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Originalcopyright © 2016 Südpol Verlag, Grevenbroich

Autor: Ina Krabbe

Illustrationen: Ina Krabbe

E-Book Umsetzung: Leon H. Böckmann, Bergheim

ISBN: 978-3-943086-57-7

Alle Rechte vorbehalten.

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1. Kapitel

Stickiger, staubiger Strohgeruch lag in der Luft und die Halme piksten Malu durch das dünne T-Shirt in den Rücken. Sie hielt die Augen geschlossen und atmete tief ein. Es roch nach Sommer, Sonne und viel freier Zeit. Ferien! Sechs endlose Wochen lagen vor ihr. Die heißen Strahlen der Mittagssonne, die sich einen Weg durch das brüchige Dach gesucht hatten, brannten auf ihrem Gesicht und ließen helle Sonnenflecken hinter ihren Augenlidern tanzen. Malu lächelte. Zum ersten Mal in ihrem 13-jährigen Leben war sie froh, dass ihre Mutter nicht genug Geld gehabt hatte, um mit ihr in Urlaub zu fahren. Wo sollte sie auch hin? Es gab keinen schöneren Ort auf der Welt als diesen!

Wie zur Bestätigung hörte sie ein leises Schnauben neben sich. Dann streifte ein heißer, feuchter Hauch ihre Wange und etwas Weiches stupste sie an. Eine samtene Schnauze mit Barthaaren schob sich suchend über ihr Gesicht.

»Papilopulus, lass das, das kitzelt.« Kichernd schob Malu den riesigen Pferdekopf zur Seite und schlug die Augen auf. Direkt über ihr baumelte ein schlabberiger Gras­halm, von dem sich ein dicker Sabbertropfen löste und langsam herunterrutschte.

»He!« Gerade noch rechtzeitig rollte Malu sich zur Seite und der Tropfen landete neben ihr im Stroh. »Du bist echt ein Ferkel, Papilopulus«, flüsterte sie und strich dem Pferd liebevoll über den Nasenrücken. Die großen, dunklen Augen sahen das Mädchen erwartungsvoll an. »Und außerdem denkst du nur ans Fressen. Irgendwann rollst du noch über deine Wiese, Papi.«

Der Wallach schnaubte ungeduldig, während Malu aus ihrer Hosentasche ein paar Leckerchen hervorkramte. Ganz vorsichtig nahm Papilopulus ein Stück nach dem an­deren mit den Lippen von ihrer ausgestreckten Hand und zerkaute sie langsam.

Papilopulus hatte einen großzügigen Offenstall, sodass er kommen und gehen konnte, wann er wollte, er musste nicht darauf warten, dass ihn jemand nach draußen brachte. An den Stall schloss sich eine riesige Wiese an, die ei­­gent­lich viel zu groß für ein einziges Pferd war.

Papilopulus wandte sich jetzt dem Gras zu und verließ den Unterstand, wobei er gemächlich hier und da ein Büschel ausrupfte. Malu machte es sich wieder auf den Stroh­ballen bequem, die unter dem Dach gestapelt waren und beobachtete das Pferd – ihr Pferd, wie sie es insgeheim nannte. Dabei gehörte es gar nicht ihr (leider!), sondern Sybill von Funkelfeld, wie auch das gesamte Anwesen, auf dem sich Papilopulus’ Stall befand, mitsamt Schloss, Stal­lun­gen und Schlosspark. Sogar ein riesiger See gehörte dazu. Doch Sybill von Funkelfeld war eine alte Dame, die sich nur noch mit Gehstock bewegen konnte, an Reiten war für sie schon lange nicht mehr zu denken. Vielleicht hatte sie Papilopulus nur deshalb behalten, weil er sie an die guten Zeiten des Gestüts von Schloss Funkelfeld erinnerte, als in den Ställen noch Hochbetrieb geherrscht hatte und das Schloss ein ansehnliches Prachtstück gewesen war.

Vor zwei Jahren hatte Malu ihre Mutter das erste Mal aufs Schloss begleitet, die neben ihrer Arbeit im Altenheim noch den beiden alten Damen, die hier lebten, im Haushalt half. Malu hatte Papilopulus gleich ins Herz geschlossen und das, obwohl sie bis dahin eigentlich gar nichts mit Pferden zu tun gehabt hatte. Vom ersten Moment an, als sie in seine sanften, dunklen Augen geblickt hatte, war es um sie geschehen.

Papilopulus war zwar schon alt, sein dunkelbraunes Fell war von grauen Haaren durchzogen und mit der Zeit stumpf geworden, aber man konnte ihm immer noch ansehen, dass er mal ein edles Rennpferd gewesen war. Für Malu jedenfalls war er das allerschönste Pferd, das es auf der Welt gab! Sein Fell war so dunkel (bis auf die grauen ­Haare ­natürlich), dass es fast schwarz wirkte und im Sonnenlicht glühten die Haarspitzen gelblich, sodass es aussah, als würde er von innen heraus leuchten. Mähne und Schweif hatten die gleiche Farbe, nur auf dem Nasenrücken war ein kleiner, herzförmiger weißer Fleck.

Ein lautes DUBI-DÜLÜT-DUBIDUU riss Malu aus ihren Gedanken. Papilopulus’ Ohren zuckten nervös hin und her und er ließ Malu nicht aus den Augen, als ob er sich fragen würde, warum das Mädchen auf den Strohballen plötzlich so merkwürdige Geräusche von sich gab.

»He, das war ich nicht«, lachte Malu und holte ihr Handy hervor. »Nur eine Nachricht von Lea«, murmelte sie mehr zu sich selbst.

Lea:

Hi, sitze im Muffins und muss mir die ganze Zeit Rikes Gelaber anhören. Blablabla! Also rette mich und komm vorbei. Deine beste!!!! Freundin braucht dich!!

Malu grinste und tippte zurück.

Kann leider nicht. Muss meiner Mutter beim Putzen helfen. Nimm doch Ohrstöpsel.

DUBI-DÜLÜT-DUBIDUU – Lea:

Ich glaub dir kein Wort. Du sitzt in den Strohballen und kuschelst mit diesem riesigen felligen sabbelnden Ungetüm, während deine beste!!!! Freundin an Lange­weile stirbt.

Malu:

Das stimmt nicht! Ich würde dich nie!!! anlügen. Bist du verrückt? Ich muss wirklich helfen. Fenster putzen, Treppe wischen ... Komm doch vorbei.

DUBI-DÜLÜT-DUBIDUU – Lea:

Bin ich verrückt? Aber morgen kommst du mit mir ins Muffins, oder? Versprich es!

Das Muffins war ein kleines Bistro in der Fuß­gänger­zone. Der Treffpunkt für die Schülerinnen und Schüler der Paula-Modersohn-Gesamtschule. Hier gab es das leckerste Eis, einen Billardtisch und vor allem diese kleinen Tische, an denen man zusammensitzen und über die wirklich wichtigen Dinge reden konnte: Was gerade angesagt war, wer sich wieder total danebenbenommen hatte. Und welchen Jungen Lea gerade am süßesten fand. (Ihr allergrößtes Lieblingsthema im Moment!)

Malu schickte ihrer Freundin noch ein Mal sehen und einen Winke-Smiley und steckte das Handy wieder ein.

Es war zu schade, dass ihre beste Freundin so gar nichts mit Pferden anfangen konnte. Einmal hatte sie Lea mitgenommen, weil Malu sich sicher gewesen war, dass auch sie den klugen Augen von Papilopulus nicht widerstehen konnte. Aber Lea hatte das riesige Pferd nur unheimlich gefunden, die Augen verschlagen und den Gestank konnte sie schon gar nicht ertragen! (Welchen Gestank?) Ihr war hier alles zu dreckig und zu kaputt. Und als sie dann noch mit ihren nagelneuen Chucks in einen Haufen Pferdeäpfel ge­treten war, war es völlig aus gewesen. Nein, mit Lea konnte man eindeutig besser im Muffins sitzen als auf den Stroh­ballen in Papilopulus’ Offenstall.

Seufzend stand Malu auf, klopfte sich das Stroh von der Hose und friemelte noch ein paar Halme aus ihren braunen Locken. Sie sollte wohl mal ihre Mutter fragen, ob sie nicht ein bisschen Hilfe gebrauchen konnte – dann hätte sie Lea wenigstens nicht angelogen.

Zweimal in der Woche putzte Rebekka Baumgarten die Wohnungen der beiden älteren Damen, die auf Schloss Funkelfeld wohnten. Sybill und Gesine von Funkelfeld, zwei Schwestern, die bestimmt schon an die hundert waren – na ja, jedenfalls nach Malus Schätzung. Zusammen mit Papilopulus und dem Papagei Rosa, einem ebenso alten rosa­farbenen Kakadu, waren sie die letzten Bewohner des Schlosses. Die meisten Räume waren aber leider gar nicht mehr bewohnbar. Das einstmals prächtige Bauwerk hatte überall Risse, der Putz blätterte von den Wänden und die steinernen Figuren, die den Treppenaufgang zierten, zerbröselten allmählich.

Die Ställe, die vor langer Zeit die schönsten Pferde des Landes beherbergt hatten, dienten nur noch Ratten und Spinnen als Dach über dem Kopf. Es fehlte einfach am Geld. Die Schwestern hatten getan, was sie konnten, um das Schloss zu erhalten, aber das Anwesen verfiel zusehends.

Wenn Malu die Augen schloss, konnte sie noch das Klappern der Hufe in der Stallgasse hören, das Stimmen­gewirr der Stallburschen und der Mädchen, die sich über die Vorzüge ihrer Lieblingspferde unterhielten. Und das un­geduldige Schnauben der gesattelten Pferde, die es nach draußen drängte. Es gab keinen schöneren Ort auf der Welt – jedenfalls nicht für sie!

»Ich komme nachher noch mal vorbei, Papilopulus«, flüsterte Malu dem Pferd zu, das sie immer noch aufmerksam anschaute. Sie tauchte ihre Hand unter die Mähne und strich über das glatte, warme Fell. »Vielleicht drehen wir dann noch eine Runde? Was meinst du?«

Papilopulus stampfte unruhig mit dem Vorderhuf und blähte die Nüstern. Sein Kopf schnellte auf und ab.

»He, soll das heißen, du hast keine Lust?«, fragte Malu verwundert. »Oder ist etwas anderes?« Sie folgte dem Blick des Pferdes, der jetzt starr auf den Waldrand gerichtet war. Etwas Rotes blitzte zwischen den Büschen auf.

»Das macht dich so nervös? Ein roter Stofffetzen? Papilopulus, du bist vielleicht mal ein schnelles Rennpferd gewesen, aber du bist echt eine alte Schissbuxe«, lachte das Mädchen. Sie gab dem Pferd noch einen Klaps auf den Hals und stapfte dann auf den Waldrand zu. »Ich werde dich retten, Papi. Ich werde dich vor dem bösen Stofffetzen retten!«, rief sie über die Schulter zurück.

Der morsche Holzzaun war kein wirkliches Hindernis. Weder für Malu, noch für Papilopulus. Aber scheinbar hatte der alte Wallach sowieso keine Lust mehr auf Ausflüge in die Umgebung und blieb lieber auf der Weide in der Nähe seines Futtertrogs.

Malu quetschte sich zwischen den alten Holzbohlen hindurch und sah sich suchend um. Irgendwo hier in den Büschen hatte sie den roten Fetzen gesehen. Sie bog die Äste zur Seite und kämpfte sich etwas tiefer ins Gestrüpp. »Autsch!« Ein Zweig peitschte ihr ins Gesicht und hinterließ einen schmerzhaften Striemen. Aber da war er, jetzt hatte sie den roten Fleck hinter den Blättern erspäht.

Ein paar Schritte noch. Malu griff in den dichten Busch, um das Ding herauszuziehen, als der rote Stoff plötzlich aufsprang und sich ihr entgegenwarf. Zweige schnellten hoch und Äste brachen. Mit einem erstickten Schrei strauchelte Malu zurück, stolperte und fiel rückwärts ins Gebüsch. Der alte Fetzen entpuppte sich als roter Kapu­zen­pullover, aus dem zwei Arme und ein Kopf ragten, die zu einem etwa fünfzehnjährigen Jungen gehörten. Zornige Augen blitzten unter seinen blonden strubbeligen Haaren hervor. Malu starrte ihn erschrocken an, sie fühlte ihr Herz bis zum Hals pochen und war unfähig sich zu bewegen.

Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte der Junge, dann drehte er sich um und stürmte davon. Mit einem Satz sprang er über den Zaun und rannte an dem verblüfften Papilopulus vorbei in Richtung Schlosshof. Malu hing reglos wie ein Käfer auf dem Rücken in den Zweigen und sah ihm hinter­her, wie er über den Platz sprintete und dann durch das große Eingangstor vom Schlossgelände verschwand.

Wer war das? Was hatte der Junge hier gemacht? Immer noch völlig perplex rappelte Malu sich auf. Ihre Beine waren wie aus Gummi. Warum sollte jemand in einem Busch hocken und auf eine Wiese mit einem alten Pferd und einem zerbröselten Schloss starren? Für einen Ein­bruch war Schloss Funkelfeld nun wirklich kein lohnendes Objekt mehr. Das sah selbst ein Blinder! Ob er Papilopulus stehlen wollte? Oder ...? Wie ein heißer Blitz schoss es ihr durch Kopf und Bauch. Oder ob er ihm etwas antun wollte? Malu hatte schon von Leuten gelesen, die Pferde oder Kühe quälten. Einfach so! Sie begann zu schwitzen. Und das kam in diesem Mo­ment nicht von der Sonne, auch wenn die jetzt gnadenlos auf sie herunterbrannte. Eine plötzliche Angst ergriff sie, Angst davor, dass Papilopulus etwas passieren könnte. Dass ihm jemand weh tun könnte und sie wäre nicht da, um ihm zu helfen. Nein, das würde nicht geschehen. Das durfte nicht geschehen!

Schnell schlug sie sich zurück durch die Büsche, schlüpfte zwischen den Zaunbrettern hindurch und rannte zu Papi­lopulus, der sich inzwischen wieder dem saftigen Gras zugewandt hatte und genüsslich einen Büschel nach dem anderen ausrupfte.

Sie musste den Funkelfeld-Schwestern Bescheid sagen, dass sich jemand am Schloss herumtrieb, der hier absolut nichts zu suchen hatte. Bestimmt würden sie die Polizei rufen.

Malu kontrollierte noch schnell, ob Papilopulus frisches Wasser im Trog hatte, dann rannte sie über den Schloss­platz auf den Wohntrakt neben dem Hauptgebäude zu. Ihre Mutter wollte heute zuerst bei Gesine von Funkelfeld nach dem Rechten sehen, also hielt sie auf die alte Holztür mit der abblätternden blauen Farbe zu. Aber schon als sie den Flur betrat, merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Putz­eimer und Lappen lagen achtlos auf der Treppe und aus der Küche hörte sie einen erstickten Laut, als ob jemand sich bemühte, nicht laut loszuschreien, obwohl er es am liebsten tun wollte.

2. Kapitel

Vorsichtig drückte Malu die Küchentür auf. Ihre Mutter stand mit dem Rücken zu ihr an der Spüle und schüttete eine Kanne Tee auf. Sie war groß und schlank und hatte halblange braune Haare. Wie immer, wenn sie arbeiten ging, bändigte sie ihre Locken mit einem bunten Tuch, aus dem jetzt einige Strähnen heraushingen. Als sie den Kopf zu Malu wandte, sah sie, dass ihre Mutter ganz bleich im Gesicht war.

»Was ist passiert?«, fragte Malu erschrocken.

Rebekka Baumgarten kniff die Lippen zusammen und nickte zum Tisch hinüber und jetzt erst sah Malu, dass Gesine von Funkelfeld zusammengesunken in dem Lehn­stuhl am Ofen saß und sich ein Taschentuch vor den Mund presste.

Normalerweise war Gesine von Funkelfeld eine äußerst imposante Erscheinung, sie war groß und wirkte immer so stark und unerschütterlich wie ein alter Baum. Malu mochte die grauhaarige Dame gerne. Sie freute sich immer, wenn Malu ins Schloss kam, um nach Papilopulus zu sehen und hatte dann ein paar Kekse und etwas zu trinken für sie. Ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester Sybill. Sybill von Funkelfeld war eine kleine, schmale Person mit verkniffenem Gesicht. Sie flößte Malu immer ein bisschen Angst ein mit ihrem strengen Blick und der herrischen Stimme, mit der sie das Mädchen manchmal durch das Schloss scheuchte, um dieses und jenes zu erledigen. Aber das war eben der Preis dafür, dass sie bei Papilopulus ein- und ausgehen durfte, wie sie wollte.

»Zu spät, zu spät, wer Böses sät«, krächzte Rosa. Die rosafarbene Kakadudame trippelte auf ihrer Stange herum, die neben dem Sessel stand, in dem Gesine von Funkelfeld saß. Der Papagei war schon sehr alt, Gesine hatte mal er­zählt, dass Rosa schon ihrem Vater (einem echten Baron!) gehört hatte und von ihm hatte sie auch die ganzen Reime, die sie immer vor sich hinplapperte. Gesines Vater war nicht nur Baron, sondern scheinbar auch ein begnadeter Hobbydichter gewesen, er hatte sogar ein Buch mit seinen Gedichten herausgegeben, aber leider besaß Gesine kein Exemplar mehr davon. Malu mochte die kleine Kakadu­dame gern, doch diesmal beachtete sie den Papagei nicht weiter, sondern betrachtete besorgt die alte Frau im Lehn­stuhl. Ihre kurzen grauen Haare standen wirr um ihr faltiges Gesicht herum und ihre Augen blickten starr geradeaus. Malu bekam eine Gänsehaut. Obwohl draußen bestimmt 30 Grad herrschten, war es kalt hier in der Küche. Am liebsten hätte sie ein paar Holzscheite im Ofen angezündet.

Ihre Mutter stellte eine Tasse mit dampfendem Tee vor der alten Dame ab und drehte sie so, dass der Henkel auf der rechten Seite stand. Dabei strich sie ihr beruhigend über den Rücken.

»Setz dich, Malu«, sagte sie dann zu ihrer Tochter. »Und nimm dir auch einen Tee.«

Wortlos schüttete sich Malu Tee in eine Tasse und setzte sich an den Küchentisch. Ein schwerer Kloß hatte sich in ihrem Magen breitgemacht und lag wie ein Felsbrocken da­rin. Irgendetwas Schlimmes war passiert und sie wollte am liebsten gar nicht wissen, was es war.

Aber einen Moment später war es schon heraus. »Sybill ist heute Morgen gestorben. Es kam eben ein Anruf aus dem Krankenhaus«, erklärte Frau Baumgarten ihrer Tochter.

»Was ...?« Malu blickte erschrocken von ihrer Mutter zu Gesine von Funkelfeld. »Wieso Krankenhaus? Das wusste ich ja gar nicht! Was hatte sie denn?«

Jetzt räusperte sich die alte Dame. Sie wischte sich mit dem Taschentuch über die Augen und straffte die Schul­tern. Ihre Stimme klang zittrig, als sie antwortete: »Ich habe Sybill gestern gefunden. Sie lag im Haupthaus am Fuß der Treppe auf dem Boden ... und ... sie war be­wusst­los.« Sie holte tief Luft und Malu merkte, wie sehr sich die alte Frau zusammenreißen musste, um weiterzusprechen. »Wahr­scheinlich ist sie die Treppe heruntergefallen ... Ich weiß gar nicht, was sie da gemacht hat. Hoffentlich hat sie nicht lange dort gelegen. So alleine ...« Sie schluchzte kurz auf. »Sybill war ja nicht mehr besonders gut zu Fuß ... Was wollte sie nur da oben? Warum hat sie mir nichts gesagt?«

Malu biss sich auf die Lippen. Es war klar, warum Sybill nichts zu ihrer Schwester gesagt hatte. Schließlich stritten sich die beiden Damen ununterbrochen – hatten sich ununterbrochen gestritten, verbesserte sie sich selber. Aber scheinbar hatte Gesine trotzdem an ihrer Schwester gehangen, das wurde Malu jetzt klar. Erwachsene waren echt nicht einfach zu verstehen!

Von jetzt an würde Gesine von Funkelfeld ganz allein in dem riesigen Schloss leben. Malu musste schlucken und drängte die Tränen zurück, die in ihren Augen brannten. Obwohl sie Sybill nicht besonders gemocht hatte, war es schwer vorstellbar, dass sie jetzt nicht mehr da sein sollte und nie wieder mit ihrem Gehstock über den Schlossplatz laufen würde.

Und was war mit ... Papilopulus? Schon wieder durchfuhr es sie heiß. Das Pferd hatte Sybill gehört, was würde jetzt mit ihm geschehen? Sie hatte sich zwar nicht mehr ums Füttern und um den Stall gekümmert, das hatte immer ihre Schwester übernommen, die noch wesentlich fitter war. Malu selber hatte natürlich auch geholfen, wo sie konnte, aber trotzdem gehörte Papilopulus Sybill – hatte ihr gehört. Gerade noch rechtzeitig konnte Malu sich bremsen. Jetzt war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um diese Frage zu stellen.

»Das ... das tut mir so leid«, murmelte sie stattdessen.

Aber Gesine von Funkelfeld schien sie gar nicht zu hören, sie war schon wieder in ihre eigene Gedankenwelt versunken. »Jetzt bin ich die letzte«, murmelte sie. »Die letzte von uns vieren. Sybill war immer die Vernünftigste von uns und Esmeralda, die war die Lustigste.« Plötzlich riss sie die Augen auf und betrachtete Malu eindringlich. »Du erinnerst mich so an Esmeralda, weißt du, Malu. Als sie klein war. Die gleichen Locken und das helle Lachen, sie war so ein fröhliches Kind, bis ...«

»Es tut mir leid«, stammelte Malu noch einmal. Sie wusste einfach nicht, was sie sonst sagen sollte. Von einer Esmeralda hatte sie bis jetzt noch nie etwas gehört. Gab es noch eine Schwester? Und wieso sprach sie von uns vieren? Aber vielleicht war die alte Dame von dem Schock auch nur verwirrt.

Malu trank ihren Tee so hastig aus, dass sie sich die Zunge verbrannte. Sie wollte nur noch eins: nach draußen – zu Papilopulus! So schnell es die Situation zuließ, verabschiedete sie sich und floh aus dem Haus.

Vor der Wohnungstür hielt sie ihr Gesicht in die warmen Sonnenstrahlen, froh, der kalten Küche entkommen zu sein. Sie rannte über den Platz zur Weide zurück und ­lehnte sich dort über die Holzbohlen. Papilopulus graste friedlich vor sich hin. Er wusste nichts von dem Tod, der Einzug gehalten hatte auf Schloss Funkelfeld. Und er musste sich auch keine Gedanken darüber machen, was jetzt mit ihm und dem Rest des Anwesens passieren würde.

Malu drehte sich um und betrachtete das marode Schloss. Na ja, eigentlich war es eher ein Schlösschen. Das Hauptgebäude war ein dreistöckiger, ehemals gelb verputzter Bau mit hohen Fenstern, die von breiten Stuck­ver­zie­run­gen umrahmt wurden. Zwei Türme ragten aus dem Dach hervor, einer mit einem kleinen Balkon vor der Fenstertür. Das wäre ihr Zimmer, wenn Malu sich eines hätte aussuchen können. Sie würde morgens auf den Balkon gehen und als Erstes einen Blick auf die Weide werfen, um nach Papilopulus zu sehen.

Eine breite Treppe führte zu der doppelflügeligen Holztür, die auf beiden Seiten von steinernen Hunde- und Löwenfiguren bewacht wurde. Aber vor dieser Truppe würde sich niemand mehr fürchten, den meisten waren Ohren und Beine abgefallen, von manchen fehlte sogar der ganze Kopf.

Rechts und links grenzten die etwas niedrigeren Wohn­trakte ans Haupthaus, in denen früher die Ange­stell­ten gelebt hatten. Jetzt wohnten hier nur noch die beiden Fun­kelfeld-Schwestern, Sybill hatte den linken Trakt be­wohnt und Gesine lebte im rechten. Die kleinen An­ge­stell­ten­wohnungen waren leichter zu heizen und die alten Damen hatten hier nicht so weite Wege zurücklegen müssen.

Das Hauptgebäude war seit Jahrzehnten unbewohnt. Trotzdem putzte Malus Mutter zweimal im Jahr durch alle Zimmer. Besonders gründlich widmete sie sich der Bi­blio­thek, deren Regale immer noch bis zur Decke mit Büchern angefüllt waren. Hier hatte Malu ihrer Mutter sogar gerne geholfen, die dicken, in Leder gebundenen Bände abzustauben, die schon lange keiner mehr las. Es lag eine ganz besondere Stimmung über diesem Raum. Ob Sybill von Funkelfeld vielleicht dort gewesen war? Vielleicht hatte sie ein bestimmtes Buch gesucht? Malu schüttelte den Kopf. Aber warum? Sie hätte ja ihre Mutter bitten können, es ihr zu holen.

Eine schwere Pferdeschnauze legte sich auf ihre Schulter und Malu wurde es ganz warm ums Herz. Und auch wenn es absolut unpassend war, durchströmte sie wie immer ein Glücksgefühl, als sie die vertraute Wärme des riesigen Pferdes an ihrer Seite spürte. Aber vielleicht hätte Sybill von Funkelfeld sie ja sogar verstanden. Sie streichelte über die samtenen Nüstern. »Was ist alter Junge, sollen wir mal eine Runde drehen?«

Sie holte das Halfter mit dem Führstrick, das an der Stallwand über einem Haken hing, und streifte es Papilopulus über. »Lass uns durch den Schlosspark gehen, wer weiß, wie lange wir das noch können«, murmelte sie.

Malu schob den Balken zur Seite, der die Weide verschloss. »Na komm, Dickerchen. Ein bisschen Bewegung wird dir guttun.«

Sie ging mit dem Pferd an den leeren Ställen vorbei, die sich im rechten Winkel an den Wohntrakt anschlossen, bis zu einem Durchgang in der Mitte, der in den Schlosspark führte. Dabei war Park vielleicht ein zu großes Wort für die Wildnis, die sich hier breitgemacht hatte. Die Wege waren nur noch schmale Pfade, von beiden Seiten zugewachsen, aber man konnte noch die Hecken erkennen, die früher einmal ordentlich die Beete eingefasst hatten. Jetzt wucherte und blühte alles bunt durcheinander. Im hinteren Teil des Gartens stand sogar noch ein altes Gewächshaus, durch dessen löchriges Dach Palmenblätter hervorguckten.

Malu führte das Pferd unter den tief hängenden Zweigen einer Trauerweide hindurch bis zu ihrem Lieblingsplatz, der kleinen Wiese, von der aus man über das sanft abfallende Gelände bis zum Funkelsee blicken konnte.

Ruhig lag das Wasser vor ihr und blinkte in der Sonne. Funkelsee war wirklich genau der richtige Name für dieses Gewässer, in dessen Mitte eine große Insel lag – die Pferdeinsel. Gesine hatte ihr erzählt, dass sie früher die Stuten und ihre Fohlen mit einem Transportfloß auf die Insel gebracht hatten, damit sie dort ungestört grasen konnten, und während des Krieges hatten sie einen Teil ihrer Pferde dort versteckt. Einer Legende nach sollte auf der Insel sogar ein Schatz versteckt sein – der Schatz vom Funkelsee!

Malu seufzte. Wie schnell konnte das alles hier für sie vorbei sein. Von wegen sechs herrliche Wochen! Sie be­trach­tete Papilopulus, der ganz still dastand und auch zur Insel hinüberschaute, als ob er wusste, dass dort seine Vor­fahren gelebt hatten. Aber vielleicht war er ja auch ­selber schon dort gewesen? Das musste sie später mal Gesine fragen.

Vielleicht würde ja alles wieder gut werden. Gesine von Funkelfeld würde Schloss und Pferd von ihrer Schwester erben und für Malu würde alles so weitergehen wie bisher. Sie schämte sich ein bisschen für diesen Gedanken, denn natürlich würde für Sybill nie wieder alles gut werden, aber sie konnte nichts dagegen tun – sie wünschte es sich so sehr!

Gedankenverloren dröselte sie die verknoteten Mähnen­haare auseinander, während sie über die ruhige Wasser­fläche schaute. Aber dann blieb ihr Blick an etwas hängen.

Was war das? Malu kniff angestrengt die Augen zusammen. Ganz weit draußen auf dem See sah sie einen winzigen Punkt, der sich langsam übers Wasser bewegte.