image

Burt Frederick

Die Nacht
der langen Messer

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

1.

„Es ist ein Strafgericht“, sagte der Mann mit bebender Stimme. Er bekreuzigte sich und legte den Arm wieder fest um die Schultern seiner Frau, die unablässig ihre Gebete murmelte. „Havanna ist dem Untergang geweiht. Diese Stadt war schon immer ein Sündenpfuhl. Es ist der Wille des Herrn, ihn zu vernichten. Wir können nichts dagegen tun.“

Die beiden fast erwachsenen Söhne des Ehepaares standen bei den Fenstern des verdunkelten Raumes und spähten auf die Gassen hinunter.

„Vater, verzeih, aber du redest Unsinn.“ Der ältere Junge sagte es kopfschüttelnd, ohne den Blick zu wenden. „Eine Horde von Galgenstricken ist über die Stadt hergefallen. Und jetzt kriecht das lichtscheue Gesindel aus allen Ecken und Winkeln und verbündet sich mit den Kerlen. Das ist doch kein Zufall oder Schicksal oder so was.“

„Der Wille des Herrn schon gar nicht“, fügte der jüngere Sohn energisch hinzu.

Die Frau unterbrach ihr monotones Gemurmel.

„Schweigt!“ rief sie mit tränenerstickter Stimme. „Ihr habt kein Recht, die Worte eures Vaters anzuzweifeln. Beten solltet ihr! Betet, daß wir verschont werden.“

„Pah!“ rief der ältere Sohn verächtlich. „Das hilft uns auch nicht weiter. Die Bürger sind sowieso alle viel zu feige. Wir sollten hinausgehen und uns gemeinsam verteidigen. Aber es gibt ja keine Einigkeit. Und zu zweit können wir es beim besten Willen nicht schaf…“

„O verdammt, sieh dir das an!“ unterbrach ihn sein jüngerer Bruder aufgeregt.

Doch auch ohne seinen Hinweis wäre es nicht zu übersehen und vor allem nicht zu überhören gewesen.

Eine neue Horde von verdreckten und zerlumpten Kerlen wogte mit wildem Gejohle und schrillen Lauten der Vorfreude heran. Einige trugen Fackeln, und der flackernde Schein warf gespenstische Schatten auf ihre wilden Gesichter.

Jene indessen, die in der Mitte des Pulks voranstürmten, trugen einen Schaluppenmast. In ihren Mienen lag Triumph, herrührend aus der Erkenntnis, daß sie mit ihrer Idee alle anderen ausstechen würden, daß ihrer Grausamkeit keine Grenzen mehr gesetzt waren und ihre Beute reicher sein würde als die ihrer Kumpane im übrigen Hafengebiet.

Der Lärm der Marodeure und Galgenvögel war allgegenwärtig und pflanzte sich immer weiter stadteinwärts fort. Nachdem sie sich in den Kneipen Mut angetrunken und alles kurz und klein geschlagen hatten, waren die entfesselten Horden aufgebrochen, um die Bürgerhäuser auszuplündern.

Die Bedrohung, die jetzt heranwalzte, übertraf alle bisherigen Schrecken.

Havanna würde in dieser Nacht zum 13. März des Jahres 1594 in Flammen aufgehen. Das Verderben schien unabwendbar zu sein.

Die beiden Jungen, die fast schon Männer waren, sperrten erschrocken den Mund auf, während sie hinausstarrten. Sie achteten nicht mehr auf ihren Vater und ihre Mutter, die sich umschlungen hielten wie Kinder und das Verhängnis in ohnmächtiger Tatenlosigkeit erwarteten.

„Ist dir klar, was die mit dem Mast anstellen werden?“ flüsterte der ältere Sohn.

„Für wie dumm hältst du mich?“ entgegnete sein Bruder dumpf. „Sie werden das Ding als Rammbock benutzen. Aber unsere Tür ist verbarrikadiert. Dagegen können sie nichts …“

„Du Narr! Die lächerlichen Tische und Stühle fegen sie weg wie nichts.“

Der jüngere Sohn schwieg. In seinem glatten Kindergesicht waren die Lippen nur noch ein blutleerer Strich.

Unten in der Gasse schwoll der Lärm an. Die Kerle verharrten wie eine Flutwelle, die von einem plötzlichen Hindernis aufgehalten wurde. Jene, die den Schaluppenmast trugen, schwenkten herum. Die anderen wichen grölend beiseite, rempelten sich gegenseitig an, hieben sich auf die Schultern oder lagen sich kumpelhaft in den Armen und setzten Flaschen an den Mund.

Einige hatten sich mit Perlenketten und anderem Schmuck behängt. Einer stand mitten im Gewühl und spielte mit Silbermünzen, die er fortwährend in die Luft warf wie ein Jongleur, von einer Hand zur anderen. Die beiden Jungen sahen, wie sich Blicke nach oben richteten. Fäuste wurden geschüttelt, wüste Verwünschungen gebrüllt.

Unwillkürlich wichen die Jungen vom Fenster zurück. Aber sie überwanden ihren Schreck.

„Los“, sagte der ältere, „jetzt gibt es nur noch eins, was wir tun können. Oder bist du zu feige?“

„Nein!“ rief der jüngere protestierend. Und er folgte seinem Bruder zur Tür, die ins Treppenhaus führte.

Der Vater erwachte aus seiner Lethargie.

„Hiergeblieben!“ überschrie er das Gebetgemurmel seiner Frau. „Wollt ihr wohl hierbleiben!“

Aber die Söhne hörten nicht auf ihn. Er sank wieder in sich zusammen und unternahm keinen weiteren Versuch, sie an ihrem Vorhaben zu hindern.

Durch den Hausflur dröhnte der erste Rammstoß, als die beiden Jungen den uralten Blunderbuss holten. Im kleinen Raum unter der Treppe luden sie die Waffe mit bebenden Händen.

Das Gegröle der Horde brandete gegen die Fassade, die Mauersteine schienen jetzt zerbrechlich und spendeten keinen Schutz mehr. Im nächsten Moment krachte der Schaluppenmast erneut gegen das Türholz. Das berstende Geräusch, das diesmal entstand, ging den Jungen durch Mark und Bein. Etwas polterte. Einer der Stühle, die sie zusammen mit den Tischen ineinander verkeilt hatten, mußte umgestürzt sein. Gegen ein paar Kerle, die mit ihren Schultern versucht hätten, die Tür aufzubrechen, wäre diese Barrikade wirksam gewesen. Aber gegen den Mast, der den Umfang einer jungen Pinie hatte?

„Schnell!“ flüsterte der Ältere, der das Gewehr mit der trichterförmigen Mündung jetzt in beiden Händen hielt. „Die Kerze!“

Sein Bruder wußte Bescheid. Er huschte, mit dem flackernden Licht los, barg die Flamme hinter der Handfläche und stellte die Kerze in der Mitte des Korridors auf. Sie hatten diesen schlimmen Ernstfall nicht erwartet. Aber sie hatten in ihren jugendlich beherzten Köpfen doch erwogen, was sie notfalls unternehmen konnten. Wenn sie innerlich auch vor Furcht bebten, so waren sie doch fest entschlossen, ihren Abwehrplan in die Tat umzusetzen. Sie würden der wilden Meute Widerstand leisten und sich nicht verkriechen, wie ihre Eltern und all die anderen Bürger das taten.

Der Jüngere hastete zurück, als der dritte Rammstoß erfolgte.

Diesmal war der Lärm ohrenbetäubend. Das schmetternde Dröhnen schien die Grundmauern des Hauses zu erschüttern.

In einem Splitterregen bohrte sich der stumpfe Mastfuß durch das auseinanderfliegende Türholz. Tische und Stühle wirbelten wie Spielzeug in den Korridor. Das Johlen und Kreischen der Horde steigerte sich und erfüllte das Haus mit schrillem Lärm. Der ältere Junge hielt die schwere Waffe nur mit Mühe.

Jäh tauchten die ersten Gestalten aus dem Gewirr von Splittern und zerborstenen Brettern auf – verzerrte Gesichter, rot vom Alkohol und von der Gier auf Beute. Die vordersten stutzten, als sie die Kerze sahen. Aber jene, die hinter ihnen waren, drängten und schoben, und so quollen sie buchstäblich herein.

Die beiden Jungen standen nahe beieinander.

„Jetzt zeigen wir es diesen Bastarden!“ schrie der ältere, als müsse er sich Mut machen. Sein Finger krümmte sich um den Abzug, in ihm entflammte die wilde Freude, seinem Bruder Schutz zu bieten, wie es sich für ihn, den älteren, gehörte.

Das Zündkraut zischte und verpuffte, als der Flint auf den Reibstahl schlug.

Die Front der Kerle, die schon die Kerze erreicht hatten, geriet ins Stocken. Schlagartig brach ihr Triumphgebrüll ab. Jene, die ganz vorn waren, versuchten zurückzuweichen. Aber ihre Kumpane, die sich zur zerschmetterten Tür hereinschoben, ließen dies nicht zu.

Das Donnern des Blunderbuss dröhnte in der Enge des Korridors, traf schmerzhaft auf die Trommelfelle und erstickte jeden anderen Laut. Für einen Sekundenbruchteil erhellte der kegelförmige Mündungsblitz den Raum.

Den Jungen schleuderte der Rückstoß der Waffe zwei, drei Schritte weit zurück. Sein Bruder schaffte es, ihn festzuhalten.

Markerschütternde Schreie gellten, als das gehackte Blei in den Pulk der Galgenstricke raste. Drei, vier der Gestalten kippten vornüber. Andere wälzten sich stöhnend und verkrümmt.

Doch der Rest stürmte über die Toten und Verwundeten hinweg.

Der Schuß hatte ihre Wildheit noch mehr entfesselt.

Der ältere Junge hatte das Gewehr herumgewirbelt und hielt es am Trompetenlauf. Sein Bruder klammerte sich an ihn, in seinen Augen flackerte die Furcht, und sein Mund öffnete sich zum Schrei.

Er sah noch, wie sein großer Bruder den Blunderbuss mit dem Mut der Verzweiflung niedersausen ließ. Dann war da nur noch das Blitzen der Entermesser, und die Meute ergoß sich wie eine entfesselte, wütend brüllende Flutwelle über sie.

Die Flutwelle der Marodeure brandete die Treppe hoch und prallte in die Räume des oberen Stockwerks.

Der Mann und die Frau beteten gemeinsam, eng aneinandergeschmiegt. Als sie ihm die Frau entrissen, schrie der Mann in grenzenlosem Schmerz. Doch die Kerle gewährten ihm das gnädige Ende noch nicht. Zwei von ihnen packten ihn grölend und ließen seine brennenden Augen mit ansehen, wie die anderen über seine Frau herfielen.

Dann erst, als das Leben schon fast aus den gepeinigten Menschen gewichen war, beendeten grausame Säbelhiebe die Marter.

Und weiter strömte die gierige Woge, riß Schränke und Kommoden auf, drang auf der Suche nach Wertvollem und Verwertbarem in alle Ecken und Winkel vor und schwappte schließlich brüllend wieder ins Freie.

Zurück blieb das Haus, in dem alles Leben erloschen war.

Erloschen wie die Kerze, die die Jungen in Hoffnung und Entschlossenheit aufgestellt hatten.

Arne von Manteuffel und die Männer in der Faktorei erblickten die Kerle mit dem Schaluppenmast schon, als diese am Ende der Gasse auftauchten. Systematisch nahmen sie sich ein Haus nach dem anderen vor, und jedesmal waren sie mit mehr Beutestücken behangen.

„Uns bleibt nicht mehr viel Zeit“, sagte Don Juan de Alcazar, der neben dem blonden Deutschen stand. „Wenn sich die Halunken jedes Haus vornehmen, werden sie in spätestens einer Stunde hier bei uns sein. Wie viele Waffen haben Sie zur Verfügung, Señor de Manteuffel?“

Arne wandte erstaunt den Kopf und sah den hochgewachsenen spanischen Sonderagenten an. Bis vor einer guten Stunde hatte der Mann noch flachgelegen und war von Jussuf, der guten Seele des Hauses, nach allen Regeln der Feldscherkunst versorgt worden. Auch jetzt, mit seinem Kopfverband und dem bandagierten Oberkörper, sah Don Juan noch nicht so aus, als sei er in der Lage, sich in ein Kampfgetümmel mit einer wilden Meute von Marodeuren zu stürzen.

Aber dennoch fragte er allen Ernstes nach dem Waffenbestand in der Faktorei. Entweder wollte er seine Schwäche herunterspielen, oder er war tatsächlich fest entschlossen, an den Abwehrmaßnahmen teilzunehmen.

„Ist das Ihr Ernst?“ fragte Arne verdutzt. „Sie glauben doch nicht, daß ich Ihnen einen Säbel oder eine Pistole in die Hand drücke! Sie verschwinden in Ihre Kammer, wenn es hart auf hart geht.“

Der große, schlanke Mann lächelte unter seinem Kopf verband.

„Ich widerspreche Ihnen nicht gern, denn ich weiß, was ich Ihnen schuldig bin. Und ich möchte nicht, daß Sie das Gefühl haben, ich wüßte es nicht zu würdigen. Ich glaube, ich habe mich in all dem Durcheinander noch nicht einmal richtig bedankt.“

Von Manteuffel winkte ab.

„Meine Freunde und ich haben nach unserem normalen menschlichen Empfinden gehandelt. Wir konnten beim besten Willen nicht mit ansehen, daß so ein himmelschreiendes Unrecht geschieht. Sie sind uns nichts schuldig, Don Juan.“

De Alcazar nickte bedächtig, und in seinem Blick war zu lesen, daß er sehr genau verstand, was der breitschultrige Deutsche meinte – dieser aufrechte Mann, der eben jenem so verteufelt ähnlich sah, den er, Don Juan, im Auftrag der spanischen Krone zu jagen hatte. Nur durch die Haarfarbe unterschied sich Arne von Manteuffel von dem englischen Piraten Philip Hasard Killigrew, der vom Königshaus in Madrid zum schlimmsten Feind Spaniens erklärt worden war.

„Wie dem auch sei“, sagte Don Juan. „Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet. Im übrigen sollten Sie sich um mich nicht sorgen. Ich habe mich in der kurzen Zeit schon prächtig erholt und könnte Bäume ausreißen, wie man so sagt.“

„Wenn Sie sich da nur nicht täuschen“, entgegnete Arne kopfschüttelnd.

Statt einer Antwort winkte er Jussuf und Jörgen Bruhn heran. Nach einem abermaligen Blick aus dem Fenster wandte er sich dem stämmigen Türken und dem schlanken Mann aus Hamburg zu.

„Gibt es irgendwo im Haus leere Flaschen?“ Arne achtete nicht auf den fragenden Blick Don Juans.

„Aber ja“, erwiderte Jussuf. „Unten im Keller habe ich eine ganze Menge gesehen. Aber die sind alle ziemlich staubig.“

„Je staubiger, desto besser“, sagte Arne und wechselte einen Blick mit Jörgen, der verstehend grinste. „Das bedeutet nämlich, daß sie wirklich trocken sind.“

Auf Jussufs Stirn, zwischen den Augenbrauen, entstand ein Fragezeichen.

„Komm schon“, sagte Jörgen und nahm ihn bei der Schulter. „Viel Zeit haben wir nicht, und es gibt eine Menge zu tun.“

Die beiden hasteten hinaus, und es war Don Juan de Alcazar, der den fragenden Blick des Türken fortsetzte.

„Wollen Sie die Galgenstricke mit leeren Flaschen bewerfen, Señor de Manteuffel?“

„Nicht mit leeren Flaschen“, erwiderte von Manteuffel geheimnisvoll. „Lassen Sie sich überraschen. Wenn Sie schon unbedingt etwas tun wollen, dann halten Sie hier am Fenster die Stellung und beobachten, was sich draußen abspielt. Ich bin sofort zurück.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ Arne den Raum im Obergeschoß. Vorsorglich hatte er in der Faktorei ein kleines Waffendepot eingerichtet. Doch Don Juan brauchte nicht dabei zu sein, wenn er aus diesen Vorräten das Notwendige herbeischaffte.

Die Situation war im Grund auf haarsträubende Weise widersinnig. In seinen eigenen vier Wänden beherbergte er ausgerechnet den Mann, der seinen Vetter Hasard zur Strecke bringen wollte. Damit nicht genug, hatte er Don Juan nun schon zum dritten Male das Leben gerettet. Bisweilen hatte sich Arne schon gefragt, ob er dadurch nicht die Wege für ihn ebnete, damit dieser die Jagd auf den Seewolf eröffnen konnte.