über dem Kopfende des Bettes, an der sonst kahlen Wand, hing eine alte Kalligraphie in einem Bilderrahmen. Sie bestand aus sechs vertikalen Reihen kunstvoller chinesischer Schriftzeichen, angeblich das Gedicht eines ihrer frühen Vorfahren. Der Titel lautete Wiederauferstehung im Jahr des Feuerbüffels.

shenTiānkōng,chénlún zhī fēng,

Irgendwann musste sie wieder eingeschlafen sein, denn draußen war es bereits hell geworden, als sie wieder zu sich fand.


*