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MARTINA UND
VOLKER KESSLER

DIE
MACHT-
FALLE

Machtmenschen –
wie man ihnen begegnet

Die Edition AcF wird herausgegeben
von der Akademie für christliche Führungskräfte,
Furtwänglerstr. 10, 51643 Gummersbach,
www.acf.de

Bibelzitate folgen, wo nicht anders angegeben,
im Alten Testament der Revidierten Elberfelder Bibel
© 1985/1991/2006 SCM R. Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten,
und im Neuen Testament der Neuen Genfer Übersetzung –
Neues Testament und Psalmen. Copyright
© 2011 Genfer Bibelgesellschaft.

5., vollständig überarbeitete Auflage
© 2017 Brunnen Verlag Gießen
Umschlaggestaltung: Jonathan Maul
ISBN Buch: 978-3-7655-4324-1
ISBN E-Book: 978-3-7655-7501-3
www.brunnen-verlag.de

„Der Zugang zur Macht muss Menschen vorbehalten bleiben, die nicht in sie verliebt sind.“ Schon der alte Platon wusste, dass Macht zum Wohle anderer eingesetzt werden kann – oder auch nicht. Konstruktiv gelebte Macht ist auf diese Weise grundlegend für gute Führungsarbeit. Aber destruktiv eingesetzt kann sie ihr Unwesen treiben – leider auch in Gemeinden und Kirchen. Dieses Buch hilft, ungeistliche Machtstrukturen zu identifizieren, aber es weist auch Wege, die Kapazität von Menschen, Einfluss auszuüben, in fördernde Bahnen zu lenken. Denn Leitungspersönlichkeiten, die aus der erlebten Gnade durch Jesus leben, braucht es in der Familie, der Gesellschaft, im Beruf und auch in der Kirche.

Ekkehart Vetter, Mülheim,
erster Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz

Ich empfehle dieses Buch. Es ist leider nötig, weil Macht immer wieder missbraucht wird. Wenn die falschen Personen an falscher Stelle Macht bekommen oder durch geschickte Schachzüge beanspruchen, gilt es wach zu sein. Macht kann drohend oder süßlich missbraucht werden. Um Menschen und Gemeinden zu stärken, sensibilisieren Martina und Volker Kessler nicht nur für dieses Phänomen, sie helfen auch, mit solchen Situationen und Menschen umzugehen. Es ist ihnen hoch anzurechnen, dass sie dabei den Grundsatz hochhalten: Der Missbrauch (von Macht) hebt ihren guten Gebrauch nicht auf.

Ansgar Hörsting, Witten,
Präses Bund Freier evangelischer Gemeinden Deutschland

Das Lesen des Buchs „Die Machtfalle“ wurde uns eine große Hilfe. Als mein Mann und ich vor mehr als 15 Jahren einem Geflecht von Machtmissbrauch ausgesetzt waren, suchten wir Hilfe. So sind wir auf dieses Buch gekommen. Nach dem Lesen sagte ich zu meinem Mann: „Wir haben alle Schritte getan, die in diesem Buch beschrieben sind. Wenn ich es richtig verstehe, bleibt uns nur noch ein Ausweg, wenn wir wollen, dass unsere Kinder unbeschädigt aufwachsen. Wir müssen hier weg.“ Im Nachhinein können wir erkennen, dass diese Entscheidung richtig war. Ich kann die Lektüre dieses Buchs nur empfehlen. Es orientiert, Situationen von Machtmissbrauch zu erkennen, einzuschätzen und sich selber auch zu prüfen.

Lynette Funk, Ascuncion, Paraguay

Ich habe diese geballte Ladung mehrmals gelesen, und jedes Mal vielschichtige Hilfestellung bekommen, um dienend zu leiten inmitten großer Herausforderungen. Ich werde es wieder lesen!

Dirk Franzmann, Johannesburg, Südafrika

Inhalt

Vorwort

Geleitwort zur 1. Auflage

I.

Was ist Macht überhaupt und was ist ein Machtmensch?

1.

Biblische Gedanken zum Thema Macht

2.

Machtmenschen = Machtsüchtige

3.

Macht als sozialer Prozess

II.

Machtmenschen in der Bibel

1.

Ankündigung von Machtmenschen

2.

Diotrephes – „der Erste sein Wollende“

3.

Die Superapostel in Korinth

4.

Machtmissbrauch im Alten Testament

5.

Machtmenschen und dienende Führung

III.

Machtmenschen in unterschiedlichen Kontexten

1.

Machtmenschen in der christlichen Gemeinde

2.

Machtmenschen im Berufsalltag

3.

Machtmenschen in der Familie

IV.

Die Persönlichkeit von Machtmenschen

1.

Machtsüchtig oder dominant?

2.

Taktiken der Machtmenschen

3.

Wie kann jemand zum Machtmenschen werden?

4.

Macht als Ziel oder Macht als Methode?

5.

Gibt es Hoffnung für Machtmenschen?

6.

Reflexionsfragen: Bin ich ein Machtmensch oder ein dienender Leiter?

V.

Das System

1.

Die Mitverantwortung am System

2.

Persönlichkeitsfacetten von Opfern und Mitspielern

3.

Charismatische und transformative Führung

4.

Führen mit Visionen

VI.

Hilfen für den Umgang mit Machtmenschen

1.

Wie kann man Machtprobleme ansprechen?

2.

Fragenkatalog: Machtkampf oder Machtmensch?

3.

Praktische Tipps

4.

Häufige Fragen

5.

Clearing-Stelle der Deutschen Evangelischen Allianz

6.

Sieben Machtbasen

7.

Prophylaxe durch gute Strukturen

VII.

Zwischen Machtmissbrauch und Machtverzicht

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Vorwort

zur 5., vollständig überarbeiteten Auflage

„Eine neue Faszination des Autoritären ist nach Europa eingedrungen.“

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Antrittsrede,
Berlin, 22.3.2017

Als wir im Jahre 2000 dieses Buch schrieben, reagierten manche erstaunt: „Machtmenschen – gibt es so etwas in der Gemeinde?“ Die Reaktionen auf unser Buch haben es drastisch bestätigt: „Ja, das gibt es. Leider!“ Die erste Auflage wurde 2001 innerhalb eines halben Jahres verkauft. Die vielen Reaktionen führten dann zu einer stark erweiterten dritten Auflage (2004). Inzwischen ist das Buch in vier weitere Sprachen übersetzt (Niederländisch, Russisch, Portugiesisch und Ungarisch). Da nun auch die vierte deutsche Auflage (2012) vergriffen ist, haben wir die Chance ergriffen, das Buch komplett zu überarbeiten.

Einerseits ist man in christlichen Kreisen seit dem Jahre 2000 sensibler für das Thema Machtmissbrauch geworden. Andererseits gibt es auch hier „eine neue Faszination des Autoritären“ (Steinmeier). Daher ist es sinnvoll, sich diesem Thema neu zu widmen. Neue Veröffentlichungen, Reaktionen auf unser Buch, unsere Vorträge und Martinas Erfahrungen in der Clearingstelle der Deutschen Evangelischen Allianz (siehe Seite 119) führen zu neuen Erkenntnissen, die eine Revision des Buchs nahelegten. So gehen wir zum Beispiel auf Führungskonzepte ein, die gerade populär sind, es aber leider einem Machtmenschen auch sehr leicht machen. Während sich die ersten vier Auflagen auf Machtmenschen in der Gemeinde konzentrierten, haben wir nun auch das Wirken von Machtmenschen in anderen Bereichen wie Familie, Berufsalltag und christliche Werke beschrieben.

Wir betrachten den Erfolg dieses Buchs zwiespältig. Als Autoren freuen wir uns über eine hohe Nachfrage. Aber diese hohe Nachfrage macht uns gleichzeitig traurig. Die fünf Auflagen und vier Übersetzungen zeigen viele Nöte und Tränen, die dahinter stecken. Viele Christen berichten, wie sie sich in einem Spinnennetz von Machtmissbrauch gefangen fühl(t)en. Bei aller Unterschiedlichkeit zeigen die Erfahrungen auffallende Parallelen.

Wie stark die Parallelen sind, belegen Reaktionen auf frühere Veröffentlichungen: Eine Person meldete sich bei dem Chefredakteur einer der Zeitschriften, in der wir zu dem Thema einen Artikel geschrieben hatten, um zu erfahren, woher wir seine Gemeinde kennen würden. Er war sich sicher, dass die Ausführungen sich auf seine Gemeinde bezögen. Wir kannten die Gemeinde allerdings nicht. Eine andere Person aus einer anderen Gemeinde rief bei einem Gemeindeberater an und fragte ihn: „Hast du diese Informationen von unserer Gemeinde aus dem Beratungsgespräch an die Autoren weitergegeben?“ Auch hier kannten wir weder die Gemeinde noch hatten wir irgendwelche Informationen über sie. Machtmissbrauch geschieht in bestimmten Mustern. Dieses Buch zeigt Muster von Machtfallen und mögliche Lösungswege auf. Die Erlebnisse, die in diesem Buch berichtet werden, gehen auf wahre Begebenheiten zurück. Sie wurden uns aus dem Blickwinkel der Betroffenen erzählt. Bei der Wiedergabe haben wir die Umstände zum Teil verfremdet.

Aufbau dieses Buchs

Ziel des Buchs ist in erster Linie, die Schwachen zu stärken und das „geknickte Rohr“ aufzurichten (Jes 42,3). Dazu gehört es, Gefahren zu erkennen und zu benennen, und dann Wege aufzuzeigen, in guter Weise damit umzugehen. Das erste Kapitel klärt die Begriffe „Macht“ und „Machtmensch“. Im zweiten Kapitel gehen wir Hinweisen aus der Bibel über Machtmenschen nach. Im dritten Kapitel schauen wir uns Machtmenschen in unterschiedlichen Kontexten an: Gemeinde, Berufsleben und Familie. Das vierte Kapitel behandelt die Persönlichkeit von Machtmenschen und ihre Taktiken. In den Kapiteln drei und vier werden Sie viele Erfahrungsberichte finden. Das fünfte Kapitel betrachtet das System, in dem der Machtmensch agiert. Denn ein Machtmensch kann nur Erfolg haben, wenn die Mitspieler ihn unterstützen. Zwei aktuell populäre Führungskonzepte werden im Hinblick auf möglichen Machtmissbrauch analysiert. Das sechste Kapitel bietet weitere Hilfen an für Situationen, in denen man Machtmissbrauch vermutet. Im Schlusskapitel geht es um einen guten Weg von Machtgebrauch zwischen Machtmissbrauch und Machtverzicht.

Wer sich mit Machtmissbrauch beschäftigt, selbst aber Führungsverantwortung hat, fragt sich mit Recht: „Wie führe ich ohne Machtmissbrauch? Wie gehe ich als Leiter mit Widerständen um?“ Dieses Thema verdient eine ausführliche Darstellung, die den Rahmen dieses Buchs sprengen würde. Denn dieses Buch bezieht sich auf die dunkle Seite der Macht. Um den positiven Gebrauch von Macht zu lernen, verweisen wir deshalb auf Literatur und Fortbildungsangebote zum Thema „Dienend führen“ („Servant Leadership“, siehe II.5). Wir machen Mut, Verantwortung zu übernehmen und dienend zu führen.

Dank

Auf Vorträge und frühere Auflagen dieses Buchs erhielten wir viele Reaktionen, die vielfach in diese Auflage eingeflossen sind. Diese Personen alle namentlich aufzuführen ergäbe eine lange Liste. Manche Namen wollen wir nicht aufführen, um diese Personen zu schützen. Wir belassen es deshalb bei einem allgemeinen, dennoch aufrichtigen Dank an jene, die vertrauens- und erwartungsvoll das Gespräch mit uns gesucht haben. Wir haben viel von Ihnen/Euch gelernt.

Wir befinden uns im Lutherjahr 2017. Martin Luther (1483–1546) sah sich als Kämpfer gegen den Machtmissbrauch der römischen Kurie. Dass er selbst und manche seiner Nachfolger an anderer Stelle Macht missbraucht haben, steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls hat Luthers Theologie die Macht der damaligen Kurie erschüttert und Menschen aus Machtmissbrauch befreit. Das ist auch unser Ziel: Menschen zu ermutigen, sich aus Machtmissbrauch zu befreien.

Gummersbach, im Lutherjahr 2017
Martina und Volker Kessler*

* Kommentare u. Ä. am besten per E-Mail an Martina.Kessler@acf.de oder Volker.Kessler@acf.de

Geleitwort zur 1. Auflage

„Macht ist ein starkes Getränk und erfordert einen starken Magen“, schreibt der englische Autor Peter Howard in seinem Theaterstück „Die Leiter“.

Korrumpiert zu werden durch Machtausübung war und ist wohl die größte Versuchung der Menschheit schlechthin; nicht nur Luzifer kam dadurch zu Fall. Vor dieser sich oft unmerklich einschleichenden kapitalen Gefahr kann uns letztlich nur der Geist Jesu Christi bewahren. Jesus blieb siegreich gegenüber dieser teuflischen Versuchung, gleich zu Beginn seiner öffentlichen Tätigkeit.

Seit ich zusammen mit zahlreichen christlichen Leitern im Jahre 1997 die „Akademie für christliche Führungskräfte (AcF)“ gründete, stand im Zentrum unseres Vorhabens die Qualifizierung christlicher Leiter in biblisch-jesuanischer Führungskompetenz. Vom demütigen Menschensohn, dessen Macht und Dynamik aus der völligen Unterordnung unter den Willen des Vaters entsprang, und seiner dienenden Leitung wollen wir lernen. Sein Vorbild ist die Grundlage unserer AcF-Führungsphilosophie.

Deshalb war ich begeistert von dem Vorschlag, das Thema „Machtmenschen“ als Einstieg in die Buchreihe der Edition AcF zu wählen. Es muss eine unserer vordringlichen Aufgaben sein, insbesondere christliche Leiter gegen missbräuchliche Machtausübung zu sensibilisieren.

Know-how-n o tist so wichtig wie das Know-how. Es ist beste biblische Tradition, Chancen und Gefahren, den Weg des Segens und den des Fluches dem Menschen vorzulegen. Nur wer für die Gefahren unchristlicher Machtausübung sensibel geworden ist, kann sich davor bewahren oder rechtzeitig „gegensteuern“.

Aus dem Erschrecken darüber, welch großer Schaden durch Machtmissbrauch entstehen kann, muss die Entschlossenheit kommen, das jesuanische Führungsmodell konsequent einzuüben, auszuleben und weiterzureichen: „Wer unter euch der Größte (Einflussreichste, Angesehenste, Oberste) sein will, der sei euer aller Diener.“

Ich wünsche diesem Buch, das aus der gemeindlichen Erfahrung heraus entstand und für die Praxis wertvolle Hilfe gibt, weiteste Verbreitung zum Segen und Fortschritt der Gemeinde Jesu Christi.

Karl Schock,
Stiftungsgründer und Stiftungsratsvorsitzender der AcF im Jahre 2000

I.

Was ist Macht überhaupt und was ist ein Machtmensch?

Um Machtmissbrauch zu verstehen und angemessen begegnen zu können, muss man verstehen, was „Macht“ überhaupt ist. Dieses Buch beschreibt die „dunkle“ Seite der Macht. Es gibt aber auch eine positive Seite der Macht (die wir heute klarer sehen als bei der ersten Auflage der Machtfalle). Und: Man benötigt selbst Macht, um Machtmissbrauch zu begegnen! Der folgende Abschnitt betrachtet in Kurzform das Wesen der Macht.1

1. Biblische Gedanken zum Thema Macht

Die Fähigkeit, Macht auszuüben, empfing der Mensch von Gott bei der Schöpfung: „Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen in unserem Bild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über das Vieh und über die ganze Erde und über alle kriechenden Tiere, die auf der Erde kriechen!“ (1Mo 1,26). Der Auftrag zu herrschen ist mit der Erschaffung des Menschen als Gottes Ebenbild verknüpft. Gottebenbildlichkeit bedeutet Gottes Stellvertreter zu sein.2 Als Gottes Stellvertreter hat der Mensch den Auftrag und die Fähigkeit, Macht auszuüben. Der Mensch hat Macht, weil Gott ihn so gemacht hat. Der römisch-katholische Theologe Romano Guardini (1885–1968) betont deshalb:

Die Macht ist aus sich heraus weder gut noch böse, sondern empfängt ihren Sinn erst aus der Entscheidung dessen, der sie braucht. … So bedeutet Macht ebensoviel Möglichkeit zum Guten und Positiven, wie Gefahr zum Bösen und Zerstörenden.3

Macht ist nicht grundsätzlich negativ, auch wenn das Wort für viele einen negativen Klang hat. Manche sehen christliche Führungskultur geradezu im Gegensatz zum Führen mit Macht. Diese Aussage ist aber nur richtig, wenn man die Bedeutung des Wortes „Macht“ einengt auf die negativen Aspekte. Wenn man das Wesen der Macht richtig versteht, wird klar: Führen ohne Macht geht gar nicht.

Der Begriff „Macht“ stößt (im Deutschen!) vielfach auf Ablehnung, erst recht in christlichen Kreisen. Ein christlicher Autor wünschte sich gar eine Kirche, die aus Ohnmacht handelt.4 In einer christlichen Gemeinde meinte eine Person: „Wir wollen nicht Macht, sondern Vollmacht.“ Dies klingt demütig und geistlich – aber nur auf den ersten Blick. Die Evangelien berichten, dass Jesus Vollmacht und Macht hatte: „Was für eine Vollmacht (exousia) und Kraft (dynamis) hat sein Wort! Er befiehlt den bösen Geistern auszufahren, und sie fahren aus“ (Lk 4,36b). Das griechische Wort dynamis meint die Fähigkeit, etwas zu tun. Es wird mit Gewalt, Kraft oder Macht übersetzt. Das griechische Wort exousia meint hier die Berechtigung, die Erlaubnis, etwas zu tun, und wird dann mit Vollmacht übersetzt. Ein Bankräuber hat die Macht, das Geld zu bekommen, aber keine Vollmacht. Die bettlägerige Großmutter mag vielleicht eine Vollmacht über ein Konto haben, aber sie hat keine Macht, zur Bank zu gehen und das Geld wirklich abzuheben. Jesus hatte Vollmacht und Macht – und gab beides an seine zwölf Jünger weiter: „Jesus rief die zwölf Jünger zusammen und gab ihnen Kraft (dynamis) und Vollmacht (exousia), alle Dämonen auszutreiben und die Kranken zu heilen“ (Lk 9,1). Die Alternative „Vollmacht statt Macht“ ist also keine biblische. Vollmacht und Macht sollten wie bei Jesus und den zwölf Jüngern zusammengehen.

Aus biblischer Sicht gilt aber: Macht darf niemals Ziel an sich sein, sondern immer nur Mittel. Wer Macht als Ziel anstrebt, begeht eine Zielverfehlung und damit eine Sünde. Der Jesuit Stefan Kiechle schreibt dazu: „Wer Macht als Ziel anstrebt, sieht in ihr nicht das Geschöpf Gottes, sondern beginnt sie zu vergötzen, sich an sie zu binden und sie für fremde Zwecke zu missbrauchen.“5 Aber Macht ist so verlockend, dass man manchmal auch Macht um der Macht willen anstrebt. „Machtliebe ist wie der Geschlechtstrieb eine so starke Kraft, dass sie die Handlungen der meisten Menschen stärker beeinflusst, als sie es wahrhaben wollen“, konstatierte der englische Philosoph Bertrand Russell6 im Jahr 1938. Wer Macht als Ziel anstrebt, läuft Gefahr irgendwann machtsüchtig zu werden.

2. Machtmenschen = Machtsüchtige

Wenn wir im Folgenden den Begriff „Machtmensch“ verwenden, meinen wir dies im Sinne eines „Machtsüchtigen“. Die meisten Menschen haben gelegentlich Machtgelüste. Wer sich solchen Gedanken und Begierden kontinuierlich hingibt, kann machtsüchtig werden. Es ist ein Unterschied, ob jemand gelegentlich seine Kompetenzen überschreitet, gelegentlich seine Macht missbraucht, oder ob er machtsüchtig ist, genauso wie es ein Unterschied ist, ob man gelegentlich zu viel Alkohol trinkt oder ob man alkoholsüchtig ist. Damit soll der gelegentliche Missbrauch nicht beschönigt werden. Es ist jedoch wichtig, den Unterschied zu sehen. Mancher, der in Leitungsverantwortung steht, überschreitet im Eifer des Gefechts seine Kompetenzen. Ich (Volker) habe Entscheidungen getroffen, von denen mir im Nachhinein bewusst wurde, dass ich sie mit anderen hätte absprechen müssen. Als ich darauf angesprochen wurde, tat mir dies leid und beim nächsten Mal hielt ich vorher Rücksprache.

Persönlichkeit ist die Art und Weise, wie jemand die Dinge gewöhnlich sieht, wie er normalerweise zu anderen Menschen steht und mit ihnen umgeht. Hin und wieder jemanden zu manipulieren oder eine Situation unlauter zu beeinflussen, macht noch keine manipulierende Persönlichkeit aus. Die Kontinuierlichkeit einer bestimmten Sünde wird allerdings die Persönlichkeit krank machen, wie schon Jeremia 13,23 (NLB) lehrt: „Kann ein Farbiger seine Hautfarbe wechseln oder ein Leopard sein geflecktes Fell? Genauso wenig könnt ihr auf einmal Gutes tun, nachdem ihr doch immer nur Böses getan habt.“ Wer sich daran gewöhnt hat, Macht zu missbrauchen, kann dieses Verhalten nicht einfach ablegen wie einen alten Mantel.

Definition: Machtmissbrauch – geistlicher Missbrauch

Machtmissbrauch liegt vor, wenn ein Mensch von einem anderen zu etwas genötigt wird, was er von sich aus nicht tun würde, und der Initiator davon einen persönlichen Vorteil hat. Dabei wird die Grenze der Persönlichkeit verletzt, was häufig gravierende emotionale und körperliche Folgen hat. Geschieht Machtmissbrauch im christlichen Kontext, ist möglicherweise auch der Glaube betroffen.7 Bei geistlichem Missbrauch werden vermeintlich geistliche Themen im Namen Gottes gegen Christen benutzt. Daher kann dieser nur im religiösen Rahmen auftreten und er verwundet das geistliche Leben der Betroffenen.8 Machtmissbrauch und geistlicher Missbrauch sind im Einzelfall deshalb so schwer zu erkennen, weil beide zumeist sehr subtil ausgelebt werden.

Gefahren dieses Buchs

Das Thema „Machtmenschen“ birgt drei Gefahren. Die erste Gefahr besteht darin, das Phänomen „Machtmenschen in der Gemeinde“ nicht wahrhaben zu wollen. Damit verharmlost man krankhafte Situationen. Es ist wichtig, die Dinge beim Namen zu nennen, so wie der 3. Johannesbrief es deutlich benennt, dass Diotrephes „gerne der Erste sein wollte“ (siehe II.2). Wir unterhielten uns mit einem Pastor über die Probleme in seiner Gemeinde. Ein Jahr später erzählte er, dass ihm dieses Gespräch geholfen habe, seine Position in der Gemeinde klären zu können. Auf unsere Nachfrage, was genau ihm geholfen habe, antwortete er: „Ich glaube, dass das Wort ‚Machtmensch‘ gefallen ist, hat mir schon geholfen, das, was ich erlebte, richtig einzuordnen.“

Die zweite Gefahr besteht darin, dass – zum Beispiel ausgelöst durch Bücher wie dem vorliegenden – Hetzjagden entstehen. Gewisse Leute überlegen, wer in ihrer Gemeinde wohl Machtmensch ist, und fangen an, anderen Gemeindegliedern dieses Etikett anzuheften. Eine Gemeinde hatte sich tatsächlich in zwei Lager gespalten. Beide Parteiungen waren der Meinung, die jeweils andere Partei würde Machtmissbrauch betreiben. In beiden Parteiungen wurde unser Buch „Die Machtfalle“ gelesen und dann mit dem Finger auf die andere Partei gezeigt: „Machtmensch!“ Dieses Verhalten war zwar günstig für den Buchverkauf, aber nicht in unserem Sinne. Jemanden als Machtmenschen zu bezeichnen kann selbst auch zu Machtmissbrauch führen!

Die dritte Gefahr ist, aus erlebtem Machtmissbrauch heraus Angst davor haben, Macht überhaupt zu gebrauchen. Darauf gehen wir im Schlusskapitel ein.

3. Macht als sozialer Prozess

In diesem Buch geht es um „soziale Macht“, wenn also Menschen Macht über andere Menschen haben. Wir verwenden die Definition des amerikanischen Politikwissenschaftlers Robert Dahl, die uns aufgrund ihrer Kürze und Prägnanz gefällt:

A hat Macht über B in dem Maße, wie er B dazu bringen kann, etwas zu tun, was B sonst nicht täte.9

Dies ist eine intuitive Definition, die manchem Leser vielleicht zu einfach erscheint. Es sei bemerkt, dass man dies präziser fassen kann.10