Herrad Schenk

Die Frau von gegenüber

Roman

Insel Verlag

Die Frau von gegenüber

1.

Es versprach wieder ein sonniger Tag zu werden. Doch das freute ihn nicht. Im Gegenteil, die triumphalen Auftritte dieses Frühlings, der sich schon wie der Sommer aufführte, erhöhten seinen Lebensüberdruss. Sybille hätte diese Formulierung amüsiert belächelt — wie gut, dass dem Frühling deine schlechte Laune egal ist! Sie hatte es verstanden, ihn freundlich zurechtzustupsen, seine Übellaunigkeit an ein paar ironischen Bemerkungen zerplatzen zu lassen. Ohne ihr Korrektiv steigerte er sich manchmal in miese Stimmungen hinein. Er verrannte sich in Düsternis, verbiss sich in der Negation, genoss sogar das Selbstzerstörerische daran.

Es war neun Uhr früh, und wahrscheinlich fühlte er sich vor allem deswegen schlecht, weil er in der vergangenen Nacht nicht besonders gut geschlafen hatte. Er blinzelte in die Sonne, als er die Jalousie nur zur Hälfte hochzog, bevor er sich mit dem Frühstückstablett am kleinen Tisch beim Fenster niederließ.

Zu viel Sonne, wirklich, zu viel Sonne!, hörte er sich Sybille gegenüber klagen.

Freu dich doch, dass die kalten Tage vorüber sind, mit ihrem ewigen Grau. Für mich kann es nicht genug Sonne geben.

Sybille war längst jenseits allen Wetters, und dass Grau zurzeit seiner Lebensstimmung besser entsprach, hätte auch sie eingeräumt.

Seit Wolters allein war, nahm er fast alle Mahlzeiten am Fenster ein. Anfangs hatte er sein Tablett noch wie gewohnt zum Esstisch im Wohnzimmer getragen, doch er hielt den Blick auf den leeren Stuhl gegenüber nicht aus, erst recht nicht, seit auch Lili, die Airdale-Terrier-Hündin, auf ihrem Stammplatz fehlte. Am Küchentisch zu essen fühlte sich leicht verwahrlost an. Jetzt aß er schon lange in seinem Arbeitszimmer — dem Studierzimmer, wie Sybille es genannt hatte. Das wäre früher undenkbar gewesen. Die Bezeichnung »Studierzimmer« behielt er in seinem Kopf bei, obwohl sie ihm schon immer etwas pompös erschienen war, heute mehr denn je. Er hatte den kleinen Bistrotisch, der ihm früher als Zeitschriftenablage diente, direkt vor das Doppelfenster des Studierzimmers gerückt, das bis zum Fußboden hinunterreichte. Keine Vorhänge. Wenn man die Fensterflügel öffnete, was er nur selten tat, konnte man auf einen winzigen, etwa einen halben Meter tiefen vergitterten Mauervorsprung hinaustreten, eher Zierrat als Balkon. Zu Sybilles Zeit hatten hier Blumenkästen gestanden. Wolters fand Blumen lästig. Doch am Tisch beim Fenster verbrachte er viele Stunden des Tages damit, durch das filigrane schmiedeeiserne Geländer hindurch die gegenüberliegenden Häuser zu beobachten, anfangs noch mit einem Buch auf dem Schoß oder einer Zeitschrift in Reichweite, gewissermaßen als Rechtfertigung vor sich selber, die er jetzt nicht mehr brauchte. Neuerdings benutzte er sogar häufig das Fernglas.

Bodentiefe Fenster ermöglichen grenzenlose Ausblicke. Woher war ihm dieser alberne Werbespruch zugeflogen?

Rushhour vorüber. Wenn er auf die Straße hinuntersehen wollte, musste er aufstehen und dicht an das Fenster herantreten. Die Sonne stand schon hoch über dem Wertherplatz und leuchtete ihn bis in den kleinsten Winkel aus, eine grelle unbarmherzige Frühjahrssonne. Während der Spitzen des Berufsverkehrs schob sich da unten Auto an Auto vorüber, obwohl dies eigentlich keine Durchgangsstraße war. Früher, als die schönen Jugendstilfassaden noch rechts und links von Kastanien gesäumt wurden, hatte sie als gehobene, ruhige Wohnlage gegolten. In jüngster Vergangenheit waren einige der alten Häuser abgerissen worden, seit einem Jahr klaffte schräg weiter unten, in Richtung Friedrichring, eine hässliche Lücke, auch direkt gegenüber waren die imposanten Bauten vom Ende des 19. Jahrhunderts zwei seelenlosen Neubauten gewichen, und die Straße war zu jeder Tages- und Nachtzeit von parkenden Autos verstopft. Er selber hatte schon länger einen Stellplatz im Parkhaus gemietet. Heute fiel ihm gleich die autofreie Stelle auf der anderen Straßenseite auf. Vor dem Haus Nr. 15 baumelte an einer zwischen zwei Küchenstühlen gespannten Kordel ein Blatt Papier, offenbar ein improvisiertes Parkverbot.

Im Bürohaus an der Ecke waren die Räume der mittleren Etagen in ihr übliches blässlich bläuliches Licht getaucht, das dort winters wie sommers den Arbeitsalltag regierte. Ein überdimensioniertes Aquarium mit illuminierten Einzelbecken für die tagsüber darin herumschwimmenden Lebewesen. Baustellenlärm vom anderen Ende der Straße. Zwei Schulkinder trotteten hintereinander mit ihren Ranzen auf den Rücken, kaum zwanzig Meter voneinander getrennt, in Richtung Wertherplatz. Sie müssten sich doch kennen, besuchten womöglich dieselbe Grundschulklasse, warum gingen sie nicht zusammen? Wolters sah seinen eigenen Sohn den gleichen Weg ziehen, vor mehr als drei Jahrzehnten, damals unter den noch dünnen Stämmchen der jungen Kastanien, die inzwischen den Blechkisten hatten weichen müssen. Verschwunden, gefällt, tot. Mit den Bäumen rechts und links war die Straße wesentlich attraktiver gewesen. Er konnte sich nicht daran erinnern, seinem Sohn jemals nachgeschaut zu haben. Entweder war er um diese Tageszeit schon auf dem Weg ins Institut gewesen — oder er saß in seine Papiere vertieft am Schreibtisch. Wann war er eigentlich zum letzten Mal mit Michael essen gegangen? Warum musste immer er seinen Sohn anrufen, warum meldete der sich so selten von sich aus? Heute wurden offenbar die Restmülltonnen geleert; sie blockierten vor jedem Hauseingang den schmalen Gehweg. Er sollte seinen überquellenden Küchenabfalleimer hinuntertragen, doch er konnte sich nicht aufraffen. Der Bus der Linie 17 bog um die Ecke und hielt vor dem Baustellenzaun. Ein Fahrradfahrer, der unbedingt vorüberpreschen musste, umfuhr ihn in riskantem Bogen, mitten auf der Gegenfahrbahn. Ungeduldiges Hupen eines großen Lieferwagens hinter dem Bus, obwohl der schon wieder blinkte und anfuhr.

Besser als Fernsehen. Als er noch täglich zur Universität ging, hatte er sich kaum je die Zeit genommen, auf die Straße zu schauen. Sein Schreibtisch, ein gewaltiges antikes Ungetüm, stand seit fast vierzig Jahren, seit sie hier eingezogen waren, mit gutem Grund in der fensterlosen Ecke des Raums, mit dem Blick zur Wand — er hatte während der Arbeit nicht abgelenkt werden wollen.

Ein großer Lastwagen der Firma Umzüge Schulz & Co. KG hielt vor dem Haus gegenüber. Der Fahrer, im blauen ärmellosen Shirt, stieg aus, lief um sein Fahrzeug herum auf den Gehsteig, schien zu fluchen. Offenbar war die mit der Kordel und dem Papierwisch reservierte Parklücke vor dem Haus zu schmal. Also blieb der Umzugswagen einfach mitten auf der Straße stehen und blockierte damit die eine Fahrbahn vollständig.

Da war Ärger vorprogrammiert, dachte Wolters mit einer gewissen Befriedigung.

Vor seiner Emeritierung hatte ihn nicht interessiert, was da draußen geschah. Sobald er sein Zimmer betrat, hatte er sich am Schreibtisch niedergelassen und war in seine Arbeit abgetaucht. Er sah kaum auf, wenn Sybille hereinkam, was sie nur selten tat; sie respektierte seinen Wunsch nach Konzentration. Seine Welt war die Universität gewesen, mit ihrer Routine und ihren Intrigen, Forschung und Lehre, die eingespielten Vorlesungen, die lästigen, aber notwendigen Verwaltungsgremien, Bücher und Zeitschriften, vor allem sein eigenes Institut mit seinen Forschungsprojekten und den Studenten, die betreut werden wollten — und ja, natürlich auch seine kleine Familie, deren Leben sich überwiegend in diesen vier Wänden abspielte. Nur manchmal, wenn das Schreiben eines Aufsatzes ihm schwerfiel, wenn es um die schwierige Abwägung eines Gedankens, um knifflige Nuancen einer Formulierung ging, war er aufgestanden. War im Zimmer auf und ab gelaufen, irgendwann auch an die hohen Doppelfenster getreten, die nur rechts und links durch eine Andeutung von Gardine gerahmt wurden — er verabscheute jegliches Tüllgedöns —, und hatte über die Kronen der Kastanien und durch sie hindurchgestarrt, allerdings, ohne draußen wirklich etwas zu sehen, um dann zum Schreibtisch zurückzukehren und erneut auf seine Schreibmaschine einzuhacken, jahrzehntelang mit viel Kraft auf eine mechanische, später auf eine elektrische und elektronische. Zuletzt war es nur noch das zarte Antippen der Tastatur des PCs.

Seit Wolters allein lebte, war der Blick nach draußen immer mehr zu seiner zentralen Beschäftigung geworden. Inzwischen war es Wochen, Monate her, dass er zuletzt am Schreibtisch gearbeitet oder auch nur zu arbeiten versucht hatte. Er hielt sich dort bloß vorübergehend auf, um Mails abzurufen oder zu beantworten, Bankgeschäfte, Versicherungs- oder Steuerkram zu erledigen. Doch bald zog es ihn wieder zum Fenster. Das zwanghafte Beobachten der Straße schützte ihn vor dem schmerzhaften Grübeln, half ihm, die schlimmsten Gedanken fernzuhalten.

Der Fahrer des Umzugswagens auf der anderen Straßenseite öffnete die Hecktüren und begann, unterstützt von einem zweiten, scheinbar aus dem Nichts aufgetauchten Mann, Möbel und Kartons auszuladen, die sie zunächst einfach auf dem Bürgersteig auftürmten. Zwischendurch hielten die beiden wiederholt inne und wischten sich den Schweiß von der Stirn. Auch ohne körperliche Anstrengung war es warm für die Jahreszeit.

Im Fenster der Alten gegenüber, eine Etage unter der seinen, bewegte sich der Vorhang. Er sah sie, doch es war höchst unwahrscheinlich, dass sie ihn sehen konnte. Das war beruhigend.

2.

Sie fand es wunderbar, dass sie keinen Wecker mehr stellen musste, aufstehen konnte, wann sie wollte, meistens ausgeruht und guter Dinge. Zwar gab es auch Nächte, in denen sie stundenweise wach lag, und das war weniger erfreulich. Doch dann stand sie einfach auf, machte sich eine heiße Milch mit Honig und las weiter in ihrem Krimi, bis sie müde wurde. Der Vorteil am Alter: Ich muss ja am nächsten Tag nichts Großes leisten, sagte sie sich, und: Schlafe ich eben in den Vormittag hinein! Oder mittags länger. Wie es sich so ergibt. Leben, wie es sich ergibt. Das war jetzt ihre Devise.

Heute war sie sehr früh aufgewacht, im Morgendämmern, die Vögel tirilierten um die Wette. Fünf Uhr? Sechs Uhr? Welcher Luxus, sich genüsslich zwischen den Kissen umzudrehen, vielleicht würde sie noch einmal einschlafen, vielleicht auch nicht. Die Augen kurz öffnen, gleich wieder schließen, ein bisschen vor sich hindösen und sich erst ganz allmählich der Frage annähern, was für ein Tag heute war. Welcher Wochentag. Auf was an diesem Tag sie sich besonders freuen konnte. Ihr rechter Fuß war eingeschlafen, weil schwer der Kater darauflag, der leise vor sich hin schnarchte. Es brauchte ein bisschen Kraft, ihn beiseitezuschieben. Das Schnarchen verstummte, an seiner statt ertönte ein gutwilliges Schnurren, bis er erneut einnickte. Heute war ein erfreulicher Tag. Zwar war erst Ende April, doch die Frostgefahr schien vorüber. Sie würde ihre Balkonkästen bepflanzen. Nicht nur Geranien. Vielleicht gar keine Geranien diesmal, sondern verschiedene bunte …

Als sie zum zweiten Mal aufwachte, kitzelten Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen des Rollos drangen, ihr Gesicht. Aus dem Radio neben dem Bett dudelte leise Musik. Sie hatte es vorhin eingeschaltet, immer ihr erster Handgriff beim Erwachen, offenbar die Art von Musik, bei der es sich prächtig wieder einschlafen ließ. Jetzt konnte man sich auf das Frühstück freuen.

Nachrichten. Im Mittelmeer war schon wieder ein Flüchtlingsboot gesunken, mit hundertsoundso viel Menschen an Bord. Hundert oder zweihundert? Sie hörte nicht genau hin, weil polternde Geräusche aus dem Treppenhaus sich in den Vordergrund schoben. Auf dem Weg zur Kaffeemaschine, barfuß und im Nachthemd, blinzelte sie durch den Spion an der Eingangstür, konnte aber nichts erkennen, obwohl es immer noch polterte. Der Kater umstrich nachdrücklich ihre Beine, bis sie eine Futterdose für ihn öffnete. Erst als sie am Küchentisch beim Fenster ihr Honigbrot strich, fiel ihr der Umzugswagen vor dem Haus auf. Die neuen Mieter also, die in die Wohnung unter ihr zogen, die sechs Wochen leer gestanden hatte.

Das Telefon klingelte, kaum dass sie die erste Tasse Kaffee getrunken hatte. »Dora, Liebes, nein, heute geht es wirklich nicht. Nicht böse sein, ich bin verabredet.« Ein gewisser Nachteil des späten Aufstehens, dass die Welt manchmal schon auf einen einstürmte, während man noch in Ruhe frühstücken wollte. »Vielleicht nächste Woche?« Sie war nicht wirklich verabredet, außer mit ihren Balkonblumen; sie wollte einfach nur einen ruhigen Tag ohne Programm, alles Weitere sollte sich von selbst ergeben. Doch Dora nahm so leicht übel. »Was machen die Kinder? Hoffentlich gesund. Ich rufe dich an.« Diese Tochter hätte es am liebsten gesehen, wenn sie sich zwei-, dreimal die Woche mit den Enkeln befasste. »Andere Großmütter wären froh …« Andere Großeltern waren ihr egal. Sie kämpfte listig um ihren so spät im Leben gewonnenen kostbaren Freiraum und ließ sich nicht gern verplanen. Doch Dora schaffte es immer wieder, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen, schon dadurch, dass sie dauernd anrief.

Flüchtlingsboote. Der Wetterbericht versprach weitere sonnige Tage. Zeit für die Balkonblumen. »Nein, mein Dickerchen, keine Butter, du hattest dein Frühstück, hör auf zu betteln!« Der Kater verzog sich beleidigt in ihren Fernsehsessel. Dass er pikiert war, erkannte sie an den kleinen ruckartigen Bewegungen seines hocherhobenen Schwanzes und daran, dass er steifbeinig ging wie ein Mensch, der sich in die Hose gemacht hat. Sah von hinten urkomisch aus. Ihr Radio lief von morgens bis abends, sie war so daran gewöhnt, dass sie die meiste Zeit nicht mehr hinhörte und manchmal sogar vergaß, es abzuschalten, wenn sie die Wohnung verließ oder zu Bett ging. Gelegentlich erwachte sie mitten in der Nacht von heulenden Sirenen oder lautem Geschrei, einigermaßen verstört, bis ihr klar wurde, dass da ein spätes Hörspiel im Programm lief.

Sie dachte an Dora und die Enkel, an Flüchtlingsboote und Kreuzfahrtschiffe, an ihr eigenes gutes Leben, während sie im Radio zum Wunschkonzert Klassik übergingen. Wie sehr doch alles vom Zufall der Geburt abhing! Wie grundverschieden das Schicksal der Menschen, die zur selben Zeit über das Mittelmeer fuhren. Das Nebeneinander von luxuriösen Wellness-Hotels und der Tafel, die die Obdachlosen verköstigte. War es etwa ein Verdienst, in Mitteleuropa geboren worden zu sein? Doch es ging niemandem auf der Welt besser, wenn sie ein schlechtes Gewissen hatte. Deswegen wollte sie jetzt einfach nur an Balkonblumen denken. Zerstreut machte sie sich ausgehfertig. »Tschüss, mein Faultier!« Der Kater schnarchte im Fernsehsessel, als habe er nicht schon die ganze Nacht verschlafen. Von Katzen konnte man Lebensart lernen. Keine Geranien, Bernhard hatte immer nur Geranien gewollt, lachsrot, hängend, sie mochte die aufrecht stehenden tiefdunkelroten, von denen sie immer nur ein paar zwischendrin hatte durchsetzen können. Diesmal würde sie eine bunte Vielfalt verschiedener Sommerblumen pflanzen, auch solche, die man gewöhnlich nicht in Balkonkästen sah, eine wilde Mischung.

Im Treppenhaus lief ein Kind auf und ab, es kam von oben angedüst, blieb abrupt vor ihr stehen und beäugte sie, während sie hinter sich die Tür ins Schloss zog, ein etwa sechsjähriger Junge, den sie hier noch nie gesehen hatte, vielleicht auch jünger, sie waren heute so schwer einzuschätzen, wuchsen viel zu schnell. Vermutlich zu viel tierisches Eiweiß, Fleisch und Eier, wie oft hatte sie Dora schon gesagt, es sei nicht richtig, den Mädchen jeden Tag ein Frühstücksei zu geben.

»Zieht ihr da unten ein?«, fragte sie.

Er starrte sie an.

»Keine Zähne«, sagte er und starrte weiter. »Keine Zähne.«

»Unsinn!«, erwiderte sie ungehalten. »Und wie wäre es, wenn du erst mal Guten Tag sagtest?« Er rannte grußlos weiter, diesmal treppab. Sie hörte eine Frauenstimme von unten »Jurek!« rufen und schloss seufzend ihre Wohnungstür wieder auf, da sie offenbar vergessen hatte, den provisorischen Zahnersatz unten rechts einzusetzen. »Du musst aufpassen, dass du dich nicht vernachlässigst, Mutter«, hörte sie Dora sagen, »manchmal mache ich mir wirklich Sorgen.« Nur nicht jetzt auch noch das Portemonnaie liegen lassen. Es dauerte jedes Mal länger, bis man loskam. Aber sie hatte ja alle Zeit der Welt. Sie wand sich an zwei Möbelpackern vorbei, die die Stufen zum Hochparterre mit einem Sofa blockierten, und trat hinaus in die ungewöhnliche Hitze dieses Frühlingstags.

Es war früher Nachmittag, als sie zurückkehrte. Denn beim Blumenkauf hatte sie spontan beschlossen, Biba anzurufen und sie zu fragen, ob sie Lust habe, mit ihr Mittag zu essen? Man musste es doch feiern, dass man nun wieder draußen sitzen konnte. Biba war spontan, anders als Lore, die es verwerflich fand, sich schon am Vormittag zu vergnügen, und Gundi kam nicht in Frage, weil sie bis zwei Uhr arbeitete. Auf der Terrasse vom Café Hecker bestellten sie zuerst Salat, Biba mit Schafskäse und Irene mit Hähnchenbrust, und anschließend verzehrte jede ein großes Eis. Der Frühling machte übermütig. Als Bernhard noch lebte, hatte sie jeden Mittag gekocht, er erwartete das von ihr, und es irritierte ihn ungemein, wenn ungeplante Ereignisse seinen geregelten Tagesablauf durcheinanderbrachten. Vermutlich genoss sie es deswegen jetzt so, in den Tag hinein zu leben. Die Gärtnerei Hasenau würde ihr die Blumen am späten Nachmittag bringen; es war ohnehin nicht ratsam, sie in der prallen Mittagssonne zu pflanzen.

Der Umzugswagen war fort, doch im Eingangsbereich standen noch ein paar sperrige Utensilien und mehrere große Blumenkübel herum. Aus der weit geöffneten Tür der neu bezogenen Wohnung drang Musik, stampfende Rhythmen. Sie riskierte einen raschen Blick auf das chaotische Möbellager in der Diele, wo eine zierliche rothaarige Frau herumwirbelte, mit einer Hand einen Karton auspackte und gleichzeitig zu telefonieren versuchte. Der Junge war nirgends zu sehen.

»Irene Voigt«, stellte sie sich vor. »Ich wohne über Ihnen. Alles Gute zum Einzug.«

Die Frau warf ihr Handy irritiert auf einen Umzugskarton. »Ist der Empfang bei Ihnen auch so mies? Muss ich etwa den Anbieter wechseln?«

»Ich telefoniere nur vom Festnetz aus«, erklärte sie achselzuckend und stieg weiter die Treppen hoch.

»Ich bin Thyra Hamann«, rief die junge Frau ihr nach. »Danke für die guten Wünsche.«

Gegen fünf Uhr wurden die Blumen und ein großer Sack Erde geliefert, und Irene machte sich, erholt vom Mittagsschlaf, gleich an die Arbeit, pflanzte vergnügt alle vier Kästen voll mit weißen Margeriten, blauen und rosafarbenen Petunien, roten Salvien, Ringelblumen. Sie beglückwünschte sich zu ihrem Werk. Ein schöner Tag. Jetzt Abendbrot, sie hatte sich aus der Stadt kleine Salate mitgebracht, dazu ein Glas Rotwein auf dem Balkon. Von unten war noch immer fetzige Musik zu hören. Sie träumte zufrieden zwischen den Frühlingsblumen, bis sie einer plötzlichen Eingebung folgend über die Balkonbrüstung zur anderen Straßenseite schaute. Tatsächlich: Der alte Mann aus dem Haus gegenüber stand wieder hinter dem Fenster und beobachtete sie.

3.

Immer saß sie da auf ihrem Balkon, die Alte von Gegenüber, fast jeden Nachmittag und manchen Abend, seit es warm geworden war. Meist allein. Gelegentlich kam eine jüngere Frau zu Besuch, die hatte er aber in diesem Frühjahr erst einmal beobachtet, manchmal hockte sie mit zwei oder drei anderen älteren Frauen zusammen. Im Winter sah sie schon am Nachmittag fern; dann registrierte er das bläuliche Flackerlicht des Bildschirms in ihrem Wohnzimmer und konnte ihre Silhouette im Profil ausmachen, in einem Sessel oder Stuhl mit hoher Rückenlehne beim Fenster, bis sie, meistens sehr spät, die Jalousien herunterließ.

Was für eine kümmerliche Existenz. Wahrscheinlich schaute sie im Fernsehen so etwas wie den Musikantenstadl, die Große Gala der Volksmusik oder diese unsäglichen Vorabendserien, eine platter als die andere. Eine wie die las sicherlich nicht.

Ihn selber interessierte das Fernsehprogramm kaum noch, er sah nur die Nachrichten, gelegentlich mal ein politisches oder wirtschaftspolitisches Magazin, mit abnehmender Häufigkeit und zunehmendem Widerwillen hin und wieder eine Talkshow. Er las allerdings auch nicht mehr so viel wie früher, doch immerhin hielt er neben den Wochenblättern »Spiegel« und »Zeit« zwei überregionale Tageszeitungen.

Wann hatte er zuletzt einen Band aus dem Bücherschrank genommen, und sei es nur, um darin zu blättern? Hatte er noch mal in ein einziges sexualwissenschaftliches Standardwerk geschaut, seit er keine Vorlesungen mehr hielt und nicht mehr publizierte? Sicher, er bezog weiter seine Fachzeitschriften und informierte sich, wer von seinen Kollegen zu welchem Thema forschte, doch er überflog sie nur aus Gewohnheit, fast immer gelangweilt.

Hallwig hatte ihm in der vergangenen Woche geschrieben und angefragt, sehr höflich, sehr respektvoll, was ihm zugegeben guttat, ob er nicht den Vorsitz der Gesellschaft der Freunde und Förderer seines ehemaligen Instituts übernehmen wolle, des Instituts für empirische Sexualwissenschaft. Doch er hatte sich geschworen, keinen Fuß mehr über die Schwelle zu setzen, nach der Geschichte mit Maurer. Sollten sie doch sehen, wo sie einen anderen Dummen herkriegten.

Draußen dämmerte es, die angenehme Wärme des Sonnentags hing noch in der Straße. In den Büroetagen des Eckhauses waren nur mehr zwei, drei Räume erleuchtet — die Putzkolonne vielleicht, doch eigentlich kamen die morgens. Da saßen jetzt wohl eher die wirklich Motivierten, die in Ruhe eine Arbeit zu Ende bringen wollten. Er, Wolters, hatte nicht selten weitergemacht oder erst richtig losgelegt, wenn seine Mitarbeiter schon gegangen waren, und dabei die himmlische Stille ringsum genossen. Seine Arbeit hatte ihm viel bedeutet. Er hatte sich auf die Zeit nach der Emeritierung gefreut, weil er noch ein wichtiges Buch schreiben wollte, für das vorher neben dem Alltagsgeschäft nicht genug Zeit geblieben war. Er hatte im Laufe der letzten Jahre umfängliches Material dafür gesammelt.

Doch nun, drei Jahre nach seinem Abschied, war er mit dieser Arbeit nicht viel weiter gekommen. Er wusste, dass er sich herausredete, wenn er nur Sybilles Krankheit und Tod dafür verantwortlich machte.

All diese Bücher um ihn herum. Er besaß viel zu viele Bücher. Der Schrank mit den philosophischen Schriften, die beachtliche Abteilung Religionswissenschaft, seine stattliche historische Bibliothek, einiges Soziologische — keine solide Sexualwissenschaft ohne Soziologie, die Psychologie dagegen nahm nur drei, vier Regalbretter ein, Klassiker aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, das meiste, was nach Freud gekommen war, konnte man getrost vergessen. Die ebenfalls nicht sehr umfangreiche, aber substantielle Belletristik-Sammlung, den bildungsbürgerlichen Kanon seiner frühen und mittleren Jahre, hatte er längst ins Wohnzimmer ausgelagert, wo sie neben Sybilles Romanen nur wenig Platz beanspruchte; ihn hatte, anders als sie, nichts Modisches interessiert. Gegenwartsliteratur las er seit Dekaden nicht mehr.

Seine private sexualwissenschaftliche Sammlung, über Jahrzehnte parallel zur Institutsbibliothek aufgebaut, nahm eine ganze Wand des Arbeitszimmers ein. Sie war sein ganzer Stolz gewesen, in sieben Abteilungen gegliedert, innerhalb der Abteilungen alphabetisch nach Autoren geordnet: 1. Geschichte der Sexualwissenschaft, 2. Sexuelle Perversionen, 3. Pornographie, 4. Gleichgeschlechtliche Liebe, 5. Sexualität im interkulturellen Vergleich, 6. Die Sexuelle Revolution, 7. Sonstiges.

Seit wann ödete ihn das alles an?

Manche Bände verstaubten, seit vierzig Jahren unbewegt, am selben Platz in den Regalen. Nein, das war ungerecht: Noch bis vor fünf oder zehn Jahren war es eine lebendige, eine genutzte Bibliothek gewesen. Es war neu, dass ihn die vielen Bücher, mit denen er alt geworden war, irritierten. Früher war eine solche Bibliothek doch der Ausweis eines Geistesmenschen gewesen; man sammelte lebenslang Solides, Bewährtes, Gültiges. Früher waren gehaltvolle Bücher eine zeitlose Investition, heute durfte er gar nicht daran denken, wie viel Geld er über Jahrzehnte in wissenschaftliche Werke gesteckt hatte, die heute kaum eine Bibliothek, geschweige denn eine Privatperson, geschenkt nehmen würde. Michael würde nach seinem Tod mit Sicherheit nichts davon behalten wollen. Ab in den Container! Hopp und ex! Wisch und weg! Im Zeitalter des Internets, der Informations-Müllhalden waren Bücher, in denen Jahre zäher, minutiöser, selbstvergessener Arbeit steckten, nichts mehr wert, kaum erschienen, schon verramscht, man musste sie gar nicht erst kaufen und bestimmt nicht auf Dauer besitzen.

Es erschreckte ihn, dass er sich neuerdings von seinen Büchern manchmal geradezu bedrängt fühlte. Die abgestorbene, tote Bibliothek lastete auf ihm. Leere im Überfluss, Überdruss allenthalben. Manchmal spielte er mit dem Gedanken an einen reinigenden Minimalismus: wie ein Frühlingssturm durch die Schränke wüten, alles weg, was nicht wirklich wichtig war. Wie viel würde übrig bleiben? Ein Viertel? Ein Fünftel?

Das Telefon meldete sich, als er sich in der Küche im Stehen ein Leberwurstbrot schmierte. Er mochte diesen pathetischen Klingelton nicht, ärgerte sich seit mehr als zwei Jahren jedes Mal, wenn er ihn hörte, war aber bisher zu bequem gewesen, ihn zu ändern. Ode an die Freude, alle Menschen werden Brüder — himmelschreiende Sentimentalität, und das ihm! Doch er hätte die Gebrauchsanweisung studieren müssen, um herauszufinden, wie man das abstellte. Der bloße Gedanke daran war ihm lästig.

Sein Sohn Michael. Ob er Zeit und Lust habe, am Sonntag zu ihnen zum Mittagessen zu kommen.

»Danke, gern. Aber ich vermisse unsere monatlichen Zweiertreffs hier bei mir oder im Restaurant«, setzte er zögernd hinzu, »sind die jetzt ganz gestorben?« Er fühlte sich immer ein bisschen steif, wenn er seinen Sohn im gediegenen Einfamilienhaus besuchte und mit ihm, der Schwiegertochter und dem Enkel um den Esstisch saß, der stets perfekt gedeckt war, mit einem weißen Tischtuch und Leinenservietten. Als säßen sie Modell für die Zeitschrift »Schöner Wohnen«.

»Das eine muss das andere ja nicht ausschließen«, gab Michael ein bisschen zu rasch, zu schuldbewusst zurück, »der Sonntag war Gittes Idee.«

Wolters behielt seine Zweifel für sich, bedankte sich artig und richtete Grüße aus. Dann kehrte er mit Leberwurstbrot und Weinglas auf seinen Beobachtungsposten zurück. Wenn Michael zu ihm gekommen wäre, hätte er ihn bitten können, endlich einen anderen Klingelton für das Telefon zu programmieren, für ihn wäre das eine Angelegenheit von zwei Minuten. Das Verhältnis zu seinem Sohn war in jüngster Zeit sehr förmlich geworden.

Gegenüber, vor dem Haus Nr. 15, verabschiedete die zierliche Rothaarige, die vor kurzem in die Erdgeschosswohnung gezogen war, ihren kleinen Sohn, der von einem Mann — ihrem Ex?, dem Vater? — abgeholt wurde. Wohl zur Übernachtung, allerdings reichlich spät für ein Kind, der Kleine trug einen knallbunten Mini-Rucksack. Die Frau war offensichtlich alleinerziehende Mutter, er hatte sie mit diesem Jungen und mit einem Baby auf dem Arm oder im Kinderwagen gesehen. Wie übertrieben sie jetzt hinter ihrem Sohn herwinkte, eine äffische Demonstration hingebungsvoller Mutterliebe. Sie winkte so verrückt, als ginge der Kleine für immer, der drehte sich jedoch kaum nach ihr um, vielleicht war er schon in dem Alter, in dem ihm dergleichen peinlich vorkam, jedenfalls schien er nicht recht zu wissen, wie er reagieren sollte. Schließlich hob er zögernd die Hand zu einem schlaffen Gruß, während der Papa ihm die Autotür öffnete und die Mama albern vor der Haustür herumhüpfte, mit dem ganzen Körper zappelnd und winkend. Das war wohl eine der Mütter, die ihr Kind jahrelang zur Schule begleiteten, ihm womöglich noch den Schulranzen bis ins Klassenzimmer trugen, dachte er. So albern, Mütter heute. Er und Sybille hatten, als Michael klein war, eine gesundere Einstellung gehabt.

Misanthrop, hatte sie ihn manchmal genannt. Gut, war er eben ein miesepeteriger Menschenfeind. Das war seit ihrem Tod nicht besser geworden.

Sybille war im Sommer drei Jahre tot. Lili, die Terrierhündin, erst drei Monate. Wolters schämte sich für das Eingeständnis, dass er manchmal nicht zu entscheiden vermochte, was schwerer wog, der Verlust seiner Frau oder der des Hundes. Beides schien auf schwer verständliche, kaum erträgliche Weise miteinander verwoben. Vielleicht weil Lilis Ende die Erinnerung an Sybilles Sterben wieder hatte aufleben lassen.

Wie lange seine Arbeitskrise nun schon andauerte. Vielleicht war es an der Zeit, sich einzugestehen, dass es sich nicht um eine Schreibblockade handelte, sondern um das endgültige Aus. Sein Ende als Wissenschaftler. Er würde dieses Buch nicht schreiben, auch kein anderes mehr, er würde nie wieder schreiben und niemals mehr veröffentlichen.

Das Licht in den Straßenlaternen setzte flimmernd ein, erst zaghaft, stabilisierte sich nach und nach und erreichte seine volle Kraft. Keine Autos mehr; nur von fern hörte man den Verkehr auf der Hauptstraße. Es war noch immer warm, ungewöhnlich warm für einen Aprilabend. Die Alte gegenüber hockte unbeweglich auf ihrem Balkon im ersten Stock; eine träge formlose Gestalt, vor sich auf dem Tischchen Flasche und Glas, eine Kerze im Windlicht. Sie trank Roten; das konnte er zuverlässig mit dem Fernglas ausmachen. Er selber hatte sich schon vor einer Stunde den gut temperierten Cabernet Sauvignon aus dem Kühlschrank geholt. Um diese Stunde benutzte er gern das Fernglas, niemand konnte ihn sehen im dunklen Zimmer. Früher, nach dem Abendessen, nachdem sie sich über ihren Tag ausgetauscht hatten, saßen er und Sybille um diese Zeit meist bei einem gemeinsamen Glas Wein im Wohnzimmer, jeder in seinem Sessel, in Buch oder Zeitung vertieft, doch dazwischen immer wieder aufschauend — hast du das schon gelesen? Diesen Abschnitt muss ich dir unbedingt vorlesen!

Draußen überquerte ein eng umschlungenes Paar die verlassene Straße, unter ihm schlug eine Autotür zu. Eine Katze schlich über den Baustellenzaun. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig hinkte eine markante, etwas unheimlich wirkende Gestalt mit langen, zotteligen Haaren heran. Vielleicht ein Musiker. Denn er trug etwas wie einen länglichen Instrumentenkasten an breitem Riemen über der Schulter. Der hagere Mann führte einen ebenso mageren, hässlich gescheckten Hund an der Leine und zog kaum merklich ein Bein nach. Vielleicht ein Straßenmusikant, überlegte Wolters, einer, der tagsüber auf einer belebten Straße im Zentrum spielt, seinen Hund auf dem schmuddeligen Parka neben sich, den Bettelhut davor, einer, der jetzt nach Einbruch der Dämmerung ein Nachtquartier brauchte — und es offenbar bei der jungen Frau gegenüber fand, und nicht nur das. Denn die Rothaarige war auf den Balkon getreten und rief ihm einen Willkommensgruß zu. Augenblicke später öffnete sich die Haustür, und er verschwand samt scheckigem Köter dahinter. Da konnte man sich eins und eins zusammenreimen. Deswegen also hatte die Frau ihren Sohn für die Nacht beim Vater ausgelagert.

Wolters wartete eine Zeit lang auf Licht in ihrem Wohnzimmer, vergeblich; die beiden erschienen auch nicht auf dem Balkon. Vielleicht hatte ihre Wohnung Zugang zu einem Garten, nach hinten hinaus. Die Alte im ersten Stock gegenüber hatte inzwischen ihr Windlicht gelöscht und war in die Wohnung verschwunden; ihr Fernseher flackerte.

Zeit für das heute journal.

Die Veränderungen, die die so genannte Sexuelle Revolution mit sich gebracht hatte, waren sein Spezialgebiet gewesen. Vielleicht sollte er doch den Vorsitz der Gesellschaft der Freunde und Förderer des Instituts für empirische Sexualwissenschaft annehmen. Es würde ihm etwas zu tun geben, ein wenig Abwechslung, vielleicht sogar Anregung in sein Leben bringen, auch wenn die Aufgaben des Vorsitzenden eher läppisch, bloß repräsentativer Natur waren.

4.

»Gib Ruhe, Knie!«, sagte sie. Heute war es das rechte, untypisch, das linke meldete sich öfter. Mal links, mal rechts, mal schmerzten beide gleichzeitig. Immerhin gab es noch längere Zeiträume, in denen sie ihre Knie vergessen konnte, darüber sollte sie froh sein. Übergewicht abbauen, hatten der Orthopäde und die Krankengymnastin übereinstimmend geraten und öfter spazieren gehen; bei Gelenkarthrose dürfe man sich gerade nicht schonen, sondern müsse sich regelmäßig bewegen, täglich ein bisschen.

Sie bewegte sich nicht übertrieben gern. Zwar hatte sie nichts dagegen, hin und wieder durch die Stadt zu bummeln, doch Spaziergängen um des Spazierengehens willen konnte sie nichts abgewinnen. Ein paar Mal hatte sie sich zum Gehen mit Lore verabredet, die dreimal in der Woche mit Stöcken durch den Park lief. Doch die war viel zu schnell für sie. Wie lästig, dass man heute von allen Seiten mit dem Diktat des gesunden Lebenswandels konfrontiert wurde. Sie meinte, ihren Bernhard zu hören, der ein Mäßigkeitsapostel gewesen war: Nicht rauchen, kein Alkohol, nicht zu fett, nicht zu süß, vor allem nicht zu viel essen, täglich zwei Liter Wasser trinken, acht Stunden schlafen und zwei Portionen Obst essen. Sport treiben. Am liebsten hätte sie das alles ignoriert.