Für meine Nichten Carla und Franka,
die nicht nur dieselbe Haarfarbe wie Blanca haben, sondern auch jedes Tau erklimmen können.

Kapitel Eins

»Durchhalten!«, zischte Flo zwischen den Zähnen hindurch – auch wenn der prickelnde Schmerz in ihren Beinen kaum noch zu ertragen war.

»Gleich haben wir zwei-hei Minuten geschafft!«, bibberte Blanca.

Flo nickte und krallte die Finger in die aufgekrempelten Leggings, aber dann hielt sie es einfach nicht mehr aus. Mit einem Hops sprang sie aus dem eiskalten Bergbach. »Das pikst wie tausend Nadeln!«, schimpfte sie. »Wer hat sich dieses dämliche Spiel überhaupt ausgedacht?«

»Da-has war meine Mut-ter! Alter Pi-ra-ten-Wettkampf! Darin hat sie immer mei-nen Va-ter besiegt!« Blanca hüpfte schlotternd in dem eisigen Wasser auf und ab.

»Mit meinen Eltern habe ich Lanzenstech-Turniere auf dem Pferd ausgetragen. Da frieren einem wenigstens nicht die Zehen ab!« Flo ließ sich in das weiche Gras der Frühlingswiese fallen und streckte ihre rot gefrorenen Füße in die Luft.

»Du-hu darfst nu-hur nicht stillhalten, Ritter-tochter! Al-tes Matro-sen-Prinzi…«

»Hey, Blanca, nicht bewegen!«, unterbrach Pina da. »Hüpfen und Strampeln ist doch gegen die Regeln!« Ganz entspannt verschränkte sie die Arme und ließ sich das Gletscherwasser um die Waden spülen.

»Zum dreiäugigen Klabautermann, ich geb auch auf!« Blanca stapfte ans Ufer und warf einen Blick auf die Stoppuhr ihres Handys, dann sah sie fassungslos zu Pina. »Das ist nicht normal! Du hast gleich drei Minuten geschafft. Hast du irgendwelche Superkräfte?«

»Nö.« Pina warf lässig ihre schwarzen Zöpfe zurück. »Das ist doch gar nichts.«

»Wie hältst du diese Eiseskälte nur aus?«, wunderte sich nun auch Flo.

»Wahrscheinlich ist sie gar keine Cherokee«, knurrte Blanca. »Sondern eine Inuit! Und ihre Eltern haben ihr statt eines Schnullers Eiszapfen in den Mund gesteckt!«

Ein unsicheres Lächeln huschte über Pinas Lippen. »Nein, nein. Ich … ich habe mit meiner Oma viele Expeditionen in die Natur gemacht. Von ihr habe ich gelernt, die Wärme in mir zu suchen.« Kaum hatte sie ausgesprochen, da gellte ein lauter Schrei über die Südwiesen des Matilda Imperatrix.

»War das Charly?« Flo fuhr herum.

»Das kam von der Bienenstation!« Mit einem Satz war Pina aus dem Bach gesprungen, und alle drei rannten los. Schon von Weitem sahen sie Flos kleine Schwester, die wild um sich schlug und nur mit Mühe von zwei Klassenkameradinnen gehalten wurde.

»Das kriegt ihr wieder! Ich rupf euch wie Hühnergefieder!«, brüllte Charly.

»Was ist passiert? Bist du gestochen worden?« Atemlos kam Flo zum Stehen.

»Deine Schwester dreht vollkommen durch!«, rief eine Drittklässlerin, die sich hinter einem Busch in Sicherheit gebracht hatte.

»Die haben unsere Bienenstöcke zerstört!«, heulte Charly. »Nur weil wir letztes Jahr den Preis für den besten Honig gewonnen haben!«

»Das haben wir gar nicht nötig!«, kreischte die Beschuldigte zwischen den Ästen hindurch. »Denn dieses Jahr siegen wir sowieso!«

Flo stellte sich zwischen die tobenden Mädchen. »Hey, das kann man doch alles …« Im selben Moment fiel ihr Blick auf die Bienenstöcke. Die bunten Holzkästen waren in einer Reihe nebeneinander aufgebaut – und tatsächlich war genau die linke Hälfte der Kästen kurz und klein geschlagen, während die rechte Seite vollkommen heil war!

»Wir waren das wirklich nicht!«, beteuerte nun ein anderes Mädchen.

»Das sieht echt merkwürdig aus …« Mit zusammengekniffenen Augen umrundete Blanca den Trümmerhaufen.

»Stimmt.« Flo zeigte auf ein paar tiefe Kratzer. »Als hätte jemand mit einer Gartenharke zugeschlagen.«

»Nee, da hat einer mit der bloßen Faust reingedonnert!« Blanca deutete mit dem Kinn auf ein großes Loch im Holz der Seitenwand.

»Habt ihr eine Idee, wann das passiert sein könnte?«, fragte Pina.

»Gestern Abend war noch alles heil«, dröhnte Mette, ein riesiges Mädchen, das neben Charly stand und alle anderen um zwei Köpfe überragte.

»Die haben das in der Nacht gemacht!«, schimpfte Charly.

»Oder ganz früh oder während des Unterrichts«, warf ein Mädchen mit langen Rastalocken ein.

Flo betrachtete die Beschuldigten: Mit ihren dürren Ärmchen würden sie nicht einmal eine Beule in die Holzkästen hauen können. Außerdem konnte sie sich wirklich nicht vorstellen, dass eine Schülerin des Matilda Imperatrix absichtlich die Bienenstöcke zerstörte! Das war einfach gegen die Ehre! Schließlich hatten alle Mädchen dieser geheimen Schule einen Eid abgelegt. Sie waren hier, weil sie besondere Talente besaßen, mit denen sie eines Tages die Welt verbessern sollten – und nicht, um in blinder Wut die Arbeit eines anderen zu zerstören!

»Wir gucken uns das mal genauer an. Ich habe da einen Verdacht«, Pina strich Charly über den Kopf. »Und solange du keine Beweise hast, hör auf, deine Mitschülerinnen zu beschuldigen. Du weißt doch: Es gewinnt immer der Wolf, den du fütterst!«

»Häh?«, machte Charly.

»Pina meint, wenn du immer nur schlecht über andere denkst, bist du irgendwann selbst voll mit Fiesheiten«, zischte Blanca. »Und wirst zum hässlich-schleimigen Blobfisch.«

Flo rollte mit den Augen. »Super Erklärung, Blanca! Toll!«

»Okay, wir warten ab und verdächtigen erst mal keinen«, donnerte Mette. »Sonst werden wir noch – wie heißt der Fisch?«

»Blobfisch!«, stieß Blanca verächtlich aus. »Guck dir ein Bild im Internet an, und dir wird schlecht!«

»Lieber nicht.« Damit klemmte sich Mette Charly unter den Arm und stapfte los.

»Hey! Ich kann auch allein laufen!« Charly strampelte wild mit den Beinen, doch gegen Mette hatte sie keine Chance. Das riesige Mädchen marschierte einfach unbeirrt weiter über die Wiese, auf die alten Mauern des Internats zu.

Pina hatte unterdessen schon mit der Spurensuche begonnen. »Kommt mal her!« Sie winkte Flo und Blanca ein Stück bergan und zeigte auf einen etwa 15 Zentimeter langen, merkwürdig breit geformten Abdruck in der Erde.

»Was ist das denn für’n komischer Plattfuß?!«, fragte Blanca.

Pina sah mit leuchtenden Augen auf. »Das sind Bärenspuren!«

»Ehrlich?!«, rief Flo.

»Kein Grund für Ritterjubel!« Blanca riss den Kopf herum und sah sich misstrauisch um. »Die sind echt gefährlich!«

»Er ist jung, wahrscheinlich ein Einjähriger, vielleicht anderthalb, und er ist schnell davongelaufen«, las Pina aus den Abdrücken. »Vermutlich wurde er aufgeschreckt.«

»Das würde erklären, warum er nur die Hälfte der Bienenstöcke ausgeräubert hat«, folgerte Flo. Dann drehte sie sich zu Blanca: »Bären lieben Honig, Seeräuberin!«

Blanca zog eine Fratze. »Ach, sag bloß.«

Pina stand auf und sah sich um. »Es müssen irgendwo noch weitere Spuren sein. In dem Alter ist ein kleiner Bär nicht allein unterwegs. Wir müssen nach den Tapsen seiner Mutter suchen.«

»Bist du wahnsinnig?!«, brüllte Blanca. »Guck dir mal die Verwüstung von dem kleinen Bären an! Da suche ich doch nicht noch nach einem Monster-Grizzly!«

»Grizzlys gibt es hier sowieso nicht. In dieser Alpenregion findest du höchstens Braunbären«, verbesserte Pina.

Blanca kniff forschend die Augen zusammen. »Und sind die weniger gefährlich?!«

Pina stöhnte. »Mann, Blanca! Die fürchten uns mehr als wir sie!«

»Das bezweifle ich!«, murrte Blanca.

»Mal ehrlich, Pina«, warf nun auch Flo etwas besorgt ein. »So eine Bärenmutter würde ihr Junges doch immer beschützen – und wenn wir jetzt nach ihnen suchen, dann –«

»Normalerweise sind Bären dämmerungs- und nachtaktiv«, unterbrach Pina sie. »Natürlich dürfen wir ihnen nicht zu nahe kommen oder sie stören.«

»Wir?! Sie stören?!«, wiederholte Blanca. »Sollen wir vielleicht freundlich am nächsten Baum anklopfen?«

»Wir werden nur die Wiese absuchen. Klatscht in die Hände oder singt laut!«, ordnete Pina an. »Dann können sie uns hören und sehen und sich ganz entspannt zurückziehen – wenn sie überhaupt noch in der Nähe sind.«

Blanca grinste. »Haha! Bei meinem Gesang hauen die ganz sicher ab! Mein Vater sagt immer, damit könnte ich locker jede Geister-Galeere vertreiben!« Und dann folgte sie ihren Freundinnen bergauf und schmetterte lautstark: »Alle, die mit uns auf Kaperfahrt fahren, müssen Männer mit Bärten sein!«

Etwa zwei Stunden gingen sie, singend und den Blick auf den Boden gerichtet, die Wiese auf und ab. Sie prüften jedes erdige Stückchen und stießen auf eine Menge kleiner Bärentapsen – doch nirgendwo fanden sie den Fußabdruck eines Muttertiers. Als es zu dämmern begann, gaben sie auf.

»Ich verstehe das nicht«, grübelte Pina, als sie den Hang hinab zum Internat liefen. »Wieso haben sich Mutter und Kind so weit voneinander entfernt? Normalerweise würde eine Bärin ihr Kleines niemals allein in die Nähe von Menschen lassen … Blanca, kannst du mal im Internet nachgucken, ob hier irgendwo in der Gegend eine Bärin mit Jungen gesichtet wurde?«

Blanca zog ihr geheimes Handy aus der Tasche und tippte ein wenig herum. »Also, in einem Umkreis von 50 Kilometern wurden keine Bären gesehen.«

»Dann such in einem Umkreis von 100 Kilometern!«

Blanca tippte und pustete dann lang aus. »Ah, hier! Ungefähr 80 Kilometer entfernt wurde letzte Woche eine Problembärin – häh? Was ist das denn …?«

»Erkläre ich gleich. Lies weiter!«, drängte Pina.

»Also, die sollte in ein anderes Gebiet umgesiedelt werden …Und um sie zu fangen, musste sie betäubt werden und –«, Blanca stockte. »Sie ist aus der Narkose nicht mehr aufgewacht. Sie ist gestorben … Von ihrem Jungen fehlt jede Spur.«

»Oh nein!« Pina legte die Hände vor die Augen.

»Aber dieses Bären-Waisenkind kann doch nicht unser kleiner Wüterich hier sein?«, zweifelte Flo. »Ich meine: 80 Kilometer – das ist doch viel zu weit weg!« Pina schüttelte den Kopf. »So eine Strecke legt ein Bär locker in einer Woche zurück. Der Kleine sucht seine Mutter. Er ist allein und hat Hunger!«

»Das ist ja furchtbar«, sagte Flo. »Kann er denn überhaupt ohne Eltern überleben?«

Pina nickte, doch auf ihrer Stirn erschienen tiefe Sorgenfalten. »Aber wir müssen ihm trotzdem helfen. Seine Mutter war eine Problembärin – so nennt man Tiere, die keine Angst vor Menschen haben und in Dörfern auf Futtersuche gehen. Wenn der Kleine das von ihr gelernt hat, dann ist es nur eine Frage der Zeit, wann er unten im Tal auftaucht! Und dann machen sie mit ihm dasselbe wie mit seiner Mutter!«

»Na ja, wundert dich das?!«, warf Blanca ein. »Ich meine, wenn ich sehe, wie dein Bärchen hier die Bienenstöcke bearbeitet hat, ist doch klar, dass alle Angst haben und ihn weghaben wollen.«

»Aber dafür kann er doch nichts! Ein Bär ist von Natur aus menschenscheu. Wir bringen sie doch dazu, sich so zu verhalten! Wir breiten uns überall aus! Wir locken sie an! Und dann müssen diese armen Tiere dafür sterben!« Pina sah ihre Freundinnen verzweifelt an. »Bitte helft mir! Wenn wir ihn retten wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass er sich nicht dem Dorf nähert. Am besten sieht ihn gar nicht erst jemand. Bitte! Er ist doch noch so klein und jung!«

Kapitel Zwei

Im Innenhof des Matilda Imperatrix war weit und breit niemand zu sehen, als Flo, Pina und Blanca durch das Torhaus in den Kreuzgang lugten. Die Schülerinnen und Lehrer saßen längst beim Abendessen im Speisesaal. Die drei waren mal wieder viel zu spät – und das bedeutete Ärger.

»Los«, wisperte Flo. Auf Zehenspitzen sausten sie über die ausgetretenen Steinplatten und kamen atemlos vor einer großen Eichenholztür zum Stehen.

»Nacheinander oder zusammen?«, fragte Pina.

Blanca winkte ab. »Egal – Petronovas Blick entgeht doch sowieso nichts.«

»Wir müssen ohnehin mit ihr reden, wenn sie uns in dieser Bärensache helfen soll.« Flo zog die Tür einen Spalt auf und quetschte sich in den Saal. Lautes, fröhliches Gebrabbel schlug ihnen entgegen. An langen Tafeln, nach Klassenstufen sortiert, speisten die Mädchen unter dem großen weißen Gewölbe. Ein kleines Fließband rumpelte kreuz und quer durch den Raum und transportierte Schalen und Schüsseln direkt aus der Küche an die Tische. Man musste nur den Arm ausstrecken und sich bedienen. Darum fiel es auch sofort auf, wenn irgendjemand zu spät kam und quer durch den Saal lief. Flo schaute zum Tisch der Lehrer. Zu ihrer Überraschung war der Platz von Direktorin Petronova leer!

»Möglichst unauffällig«, flüsterte sie ihren Freundinnen zu. Dicht an der Außenwand entlang schlenderten sie bis zu der Tafel der Fünftklässler. Ganz am Ende der blanken Holzbänke suchten sie sich einen freien Platz.

»Also, Pina, was machen wir jetzt am besten?«, fragte Flo und nahm sich eine Platte mit Fleischklößchen vom Band. »Kennst du dich mit kleinen Bären aus, oder weißt du jemanden, der –«

»Moment«, unterbrach Blanca. »Erst mal will ich wissen, wie das mit dieser Problembärin gemeint ist. Das klingt nämlich nicht sehr vertrauenserweckend!«

Pina zog ärgerlich die Stirn kraus. »Da fängt es doch schon an! Wir nennen den Bären ein Problem – dabei sind doch wir Menschen es, die Probleme machen und –«

»Steht dazu vielleicht Genaueres im Internet?«, sagte Flo schnell, denn Pina war immer lauter geworden.

Unter dem Tisch tippte Blanca in ihr geheimes Telefon. »… Also, hier schreiben sie, dass Muttibär in Dörfer gekommen ist und Mülltonnen und Hühnerställe geplündert hat … außerdem hat sie Schafe und Kälber gerissen. Uuuah! Da sind ein paar echt fiese Fotos!«

Pina schoss empört von ihrer Bank. »Warum plündern Bären denn Hühnerställe und Mülltonnen?«

»Pscht!« Flo zog ihre Freundin zurück auf die Bank, doch Pina konnte sich gar nicht mehr beruhigen: »Weil wir uns überall breitmachen! Wir Menschen dringen in ihre Gebiete vor! Wo sollen die Bären denn noch hin?«

Blanca warf Flo einen verwunderten Blick zu – so außer sich hatte sie Pina noch nie erlebt.

»Und dann werden die Tiere häufig noch von irgendwelchen Idioten angefüttert – damit Touristen Fotos machen können!«, schimpfte Pina weiter. »Woher soll ein Bär denn wissen, dass es einmal erlaubt ist, Futter hinter einem Haus zu holen – und ein anderes Mal verboten?! Außerdem denken sie wegen dieser dämlichen Fütterei, dass wir ihre Freunde sind und dass man sich locker an uns heranwagen kann. Aber dann kriegt irgendeiner Panik, hampelt rum, und der Bär denkt, wir wollen angreifen, und dann –«

»Das sagst du uns jetzt?! Nachdem wir dem Kerl hinterhergelaufen sind?!« Blanca funkelte Pina wütend an. »Hast du die Bienenstöcke gesehen?! Ein Prankenhieb von deinem Petzibär, und wir fliegen zehn Meter!«

Pina seufzte. »Der Kleine hat sein Verhalten von seiner Mutter abgeguckt. Und die wurde ganz sicher von uns Menschen verzogen, sonst hätte sie sich nicht in Dörfer gewagt!« Pina sah nun völlig verzweifelt aus. »Könnt ihr euch denn nicht vorstellen, wie sich dieses Bärenkind fühlt? Es irrt völlig allein in der Wildnis herum! Es weiß nicht, wohin! Es ist doch überhaupt nicht vorbereitet auf dieses Leben!«

Flo sah, wie ihrer Freundin Tränen in die Augen traten, und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Hey, wir helfen dir, den kleinen Bären zu retten. Aber dafür brauchen wir einen coolen, durchdachten Plan. Also: Was ist im Moment das Allerwichtigste?«

Pina schnäuzte sich. »Wir müssen ihn hier weglocken, hoch in die einsamen Berge. Am besten, wir bauen da oben eine Futterstelle, damit er keinen Grund hat, zu uns oder ins Dorf zu kommen. Wir dürfen ihn natürlich nur vorübergehend füttern!«

»Und wenn er trotzdem lieber Charlys Honig schleckt?« Blanca stopfte sich eine Fischfrikadelle in den Mund.

»Dann müssen wir ihn umerziehen und ihm beibringen, dass Menschen nicht gut für ihn sind.«

Flo sah Pina fragend an. »Wie erzieht man einen Bären?«

Blanca zog eine Fratze. »Wir können es ja mal mit Strafarbeiten und Nachsitzen probie…«

»Wir müssen ihn vergrämen«, fiel Pina ihr ins Wort. »Das heißt: Wenn der Bär sich unseren Bienenstöcken oder Ställen nähert, beschießen wir ihn mit Kugeln aus Hartgummi und –«

»Autsch!«, machte Flo.

»Und gleichzeitig müssen wir alle Weiden und Gärten mit Stromzäunen sichern.«

»Damit er ordentlich einen gewischt kriegt und den Raubzug in schlechter Erinnerung hat?« Blanca schüttelte den Kopf. »Ich wusste gar nicht, dass du so fies sein kannst, Alle-sind-unsere-Brüder-Cheerokee!«

»Durch sein dickes Fell merkt er gar nicht so viel«, verteidigte sich Pina. »Außerdem ist das ja nur, um ihm zu helfen!«

Blanca grinste. »Das sagt der Zahnarzt auch immer, wenn er bohren muss.«

»Stromzaun …« Flo, die in ihren Gedanken schon ein Stück weiter war, drehte sich zum Nachbartisch, wo zwei aufgetakelte Mädchen mit Glitzerspangen im Haar über die Farben ihrer Handtaschen diskutierten. »Das wäre ein Job für unsere Elektrik-Spezialistinnen Cilly und Lilly –«

Im selben Moment flog ein Fleischklops an ihrem Kopf vorbei. Dann hallte ein Kreischen durch das Gewölbe, und bevor irgendjemand reagieren konnte, war am Tisch der Drittklässler der Teufel los. In einem wilden Gemenge fielen die Mädchen übereinander her. Flo sprang auf und sauste durch den Saal. Charly hatte sich über den Tisch gestürzt und in den blonden Locken einer Klassenkameradin festgekrallt. Flo packte ihre Beine und wollte sie zurückziehen – doch das ging nicht, denn das Blondlöckchen hatte mittlerweile Charlys Kragen zu fassen bekommen und würgte sie jetzt.

»Das ist doch nicht zu fassen!«, rief Madame Maseleige, die Hausmutter, und versuchte, ein paar andere Kampfhennen zu trennen, während Mette die Blonde kurzerhand über den Tisch hob, sodass Flo sich zwischen sie und Charly drängen konnte. Mit einem wütenden Schrei ließ Charly los. »Mach bloß die Biege, du Ziege!«

»Zwei Wochen Kreuzgang fegen. Für euch alle!«, schimpfte Madame. »Schämt euch!«

»Sie hat unseren Bienenstock zerstört! Sie hat alles zugegeben!«, fauchte Charly.

»Sie wollte dich nur provozieren. Und du bist drauf reingefallen!« Flo zog ihre kleine Schwester beiseite und flüsterte: »Wir kennen den wahren Täter!«

Charly sah sie aus großen Augen an. »Wer?!«

»Ein Bär.«

Wütend machte Charly einen Schritt zurück. »Mach dich bloß lustig! Und auch noch mit einem Reim – du bist so gemein wie alle anderen!«

Flo zog Charly wieder heran. »Nein, wirklich. Pina hat Spuren gefunden. Er ist noch klein und jung und –«

»Ganz kuschelig?! Oh, wie süß!«, juchzte Charly. »Warum hast du das nicht gleich gesagt? Dürfen wir ihn füttern? Und kann man ihn streicheln?«

»Nein!« Flo fasste Charly an den Armen und sah ihr fest in die Augen. »Bären sind Raubtiere. Du hast doch die Bienenstöcke gesehen!«

»Aber du hast gesagt, er ist klein. Und er mag Süßes.« Triumphierend hob Charly das Kinn. »Und er wollte unseren Honig – nicht den von den anderen!«

»Ja, super«, stöhnte Flo. »Aber das behältst du alles schön für dich, klar?! Niemand darf von dem Bären wissen. Auch nicht Mette!«

Charly machte eine Schnute. »Manno.«

»Ich verlass mich auf dich!« Flo warf ihrer kleinen Schwester einen superstrengen Blick zu, dann kehrte sie zurück zu ihren Freundinnen.

»Hey«, flüsterte sie und winkte Pina und Blanca dicht heran. »Wir müssen extrem aufpassen und die Bärensache total geheim halten. Charly wollte gleich einen Fressnapf aufstellen.«

Pina wurde blass. »Das darf auf keinen Fall passieren. Wir müssen mit Petronova reden!«

 

Nach dem Essen stellten sich Flo, Pina und Blanca am Verwaltungstrakt auf und klopften an die Tür zum Vorzimmer der Direktorin. Es dauerte einen Moment, dann öffnete Madame Maseleige. »Was gibt es um diese Uhrzeit?«, flötete sie.

Wie auf Kommando setzten alle drei einen treuherzigen Blick auf.

»Wir müssten ganz dringend mit Direktorin Petronova sprechen«, erklärte Flo. »Auch wenn es sehr spät ist.«

»Sie führt gerade Vorstellungsgespräche in der Stadt, ein paar Lehrerstellen sind ja seit Kurzem frei, wie ihr wisst. Leider kehrt sie erst übermorgen früh zurück. Aber wenn es um das unmögliche Verhalten deiner kleinen Schwester –«

»Nein, nein, schon in Ordnung, das tut uns sehr leid«, unterbrach Flo. »Also dann gute Nacht, Madame. Schlafen Sie gut.«

Die Hausmutter lächelte gerührt. »Ihr auch, meine Engelchen. Und träumt schön.«

»Mist. Wie sollen wir denn jetzt Petronova einweihen?!«, schimpfte Pina, als die Tür ins Schloss gefallen war.

»Och, vielleicht ist das gar nicht so schlecht …« Flo grinste. »Wir können unsere Direktorin zwar nicht um Hilfe bitten – aber dafür können wir uns heute Nacht viel leichter heimlich vom Acker machen und eine Futterstelle oben in den Bergen einrichten.«

»Das ist das Allerdringendste – hast du selbst eben gesagt.« Blanca rieb sich tatenlustig die Hände. »Wir müssen nur an den Streberzicken vorbei!«

»Wenn wir schnell einen Stromzaun um die Bienenstöcke haben wollen, müssen wir sowieso mit Cilly und Lilly reden«, seufzte Flo.

»Was hast du vor?«, fragte Pina.

»Wir werden ihnen ein Superangebot machen. Eins, das sie nicht abschlagen können. Kommt!«

Damit sprinteten die drei zum Treppenhaus des Osttrakts, rasten die Stufen bis zum obersten Stockwerk hinauf und bogen in einen langen gemauerten Gang. Hier, am äußersten Zipfel des Internats, befand sich ihre Schlafstube. Direktorin Petronova hatte dieses Zimmer aus gutem Grund für sie ausgewählt. Es lag nämlich direkt über einem tiefen Abgrund und war darum der ausbruchsicherste Raum der ganzen Schule. Auf der anderen Seite des Flurs hatte Petronova die ehrgeizigsten und beflissensten Schülerinnen des Matildas untergebracht: die Cousinen Cilly und Lilly. Diese beiden lauerten nur darauf, Flo, Pina und Blanca zu verpetzen, wenn sie mal wieder gegen die tausendjährigen Matilda-Regeln verstießen.

Außer Atem kam Flo vor der Zimmertür der Cousinen zum Stehen und klopfte.

»Och neeeee! Wer will denn jetzt noch was?«, zickte Cilly.

»Wir sind’s. Mach auf!«, forderte Flo.

»Nur weil wir zusammen gegen die Verräter gekämpft und das Matilda gerettet haben, sind wir noch lange keine Freundinnen!« Lilly zog die Tür auf – und Flo, Pina und Blanca sprangen erschrocken einen Meter zurück.

»Was ist denn mit dir passiert?!«, krächzte Flo.

»Das«, Lilly zeigte auf ihr Gesicht, das von einer schwarzen Gummipaste überzogen war, »ist eine Peel-off-Maske zur Tiefenreinigung der Haut.«

»Du schmierst dir Pampe ins Gesicht, damit es sauber wird?« Blanca starrte Lilly entgeistert an.

»Davon hast du natürlich keine Ahnung«, säuselte nun Cilly und trat mit einem blauen Fleecetuch, auf das ein Robbengesicht gemalt war, hinter Lilly. »Das zum Beispiel –«, sie zeigte auf das blaue Etwas in ihrem Gesicht, »– sorgt für einen ausgeglichenen Feuchtigkeitshaushalt.«

Blanca kniff nach Piratenart ein Auge zu. »Und wieso ist da eine Tierfratze drauf?«

»Oaaah!«, stöhnte Cilly. »Das ist Deeeeko!«

»Wir sind hier, weil wir euch ein Geschäft vorschlagen wollen«, fuhr Flo dazwischen, denn Gesichtsmasken interessierten sie herzlich wenig.

Lilly zog eine Augenbraue hoch, und die schwarze Gummipaste bekam einen Riss unter dem Auge. »Sagt an!«

»Ihr baut uns einen ordentlichen Stromzaun um die Bienenstöcke – und dafür stimmen wir eurem Vorschlag in Entwerfen und Bauen zu.«

»Bist du wahnsinnig?!«, brüllte Blanca. Gleichzeitig zog sich ein breites Grinsen über die Gesichter von Lilly und Cilly – und die Masken rissen endgültig. Nun sahen sie aus wie schlecht geschminkte Zombies.

»Ihr wollt dafürstimmen, dass wir im Unterricht blattvergoldete Handtaschen-Anhänger mit Laserpointer zum Pickel-Weglasern herstellen?!«, quietschte Cilly.

»Und ihr verzichtet auf eure Idee mit dieser dämlichen Spezial-Drohne, die ferngesteuert Kletterhaken in Felsen bohrt?«, versicherte sich Lilly.

»Genau. Wir verschieben unser Projekt auf später.« Flo streckte ihnen entschlossen die Hand entgegen. Cilly wechselte einen kurzen Blick mit Lilly – dann schlug sie ein. »Gut.«

»Und damit wir sicher sein können, dass ihr es ernst meint«, fügte Flo schnell hinzu, »haltet ihr eure Klappe, wenn wir heute Nacht etwas erledigen müssen.«

»Klar, dass bei euch noch irgendein Regelverstoß dazukommt!«, zischte Lilly.

Flo zuckte mit den Schultern. »Ihr müsst wissen, wie wichtig euch diese Taschen-Anhänger sind …«

»Schon verstanden!« Mit einem missmutigen Blick legte nun auch Lilly ihre Hand dazu und besiegelte den Pakt. »Und wozu der Stromzaun?«

»Die Bienenstöcke wurden zerstört – wir wollen sie besser schützen«, sagte Pina schnell.

»Aha.« Lilly legte den Kopf schräg. »Habt ihr einen Verdacht, wer es war? Ich frag nur wegen der Stärke der Stromspannung.«

»Jepp! Ein Yeti oder ein besoffener Waldarbeiter. Darum braucht das Ding ordentlich Saft!«, knurrte Blanca und legte ebenfalls ihre Hand auf Cillys und Lillys. »Haaaandtaschen-Anhänger – mir wird jetzt schon schlecht.«

»Ich kann mir auch etwas Besseres vorstellen, als Stromzäune zu bauen«, keifte Cilly. Dann zog sie misstrauisch ihre Nase kraus. »… Yeti und ordentlich Saft … Pfft! Glaubt ihr, wir lassen uns von euch einen Bären aufbinden?«

Für einen Moment blieb Flo, Pina und Blanca die Spucke weg, bis ihnen klar wurde, dass es ja nur eine Redewendung war.

»Also los, raus mit der Sprache!«, keifte Lilly. »Worum geht es wirklich?«

Da beugte sich Pina vor und funkelte die Cousinen aus ihren schwarzen Augen an. »Kein Wort mehr. Macht es – oder lasst es. Aber wenn ihr uns Schwierigkeiten macht, werde ich dafür sorgen, dass ihr den Rest eurer Schulzeit nur noch praktische Dinge für die Wildnis bastelt. Klar?« Ihr Ton war dabei so eisig und scharf geworden, dass Flo ein Schauer über den Rücken jagte. So kannte sie Pina gar nicht! Sie drohte sonst nie jemandem! Aber für diesen kleinen Bären schien ihre Freundin wirklich alles zu tun.

»Jetzt reg dich mal nicht so auf! Wir sind Matilden, und wir haben gerade unser Ehrenwort gegeben«, fauchte Lilly. »Das halten wir.«