Erstes Kapitel Abwarten und Tee trinken

»Pimpi? Pimpinella! Lass sofort die Zitronenmelisse in Ruhe!« Missi stemmte die Arme in die Hüften und sah ihre Ziege streng an. »Das ist eindeutig das falsche Frühstück für dich. Aus, du Fellmonster!«

Pimpinella stand vor einem großen Kübel im Gewächshaus der Familie Zuckerschwert. Ein dünner Stängel mit fein gezackten Blättchen hing aus ihrem Maul. Mit unschuldiger Miene blinzelte die Ziege Missi an und legte den Stiel vor ihren Füßen ab. Dabei sah sie so niedlich aus, dass Missi lächeln musste. Wer konnte diesem Blick widerstehen? Noch dazu an einem so wunderbaren Sommertag? Missi seufzte.

Die Morgensonne strahlte schon warm durch die Glasfenster, der feine Duft von Zitronen lag in der Luft, und durch die weit geöffneten Flügeltüren des Gewächshauses strömte ein leichter Wind. Pures Sommergefühl!

»Menno! Pimpi«, sagte Missi mit sanfter Stimme. »Du kannst wirklich nicht auch noch die letzten Stängel auffuttern. Sieh doch mal! Die Blätter hängen schon wieder so schlaff herunter, obwohl ich mich echt anstrenge und so oft wie möglich gieße.«

Bedrückt sah sich Missi im Gewächshaus um. Lediglich an den zahlreichen Erdbeerpflanzen leuchteten pralle Früchte um die Wette. Die Himbeeren und Stachelbeeren, die Tante Camilla mühevoll gepflanzt hatte, sahen ziemlich vertrocknet aus. Zucchini, Gurken und Salat schrumpelten vor sich hin und hatten unschöne braune Stellen. In ihren Kästen, Beeten und Kübeln ließen Rosmarin, Basilikum, Oregano und die anderen Kräuter schlaff die Zweige und Blätter hängen. Was für ein trauriges Bild! Noch vor ein paar Tagen waren es üppige Kräuter, saftiges Obst und pralles Gemüse gewesen, die für die Gerichte im Gasthaus von Missis Eltern gedacht waren. Chefkoch war Missis Papa Hannes, Missis Mama Jill kümmerte sich um den Rest. Erst ein Jahr war es her, dass die Zuckerschwerts das Lokal mit angrenzendem Gewächshaus gekauft hatten. Eigentlich war es vor allem die Aufgabe von Missis Eltern, regelmäßig im Gewächshaus zu wässern und zu düngen. Immerhin ging Missi noch zur Schule.

Mit den Fingern prüfte Missi die Erde in einem der Pflanzbeete. »Strohtrocken! Ich möchte mal wissen, wie lange Papa hier nicht mehr gegossen hat.« Fragend sah Missi zu Pimpi, als könnte die Ziege ihr eine Antwort geben. »So wird das nie was. Hühnerkacke! Ich kann mich doch nicht um alles kümmern, in letzter Zeit hatten wir so viele Klassenarbeiten!«

Verärgert packte Missi den Gartenschlauch, der sich wie eine Schlange zwischen den Beeten ringelte. Sie stellte das Wasser an und besprengte die trockenen Pflanzen. Dabei drehte sie Pimpi den Rücken zu. Diesen Moment nutzte die freche Ziege, um sich einen neuen Stängel Melisse zu schnappen. Offensichtlich liebte Pimpi den feinen Zitronengeschmack. Gerade wollte die Ziege mit ihrer Beute verschwinden, da wandte sich Missi zu ihr um.

»Pimpi! Ich glaube, ich seh nicht recht. Na, warte! Ich habe doch gesagt, dass die Melisse nichts für dich ist. Die hat Tante Camilla für Papa und mich gepflanzt. Also her damit!«

Zack! Blitzschnell hielt Missi den Schlauch auf die Ziege. Platsch! Der Wasserstrahl prasselte direkt auf Pimpis Ziegenpo.

Eine dicke Wasserfontäne.

Ein schrilles Meckern.

Ein empörter Augenaufschlag.

Dann hatte Pimpi verstanden.

»Mäh! Meck-meck-meck!« Schuldbewusst ließ sie den Stängel fallen und trabte auf Missi zu. Direkt vor ihr schüttelte sie sich so heftig, dass die Tropfen durch die Gegend spritzten.

»Iiiih! Pimpi, du Ferkel!«, kreischte Missi, aber im gleichen Moment musste sie lachen. »Jetzt habe ich auch eine Morgendusche bekommen. Schlaues Mädchen!«

Stolz strich Pimpi um Missis nackte Beine und schlabberte mit ihrer rauen Zunge einmal über ihren Fuß. Zum Abschluss stupste sie das Mädchen zärtlich an. Pimpis Spezialbehandlung für wahre Freunde.

»Alter Stinker!« Missi grinste. Das feuchte, struppige Fell der Ziege kitzelte an ihrer nackten Haut. »Jetzt willst du alles wiedergutmachen, stimmt’s?«

Wenn Pimpi so kuschelig war, konnte Missi wirklich nicht mehr schimpfen. Normalerweise war die Ziege nämlich ein unglaublicher Dickkopf. Pimpi gehorchte so gut wie nie. Wie schön, dass es dieses Mal geklappt hatte. Missi streichelte das Tier ausgiebig und deutete auf die Zitronenmelisse. Nur noch ein paar müde Stängel ragten aus dem Topf, und selbst die hingen schlaff herunter.

»Versteh doch, Pimpi, ich brauche das Gewürz unbedingt für den Tee, den ich zum Mittagessen mit Theo machen will.«

»Du willst mir Tee kochen? Ist ja interessant.« Unbemerkt hatte sich Theo ins Gewächshaus geschlichen. »Dafür ist es doch viel zu heiß. Ich schwitze jetzt schon!« Er stöhnte theatralisch und hob die Hand an die Stirn. »Meine beste Freundin will mich umbringen!«

»Pfff!« Missi verdrehte die Augen. »Natürlich Eistee!«

»Okay, da bin ich dabei.« Theo grinste breit. »Sag mal, was machst du eigentlich schon so früh im Gewächshaus? Deine Mutter hat gesagt, dass ich dich hier finde.«

»Ich konnte nicht schlafen. In meinem Dachzimmer war es viel zu warm.« Missi reckte die Arme nach beiden Seiten. »Hier ist es morgens schön kühl, und es riecht so gut.«

Missi musterte Theo. Er trug eine brandneue Cargohose, dazu ein cooles T-Shirt, das ihr auch unbekannt vorkam. Über der Schulter hing sein Rucksack. Lässig nahm er ihn herunter und ließ ihn auf den Boden fallen.

»Neue Klamotten, was?« Missi blickte an sich herunter. Ihre Sachen waren kein bisschen neu, im Gegenteil! Sie trug meistens abgeliebte Kleider. Bunte T-Shirts und alte Jeans oder Shorts mit aufgenähten Blumen. Damit verdeckte sie die vielen Löcher, die sie sich beim Klettern, Radfahren und Toben holte.

Theo zuckte mit den Schultern. »Du weißt doch … meine Mutter!«

Obwohl sich Missis Freund absolut nichts daraus machte, kaufte ihm seine Mutter mit großer Begeisterung ständig neue Sachen. Eigentlich völlig unnötig. Denn Theos ordentliche Klamotten sahen schon nach ein paar Stunden komplett unordentlich aus. Aber auch das war ihm egal. Hauptsache, sie hatten genug Taschen.

»Die Hose ist echt klasse«, meinte er. »Passt jede Menge rein.« Er deutete auf die zahlreichen, prall gefüllten Taschen. Theo war leidenschaftlicher Steinesammler. Überall hob er passende Kiesel auf und stopfte sie in seine Jeans. »Unterwegs habe ich gerade die beiden hier gefunden. Superglatt!«

Er hielt Missi zwei flache Kiesel hin. Missi befühlte sie und nickte wissend. »Echte Theo-Steine. Cool!«

Wenn Missi und Theo gemeinsam zur Schule liefen, waren Theos Hosentaschen oft schwerer als sein Schulrucksack! Seine Schätze türmte er zu wunderbaren Figuren auf, seit er das bei einem Urlaub an der Ostsee gesehen hatte.

»Was ist denn jetzt mit meinem Tee?« Theo sah auf die Uhr. »Ich sag mal so … kriegst du das in einer halben Stunde hin? Herr Hoppenlau reißt uns den Kopf ab, wenn wir zu spät zur Schule kommen. Heute schreiben wir den letzten Mathetest vor den Sommerferien. Schon vergessen?«

»Schule! Mathetest! Monstermist, das habe ich total verdrängt.« Missi schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Dann kniff sie die Augen zusammen. »Aber heute ist erst zur zweiten Stunde Unterricht. Schon vergessen?«, ahmte sie Theo belustigt nach.

»Gut gekontert«, meinte Theo.

»Komm mit, wir setzen schon mal den Tee an. Außerdem muss ich noch meine Schultasche holen.« Missi zupfte vorsichtig ein paar Melissenblätter ab. Nebenbei schnappte sie nach dem Halsband von Pimpinella und zog die Ziege hinter sich her. »Los, Pimpi, du verfressenes Ungeheuer. Sonst machst du dich noch über das komplette Gewächshaus her.«

Das Haus der Zuckerschwerts war nicht weit entfernt. Zwischen dem Gewächshaus und Missis Zuhause lagen nur ein verwilderter Garten und das Nachbarhaus. Hier wohnte Frau Schimmelmann, die wegen ihrer Vorliebe für schrille Hüte von allen nur Frau Hütchen genannt wurde. Klammheimlich und hinter ihrem Rücken natürlich. Frau Hütchen war eine echte Nervensäge, die vor allem zwei Dinge besonders liebte: Motzen und Klatschzeitschriften lesen.

»Achtung, Theo, mach dich unsichtbar, damit Frau Hütchen uns nicht bemerkt«, raunte Missi dem Freund beim Vorbeilaufen zu. Die Kinder und sogar Pimpi duckten sich. Zu spät!

»Guten Morgen, Melissa!« Frau Hütchen streckte ihren Kopf über den Zaun.

Beinahe hatte Missi das Gefühl, dass die Nachbarin nur auf sie gewartet hatte. Seltsam. Jetzt bloß keine blöden Gespräche über Papas Kochkünste, dachte sie.

»Würdest du bitte aufpassen, dass dein Viehzeug keine Ziegenkötel am Zaun hinterlässt? Schließlich gedeihen direkt dahinter meine herrlichen Rosen.« Frau Hütchen sah Pimpi mit zusammengekniffenen Augen an.

»Meck! Meck!«, gab die Ziege zurück und senkte den Kopf, als wollte sie die Nachbarin auf die Hörner nehmen. Stattdessen lief sie ein paar Schritte voraus und ließ … Plopp! Plopp! ein paar stinkende Kügelchen fallen. Extra nah am Zaun der Nachbarin.

»Pfui, weg da. Husch!« Frau Hütchen wedelte mit ihren Händen. »Die Haltung dieser gefährlichen und schmutzigen Tiere sollte wirklich verboten werden. Ungeheuerlich!« Sie reckte ihren Arm über den Zaun und reichte Missi eine transparente Dose. »Hier habe ich etwas für dich, kleines Fräulein.«

Kleines Fräulein? Was war das denn für ein Ausdruck? Missi zuckte mit den Schultern. »Was soll ich damit?«

»Das, mein liebes Kind, ist ein ganz gewöhnlicher Salzstreuer. Er ist für deinen Vater.« Frau Hütchen lachte schrill. »Nun, ich habe mir sagen lassen, dass es seit ein paar Tagen in eurem Restaurant erneut etwas … geschmacklos zugeht. Es wäre doch schrecklich, wenn schon wieder die Gäste wegbleiben würden. Als gute Nachbarin will ich da natürlich gern behilflich sein.«

»Äh … danke«, meinte Missi perplex. Was sollte sie darauf schon antworten?

»Komische Hilfe.« Theo nahm Frau Hütchen den Salzstreuer aus der Hand und sah sie missbilligend an.

»Keine Ursache, mein liebes Kind.« Die Nachbarin lächelte schief. »Man tut, was man kann.« Frau Hütchen musterte Missi von oben bis unten. »Ein wenig merkwürdig ist es allerdings schon, dass die Speisen deines Vaters entweder versalzen oder gar nicht gewürzt sind. Ich dachte eigentlich, das hätte er hinter sich, nachdem ihm eine echte Könnerin über die Schulter gesehen hat«, flötete sie ungerührt und setzte ein bisschen leiser hinzu: »Sag mal, Melissa, hast du schon etwas von Frau Koriander gehört?«

»Warum?«, wollte Missi wissen. »Vermissen Sie Tante Camilla etwa?«

Frau Hütchen lief paprikarot an, auf ihrem Hals bildeten sich hektische Flecken. »Wie … wie … also … wie kommst du denn auf so eine Idee? Natürlich … nicht. Ich vermisse nie jemanden. Niemals!« Sie drehte sich auf dem Absatz um und stapfte ins Haus zurück.

Missi und Theo sahen ihr verdutzt hinterher.

»Hast du auch das Gefühl gehabt, dass ihr deine Frage unangenehm war?«, überlegte Theo.

Missi bohrte ihren Blick immer noch in Frau Hütchens Rücken.

»Ich glaube, ich werde verrückt. Unsere Nachbarin hat Sehnsucht nach Tante Camilla!«

Zu Hause angekommen, zog Missi einen Brief von Tante Camilla aus der Tasche, schnupperte kurz daran, strich ihn glatt und las ihn aufmerksam durch.

»Okay. Also Wasser beinahe zum Kochen bringen, die Melissenblättchen kurz waschen und in eine Kanne geben. Dann das heiße Wasser darüberkippen und den Tee eine Weile ziehen lassen«, sagte Missi sich langsam vor und machte alles genau nach den Anweisungen.

»Aber dann wird es ja doch heißer Tee«, brummte Theo. »Den trinke ich bestimmt nicht. Wir haben Hochsommer!«

Missi verdrehte die Augen. »Jetzt wart’s doch mal ab! Der Tee muss eine Weile ziehen. Wenn die Schule aus ist, gieße ich ihn ab, gebe noch einen Spritzer Zitronensaft dazu und ganz viele Eiswürfel.«

(Eis-)Tee aus frischer Zitronenmelisse

 

Für einen Liter braucht ihr 2 Handvoll Blättchen Zitronenmelisse und 1 l heißes Wasser. Die Blättchen samt Stängeln kurz waschen und in eine Teekanne legen. Das Wasser erhitzen, aber kurz vor dem Kochen abschalten. Das heiße Wasser über die Blättchen schütten und mindestens 20 Minuten ziehen lassen, gern auch länger. Wenn der Tee gezogen hat, könnt ihr die Blättchen herausfischen oder über einem Sieb abgießen. Nun noch den Saft von einer halben Zitrone dazugeben und – im Sommer mit ganz vielen Eiswürfeln – servieren.

»Okay, das hört sich schon besser an.« Theo leckte sich die Lippen. »Ein Rezept von Tante Camilla?«

Missi nickte. »Eigentlich war der Tee vor allem als kleine Unterstützung für Papa gedacht. Damit er sich besser konzentrieren kann. Ich hatte Tante Camilla um Hilfe gebeten.«

»Und?«, wollte Theo wissen.

»Bis jetzt hat es nicht viel genützt. Papa hat den Tee jedes Mal nicht beachtet und einfach stehen lassen.« Missi schnappte sich das Pausenbrot, das ihre Mama für sie auf den Küchentisch gelegt hatte. Zusammen mit einem Zettel von ihrem Papa:

Sind schon auf den Großmarkt gefahren. Bis später, Krümel. Heute koche ich für eine große Hochzeitsgesellschaft Mafé – westafrikanischen Eintopf mit Senegalpfeffer. Ein Rezept von Salomon aus seiner Heimat. Du darfst als Erste probieren. Lass dich überraschen!

»Eintopf mit Pfeffer. Wieso habe ich das ungute Gefühl, dass dabei wieder etwas schiefgeht?« Missi seufzte. »Hoffentlich hat Salomon ihm ein supereinfaches Rezept genannt, bei dem man absolut nichts falsch machen kann! In den letzten Tagen ist Papa nämlich gar nicht mehr richtig bei der Sache!«

Salomon Camara war der beste Freund von Missis Eltern. Vor vielen Jahren war er aus dem Senegal nach Deutschland gekommen, hatte Veterinärmedizin studiert und sich als Tierarzt in Birkenberg niedergelassen. Alle Leute in der Gegend mochten ihn gern, und er konnte wunderbar mit Tieren umgehen. »Salomon weiß doch, dass dein Papa manchmal … ich sag mal so … ein bisschen neben der Spur ist. Aber nachdem Tante Camilla hier war, ist doch alles super gelaufen. Also abwarten und Tee trinken. Hast du doch gesagt, oder?« Theo fischte einen Pfirsich aus der Obstschale und biss kräftig hinein. »Ich freue mich jedenfalls auf das Afrikazeug.«

»Und ich freue mich auf meinen Eistee zum Mittagessen.«

Missi zog eine zerfledderte Schultasche unterm Esstisch hervor, warf das Pausenbrot und einen Apfel hinein und strich sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht. »Fertig!«

»Ging ja schnell.« Theo pfiff anerkennend durch die Zähne. »Dann los.«

Zweites Kapitel Camillas geheime Zauberküche

Missi und Theo waren schon fast zur Tür hinaus, da fiel Missi noch etwas ein: »Stopp! Wir können doch noch nicht gehen.« Abrupt blieb sie stehen.

»He! Was ist denn jetzt schon wieder los?« Beinahe wäre Theo mit der Freundin zusammengeknallt. »Ich sag mal so … das ist ganz schön hektisch für den frühen Morgen!«

Missi legte nachdenklich den Finger an die Lippen. »Wo ist Basil? Der kommt doch sonst immer mit.«

Wie auf Kommando bog in dieser Sekunde der Hund der Familie Zuckerschwert um die Ecke. Die Französische Dogge mit den lustigen Ohren, eins schwarz, das andere weiß, flitzte hechelnd auf Missi, Theo und Pimpi zu. Während Missis Ziege sich nicht allzu weit vom Haus der Familie Zuckerschwert entfernen sollte, durfte Basil die beiden Kinder bis zum Schulhof begleiten. Ganz egal, bei welchem Wetter. Eifersüchtig stellte sich Pimpi dem Hund in den Weg, aber Basil tauchte einfach unter ihren Beinen durch. Bei Missi angekommen, drückte er sich zufrieden an sie.

»Da bist du ja, du Streuner. Brav, Basil.« Missi wandte sich an Theo: »Jetzt können wir losziehen. Und du, Pimpi, bleibst hier. Ab mit dir in den Garten!«

Vom Haus der Zuckerschwerts liefen Missi, Theo und Basil zunächst am Restaurant Camillas geheime Zauberküche vorbei, dem früheren Gasthaus Zur Linde. Ab hier führte ein Weg durch Felder und Obstbaumwiesen. Bis direkt zur Schule. Vergnügt jagte Basil ein paar Schmetterlingen hinterher, Missi und Theo folgten langsam. Der leichte Wind duftete nach frisch gewaschener Wäsche. Auf den tomatenroten Mohnblumen und den Kornblumen am Wegesrand summten zahlreiche Bienen, in den Bäumen trällerten die Zaunkönige und Feldsperlinge um die Wette. Auf einmal war da wieder dieses eigenartige Gefühl in Missis Bauch. Das Gefühl, das heute etwas passieren würde. Nicht einfach irgendwas, sondern etwas ganz Besonderes. Missi seufzte laut.

»Ich bin auch so was von ferienreif.« Theo hob einen flachen Stein vom Boden auf. »Auf den Mathetest hab sogar ich überhaupt keine Lust. Wie geht’s dir? Hast du Schiss davor?«

Missi machte eine abwehrende Handbewegung. »Das kriege ich hin, ich habe ja mit dir geübt. Ich bin eher kribbelig wegen … na, wegen Tante Camilla. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass … eigentlich warte ich die ganze Zeit auf sie.«

»Aber sie ist doch erst sechs Wochen weg«, stellte Theo fest.

Missi nickte heftig. »Viel zu lang! Sie muss Papa unbedingt mal wieder auf die Finger gucken. Ich befürchte, dass er so ’ne Art Rückfall hat. Auf jeden Fall geht neuerdings einiges schief. Das hat bisher fast keiner gemerkt, weil Mama alles so toll dekoriert. Und unsere Bedienungen sind echt super. Aber ich habe das blöde Gefühl, dass immer weniger Gäste kommen.« Sie kickte einen Stein weg. »Ich will nicht, dass das alles schon wieder von vorne losgeht. Diese Sorgen, dass Papa irgendein Chaos in der Küche anrichtet. Oder mir Chilischoten einpackt, wie damals bei Herrn Hoppenlau. Katastrophe!«

Wie zur Bestätigung jaulte Basil laut auf.

»Und außerdem …«, im Gehen zog Missi die Post, die Tante Camilla ihr in der Zwischenzeit geschrieben hatte, aus der Hosentasche und presste die Umschläge an die Nase, »… außerdem vermisse ich Tante Camilla so verrückt, dass es fast wehtut.«

Sie wedelte Theo mit den Schreiben vor dem Gesicht hin und her. Ein getrocknetes Blütenblatt fiel aus einem Umschlag und schwebte sanft zu Boden.

Basil sauste ihm hinterher, schnüffelte kurz daran und kläffte traurig.

»Da hörst du es. Auch Basil will, dass Tante Camilla wiederkommt.«

»Wuff! Wahuuuu!«, bellte die Dogge.

Missi drückte noch einmal die Briefe an ihre Nase. »Einer duftet nach Lavendel, der andere riecht nach Vanille. Bestimmt hat Tante Camilla gekocht oder gebacken, bevor sie mir geschrieben hat.«

Theo verdrehte die Augen. »Du willst mir die Briefe aber nicht schon wieder vorlesen, oder? Das hast du schon mindestens vier Mal gemacht.«

»Na und?« Missi seufzte. »Sie fehlt mir eben. Dir etwa nicht?«

Theo nickte. Erst leicht, dann immer heftiger.

»Weißt du noch, wie sie auf einmal hier bei uns in Birkenberg aufgetaucht ist?«, murmelte Missi.

Theo prustete laut los. »Ich hab sie zuerst für so eine Art wandelnde Vogelscheuche gehalten. Oder eine Schauspielerin, die gerade einen komischen Film bei uns dreht.«

Ein bisschen wehmütig dachten beide an die erste Begegnung mit Tante Camilla. Camilla Koriander – so hatte sich ihnen die merkwürdige Frau vorgestellt, die eines Tages bei Missis Familie aufgetaucht war. Klein, rundlich, mit kupferroten Haaren und einem winzigen Hut auf dem Kopf.

»Ehrlich gesagt, war ich am Anfang fast ein bisschen sauer«, erklärte Missi. »Pimpi und Basil waren so fasziniert von Tante Camilla, dass sie gar nicht mehr zu mir kommen wollten.«

»Ist ja auch kein Wunder!« Theo grinste. »Tante Camilla hat selbst zugegeben, dass sie die beiden ein bisschen verzaubert hat.«

Missi nickte. »Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob sie das wirklich kann … oder ob wir uns das nur einbilden.«

»Ein bisschen verrückt ist sie schon … irgendwie. Als ich ihre knallroten Wanderstiefel gesehen habe, hätte ich mich schlapplachen können«, erinnerte sich Theo. »Wanderstiefel! Mitten im Sommer!«

Beim Gedanken daran prickelte es in Missi, als hätte sie Brausepulver geschluckt. So war es häufig, wenn sie an Tante Camilla dachte. »Mir sind zuerst ihre Ohrringe aufgefallen. Winzige Chilischoten. Und dann der Koffer mit den vielen Aufklebern aus aller Welt.«

Theo nickte. »Was da alles drin war! Ständig hat sie neue Sachen rausgezogen.«

»Auch den Pizzaschneider für dich und eine Reibe mit Muskatnüssen für mich. Und natürlich ihr wunderbares Rezeptbuch!«

Missi erinnerte sich noch genau an das dicke, alte Buch mit den vielen Flecken und Eselsohren. Goldene Buchstaben und eine silberne Kochmütze blitzten auf dem Umschlag. Und gleich auf der ersten Seite stand Tante Camillas Leitspruch:

Kochen ist Liebe. Man benötigt: 100 g Liebe, eine große Prise Leidenschaft. Dazu 2 Esslöffel Zeit, einen Esslöffel Geduld, 150 g scharfe Sinne und 50 g Ruhe.

Viele Jahre war Tante Camilla als Köchin durch die ganze Welt gereist, hatte mit unterschiedlichsten Köchen gearbeitet, Rezepte gesammelt und in ihrem geheimen Kochbuch notiert. Und genau nach diesem Kochbuch hatten Missis Eltern später ihr Gasthaus Zur Linde in Camillas geheime Zauberküche umgetauft. Denn nur Tante Camilla, so wurde sie von den Kindern genannt, war es zu verdanken, dass die Gerichte dort auf einmal unglaublich gut schmeckten. Das war davor nämlich nicht der Fall gewesen.

»Jetzt kocht Papa fast wieder so wie zu der Zeit, bevor Tante Camilla aufgetaucht ist«, maulte Missi. »Seit ein paar Tagen geht ständig etwas schief. Besonders schlimm ist es immer dann, wenn er sich zu sicher ist, dass alles klappt. Dann konzentriert er sich mehr auf die Küchengeräte, die er gekauft hat. Oder er liest neben dem Kochen in den Gebrauchsanweisungen. Und so ganz nebenbei würzt er das Essen.«

Theo nickte. »Ich sag mal so … das kann ja nix werden.«

»Eigentlich ist mein Papa echt ein supertoller Koch«, verteidigte Missi ihren Vater. »Aber manchmal passt er einfach nicht richtig auf. Dann macht er alles so … so nebenbei. Gestern zum Beispiel hat er Schnittlauch statt Schokostreusel auf eine Sahnetorte gestreut. Und am Tag davor hat er Currypulver statt Dill in die Marinade für den Gurkensalat getan.«

Theo zuckte mit den Schultern. »Könnte mir auch passieren.«

»Quatsch mit Soße!« Missi holte tief Luft. »Die richtigen Kräuter und Gewürze können ein Gericht entweder richtig lecker machen oder es total verhunzen. Tante Camilla hat so oft gesagt: Für jedes Gericht gibt es …«