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Burt Frederick

Schrecken der Küste

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

1.

Es war Ruhe eingekehrt. Das schnatternde Geschwader kubanischer Putzteufel, das zwei Tage lang alle Räume des Hauses bevölkert hatte, gehörte der Vergangenheit an. Geblieben war ein Geruch von Frische, vom Keller bis unter das Dach. Die drallen Habaneras hatten mit viel Temperament und Eifer ihre Schrubber und Wischlappen geschwungen, um dem so verteufelt gutaussehenden Señor aus dem fernen Alemania zu zeigen, was sie von Ordnung und Sauberkeit verstanden.

Arne von Manteuffel hatte ihnen einen sehr guten Lohn gezahlt. Denn als Inhaber eines deutschen Handelshauses in Havanna mußte er sich einen guten Ruf verschaffen. Und als die redseligen kubanischen Dragoner mit ihren Putzwerkzeugen davongezogen waren, da hatten sie bereits begonnen, in höchsten Tönen von ihm zu schwärmen.

Über blitzblanke Fußbodendielen und Treppenstufen verließ der hochgewachsene Mann seinen privaten Bereich im oberen Stockwerk und betrat das Kontor. Vorhänge dämpften das helle Morgenlicht, das durch die Fenster zu ebener Erde fiel. Hier, wie überall, liebten es Kaufleute nicht, sich in die Bücher schauen zu lassen. Arne mußte sich an die Gepflogenheiten halten, obwohl ihm der freie Blick durch klares Fensterglas lieber gewesen wäre.

Jörgen Bruhn blickte vom Pult auf, begrüßte Arne freundlich und fuhr dann fort, den Federkiel kratzend über die aufgeschlagene Seite eines Folianten zu bewegen. Arne spähte lächelnd über die Schulter des dunkelblonden Mannes aus Hamburg.

Das Datum, 10. März anno 1594, stand in kunstvollen Ziffern und Lettern über der neuen Seite des Journals. Sorgfältig und doch schwungvoll reihte Jörgen die Buchstaben aneinander. Es handelte sich um die Partie Mahagoniholz, die am Vortag auf die „Wappen von Kolberg“ verladen worden war. Alles mußte seine Richtigkeit haben, auch der buchhalterische Teil. Bis zum i-Tüpfelchen mußte die Faktorei von Manteuffel beweisen können, daß sie eine solide Firma war. Welche Rolle der blonde Deutsche in Havanna wirklich spielte, durfte niemals ans Tageslicht dringen – selbst dann nicht, wenn der Gouverneur oder ein anderer hochwohlgeborener Don durch widrige Umstände auf die Idee verfallen sollte, das neuerworbene Haus des Kaufherrn aus Kolberg auf den Kopf zu stellen.

„Ich nehme an, Jussuf wünscht seinen Lieblingen einen guten Morgen“, sagte Arne, während er ans Fenster trat und den Vorhang mit dem Zeigefinger ein Stück beiseite schob.

„Wie sollte es anders sein“, entgegnete Jörgen Bruhn, ohne von seinem Wälzer aufzublicken. „Es würde mich nicht wundern, wenn er auch noch sein Nachtquartier im Taubenschlag einrichtet.“

Arne von Manteuffel lachte leise. Der Hingabe, mit der sich Jussuf seinen gefiederten Prachtstücken widmete, verdankten sie schon eine Menge. Das Nachrichtensystem zwischen Havanna und der Schlangen-Insel hatte gleich beim ersten Versuch reibungslos funktioniert.

Wie erwartet, war die Brieftaube „Achmed“ Ende Februar zur Futterkrippe auf dem Hinterhof der Faktorei zurückgekehrt. In einem Federkielröhrchen, unter der mittleren Schwanzfeder befestigt, hatte der stramme Täuberich eine Meldung von Philip Hasard Killigrew und den Männern auf der Schlangen-Insel mitgebracht. Der Raid auf die Perlen-Galeone „Santa Clara“ war von Hasard und seiner Crew erfolgreich durchgeführt worden.

Arne blickte, durch den Vorhangspalt auf das nahe Hafengebiet. Schwerbeladene Fuhrwerke rollten zu den Piers, wo die Segler auf Fracht und Ausrüstung warteten. Menschen bevölkerten den Kai in geschäftiger Eile – Seeleute, Soldaten, Geschäftsleute, Handwerker, Arbeiter, Marktweiber und auch etliche von den herumlungernden Gestalten, wie sie in jedem Hafen dieser Welt anzutreffen waren. Die Masten der Schiffe reckten sich in ihrer bizarren Vielfalt der Morgensonne entgegen.

In diesem Gewirr dort draußen lag auch die „Wappen von Kolberg“, fertig zur Abreise. Für die Partie Mahagoniholz waren die Ladedokumente offiziell auf den Bestimmungshafen Kolberg ausgestellt. In Wahrheit würde die Galeone unter dem Kommando von Oliver O’Brien aber zur Schlangen-Insel segeln. Dort wartete Hesekiel Ramsgate sehnsüchtig auf das Bauholz, das er für seinen Werftbetrieb so dringend brauchte.

Ungewollt wanderten Arnes Gedanken zu der Heimatstadt an der Ostsee, und er wandte den Kopf, um die noch schmucklosen Wände des Kontors zu betrachten. Ein großes Ölbild mit einer Hafenansicht von Kolberg hätte als angemessene Zierde besonders gut in diesen Raum gepaßt, ganz dem Sinn eines traditionsbewußten Handelshauses entsprechend.

Aber woher sollte er ein solches Gemälde nehmen? Er konnte wohl kaum einen Maler beauftragen, den Heimathafen aus seiner Erinnerung auf einer Leinwand zu verewigen. Einem Künstler in diesen sonnigen Breiten fehlte sicherlich die Vorstellungskraft, die rauhe Atmosphäre der Ostseeküste vor seinem geistigen Auge entstehen zu lassen.

Dennoch – hatte er nicht erst vor wenigen Tagen ein kleines Ölbild gesehen, das auf eben diese Art und Weise entstanden war? Ein spanischer Kunstmaler hatte nach den Angaben verschiedener Menschen ein Porträt angefertigt, das vollkommene Ähnlichkeit aufwies.

Das Porträt des Seewolfs.

Abermals wandte sich Arne dem Fenster zu und schob den Vorhang ein Stückchen beiseite. Im selben Moment kniff er die Augen zusammen. Es war ein Impuls, der ihn dazu veranlaßte, deutlicher und klarer als das Funkeln eines Lichtreflexes auf dem Wasser.

Das Dunkelblau eines gutsitzenden Wamses stach ins Auge, obwohl man es nicht einmal als auffällig bezeichnen konnte. Vielleicht lag es daran, daß der Mann an sich eine bemerkenswerte Erscheinung war und sich dementsprechend vom Menschengewühl abhob.

Der Mann, der das Ölbildnis des Seewolfs besaß.

Don Juan de Alcazar.

Arne wischte sich mit dem Handrücken über die Lider und blinzelte. Es war keine Sinnestäuschung. Der Spanier schritt zielstrebig auf die Faktorei zu, und in seiner Begleitung befand sich ein Mann, der ebenfalls kein Unbekannter war.

Manchmal gibt es verrückte Zufälle, dachte Manteuffel. Old Donegal Daniel O’Flynn, der alte Hellseher, hätte seine helle Freude an dieser „Gedankenübertragung“ gehabt und sogleich eine ganze Latte von Schauergeschichten vom Stapel gelassen.

De Alcazar mochte um die dreißig Jahre alt sein. Schlank und knapp sechs Fuß groß, war er allein durch sein Äußeres in der Lage, weibliche Blicke auf sich zu lenken und Frauenherzen schneller schlagen zu lassen. So gepflegt wie sein gesamtes Äußeres war auch sein schwarzes Haar. Die schiefergrauen Augen hatten einen harten Glanz und unterstrichen die kühne, schmale Nase und die energischen Kinnlinien seines scharfgeschnittenen Gesichts.

Der Beauftragte der spanischen Krone wurde begleitet von einem Mann, der Mühe hatte, de Alcazars eiliges Schrittempo mitzuhalten. Beim Bankett des Gouverneurs hatte Don Gabriel Romero Tintillan, der Kapitän der „Santa Clara“, ein überaus klägliches Bild abgegeben. Und im Vollrausch hatte er Arne die Information über die Perlenladung gegeben, die letztlich zum erfolgreichen Fischzug Hasards und seiner Männer geführt hatte.

Während die beiden Spanier schon die Eingangstür des Kontorhauses erreichten, wurde Arne schlagartig bewußt, was das Auftauchen des Kapitäns gemeinsam mit de Alcazar bedeutete. Don Gabriel mußte den Seewolf gesehen haben und …

Ein energisches Klopfen dröhnte durch den Korridor und unterbrach die Gedanken von Manteuffels.

Jörgen Bruhn wandte sich an seinem Pult um.

„Besuch?“ fragte er erstaunt. „Erwarten wir denn jemanden?“

„Nein“, erwiderte Arne mit einem harten Lächeln. „Dieser Besuch dürfte eine gelungene Überraschung sein.“ Im Hinausgehen erklärte er seinem Schreiber, wer dort draußen an die Tür hämmerte. Jörgen würde seine Arbeit fortsetzen und sich durch nichts aus der Ruhe bringen lassen, das wußte Arne. Und er selbst war entschlossen, die Rolle zu spielen, die diese Situation ihm abverlangte.

Das Klopfen endete, als seine Schritte durch den Korridor klangen. Er löste die Riegel und öffnete. Im selben Moment spielte er den Entgeisterten. Dabei gelang es ihm, das rechte Maß zu finden und nicht zu übertreiben. Denn er wußte, daß de Alcazar ein scharfer und unbestechlicher Beobachter war. Arne sperrte den Mund weit auf und starrte die beiden Männer mit großen, verblüfft blinzelnden Augen an.

„Nein!“ rief er erstaunt und gedehnt. „Kann ich meinen Augen trauen? Sie hier? Beide? Sind Sie denn nicht …“

De Alcazar unterbrach ihn mit einer schroffen Handbewegung und wandte sich dem Kapitän zu.

„Nun, Don Gabriel? Sehen Sie sich diesen Mann genau an. Und dann beantworten Sie meine Frage: Hat der englische Piratenkapitän so ausgesehen wie Señor de Manteuffel?“

Arne mußte seine ganze Beherrschung aufbieten, um sich nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Don Juans Miene war eisig, und jede Bemerkung, die nichts mit der von ihm verfolgten Sache zu tun hatte, würde an ihm abprallen. Soviel stand fest. Doch Arne verlor die Rolle des grenzenlos Überraschten keinen Augenblick. Stirnrunzelnd und scheinbar begriffsstutzig erwiderte er den forschenden Blick des Kapitäns, der seinen Knebelbart zwischen Daumen und Zeigefinger drehte.

„Ich sehe Señor de Manteuffel ja nicht zum ersten Mal“, sagte Tintillan. „Wir sind uns doch schon beim Bankett des Gouverneurs begegnet.“

„Danach habe ich nicht gefragt“, sagte de Alcazar, und es klang wie ein zischender Peitschenhieb.

Der Kapitän der „Santa Clara“ zuckte zusammen.

Arne tat, als hätte er seine Überraschung wenigstens teilweise überwunden.

„Señores“, sagte er beschwichtigend und mit einer einladenden Handbewegung. „Wir sollten uns nicht zwischen Tür und Angel unterhalten. Und wenn Sie so schwerwiegende Fragen haben, Don Juan, dann werden Sie die vielen unerwünschten Ohren auch nicht gerade schätzen.“ Mit einer Kopfbewegung deutete er auf die Menschen auf dem Kai.

Der Anflug von Spott in seiner Stimme war de Alcazar nicht entgangen, das zeigte sich an einem kaum merklichen Glimmen in den schiefergrauen Augen.

Mit einem grimmigen Nicken stimmte der Agent des spanischen Königshauses zu. Arne führte die beiden Männer in sein Besprechungszimmer, das sich auf der anderen Seite des Korridors befand, dem Kontor gegenüber. Er wußte, daß er auf dem richtigen Weg war. Wenn es ihm gelang, de Alcazars bohrende Fragen mit einer gehörigen Portion Humor auf die leichte Schulter zu nehmen, dann brachte er den Mann damit am ehesten aus dem Konzept. Er forderte die Besucher auf, in den behaglichen Sesseln Platz zu nehmen.

„Noch einmal“, bedrängte Don Juan den Kapitän. „Können Sie eine Ähnlichkeit feststellen?“

„Natürlich“, erwiderte Tintillan pikiert. „Wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, Don Juan: Ich habe nicht von ungefähr erwähnt, daß ich Señor de Manteuffel beim Gouverneur kennenlernte. Denn als diese englischen Piraten mein Schiff enterten, da hat mich vor. Überraschung fast der Schlag getroffen. Würde Señor de Manteuffel eine schwarze Perücke tragen, dann sähe er haargenau so aus wie dieser englische Piratenkapitän.“

„Aha“, sagte de Alcazar und preßte die Lippen aufeinander. Aus schmalen, blitzenden Augen betrachtete er sein Gegenüber.

Arne erkannte überdeutlich, was in dem Mann vor sich ging. Zweifellos empfand er Triumph darüber, daß er nun zumindest einen Augenzeugenbericht über den gesuchten Feind der spanischen Kröne erhalten hatte. Der Kapitän und die Besatzung der „Santa Clara“ hatten den Seewolf gesehen. Der Engländer, auf den Don Juan de Alcazar angesetzt worden war, hielt sich folglich in der Karibik auf. Vielleicht hatte er sogar seinen Schlupfwinkel in der Nähe der Bahamas, wo er zugeschlagen hatte.

Doch der Triumph de Alcazars wurde geschmälert von seiner Wut. Das Muskelzucken in seinem Gesicht verriet es. Er hatte die Gelegenheit verpaßt, dem Seewolf persönlich zu begegnen. Unbekannte Strolche hatten ihn überfallen, bewußtlos geschlagen und gefesselt, und somit war die „Santa Clara“ ohne ihn ausgelaufen.

Arne mußte sich zwingen, bei diesem Gedanken nicht zu grinsen. Da er letzten Endes den Überfall durch die „unbekannten Strolche“ inszeniert hatte, konnte er sich Don Juans augenblickliche Gefühle sehr gut vorstellen. Aber er mußte seine Rolle als völlig Unbeteiligter und Ahnungsloser weiterspielen.

„Da Don Gabriel Ihre Frage nunmehr beantwortet hat“, sagte er kühl und abermals mit einem Hauch von Spott in der Stimme, „wäre ich dankbar, wenn Sie mich über den Grund Ihrer Anwesenheit aufklären würden, Señor de Alcazar. Immerhin mußte ich nach dem letzten Stand der Dinge annehmen, daß Sie sich in der Gegend von Florida befinden, und daß die ‚Santa Clara‘ auf der Rückreise nach Europa ist.“

„Wie Sie sehen, ist beides nicht der Fall“, entgegnete Don Juan frostig. „Und daß es so ist, verdanken wir Ihrem Doppelgänger, der als englischer Pirat sein Unwesen treibt.“

„Langsam entwickle ich Respekt vor diesem Burschen.“ Arne lächelte und blies die Luft durch die Nase. „Eines Tages wird er mich in ernsthafte Schwierigkeiten bringen, fürchte ich. Ich spüre, daß Sie mir diese zufällige Ähnlichkeit schon jetzt zur Last legen, wenn Sie es auch nicht offen aussprechen.“

„Ihre Ähnlichkeit mit Killigrew ist zumindest frappierend. Welche Rückschlüsse man daraus zieht, ist im Moment noch unerheblich. Denken Sie also, was Sie wollen. Vorrangig geht es darum, daß wir den Mann fassen. Dann sehen wir weiter.“

„Das klingt bedrohlich“, sagte Arne und tat, als erschauerte er. „Ich frage mich nur, wie der Kerl Sie daran gehindert hat, sich an Bord der ‚Santa Clara‘ zu begeben.“

„Unsinn“, fauchte de Alcazar. „Davon war nicht die Rede.“

„Ach, nein? Sie sagten, daß Sie Ihre augenblickliche Lage meinem Doppelgänger verdanken.“

„Das bezog sich auf den Verlust der ‚Santa Clara‘. Ich selbst wurde von geldgierigen Halunken in eine Falle gelockt. Deshalb war ich beim Auslaufen der Galeone nicht zur Stelle.“

Arne erlebte ein neues Beispiel für das Bemerkenswerte an diesem Mann. Bei aller Verbissenheit, mit der er sein Ziel verfolgte, blieb er doch ehrlich gegenüber sich selbst und anderen. Dafür sprach die Tatsache, daß er die erlittene Schlappe unverhohlen zugab. Don Juans Fähigkeit, Schwächen einzugestehen, machte ihn um so gefährlicher.

Er war kein Mann, der mit Haken und Ösen, mit Winkelzügen und Hinterhältigkeiten arbeitete. Ein Gegner also, auf den man sich einstellen konnte. Doch eben das konnte wiederum auch zum Leichtsinn führen. War man zu sehr überzeugt, de Alcazars Reaktionen richtig vorausberechnet zu haben, dann war es für ihn um so einfacher, einen mit einem unerwarteten Schachzug zu überrumpeln.

„Da scheinen Sie ja großes Pech gehabt zu haben“, sagte Arne. „Vermute ich richtig, daß Sie eine günstige Gelegenheit verpaßt haben, Ihrem Erzfeind Auge in Auge gegenüberzutreten?“

mein