Feenschwestern

Inzwischen geht die kleine Fee Rosalie bereits einige Zeit auf die berühmte Blütenwaldschule. Das Internat, das auch schon ihre Mutter besucht hat, ist Rosalie zur zweiten Heimat geworden. Neben der Mooslichtung, auf der ihre Eltern, ihr Freund Jokkel und seit Kurzem auch Rosalies kleine Schwester wohnen: Floretta, genannt Flo, gerade mal vier Monate alt. Noch eine winzig kleine Fee also. Allerdings können die kleinen Wesen in dieser Zeit schon wesentlich mehr als Menschenkinder, sie sprechen und fliegen bereits.

In der Schule verbringt Rosalie die meiste Zeit mit ihrer Freundin Nikki, der Nebelfee. Der Unterricht in Zauber- und Pflanzenkunde und auch die Reitstunden machen Rosalie viel Spaß. Am allermeisten aber liebt sie es, wenn sie den Feenbriefkasten leeren darf. Dort hinterlassen Menschenkinder wie du ihre Wunschbotschaften. Vielleicht hast du dir auch schon gewünscht, einmal einer Fee zu begegnen? Einer echten Wunschfee, der du deine geheimsten Sehnsüchte mitteilen darfst?

Dann bist du hier genau richtig. In diesem Buch werden Wünsche wahr. Vielleicht ist es heute noch nicht dein Wunsch, aber das kann morgen schon ganz anders aussehen.

Gerade kehrt Rosalie von einem Besuch bei ihren Eltern auf der Mooslichtung zurück. Ob sie dort wohl wieder viel Spaß mit ihrem Trollfreund Jokkel hatte? Mal sehen …

Tritt ein in die Welt der kleinen Wunschfee Rosalie und ihrer Freunde.

Goldgelb und Purpurrot

Gemütlich zuckelte die Kutsche im sanften Licht der Abendsonne durch die Feenwelt. Auf dem Kutschbock thronte Elvira, die rundliche Werkelfee mit den kurzen Strubbelhaaren, und trällerte ein Liedchen:

»Ho-ho-ho-ho-hoh,

das Kutschfahr’n macht uns froh.

Wir reisen durch die Feenwelt,

die uns so wunderbar gefällt.

Ho-ho-holl-dri-joh!

Das Kutschfahr’n macht uns froh!«

Mit ziemlicher Verspätung – Rosalie hatte ihre Reiseflügel nicht gefunden – fuhr die kleine Fee von einem Besuch bei ihren Eltern in die Schule zurück. Unter der Woche lebte Rosalie seit ihrem siebten Geburtstag im Internat Blütenwald, nur am Wochenende fuhr sie ab und zu nach Hause. Neugierig steckte die kleine Blumenfee den Kopf aus dem Fenster und beobachtete die vorbeiziehende Landschaft. Über saftig grüne Mooshügel knatterte die Kutsche, vorbei an prallen Brombeerbüschen und entlang eines murmelnden Baches. Rosalies Herz klopfte laut. Ach, wie sie die Mooslichtung, ihre Familie und ihren Freund Jokkel jetzt schon vermisste. Alles könnte so schön sein, wenn nicht …

»Rosalie! Hier bin ich! Auf Wiedersehen, Rosalie!«

Überrascht stellte die kleine Fee fest, dass Jokkel am Wegrand stand und ihr zuwinkte. Auf seiner Schulter saß Piepsi, Jokkels frecher Vogel.

»Feuchte Feenspucke, Jokkel!«, brüllte Rosalie. »Was machst du denn hier, du komischer Kobold?«

»Dir Auf Wiedersehen sagen natürlich, alte Nachteule«, schrie Jokkel zurück. »Und dann wollte ich dich noch mal an die Trollpfeife erinnern. Wenn du mich brauchst, ruf mich!«

Rosalie wühlte kurz in ihrer Rocktasche. Ein Glück, die Trollpfeife war da! Zu ihrem siebten Geburtstag hatte Jokkel sie ihr geschenkt. Wenn Rosalie damit ihren Freund herbeirief, sauste er mit Riesentrollschritten zu ihr, egal, wo sie war.

»Hab sie eingepackt!«, rief Rosalie.

Eigentlich hatte sich Jokkel schon am Abend zuvor von ihr verabschiedet. Wie nett von ihm, dass er jetzt extra am Wegrand auf die Kutsche wartete, um Rosalie noch einmal zu sehen. Immerhin lag der verschlungene Pfad in einiger Entfernung vom Trolldorf, in dem Jokkel wohnte.

»Vergiss mich nicht, Jokkel!« Rosalie winkte wie wild.

»Bis bald, ich warte auf dich«, schrie Jokkel zurück.

Tirili! Tirila!

Piepsi erhob sich mit wilden Flügelschlägen, löste sich von Jokkel und flatterte vor Rosalies Stupsnase auf und ab. Zwitschernd folgte er der Kutsche, während Rosalies Trollfreund längst am Horizont verschwunden war. Doch auch dem winzigen Vogel ging irgendwann die Kraft aus.

»Flieg nach Hause, Piepsi!«, bat Rosalie. »Ich danke dir für deine Begleitung, aber jetzt ist es genug!«

Entspannt lehnte sich die kleine Fee in der Sitzbank zurück und genoss das Sonnenlicht. Golden und warm schienen die letzten Strahlen durch die Fenster und brachten den Flugling an Rosalies Kleid zum Glitzern. Feenhauchschön! Hüpfer war ihr Helfer für absolute Notfälle. Nur dann durfte er mit einem besonderen Zauberspruch geweckt werden. Rosalie seufzte. Wie gut, dass ihr Flugling sie damals, als sie das erste Mal den Feenbriefkasten geleert hatte und völlig am Ende gewesen war, gerettet hatte. Mit dem Zeigefinger strich Rosalie zärtlich über die Grashüpfer-Brosche und begann, leise zu singen.

»Tautropfen mag ich sehr,

Sonnenschein mag ich noch mehr.

Und ganz besonders liebe ich …«

»Mich?« Hüpfer drehte seinen Kopf, richtete den Blick auf Rosalie und zwinkerte ihr zu. Einmal, zweimal, dreimal.

Rosalie lachte. »Natürlich dich, mein lieber Hüpfer. Und die Abendsonne.« Sie hielt die Hände wie einen Trichter vor den Mund. »Hallo, Sonne. Mein Flugling und ich, wir mögen dein Licht. Begleitest du uns noch ein Stückchen über die Mooslichtung?«

Ach, wie Rosalie ihr Zuhause liebte. Oder bisher geliebt hatte, denn seit …

»Halt dich fest, Rosalie. Flotte Motte, jetzt wird es wild«, rief Elvira ihr zu. Wie immer hielt die robuste Werkelfee die Zügel ihres schokoladenbraunen Einhorns straff in der Hand. »Achtung, jetzt geht es ratzfatz durch den Purpurwald.«

Einen Feenwimpernschlag später waren die goldgelben Strahlen der Sonne verschwunden. Dunkelrotes Licht drang stattdessen in die Kutsche. Unheimliches, zitterndes Leuchten.

»Der Purpurwald!«, flüsterte Rosalie.

Hier war die Heimat der Kobolde, die Rosalie und Nikki vor einiger Zeit in einem Netz gefangen hatten. Koboldfies war das gewesen! Beim Gedanken daran rutschte Rosalie noch einmal das Herz in die Rocktasche. Was, wenn Jokkel sie damals nicht gerettet hätte? Die kleine Fee kauerte sich fröstelnd auf ihrem Sitz zusammen. Hastig griff sie nach der kuscheligen Decke, die ihre Mutter für sie gemacht hatte. Spinnwebleicht und aus feinsten Blumenfäden geklöppelt war sie. Wie auf ihren Handtüchern hatte ihre Mutter auch hier Rosalies Namen eingestickt. Die kleine Fee drehte und wendete die zarte Hülle, um die Stickerei zu finden und …

»Knittriger Kobold! Das ist ja die falsche!« Mit spitzen Fingern hob Rosalie die Decke in die Höhe. Der Name Floretta war mit zarten Stichen eingestickt. Floretta! So hieß Rosalies kleine Schwester, die vor ein paar Monaten zur Welt gekommen war.

»Das gibt’s doch nicht!«, schimpfte Rosalie. »Jetzt geht mir diese Babyfee auch noch hier auf die Nerven!«

Verärgert nahm sie die Decke von den Knien und knüllte sie achtlos in ihren Feenbeutel. Rosalie war wirklich sauer! Das ganze Wochenende über hatte Floretta sie genervt. Erst war sie zum Vergnügen ihrer Eltern in Rosalies viel zu großen Kleidern und Schuhen über die Mooslichtung stolziert. Danach hatte Flo angeblich aus Versehen ein paar Seiten aus Rosalies Pflanzenbuch gerissen. Und schließlich hatte sie, ohne zu fragen, Rosalies altes, heiß geliebtes Spielzeug vom Dachboden geholt. Aber das Allerallerschlimmste: Rosalies Vater hatte ständig Flöhchen zu Floretta gesagt, aber nicht einmal Kleiner Hüpfer zu Rosalie! Und überhaupt hatten ihre Eltern gar keine Zeit mehr für sie, weil es ja jetzt Floretta gab!

»Dieses blöde, blöde Trollbalg«, schimpfte Rosalie vor sich hin. »Bestimmt hat Floretta auch meine Reiseflügel verlegt. Und deshalb komme ich jetzt zu spät in die Schule.«

Rosalies Laune war schlagartig im Keller. Koboldbrunnentief!

Das hielt auch eine ganze Weile an, bis Rosalie Elviras kräftige Stimme von draußen hörte:

»Da wären wir, Rosalie. Bitte aussteigen. Willkommen zurück in der Blütenwaldschule!«

Heftiges Bauchgrummeln

Kaum hatte Rosalie die Tür der Kutsche geöffnet, flog ihr Nikki entgegen und umarmte sie stürmisch. Die kleine Nebelfee war an diesem Wochenende nicht nach Hause gefahren, sondern hatte die Zeit im Internat verbracht. Jetzt platzte sie beinahe vor Neugier, was Rosalie erlebt hatte.

»Hallo, Nikki!« Rosalie lächelte. Nikkis Haare rochen nach Honigbonbons und nach Zuhause. Nach ihrem neuen Zuhause, der Blütenwaldschule.

»Und? Los, erzähl schon!« Die Nebelfee sah Rosalie mit großen Augen an. »Wie war es bei deinen Eltern?«

»Was meinst du? Wie soll es schon gewesen sein?« Rosalie wirbelte den von Feenkraut gesäumten Weg zur Schule entlang. Die riesigen Blütenstängel neben dem Eingang wiegten sich im lauen Abendwind, als wollten sie Rosalie begrüßen. In der Eingangstür stand eine lange, spindeldürre Fee mit lichtblauen Kleidern und himmelblauem Haar. Aus ihrer Turmfrisur hatten sich einige Strähnen gelockert, als hätte ein heftiger Sturm daran gezerrt. Eindeutig eine Wetterfee! Es war Frau Windhauch, die Schulleiterin.