Horror

Legionen III

Herausgegeben von

Melisa Schwermer

© 2017 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunstein

Lektorat: Melisa Schwermer
Korrekturen: Jasmin Krieger
Umschlaggestaltung: Mark Freier

Alle Rechte vorbehalten

ISBN – 978-3-95869-570-2

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

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Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

du hast dich für den Kauf der Horror-Legionen entschieden - eine Zusammenstellung von Geschichten der besten deutschsprachigen Horror-Autorinnen und Autoren. Doch vorab möchte ich ein paar Worte an dich richten.

Wenn du an die gängigen Autorinnen und Autoren von Horror-Geschichten denkst, wer kommt dir da zuerst in den Sinn? Jeder hat selbstverständlich seine Favoriten, doch ich vermute, das den meisten zunächst Stephen King oder Richard Laymon (um nur zwei der gängigsten zu nennen, selbstverständlich gibt es da etliche mehr) im Kopf herumgeistert. Wer noch weiter in der Zeit zurückgeht, denkt vielleicht an Mary Shelley, H.P. Lovecraft, Edgar Alan Poe oder gar an die schwarze Romantik von E.T.A Hoffmann.

Doch gruselige und blutrünstige Geschichten sind keine Erfindung der Moderne, ja nicht mal der frühen Neuzeit, die in der Literaturwissenschaft Anfang des 17. Jahrhunderts beginnt.

Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich als Kind eine Schallplatte über die Irrfahrten von Odysseus hatte. Eine Hörspieladaption der Odyssee von Homer, die bekanntlich vor dem Beginn unserer Zeitrechnung geschrieben wurde. Also vor weit mehr als 2000 Jahren. Ganz besonders habe ich mich vor dem Zyklopen gegruselt, der Odysseus und seine Männer fressen wollte. Doch auch die Sirenen, die Odysseus’ Männer auf ihre Insel und somit in den Tod locken wollten, sind nicht minder erschreckend.

Was fasziniert die Menschen aber schon seit Jahrtausenden an dieser Art von Geschichten? Ist es eine Art Voyeurismus, bei der man Morbidität oder Gewalt durch die Augen des Protagonisten von seiner sicheren Position aus beobachten kann? Das Adrenalin, das man bei der Gefahr verspürt, die Konfrontation mit einer Angst (vor Schmerzen, vor dem Tod, vor dem Verlust), obwohl einem selbst nichts passieren kann? Dies wäre eine logische Erklärung, denn das ist auch mit ein Grund, weshalb Menschen gerne Achterbahn fahren: Man hat den Spaß einer gefährlichen, ja vielleicht sogar lebensbedrohlichen Situation, ohne sich der wirklichen Gefahr auszusetzen. Die Regeln der Welt, die man kennt, gelten plötzlich nicht mehr und man ist gezwungen, sich der Phantasie des Konstrukteurs der Achterbahn - oder in unserem Fall der des Autors auszuliefern. Je besser die Illusion, desto mehr Freude empfindet man bei der Lektüre. In den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnete der Psychoanalytiker Balint (Michael Balint: Angstlust und Regression. Klett-Cotta, 1959) das dabei entstehende Gefühl als »Angstlust«.

Gerade Kurzgeschichten sind besonders gut geeignet, diese Angstlust zu erzeugen. Du wirst in eine Situation hineingeworfen, ohne vorher irgendwelche Informationen über die Bedingungen oder Umstände zu bekommen. Du musst dich mit einem normalen Protagonisten oder einer Protagonistin nun in dieser Welt zurechtfinden, begleitest keinen Superhelden, während du darauf wartest, dass etwas passiert. Denn dass es kommt, wie auch immer das Unheimliche aussehen mag, ist klar.

Wie unsere Geschichten zeigen werden, entsteht der Spaß beim Gruseln nicht immer durch plakative Gewalt, Jump-Scares oder Splatter. Schon die Erwartung des Bösen jagt uns eine Gänsehaut über den Rücken. Denk nur mal an Horrorspiele wie Amnesia, Silent Hill oder die frühen Teile der Resident Evil-Reihe, in denen uns meistens schon dadurch Angst und Bange wird, dass wir etwas hören, es aber noch nicht sehen können. Wir rechnen damit, dass es hinter der nächsten Ecke auf uns lauert und uns in Stücke reist, ja wir freuen uns geradezu darauf. Der Nervenkitzel flacht auch nicht ab, wenn dem nicht so ist, im Gegenteil. Er verstärkt sich eher noch. In Erwartung des Bösen fiebern wir auf den Moment hin, in dem es sich uns offenbart.

Ich habe versucht, in diesem Buch die verschiedenen Facetten des Horrors aufzuzeigen und Geschichten ausgewählt, die diese repräsentieren. Ich hoffe, dass die Autorinnen und Autoren dich damit gut unterhalten.

Viel Spaß und ganz viel »Angstlust« wünsche ich,

deine Melisa

Trapped!

von Kristina Lohfeldt

Die Straße war Kafkas Zuhause. Sie wohnte in ihm, nistete in ihm.

Ebenso abgewrackte Gestalten wie er hatten ihm seinen Namen gegeben. In seinem abgegriffenen, ausgeblichenen Ausweis war »Franz Kaffke« zu lesen. Doch dieser Mann existierte schon lange nicht mehr, und der Ausweis war irgendwann und irgendwo auf der Strecke geblieben. Wie sein altes Leben.

»Wichspisser, elende«, fluchte er, als er die Lichter, ihre Lichter, im Dunst aufblitzen sah, jedes ein Hort ihrer Überlegenheit, ihrer Borniertheit, ihres Spießertums. Sie kreisten ihn ein, reizten ihn durch ihre bloße Anwesenheit.

»Scheißarroganz, Scheißregeln, verdammte.«

Kafka spuckte aus. »Kafka kriegste nicht, nie nicht«, murmelte er.

Er war frei. Er konnte gehen wann und wohin er wollte. Er klebte an keinem Menschen, an keinem Besitz oder gar Status.

An jenem Tag stand ihm jedoch nur eine Freiheit zu: zu erfrieren oder sich in eines der muffigen Massenquartiere zu flüchten, wo man Menschenwürde ebenso vergeblich suchte wie Freundlichkeit.

Sie alle waren Ratten der Straße, mit dem Unterschied, dass Ratten sozial waren.

Dort, in diesen abgewichsten, verwanzten Dreckslöchern gab es nichts mehr zu verlieren, bis auf die wenigen Habseligkeiten, die man noch aus Gewohnheit oder Sentimentalität mit sich herumschleppte, wie Sisyphos einen blöden Stein angeblich für ewig irgend so einen Berg hinaufrollte. Seine Vergangenheit wurde man eben nicht los. Egal, wohin man auch ging, man nahm sich immer mit. Auch sein Wissen, das ebenso überflüssig geworden war wie der Rest seines alten Ichs. Und am Ende drückte es einen nieder, nahm einem die Luft zu Atmen, bis man langsam nur mehr aus Gewohnheit weiterlebte, denn aus eigenem Antrieb.

Die Scheißkälte hatte Kafka bereits das Hirn vereist. Sie schmerzte, wie früher die Häme seiner Umwelt ihn gestichelt und gepiesackt hatte. Langsam tanzten Lichter vor seinen Augen, die da nicht hingehörten. Dabei wollte er nichts mehr, als sich hinlegen und schlafen.

Und dann sah er ihn.

Fast wäre Kafka an ihm vorbei getorkelt. Der alte Campingbus war so zugewachsen, dass er auf den ersten Blick mit der heruntergekommenen Vegetation des schäbigen Vororts nahezu verschmolzen war. Jemand hatte ihn abgestellt, hatte ihn einfach am Straßenrand entsorgt, wie Unrat, still, heimlich und ohne lästige Nachfragen.

Das Wrack sah wie eine Laune der Natur aus, ein ungeheures Gewirr aus Kletterpflanzen heimischer Arten, die ihn in Besitz genommen, ihn unter ihre Knechtschaft gebracht hatten. Sie hüllten den alten Camper fast wie ein knotiges Zelt ein. Moos gab ihm eine lächerlich wirkende, neue Farbe, nistete auf dem von Lochfraß befallenen Dach, auf der Motorhaube und überall dort, wo es sich gut festkrallen konnte. Der Tank war aufgeplatzt, Plastik spröde und porös. Die meisten Fenster waren zersprungen, und selbst die Scheinwerfer zersplittert oder angeknackst. Jedem anderen Passanten mochte dieser Anblick ein Dorn im Auge sein. Um so erstaunlicher, dass das Schrottmobil nie entfernt worden war.

Kafka erschien es dagegen wie ein Himmelsgeschenk. Er sah nicht Dreck, dachte nicht an Krankheitskeime, Ungeziefer oder Müll. Für ihn bedeutete der Camper ein Dach über dem Kopf, und die Rettung vor dem drohenden Kältetod.

Geübt darin, sich Zutritt zu verschaffen, wo er verboten war, gelang es Kafka, die Seitentür des Busses zu öffnen. Die Straße war ein einfallsreicher Lehrer, und so fand sich in dem, was andere für Müll hielten, manches, was einem wie Kafka kleine Helfer waren.

Die Kälte hatte ihm bereits die Glieder versteift. Aber Hartnäckigkeit, Überlebenswille und diebische Erinnerungen an die technischen Finessen eines Dietrichs, hatten den altersschwachen, bröseligen Gummi mit ein wenig Nachdruck zur Kapitulation gezwungen.

»Kriegste nicht klein nicht«, plapperte Kafka vor sich hin. »Kriegste die Krätze, aber kriegste nicht klein. Kafka kriegste nie nicht. Geile Sau, geile. Hast es immer noch drauf, haste.«

Scheiße schwamm immer oben. Selbst im Strudel des Lebens oder vielmehr des Überlebens.

Er schürfte sich die Haut ein wenig an dem scharfen Spalt auf, durch den er sich hindurchzwängte. Aber das scherte ihn nicht.

Auch der unangenehme Mief, der ihm entgegenschlug, schreckte ihn nicht ab. Wer oft genug in seiner eigenen Kotze geschlafen hatte oder neben getrockneter Pisse von Menschen, Katzen oder Schlimmerem, der war einiges gewohnt. Auch Alkoholgestank drückte im Laufe der Zeit jeder Geruchszelle die Kehle zu. Inzwischen war Kafka trocken, aber die Erinnerung an jegliche Art von Gesöff brannte noch in ihm.

Die Luft roch muffig, abgestanden, modrig, ein wenig süßlich und doch auch nach Wald und Erde. Jedoch nicht nach der Art von Wald und Erde, die einen freier atmen und an blauen Himmel und lauschige Lüftchen denken ließ.

Und da war noch etwas anderes. Etwas, das von den übrigen Gerüchen überdeckt zu werden schien.

»Gedärme. Mütterchens Erde welche. Schlampe die. Aufgeplatzt. Was für eine Sauerei, eine«, kommentierte Kafka das Wahrgenommene und kicherte.

Er war sich selbst sein bester Unterhalter. Und alles war besser als die Kälte draußen. Der Muff hielt wenigstens warm.

Kafka ließ sich auf eine altersschwache Matratze plumpsen. Sie schien auf ihre eigene Art lebendig zu sein. Einen Geruch konnte er allerdings nicht ignorieren.

»Stinkt nach Fischgrube, stinkt es«, wisperte Kafka. »Mitten aufm Land. Drecksloch, dreckiges.«

Dann zuckte er die Achseln.

»Besser als Katzenpisse«, murmelte er.

Wenige Augenblicke später rollte er sich auf die Seite, grub sich dabei in eine mottenzerfressene Decke ein, hustete, als ihr Staub ihn einhüllte, fluchte, und schnarchte kurz darauf geräuschvoll.

Die Straße ist dein Zuhause. Kafka. So nennen sie dich. Erinnerst du dich noch? In deinem Ausweis steht ein anderer Name. Du hast ihn verloren. Den Ausweis. Aber auch den Namen und den, der mit ihm verbunden war. Sein Wirt. Sein Körper. Sein Wirtskörper. Ein Verlorener. Erinnerst du dich an ihn? Erzähl uns mehr! Und von den Wichspissern …

Deine Worte …

Erbärmlich.

Ohne Erbarmen.

Beute. Nur Beute.

Der schlafende Kafka wälzte sich unruhig hin und her. Er war nicht mehr allein. Aus den Schatten hatten sich Fangarmen gleich schleimige, knotige Auswüchse um seine Schlafstatt geschlungen. Sie zerrissen die Schemen, quollen wie Auswurf daraus hervor und schlängelten sich durch ihr Revier auf den Eindringling zu. Beinahe liebevoll strichen die geifernden Haare über die sich feilbietende, erst langsam wieder erwärmende Haut, so lange, bis sie eine pulsierende, einladende Stelle gefunden hatten.

Wurzeln gleiche Tentakel glitten über das saftige Fleisch. Wo sie Haut berührten, da bohrten sie sich wie Nadeln hinein, stachen und kratzten und bissen und reizten das empfindliche Gewebe.

Ein kurzer, lodernder Schmerz wütete im appetitlichen Fleisch, dann breitete sich Taubheit aus, dumpf, dunkel und dankbar.

Kafka riss die Augen auf. Und doch blieb alles dunkel, sein eigener Kerker, ein Kokon aus Ekel und Leid.

Ein Gurgeln entfuhr seiner Kehle, doch wurde ihm der Mund sanft von klebrigem Schleim verschlossen. Er schrie auf, als etwas Brennendes in seine Augen tropfte, und sein Schreien verebbte auch nicht mit dem lebendigen Knebel vor, in und um seinen Mund.

»Luft ... Luft ... Bitte!«, winselte seine innere Stimme. Keuchte. Sabberte. Spie.

Er fühlte die Dornen, die sich in seine Augen bohrten. Langsam. Geduldig.

Sie scheuerten an seiner Iris. Schabten. Kratzten. Gruben.

Er spürte, wie seine Augäpfel sich aufblähten wie Ballons, um dann – langsam und unerbittlich –, betäubt in sich zusammenzufallen, zu schrumpfen, zu schrumpeln.

Ewigkeit der Folter. Äonen von Schmerz.

»Hörst du mich?«, schrie es in ihm. »Bitte ...«

Doch er war allein. Allein mit seiner Angst, die ihm die Kehle zudrückte. Wieder und wieder.

Aber die körperlose Stimme. Sie war da.

Du kommst hier nicht weg. So sehr du auch strampelst. Du steckst in deinem Leben fest.

Du wirst nicht wieder fortlaufen. Du hast es zu oft getan. Das ist keine Lösung. Sieh es endlich ein!

»Ich laufe nicht weg«, versprach er. »Ich stelle mich. Was muss ich tun, damit es aufhört? Bitte ... Bitte! Nimm es weg! Ich ... kann ... nicht ... atmen!«

Atmen wird überbewertet. Wozu atmen, wenn du dir die Lungen zuteerst, die Nasenlöcher blutig schnupfst und deine Kehle langsam wegätzt?

Wer jahrelang solch gnadenlosen Raubbau betreibt, der bettelt doch geradezu darum, dass es endet.

»Ich habe aufgehört!«, behauptete Kafka. »Ich bin nicht wie die Anderen.«

Nein? Kannst du das beweisen? Wie sind sie denn, »die Anderen«?

Aber vielleicht hast du Recht. Vielleicht bist du nicht wie sie. Denn sie haben dich immer ausgegrenzt. Du hast nie zu ihnen gehört. Du nennst sie »Wichspisser«. Warum? Weil sie dich … - wie sagst du so schön? - »gefickt« haben? Weil sie dich und deine Art zu leben verachtet haben? Warst nicht du am Ende der, der dich fallen gelassen hat? War es dir egal? Du hast zugelassen, dass sie dich wie Abschaum behandelt haben. Und vielmehr bist du auch nicht. Also ... Wer ist nun der »Wichspisser«?

Wir sagen: Deine Art zu leben ist unnatürlich. Aber gerade deshalb wird dich auch keiner vermissen. Und du wirst einen Nutzen haben. Ist es nicht das, was du immer wolltest?

Wir werden dir zeigen, wie der Neid auf eine andere Existenz einen aufwühlt, einen auffrisst. Du wirst dankbar sein. Wir sind großzügig.

»Wer bist du? Was willst du von mir?«

Wir ... sind hungrig. Wir ... sind durstig. Uns hungert nach deinem Fleisch. Uns dürstet nach deinem Schweiß, deinem Blut, deinen Tränen und ... deiner Angst.

»Ich habe keine Angst!«

Nein? Warum hast du dich dann gerade eingenässt? Danke übrigens dafür.

»Lasst mich gehen!«, wimmerte Kafka. »Ich stehe einfach auf und verschwinde. Deal?«

Du kannst nicht gehen. Die Kinder sind hungrig, durstig. Du wirst sie nähren, bis nur noch deine Hülle übrig ist. Und auch dafür finden wir Verwendung. Und nun reißen wir dir dein Maul auf. Ist doch nichts Neues für dich. Sie müssen hineinpassen, weißt du? Sie rutschen dir dann ganz allein die Kehle hinab und bohren sich in deine Innereien. Menschen haben herrlich viele Weichteile. Das ist uns gleich aufgefallen. Ah – jetzt hast du Angst. Das schmeckt gut. Sie werden viel an dir zu nuckeln haben.

Knirschend und knackend splitterte Kafkas Kiefer, als die Ranken ihm ihre Samen, Embryonen gleich, in den Schlund stopften, seine Speiseröhre hinabrutschten, sie wie eine Laufmasche in Nylonstrümpfen aufrissen – Nylons – das Einzige, was er an Frauen je gemocht hatte.

Schmerz wütete in ihm – und dann nistete sich Wahnsinn … und Verzweiflung ein.

»Das klang nach Kindergeschrei«, behauptete der kleine Marvin-Luis. »Habt ihr das nicht gehört?«

Seine Spielkameraden lachten ihn jedoch aus.

»Was du immer hören willst«, spotteten sie. »Kommst du jetzt mit? Oder willst du weiter deinen Stimmen folgen?«

»Ich gehe noch ein bisschen weiter«, meinte Marvin-Luis.

Die anderen Kinder zuckten mit den Schultern.

»Na, mach‘s dann mal gut. Wir sehen uns«, verabschiedeten sie sich und verschwanden.

Der zurückgelassene blonde Junge schaute sich suchend um und lauschte.

Da war es wieder! Er hörte es ganz deutlich. Das klang wie das Geschrei, das seine kleine Schwester Leonie-Laura veranstaltete, seit Mama sie vor zwei Wochen aus dem Krankenhaus mitgebracht hatte.

Marvin-Luis mochte Babys. Und das klang, als wäre eines in Not. Vielleicht waren es auch kleine Katzen. Ihr Geschrei klang denen von Kindern nicht unähnlich, und hier in der Gegend wurden gerne mal ungewollte Kitten ertränkt. Wenn er sich beeilte, konnte er sie vielleicht noch retten.

Marvin-Luis lief weiter – und da stand er.

»Ein alter Campingbus?«, staunte der Junge.

Merkwürdig. Sie hatten doch schon so häufig hier gespielt. Aber diesen Bus hatte er nie wahrgenommen.

Wie hatte er dieses Abenteuer übersehen können? Dabei musste der Camper hier doch schon sehr, sehr lange stehen.

Neugierig umrundete der Junge das Schrottmobil.

Der alte Campingbus war so zugewachsen, dass er auf den ersten Blick mit der heruntergekommenen Vegetation des schäbigen Vororts nahezu verschmolz. Jemand hatte ihn abgestellt, hatte ihn einfach am Straßenrand entsorgt, wie Unrat, still, heimlich und ohne lästige Nachfragen.

»Was für ein feiner Spielplatz«, freute sich der Junge. »Und da ist sogar ein Spalt in der Tür. Ich schaue mich mal um. Die anderen werden Augen machen, wenn sie das sehen.«

Voller Vorfreude zwängte er sich durch den Spalt. Vorsichtig achtete er darauf, den scharfen Kanten nicht zu nahe zu kommen. Mama hatte ihm eingeschärft, er solle vorsichtig sein. Kinder konnten sich doch so leicht beim Spielen verletzen ...