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PHILIP LE ROY

DIE GOLDENE
PFORTE

Aus dem Französischen
von Christiane Seiler

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Die französische Originalausgabe ist 2014 unter dem Titel
La porte du Messie bei le cherche midi, Paris, erschienen.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger
Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.
Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1.Auflage

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesetzt aus der Minion Pro, Boy, Laika

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Redaktion: Annette Krüger, Hamburg

Inhalt

Anmerkung des Autors

Vorwort

Prolog

BUCH I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

BUCH II

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

BUCH III

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

BUCH IV

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

BUCH V

Kapitel 29

BUCH VI

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

BUCH VII

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

BUCH VIII

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

BUCH IX

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

BUCH X

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

BUCH XI

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Epilog

Dank

Ausgewählte Literatur

Die Pforte des Messias, auch Goldene Pforte genannt, ist eines der acht Tore in der Festungsmauer der Jerusalemer Altstadt. Früher, bevor Süleyman der Prächtige sie im Jahr 1541 zumauern ließ, gab es durch sie einen direkten Zugang auf den Tempelberg, oder auch: das Edle Heiligtum. Die christliche Überlieferung besagt, dass Jesus durch diese Pforte in Jerusalem Einzug hielt. Der jüdischen Überlieferung zufolge wird der Messias auch durch diese Pforte kommen. Deshalb haben die Muslime sie zugemauert und ihren Friedhof unmittelbar davor angelegt; sie wussten, dass kein Hohepriester einen derartigen Ort durchqueren kann. Erst am Ende der Zeiten soll sich diese Pforte wieder öffnen.

Anmerkung des Autors

Juli 2013, Buchmesse in Porto-Vecchio. Eine verschleierte Frau kommt auf meinen Stand zu, eine Tasche fest an ihre Brust gepresst. Ihr schwarzer Blick wirkt hypnotisch. Die Frau ist nicht wegen einer Widmung hier. Sie behauptet, sie sei im Besitz von Informationen, die die Welt verändern könnten, und ausgerechnet mich habe sie für deren Enthüllung auserwählt. Sie sei vollkommen mittellos, ihre Tage seien gezählt. Kann ich ihre Behauptungen ernst nehmen? Misstrauisch schlage ich vor, sie mit einer Journalistin in Kontakt zu bringen, der könne sie sich anvertrauen. Statt einer Antwort lässt sie die Tasche auf meinem Tisch liegen und entfernt sich schnell. Unmöglich, die Frau in der Menschenmenge einzuholen.

Vorsichtig öffne ich die Tasche.

Wie brisant der Inhalt ist, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Ich sehe unzusammenhängende Notizen, Hefte, Berichte, Kopien, Speicherkarten … Ich stelle alles auf dem Boden ab und versuche, den Vorfall zu vergessen.

Beim Abendessen erzähle ich dem Theologen Guillaume Hervieux davon, mit dem ich befreundet bin. Er ist bereit, sich anzusehen, was mir die seltsame Frau da vermacht hat. Wir kehren nach dem Essen ins Hotel zurück, ich zeige ihm die Tasche und verteile ihren Inhalt auf dem Bett. Er schlägt vor, ich solle ihm das alles über Nacht dalassen, damit er es prüfen könne.

Als ich ihn am nächsten Morgen wiedersehe, hat er keine Minute geschlafen. Seine Augen funkeln: »Was diese Frau dir gegeben hat, wird die Geschichte und vor allem die Zukunft der Menschheit verändern!«, sagt er begeistert.

Bevor wir jedoch die Erkenntnisse, die in den schriftlichen Notizen und Computerdateien enthalten sind, publizieren können, müssen wir das gesamte Material analysieren, seine Authentizität überprüfen und die Ereignisse samt ihrer Chronologie rekonstruieren.

Zu zweit können wir die Aufgabe nicht bewältigen. Deshalb ziehen wir unter dem Siegel der Verschwiegenheit einige Wissenschaftler ins Vertrauen, bilden eine Arbeitsgruppe, lassen alle anderen Arbeiten ruhen und widmen uns ganz der eingehenden Sichtung dieser Informationen. Wir gehen sehr behutsam vor, denn unsere Entdeckungen stellen den Ursprung der weltweit am zweithäufigsten praktizierten Religion infrage. Bis heute hat sich, abgesehen von einer Handvoll mutiger Orientalisten und einiger Verfasser schwer lesbarer Doktorarbeiten, niemand an diese Forschung herangewagt.

Schritt für Schritt rekonstruiere ich bis ins kleinste Detail die unglaublichen Ereignisse, die die verschleierte Unbekannte zu mir geführt haben. Sie bringen den ungewöhnlichen Lebensweg eines Mannes zutage, den wir hier Simon nennen wollen. Seine zahlreichen Notizen (ein kurzer Auszug daraus leitet jedes der folgenden Kapitel ein) sowie die Aufzeichnungen der Frau, die wir Sabbah taufen wollen, sind mir eine unverzichtbare Hilfe. Guillaume prüft das Romanmanuskript Kapitel für Kapitel auf historische und theologische Genauigkeit.

Entsprechend dem Wunsch der Unbekannten liegt das Buch nun zur Veröffentlichung vor.

Es kann nur einen Titel tragen: Die Goldene Pforte.

Nie habe ich die Unbekannte mit den schwarzen Augen wiedergesehen. Ich weiß nicht, ob sie noch lebt. Dieses Buch ist ihr gewidmet.

Aus Gründen der Sicherheit habe ich die Namen bestimmter Personen und Orte verändert. Auch mehrere Daten wurden geändert. Einige wenige Punkte blieben noch im Dunkeln. Künftige Ereignisse werden ihre Aufklärung bringen …

Philip Le Roy

Vorwort

»Die Wahrheit wird euch frei machen«, sagte Jesus. Aber die Wahrheit flößt auch Angst ein, weil sie Glaubensgrundsätze erschüttert und die herrschenden Mächte ins Wanken bringt.

Spinoza, der Prinz der Philosophen, erschütterte zu seiner Zeit die Grundfesten des Judentums, weil er der Bibel ihren Status einer Moses durch Gott diktierten Offenbarung absprach.

In jüngerer Vergangenheit war es der Erfolg des Romans Sakrileg, der in Gestalt von Jesu Verlobter Maria Magdalena das lange verleugnete weibliche Element des Heiligen zu neuem Leben erweckte. Die katholische Welt bebte; gibt es nun überhaupt noch einen Grund für das priesterliche Zölibat?

Mit Die Goldene Pforte befinden Sie sich nun, lieber Leser, in der unmittelbaren Gegenwart. Es ist an der Zeit, die letzten Geheimnisse ans Licht zu bringen. Es geht um den Islam.

Wir sind uns bewusst, dass wir ein Risiko eingehen, wenn wir die Erkenntnisse, die uns anvertraut wurden, in dieser Form veröffentlichen. Auch Sie, lieber Leser, begeben sich in Gefahr, wenn Sie diese Seite umblättern: Vielleicht werden Ihre Gewissheiten ins Wanken geraten. Sollten Sie dazu nicht bereit sein, schlagen Sie das Buch lieber zu.

Guillaume Hervieux

Prolog

»Ich kann mich nicht erinnern, wie das alles begann. Aus nächster Nähe erlebte ich die schlimmsten Taten, zu denen die Menschheit fähig ist.«

An jenem lauen Sommerabend 1983 in Beiruts Achrafieh-Viertel geriet der Krieg, der den Libanon seit 1975 zerriss, fast in Vergessenheit. Über die Rue Monnot, die Demarkationslinie zwischen Christen und Muslimen, schlenderten sorglose Spaziergänger. Wer von ihnen etwas mehr Geld in den Taschen hatte, steuerte die elegante und einladende Fassade des Restaurants »La Table de Paris« an. Hinter seinen von bunten Lampions umrahmten Schaufenstern ahnte man französische Lebensart. Ein Kellner geleitete die Gäste formvollendet durch den Saal in einen Innenhof und wies ihnen den auf ihren Namen reservierten Tisch zu. Verführerisch duftende Teller schwebten vorbei, zum kristallischen Plätschern eines Springbrunnens und den Akkordeonklängen eines libanesischen Musikanten mit Baskenmütze. »Erinnerungen rufen dich wie alte Freunde …«, sang der Musiker. Unter den meist französischen Gästen befand sich auch der berühmte Journalist Henri Lombardi in Begleitung der Liebe seines Lebens: Leila. Er hatte dieses romantische Diner zur Feier ihres vierten Hochzeitstages arrangiert. Ihre wächserne Hochzeit, hatte Leila beim Schein einer Kerze, deren Flamme sich in ihren schwarzen Augen spiegelte, gesagt. Ein rotes Schmuckkästchen stand auf der weißen Tischdecke, neben dem goldenen Kerzenleuchter. Es bewahrte einen antiken Ring mit einem schwarzen, diamantgefassten Opal, einen Ring, der einmal einer ägyptischen Prinzessin gehört hatte; sein Glitzern war wie das Leuchten von Leilas Augen. Das überaus kostbare Geschenk konnte doch die große Liebe, die Henri für Leila empfand, nicht aufwiegen.

»Ich erinnere mich an die Melodie, ihre vier Noten erklingen überall«, trällerte der Sänger neben dem Springbrunnen.

Diese vier Noten, die die Paare zum Walzer einluden, sollte Henri nie mehr vergessen. Er legte seine Hand auf die Hand seiner Frau, die ihm das bezauberndste Lächeln der Welt schenkte. Gleichzeitig behielt sie das zweijährige Kind im Blick, das zwischen den flinken Beinen der Kellner herumwuselte. Ihr frühreifer Sohn konnte bereits seit seinem achten Lebensmonat laufen und forderte daher ständige Aufmerksamkeit. Die Babysitterin war in letzter Minute verhindert gewesen, deshalb hatten die beiden ihr Kind mitnehmen müssen. Der Kleine spielte in einer Ecke des Innenhofs mit einem Kätzchen. »Es ist doch schön, dass wir die Frucht unserer Liebe mitnehmen, wenn wir unseren Hochzeitstag feiern«, hatte Leila gesagt, die in allem immer das Gute sah.

Sie hatte ebenfalls eine Überraschung für Henri mitgebracht, eine kostbare Gabe.

»Ich habe auch etwas für dich, mein Liebster.«

Henri sah sie aufgeregt und gespannt an.

Der Akkordeonspieler ging zu den beiden Liebenden hinüber und unterbrach ihr Tête-à-Tête mit dem Schluss seines Liedes:

Im Herzen trage ich

ein Lied …

Die letzten Töne klangen seltsam disharmonisch.

Der Musiker schwankte, als wäre ihm plötzlich schwindelig geworden.

Henri bemerkte, dass er unnatürlich schwitzte.

Auf seinem Gesicht sah er eine ausdruckslose Maske.

Er sah den Tod.

Es ist das Lied meiner Jugend

Allahu Akbar!

Die Explosion war stark und todbringend.

Dann folgte Stille.

Schreie.

Weinen.

Gebete.

Hass.

Dreißig Jahre später

BUCH I

»Dreißig Jahre musste ich warten, bis ich mir die Frage stellte: Wer bin ich? Manche Menschen sind bereit zu töten, um die Antwort herauszufinden.«

1

Simon warf ein paar Fünfzig-Schekel-Scheine zwischen die leeren Gläser. Um die düsteren Gedanken zu vertreiben, war ihm nichts Besseres eingefallen, als sich zu betrinken. Der gewaltsame Tod seiner Eltern, der erschütternde Brief, den sein Vater hinterlassen hatte, die nutzlose Reise nach Israel, das alles hatte ihn animiert, an mehreren Theken von Jerusalem Ablenkung zu suchen, immer in Begleitung seines neuen Freundes Markus, der ihm beim Trinken Gesellschaft leistete. Als Simon sich vom Tresen entfernen wollte, rempelte er ein junges Paar an. Entschuldigungen und seine offensichtliche Trunkenheit verhinderten einen Streit, und Markus lotste ihn ohne weitere Zwischenfälle aus der Hiero-Bar heraus.

»Wenn du einen Typen in Begleitung seiner Frau beleidigt hast, musst du dich immer entschuldigen«, brabbelte Simon. »Vor allem, wenn die betreffende Frau hübsch ist.«

»Sogar besoffen kannst du dich noch tadellos benehmen.«

»Bei den Buddhisten habe ich Mitgefühl gelernt.«

»Mitgefühl mit einem jungen Paar?«, staunte Markus.

»Ein Paar, das sich bald hoffnungslos zerstreiten wird.«

»Solche Sprüche zeigen, dass du nicht bereit bist, eine Familie zu gründen, mein Freund.«

»Meine Ruhe habe ich in der Meditation gefunden und in einem Leben am Rand der Gesellschaft. Das müsste ich alles aufgeben, wenn ich eine Familie gründe.«

»Und was, wenn du dich verliebst?«

»Liebe ist ein destruktives Gefühl. Denk nur daran, wie Carmen diesen armen Don José verhext hat.«

Simon stimmte Georges Bizets berühmte Habanera an:

Die Liebe von Zigeunern stammet,

fragt nach Rechten nicht, Gesetz und Macht …

Markus fiel mit ein, und die beiden Männer setzten aus voller Kehle singend ihren Weg fort. Ihr Krakeelen hallte von Jerusalems uralten Mauern wider, die in ihrer zweitausendjährigen Geschichte schon manches dergleichen erlebt hatten. Beflügelt vom Alkohol brachten die beiden Männer ihr Duett vor einer Gruppe verwirrter Touristen dar, die vorsichtig den Rückzug antraten. Markus bog in eine Gasse ein, die geradewegs zum Tempelberg führte. Simon torkelte hinterher. Sie warfen sich in die Brust und schmetterten Bizets Worte gen Himmel.

Liebst du mich nicht, bin ich entflahahahammet,

Und wenn ich lieb, nimm dich in Acht.

Ein kleiner korpulenter Mann mit schwarzem Hut bat sie, leiser zu sein und woanders weiterzugrölen.

»Nimm dich in Acht!«, posaunte Simon und bohrte ihm den Zeigefinger in die Brust.

Markus besänftigte seinen Kumpel und erklärte dem wohlgenährten verärgerten Passanten:

»Mit einem Betrunkenen streitet man nicht, mein Freund.«

»Das ist mir egal, und Ihr Freund bin ich erst recht nicht. Ich rufe jetzt die Polizei.«

Er griff nach seinem Handy. Simon schwankte vor und zurück und hauchte dem Dicken seinen Whisky-Atem ins Gesicht:

»Na! Schon mal Drachenatem gespürt?«

Er zog ein Feuerzeug aus der Tasche und drohte, es vor seinem Mund zu entzünden. Der Mann wich erschrocken zurück und beschimpfte die beiden als Verrückte. Sie krümmten sich vor Lachen und vor Übelkeit. Simon beugte sich noch weiter hinab zum Boden und hob ein Portemonnaie auf. Schwankend kam er wieder hoch und hielt den Mann mit dem schwarzen Hut fest.

»Sie haben da was verloren!«, rief er.

Der Mann nahm seinen Besitz entgegen, stammelte beschämt »Danke« und machte, dass er fortkam.

»Der hatte aber Glück, dass er an dich geraten ist!«, rief Markus und ging zu Simon.

»Ich habe das Portemonnaie fallen lassen, als ich es klauen wollte. Eigentlich bin ich ein guter Taschendieb … wenn ich nüchtern bin.«

»Warum wolltest du den Kerl beklauen?«

»Damit er sich bedankt, nachdem er mich beschimpft hat. Nur wegen der Harmonie.«

»Du hast ihn total verblüfft, er hat wirklich geglaubt, du würdest Feuer spucken, wenn du auf dein Feuerzeug pustest.«

»Wenn du zehn Jahre alten Talisker getrunken hast, geht das ohne Probleme!«

»Quatsch, du verkohlst dir nur die Nasenhaare.«

»Ich wette zwanzig Euro.«

»Top!«

Hände klatschten gegeneinander. Das Rädchen am Feuerzeug drehte sich. Funken sprühten. Feuerstoß. Die Flamme erleuchtete alles ringsum.

Markus sah eher verschreckt als ungläubig aus und beglich zitternd seine Schuld.

»Was hast du denn?«, fragte Simon.

»Feuer. Das mag ich nicht.«

Er zeigte ihm seine halb verbrannte rechte Hand.

»Grillunfall«, sagte er.

Simon hatte die schlimme Verbrennung schon vorher bemerkt, aber taktvoll jede Anspielung darauf vermieden.

»Hab zu viel Flüssigkeit getrunken«, sagte Simon, um das Thema zu wechseln. »Ich muss pissen.«

»Ich auch.«

Die beiden Nachtschwärmer gingen aufs Geratewohl weiter, auf der Suche nach einem geeigneten stillen Örtchen. An einer Festungsmauer stellten sie sich in strammer Haltung nebeneinander auf, reckten das Kinn zu den Sternen und öffneten den Hosenschlitz.

»Darf ich dir was anvertrauen?«, fragte Markus.

»Na ja, aber vorsichtig. Ich mache gerade eine schwierige Phase durch.«

»Du pisst auf einen Kadaver.«

Simon schreckte zurück, bespritzte seine ausgetretenen Schuhe und starrte auf die Gestalt, die an der Festungsmauer lag.

»Das ist ein Pekinese«, sagte Markus. »Ein Pekinese?«

»Ein Hund.«

»Besten Dank, ich weiß, was ein Pekinese ist. Du hast mir einen Heidenschreck eingejagt!«

Sie gingen weiter, immer schön gerade an den Festungsmauern entlang.

»Was hast du sonst noch drauf, außer Taschendiebstahl, Feuerspucken und auf Köter pissen?«, spöttelte Markus.

Sie schlenderten ziellos weiter und zählten dabei Simons viele Talente auf. Der prahlte, er könne die Herzdame unter zweiundfünfzig verdeckten Spielkarten erraten, einen Löffel auf der Nase balancieren und einen Kirschstiel mit der Zunge verknoten.

»Alles sehr nützlich«, meinte Markus.

»Ich bin ein Alleinunterhalter!«

»Hast du noch mehr drauf?«

»Ich kann die Beine hinter dem Nacken kreuzen und die Laterne über deinem Kopf austreten. Aber das ist eine Kampftechnik, die ich in einem chinesischen Kloster gelernt habe, und keine besondere Gabe.«

»So blau, wie du bist, schlägst du lang hin, bevor du nur einen Zeh gerührt hast.«

»Ich kann auch Tote wiederbeleben«, behauptete Simon und stolperte über ein Grab.

Sie hatten den Friedhof vor der Goldenen Pforte erreicht. Unter Markus’ Gelächter rappelte sich Simon stoisch wieder auf, stützte sich auf eine Stele, brabbelte eine Beschwörungsformel und endete mit einem Hickser. Plötzlich lag der in Mondlicht getauchte Ort totenstill da. Nicht das kleinste Geräusch störte die Ruhe des Friedhofs.

Dann tönte Markus’ Schrei bis zur Klagemauer hinüber.

Ein Grabstein bewegte sich.

Ein Tier von der Größe einer dicken Katze kam hinter einem Tonkrug hervor und huschte in Richtung eines zerfallenen Grabmals. Markus verstummte vor Schreck. Simon prustete los und mimte mit wedelnden Armen einen lebenden Toten. Markus wies ihn zurecht, er solle den Mund halten und die Ruhe der Verstorbenen, die unter ihren Füßen ruhten, respektieren. Sein Blick strich über die riesige Mauer, die sie vom Felsendom trennte, und blieb an der Goldenen Pforte hängen, wo einst ein Durchgang gewesen war.

»Weißt du, dass durch diese Pforte der Messias zurückkehren wird?«, sagte er zu dem schwankenden Zombie an seiner Seite.

»Jaaa, aber die Propheten haben nicht vorausgesehen, dass Süleyman die Tür zumauern würde, um genau das zu verhindern.«

»Und wenn es jemand trotzdem schafft?«

»Was? Durch diese meterdicke Mauer zu gehen?«

»Dafür musst du mehr draufhaben als ein Alleinunterhalter.«

»Ich hab’s noch nie ausprobiert.«

»Lass es, das ist eine schlechte Idee.«

»Wer wagt, gewinnt.«

»Wir müssen zurück.«

»Ich wette noch mal zwanzig Euro.«

Simon hielt Markus die Hand hin, damit er einschlug.

»Lass das, Simon.«

»Solange du nicht einschlägst, kriegst du mich hier nicht weg.«

»Du spinnst. Du bist total blau.«

»Der blaue Spinner, mein neuer Spitzname.«

»Bitte, wenn du dir unbedingt den Schädel einrennen willst … Dein Problem.«

»Alkohol ist ein sehr gutes Betäubungsmittel.«

»Das wird dich zwanzig Euro und eine Migräne kosten.«

»Top!«

Sie schlugen ein. Simon schloss die Augen. Während er sich allem Anschein nach in tiefste Konzentration versenkte, schaltete Markus sein Handy an und aktivierte die Video-Funktion. Simon stand völlig still. Er schnarchte! Markus rüttelte ihn, worauf beide Männer das Gleichgewicht verloren.

»Bravo, du kannst im Stehen einschlafen. Aber darauf haben wir nicht gewettet.«

»Ich bündele meine Energie.«

Simon ließ die Arme sinken, hob das Kinn und eierte auf die vermauerte Pforte zu.

Ein Soldat, der ihnen bisher nicht aufgefallen war, vielleicht weil er in einer Ecke gedöst hatte, sprach den Mann an, der sich dem Tor näherte. Simon hörte nicht auf die Warnungen, beschleunigte seinen Schritt, ging jetzt vollkommen gerade, ohne zu torkeln, ignorierte Ermahnungen, Befehle und schließlich den Schuss. Dann herrschte Stille.

Markus hob den Blick vom Display seines Telefons und starrte auf die Pforte des Messias. Simon war verschwunden.

2

Simon schreckte hoch, lautes Schnarchen hatte ihn geweckt. Als er die Augen aufschlug, durchfuhr ein stechender Schmerz seinen Kopf. Er kniff die Augen zusammen und bemerkte, dass er auf einer Pritsche mit brettharter Matratze lag. Da er in dem kerkerartigen Raum ganz allein war, konnte ihn nur sein eigenes Schnarchen aus dem Schlaf gerissen haben. Im Zeitlupentempo, damit das Pulsieren hinter seiner Stirn nicht noch stärker wurde, richtete er sich auf und schleppte sich zur Tür. Versperrt. Er klopfte gegen eine verglaste Stelle der Wand, um die Aufmerksamkeit des Uniformierten auf der anderen Seite auf sich zu lenken. Der Polizist grunzte und griff nach dem Telefon. Simon nahm an, dass der Beamte seinen Vorgesetzten anrief. Sinnlos, sich aufzuregen, im Gegenteil. Man hatte ihn in eine Ausnüchterungszelle gesteckt, und der beste Weg, so schnell wie möglich hier rauszukommen, war, einen möglichst nüchternen Eindruck zu erwecken.

Simon machte ein paar Atemübungen, um den Kopfschmerz, der ihn am Denken hinderte, zu lindern. Er musste sich erinnern. Wie war er in dieser Zelle gelandet? Wo war Markus?

Er wusste noch, dass er mit seinem Freund trinkend durch mehrere Jerusalemer Bars gezogen war, dass sie dann durch die Gassen der Altstadt geirrt waren und eine Opernarie gesungen hatten. Der Rest der Nacht versank im Nebel. Markus wusste sicher mehr darüber.

Ein Schatten huschte über die verglaste Trennwand. Das Schloss klapperte zweimal, dann erschien ein Polizist in der Türöffnung, der ihn auf Englisch anherrschte und ihn am Arm packte, für den Fall, dass er seiner Aufforderung nicht Folge leistete. Dann sagte er etwas zu seinem wachhabenden Kollegen, der ihm ein Formular zum Unterschreiben hinschob.

Sie gingen den Gang der Polizeiwache entlang, in dem so viel Betrieb herrschte wie in einer amerikanischen Serie. Simon wurde in das Büro des Vorgesetzten geführt, der am Telefon hing. Über eine Wand aus Aktenordnern hinweg forderte der Beamte ihn wortlos auf, Platz zu nehmen. Rasiertes Haupthaar, schwarze Augen, Hemdsärmel über zwei kräftigen Unterarmen hochgekrempelt – der Polizist sah eher aus wie ein Soldat. Er beendete das Telefongespräch auf Hebräisch und sprach Simon auf Englisch an.

»Hauptmann Ziv«, stellte er sich vor.

»Simon Lange.«

»Ich weiß, wie Sie heißen. Ich weiß auch, dass Sie Franzose sind, in Beirut geboren, dreißig Jahre alt, wohnhaft in Paris. Wir wissen auch, dass Sie bis morgen in Jerusalem bleiben.«

Der Hauptmann zeigte mit dem Finger auf seine Informationsquelle, einen französischen Pass neben einem Handy, das er nicht zum Schweigen bringen konnte. Dann sagte er weiter:

»Was wir allerdings nicht wissen, ist, wie Sie es geschafft haben, vergangene Nacht auf den Tempelberg zu kommen.«

»Ganz ehrlich, das weiß ich auch nicht«, erwiderte der Angesprochene und massierte sich die schmerzenden Schläfen.

»Sie wurden in unmittelbarer Nähe des Felsendoms im Zustand erheblicher Trunkenheit verhaftet. Ich frage Sie noch einmal: Wie sind Sie dorthin gelangt?«

»Sie haben doch selbst gesagt, dass ich betrunken war. Ich kann mich an nichts erinnern. Was ist mit Markus passiert?«

»Wer ist Markus?«

»Mein Freund. Er war mit mir zusammen.«

»Markus und weiter?«

»Das weiß ich nicht.«

»Sie wissen nicht, wie Ihr Freund heißt?«

»Ich habe ihn erst vor ein paar Tagen kennengelernt, beim Begräbnis meiner Eltern. Wir mögen uns. Ich wohne bei ihm, hier in Jerusalem.«

Ziv machte sich einige Notizen, darunter auch Markus’ Adresse, die Simon ihm mitteilte.

»Aus welchem Grund sind Sie in Jerusalem?«

Simon zog es vor, ihm den wahren Grund seiner Anwesenheit in der Heiligen Stadt zu verschweigen.

»Ich reise immer herum, habe keinen festen Wohnsitz. Die Adresse im Pass ist die Adresse meiner Eltern.«

»Wovon leben Sie?«

»Dies und das, manchmal arbeite ich in den Communitys, die mich aufnehmen. Gelegentlich unterrichte ich Sprachen, Kampfsport …«

»Mit Alkoholkonsum lässt sich das aber schlecht vereinbaren.«

»Ich musste in letzter Zeit ein paar schlechte Nachrichten verkraften. Auch den Tod meiner Eltern.«

»Sind Sie ein Aktivist?«

»Nein, ich bin in Trauer, Herr Hauptmann. Bloß in Trauer.«

»Meinen Sie nicht auch, dass wir im Augenblick genug zu tun haben, mit den vielen Attentaten, der neuen Intifada, den Erdbeben hier in der Region?«

»Was hat das mit mir zu tun?«

»Dass ich auch so schon genug Sorgen habe und keinen Ärger mit der französischen Botschaft brauchen kann.«

Der Polizist hielt ihm den Pass hin, gab ihn aber nicht aus der Hand, bevor er mit seiner Moralpredigt fertig war:

»Für die Zukunft kann ich Ihnen nur raten, sich vom Tempelberg fernzuhalten und Ihren Alkoholkonsum einzuschränken.«

»Keine Sorge.«

»Wenn ich mir keine Sorgen machen würde, wäre ich nicht Bulle geworden, sondern Rabbi. Bei der kleinsten Verfehlung werde ich Sie einlochen, ob Sie nun Franzose sind oder nicht.«

Endlich ließ der Hauptmann Simons Pass los.

»Und verpassen Sie morgen Abend auf keinen Fall Ihr Flugzeug.«

3

Simon verließ Ostjerusalem und begab sich zur Altstadt unterhalb des Tempelbergs, der auch als Edles Heiligtum bekannt ist, weil sich dort der Felsendom und die Al-Aqsa-Moschee befinden. Dort hatte man ihn mitten in der Nacht aufgegriffen. Durch welchen Taschenspielertrick war es ihm gelungen, in dieses lückenlos überwachte Heiligtum des Islam einzudringen, dessen Zutritt streng beschränkt wurde?

Simon hoffte auf Erklärungen von Markus, der sich seit ihrer Sauftour vom Vorabend nicht mehr gemeldet hatte. Er betrat die Altstadt durch das Löwentor und hatte dabei das unangenehme Gefühl, dass ihm jemand folgte. Einige Male sah er sich um und bemerkte einen grauhaarigen Mann, der offenbar Abstand hielt. Um den Verfolger abzuschütteln, mied Simon den direkten Weg in das christliche Viertel, wo sein Freund wohnte. Die Jerusalemer Altstadt war unterteilt in ein muslimisches, ein christliches, ein armenisches und ein jüdisches Viertel und von einer Steinmauer mit acht riesigen Toren umgeben. Das einzige Tor, das direkt auf den Tempelberg führte, war seit mehr als fünf Jahrhunderten zugemauert. Nicht-Muslime durften den heiligen Bezirk nur über eine hölzerne Brücke betreten, die derzeit renoviert wurde.

Den Kopf voller Fragen, tauchte Simon in den Souk ein, der seine Sinne mit Farben, Gerüchen und Klängen bezauberte. Einer Beduinenfrau, die in einer Wolke aus arabischer Musik und duftenden Gewürzen hockte, kaufte er drei Granatäpfel ab. Er musste seinen Kater und den üblen Nachgeschmack des Whiskys bekämpfen. Er brach eine Frucht mit den Fingern auf, ließ einige der leuchtend roten Samen herausspringen und biss auf die saftigen Kerne, die auf seiner Zunge zerplatzten. Eine Dosis Vitamin C würde ihm helfen, seine Gedanken zu ordnen.

Er fand die steile Gasse wieder, die zu Markus’ Haus führte. Sein Freund wohnte im zweiten Stock eines kleinen Steinhauses, an das hinten ein gepflasterter Hof angrenzte.

Simon klopfte an Markus’ Wohnungstür. Sie war offen, das Schloss aufgebrochen. Er stieß die Tür auf und sah das verwüstete Zimmer. Die Möbel waren umgestoßen, das Sofa aufgeschlitzt, Bücher lagen, vermischt mit dem Inhalt der Schubladen, über den ganzen Boden verstreut. Simon überzeugte sich rasch, dass Markus nicht in irgendeiner Ecke der kleinen Zweizimmerwohnung lag. Vergeblich rief er nach seinem Freund und bemerkte erst dann, dass dessen Reisetasche und Toilettensachen fehlten.

Unter den auf dem Parkett verstreuten Papieren entdeckte er eine Buchungsbestätigung der Lufthansa. Markus hatte den Morgenflug nach Berlin genommen. Simon steckte den Zettel ein und bemerkte plötzlich, dass er beobachtet wurde. Eine dicke Frau in Kittelschürze und Pantoffeln stand auf der Türschwelle, vor Schreck legte sie die Hände über den Mund. Er ging auf die Nachbarin zu, die weglief und um Hilfe schrie.

Er sah zwei Möglichkeiten. Entweder er wartete auf die Bullen, verstrickte sich in erneute Rechtfertigungen und riskierte, in Hauptmann Zivs Augen endgültig als Unruhestifter dazustehen. Oder er machte sich so schnell wie möglich aus dem Staub, um mit etwas Abstand die Abfolge unerklärlicher Ereignisse zu betrachten, mit denen er es zu tun bekam, seit er israelischen Boden betreten hatte.

Simon schnappte sich seinen aufgerissenen Rucksack, überprüfte, ob sich sein libanesischer Pass, seine Travellerschecks und sein Flugticket immer noch unter dem Bodenfutter befanden, raffte hastig seine überall verteilten Sachen zusammen und warf einen Blick in den Hausflur. Die Nachbarin hatte sich Verstärkung geholt, in Gestalt eines breitschultrigen jungen Mannes und eines Alten, der sicher schon viele Kriege hinter sich hatte. Simon trat den Rückzug an und steckte den Kopf aus dem Fenster. Zu hoch zum Springen. Zwei Männer in hellen Anzügen sahen zu ihm hoch. Als sie ihn bemerkten, eilten sie über den Hof und ins Haus. Simon verließ die Wohnung und stieß gegen den jungen Stämmigen, der ihn auf Hebräisch ansprach.

»Wo ist Markus?«, fragte Simon ihn.

»Du, bleib stehen!«, befahl der Alte hinter dem Rücken des Jungen hervor.

Simon blickte nach links. Schritte im Treppenhaus kündigten das Erscheinen der beiden Männer im hellen Anzug an. Er musste schnell denken, noch schneller handeln. Er wich zurück, schlug die Tür zu, warf seinen Rucksack in den Hof. Die Nachbarn drückten die Tür auf und stürzten in Richtung des geöffneten Fensters. Einer zeigte auf den Rucksack. Hinter ihnen schlüpfte Simon hinter der Tür hervor, floh in den Flur und stieg zum dritten Stock hoch. Dort gab es eine Dachterrasse, Markus hatte ihn einmal mit dort hinaufgenommen, um ihm den Ausblick auf die Kuppeln der Grabeskirche zu zeigen. Simon kletterte über die Brüstung, landete krachend auf dem Ziegeldach darunter, sprang auf einen Mauerbogen, der die Gasse überbrückte, und hielt sich an den Kabeln fest, die über der Mauer verlegt waren. Er schwang sich an der elektrischen Liane hinunter, landete auf einer mit Einkäufen beladenen Frau, rappelte sich, auf einer Obst- und Gemüsekaskade ausrutschend, hoch, hastete zu seinem Rucksack und verschwand unter den lauten Beschimpfungen der Hausfrau.

4

Simon rannte durch labyrinthische, von Buden gesäumte Gassen, in denen eine bunt gemischte, aus allen vier Ecken der Welt stammende Menschenmenge auf den Beinen war. Er lief unter einer Arkade hindurch und gelangte auf einen quadratischen Platz, auf dem sich entschieden zu viele Menschen befanden.

Hinten stand die Grabeskirche.

Er tauchte in die Menge ein und mischte sich unter eine Pilgergruppe, die in dieselbe Richtung unterwegs war wie er selbst, trennte sich von ihr direkt am Kircheneingang, stieg über einen Bettler und verschwand durch einen im Vergleich zu den Proportionen des Gebäudes erstaunlich schmalen Durchgang im südlichen Querschiff. Nachdem er sich versichert hatte, dass niemand ihm folgte, bog er nach links ab, in Richtung der Rotunde.

Über der Rotunde wölbte sich die größte der beiden Kuppeln. In ihrer Mitte stand eine Ädikula, eine Art massiver Sarkophag, in dem sich das Grab Jesu befand.

In diesem Heiligtum des Glaubens und der Hoffnung fühlte Simon sich in Sicherheit. Er hatte auf mythischem Boden Zuflucht gefunden, im Allerheiligsten der gesamten Christenheit. Die übergroße Kirche barg sowohl Golgatha, die Kreuzigungsstätte, als auch Jesu Grab. Auf den Steinen des Heiligen Grabes waren die letzten Stationen des Leidens Christi dargestellt: Kreuzigung, Grablegung und Auferstehung. Das christliche Flämmchen, das in der riesigen Leere, die Simon mit Mühe in seinem Inneren geschaffen hatte, nur noch müde flackerte, flammte wieder auf. Der Instinkt hatte ihn in diese Kirche geführt, weil Markus mit ihr besonders verbunden war. Sechs religiöse Gemeinschaften teilten sich diesen heiligen Ort. Zu welcher gehörte Markus, zu den armenischen Apostolikern, den römischen Katholiken, den Kopten, den griechischen, äthiopischen oder syrischen Orthodoxen?

Simon machte sich auf die Suche nach dem Vertreter einer Glaubensgemeinschaft, der seinen Freund kennen konnte. Aus der koptischen Kapelle kehrte er unverrichteter Dinge zurück, hatte aber bei den Syrisch-Orthodoxen hinter der Rotunde mehr Glück. Ein Priester war dort mit dem Sortieren der Gebetbücher beschäftigt. Simon sprach ihn an und beschrieb Markus: älter als er selbst, groß, kräftig, gesprächig, schwarzer Bart und schwarzes Haar, rechte Hand halb verbrannt.

Zwar erklärte Vater Clemens ihm zunächst, seine Glaubensgemeinschaft zähle weltweit zweieinhalb Millionen Gläubige, wie solle er da die Namen und Gesichter aller seiner Schäfchen im Kopf behalten?

»Aber Markus ist ein sehr auffälliges Schaf, das in Jerusalem wohnt«, brachte Simon vor, der die Späße seines Freundes nicht vergessen hatte.

»Und deshalb erinnere ich mich auch an ihn.«

»Also kennen Sie ihn!«

»Ich sagte, ich erinnere mich an ihn. Das heißt nicht, dass ich ihn kenne.«

»Was wissen Sie über ihn?«, fragte Simon ungeduldig.

»Einmal hat Markus sich mit einem Araber angelegt, der in unserer Kapelle randalierte. So habe ich ihn kennengelernt. Ein charismatischer und impulsiver Mann. Unberechenbar. Mal kommt er regelmäßig zum Sonntagsgottesdienst, dann wieder ist er für mehrere Monate verschwunden. Ich habe ihn seit drei Wochen nicht gesehen.«

»Wo kann man ihn finden, wenn er ›verschwindet‹?«

»Das habe ich mich auch schon gefragt.«

»Und haben Sie eine Antwort gefunden?«

»Merkwürdig, dass Sie nicht mehr über ihn wissen, wo Sie doch befreundet sind.«

»Wir kennen uns erst seit einer Woche. Markus hatte noch keine Zeit, mir sein ganzes Leben zu erzählen. Aber ich mache mir Sorgen, weil er so plötzlich verschwunden ist. Gestern Abend war ich noch mit ihm zusammen.«

»Hören Sie mal, Herr …?«

»Simon Lange.«

»Ich weiß nicht«, der Priester zögerte. »Markus ist ein Dickschädel, er macht sich viele Feinde. Zu seiner Sicherheit will ich lieber nicht zu viel sagen.«

»Sie verstehen mich nicht. Ich suche ihn, um ihm zu helfen.«

»Sie sollten es in Berlin versuchen.«

Simon dachte an die Buchungsbestätigung der Lufthansa, die er in Markus’ Wohnung gefunden hatte. Er war auf der richtigen Fährte.

»Das liegt nicht gerade um die Ecke«, sagte er.

»Wie Sie sicher wissen, stammt Markus aus Deutschland. Einen Teil des Jahres wohnt er in Berlin. Deshalb glaube ich, dass er nach Berlin gereist ist, wenn er jetzt plötzlich verschwunden ist; wie immer, wenn er sich Feinde gemacht hat.«

»Berlin ist groß.«

»Ich fürchte, jetzt begehe ich eine große Dummheit.«

»Das tun Sie eher, wenn Sie mir nicht helfen.«

»Ich habe keine Ahnung, wo er in Deutschland wohnt, aber …«

»Aber?«

»Er hält sich nicht nur in Kirchen auf. Er geht auch gerne in Bars …«

»Allerdings!«

»Einmal hat er mir gegenüber ein Lokal namens White Trash erwähnt.«

5

Simon tauchte im Labyrinth der Gassen des alten Jerusalem unter, um die Männer, die sich an seine Fersen geheftet hatten, abzuschütteln. Nach einigen Irrwegen kam er zu dem Schluss, dass er den Grauhaarigen und die beiden im hellen Anzug losgeworden war. Sein Besuch in der Grabeskirche hatte ihn gerettet. Beruhigt verließ er die Altstadt durch das Damaskustor, bog in eine weniger belebte Hauptverkehrsstraße von Westjerusalem ein und machte sich auf die Suche nach einem Hotel für seine letzte Nacht in Israel.

Das Quietschen von Reifen ließ ihn zusammenschrecken.

Er fuhr herum, heiße Luft blies ihm entgegen, und er klebte mit den Knien an der Stoßstange einer deutschen Limousine, die auf dem Bürgersteig nichts zu suchen hatte. Zwei Türen schwangen auf, die beiden Anzugträger sprangen heraus, packten ihn unter den Achseln und warfen ihn auf den Rücksitz. Sie setzten sich links und rechts neben ihn, während der Fahrer die Reifen erneut aufkreischen ließ.

Simon leistete keinerlei Widerstand, denn er wollte diese Geschichte endlich abschließen und Klarheit in die Sache bringen. Schließlich hatte er sich nichts vorzuwerfen. »Was wollen Sie von mir?«, war daher seine erste Frage.

Die Antwort folgte postwendend, in Form eines Handrückenschlags durch einen der beiden Anzugträger.

»Wir stellen hier die Fragen«, sagte sein Kollege, »nicht du.«

»Wer … du … bist?«, stammelte der andere.

Wieder kreischten die Reifen. Simon fiel gegen den Schläger, der automatisch erneut ausholte.

»Wer du bist?«, fragte er.

»Simon Lange.«

Noch eine Ohrfeige. Neues Kreischen. Bei diesem Tempo würden weder Simon noch die Reifen das Rennen überstehen.

»Aber so heiße ich!«

»Letzte Nacht hast du was gemacht, das hättest du nicht machen dürfen«, sagte der Entführer zu seiner Rechten, der die Fremdsprache etwas besser beherrschte und daher redseliger war.

»Warum, ist Trinken in Israel verboten?«

Wieder ein Schlag, noch heftiger. Simon spürte einen Siegelring an seinen Schneidezähnen. Blut lief ihm in den Mund. Er musste seine Worte abwägen. Ein paar Zugeständnisse machen, damit die Typen sich beruhigten.

»Fragen Sie Markus, ich kann mich an nichts erinnern.«

»Wo ist Markus?«

Sie kannten ihn also, denn sie hatten »Wo« gefragt, nicht »Wer«.

»Ich suche ihn auch. Lasst mich ihn finden, dann kann ich auch eure Fragen beantworten.«

Ein plötzlicher Elektroschock verwandelte seine Leistengegend in eine Quelle heftigen Schmerzes. Sein Peiniger drückte ihm einen Taser in die Seite. Der Stromschlag ließ Simon schreien und aufspringen, sodass er gegen die Deckenleuchte prallte. In einem Affenzahn raste die Limousine in Richtung der nördlichen Vorstadt von Jerusalem und brachte Simon blitzartig in die Realität zurück. Solange er noch handlungsfähig war und nicht vollkommen die Kontrolle verlor, musste er sich aus dieser misslichen Lage befreien. Er mimte weiter Benommenheit und grübelte über seine Flucht nach, eingequetscht zwischen zwei bewaffneten Muskelpaketen in einem dahinrasenden Auto. Er hatte nur eine Chance, nämlich ihr Fortbewegungsmittel zu stoppen. Dazu musste er den dritten Mann, in dessen Händen das Leben aller Passagiere lag, attackieren und das Auto von der Straße abbringen.

Vor ihm lag eine Kurve. Aber das Risiko, eine Gruppe Jugendlicher über den Haufen zu fahren, die diskutierend ein Moped umringten, war zu groß.

»Geht’s wieder?«, meinte der Mann rechts.

»Wohin bringt ihr mich?«, fragte Simon beunruhigt.

»Dahin, wo wir dich in aller Ruhe ausquetschen können. Du wirst reden, das steht fest.«

Eine weitere Kurve näherte sich. Zu gefährlich diesmal. Gleich dahinter stand ein Haus. Simon zog seinen halb leeren Rucksack vor die Brust. Er musste sich schützen. Er wusste, dass er die Windschutzscheibe durchbrechen würde.

Die dritte Kurve nahte. Sie schien geeignet. Mit aller Kraft stieß Simon die Beine nach vorne. Seine Schuhe trafen den Fahrer so hart am Hinterkopf, dass er mit der Stirn aufs Lenkrad schlug. Die Limousine flog aus der asphaltierten Kurve. Wie ein Blechtorpedo raste sie geradewegs in ein von einem Zaun überragtes Mäuerchen, hinter dem eine Reihe Zypressen gepflanzt war. Der Aufprall zerschmetterte die Leichtbausteine der Mauer, ließ den Fahrer im Airbag versinken, verkeilte die Anzugträger hinter den Vordersitzen und schleuderte Simon nach vorne. Wie ein Speer flog er durch die Fahrgastzelle, durchschlug die bereits gesplitterte Windschutzscheibe sowie die dichte Hecke und schlug auf dem weichen Rasen eines Privatgrundstücks auf. Er rappelte sich hoch, nahm sich keine Zeit zu prüfen, ob er verletzt war, stolperte, fiel auf die Knie, lag ausgestreckt auf dem Boden und versuchte zu Atem zu kommen, Auge in Auge mit einem Schildkrötengehege. Der Überlebenswille ließ ihn alle Energie zusammennehmen, und er kam wieder auf die Beine, durchquerte den Garten, erreichte eine Terrasse, folgte einer kiesbestreuten Einfahrt bis zu einem Tor, das nicht verschlossen war, ging schnelleren Schrittes zur Hauptstraße, stoppte gestikulierend einen Bus und stieg ein, ohne sich darum zu kümmern, wohin er fuhr. Er nahm vorne Platz, schöpfte neue Kraft. Nach zehn Minuten Fahrt ließ er sich an einer Haltestelle des Busses Richtung Tel Aviv absetzen.

Als Simon in der hinteren Reihe des Überlandbusses Platz genommen hatte, wurde ihm klar, dass die anderen Passagiere ihn befremdet musterten. Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht; sie waren blutbeschmiert.

6

Erst als das Flugzeug durch die Wolken stieß und in den makellos blauen Himmel hineinflog, fühlte Simon sich außer Gefahr.

In der Flughafentoilette hatte er sich Gesicht und Hände gewaschen. Er hatte sich nichts gebrochen. Nur Schnitte an den Fingern und Blutergüsse an verschiedenen Stellen des Körpers. Dann hatte er sein Ticket nach Paris gegen einen einfachen Flug nach Berlin getauscht.

Mechanisch blätterte er im Bordmagazin und blieb an einer Karte hängen, in der alle Verbindungen der Fluggesellschaft eingezeichnet waren. Sie führte ihm die Route vor Augen, die er von Thailand aus, wo er erst vor einer Woche abgereist war, zurückgelegt hatte. Beirut, Jerusalem, jetzt Berlin. Unter den teilnahmslosen Blicken seines Sitznachbarn riss er die Seite heraus, zerknüllte sie und formte sie zu einem Papierball. Die Welt in seiner hohlen Hand. So klein.

Wie war er nur in diesen Schlamassel geraten?

Vor einigen Tagen war alles in Unordnung geraten. Simon meditierte in einem buddhistischen Kloster am Ufer des Mekong, als ein aufgeregter Mönch zu ihm kam und ihn aus der Leere riss, in die er sich so gerne versenkte. Seine Eltern waren in Paris bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Drei Tage war die Neuigkeit bis zu ihm unterwegs gewesen, weil niemand wusste, wo er sich aufhielt. Ungefähr die Zeit, die es gebraucht hatte, die beiden Leichname in den Libanon zu überführen, wo die Trauerfeier abgehalten werden sollte. Sein Vater war Franzose und seine Mutter Libanesin.

Paul Lange hatte sich als Kulturattaché der französischen Botschaft in Beirut in den Libanon und in Amina verliebt, eine der schönsten Repräsentantinnen des Landes. Behütet von der Liebe dieses Paares war Simon aufgewachsen, erst in Beirut, dann in vielen anderen Ländern, in die Paul entsandt worden war. Der Vater hatte ihn dazu gedrängt, in Paris Theologie zu studieren. Aber der junge Mann war geprägt von seinen Reisen und der Magie des Orients, er träumte von nichts anderem, als sich erneut auf den Weg zu machen und sein theoretisches Wissen an der Realität zu überprüfen. Sobald er den Hochschulabschluss in der Tasche hatte, reiste er mit dem Rucksack kreuz und quer durch die Welt, lernte andere Kulturen kennen, zog sich in Klöster in Indien, Tibet, China und Thailand zurück, interessierte sich besonders für Buddhismus, Meditation, Fasten, Abstinenz und sogar für Kampfkunst, die mit der östlichen Weisheit untrennbar verbunden ist. Er erforschte die Leere in sich, verlor den Kontakt zu seiner Familie. Bis ihn diese schreckliche Nachricht vom Ufer des Mekong riss, wohin er sich zum Schutz vor dem Leid und der Bosheit der Welt geflüchtet hatte. Aber vor dem Tod seiner Eltern bei einem dummen Autounfall war er hier nicht geschützt gewesen.

Während der Trauerfeier hatte Simon Markus kennengelernt, den besten Freund seiner Eltern, der in Jerusalem wohnte. Außerdem hatte sich ihm ein Notar vorgestellt, der ihn darüber informierte, dass die Versicherung seines Vaters ihm eine hübsche Geldsumme überweisen werde. Aber vor allem hatte er ihm einen Umschlag mit einem von Paul unterzeichneten Brief überreicht.

Der Umschlag barg den zweiten Schock.

In wenigen Sätzen gestand ihm Paul, dass Amina und er nicht seine leiblichen Eltern seien. Wichtige Dokumente zu Simons Herkunft bewahre er in einem Safe auf, den er in einem Hotel in Jerusalem gemietet habe. Markus machte den Vorschlag, er werde ihn in die heilige Stadt begleiten und Simon könne bei ihm wohnen.

Dann folgte der dritte Schock.

Der Safe war leer.

Simon verstand nichts mehr, bis auf das eine: Der Tod seiner Eltern hatte seine ganze Existenz erschüttert. Als hätte das Schicksal sich gegen ihn verschworen. Der gewaltsame Tod seiner Eltern, Pauls Brief zum Geheimnis seiner Herkunft, der ihn zu einem leeren Safe in Jerusalem schickte, seine Sauftour mit Markus, an deren Ende er auf dem Tempelberg gelandet war, Markus’ Verschwinden, die verwüstete Wohnung, die Männer, die ihn verfolgten, das brutale Verhör, um festzustellen, wer er war …

Für seine Flucht hatte er alle seine physischen und mentalen Kräfte zusammennehmen müssen. Zum Glück hatte er einen Platz in einem Nachmittagsflug nach Berlin gefunden, sodass er Israel einen Tag früher als geplant verlassen konnte. Aber er hatte wohl nur eine verschwindend kleine Chance, Markus wiederzufinden, den einzigen Menschen, der ihm helfen konnte.

Unter den vielen drängenden Fragen quälte eine ihn ganz besonders. Zwei Männer waren sogar bereit gewesen, ihn zu foltern, um die Antwort herauszufinden: »Wer war er wirklich?«

BUCH II

»Unter dem Fußabtreter lag Teppichboden. Darunter war ein Loch im Beton. Darin lag ein Heft. In dem Heft standen die Namen dreier Personen mit Ort und Datum sowie eine Reihe von Zahlen.«

7

Nach einem Zwischenstopp in Zürich landete Simon um 22:05 Uhr auf dem Berliner Flughafen. Auf seinem Sitz ließ er einige Zeitschriften zurück, die allesamt ein apokalyptisches Bild der Welt zeichneten. Unter anderem wurde gemeldet, man habe einhunderttausend Tonnen radioaktiven Mülls entdeckt, den die Russen einfach in das Nordpolarmeer gekippt hätten, darunter vierzehn Atomreaktoren und drei Atom-U-Boote. Dies hatte die Nachricht vom Erdbeben in Israel auf die dritte Seite verdrängt.

Simon reihte sich in den Strom der Passagiere Richtung Ausgang ein, ohne an der Gepäckausgabe zu warten, und bestieg einen Bus in die Innenstadt.

Er war bereits mehrmals in Berlin gewesen, um sein Deutsch zu üben und weil ihn die kulturelle Vielfalt und das Underground-Nachtleben der Techno-Metropole faszinierten. Mit seinen begrenzten finanziellen Mitteln konnte er sich dort einen längeren Aufenthalt leisten als in teureren europäischen Hauptstädten.

Nach 23:00 Uhr betrat Simon das White Trash. Eine Elektropop-Band spielte auf der Lounge-Bühne. Simon befragte zunächst den Barkeeper, der ihn mit einigen Grunzlauten abfertigte. Dann versuchte er es bei einer jungen Frau an der Kasse und beschrieb ihr Markus, obwohl ihm die Vergeblichkeit seines Unterfangens klar war. Die Spur, der er vom Heiligen Grab bis zum White Trash gefolgt war, war sicher bereits verwischt. Die Kassiererin schüttelte heftig den Kopf und verneinte höflich, also begab er sich in das Restaurant des Clubs. Zwei Bedienungen schlängelten sich zwischen den Tischen hindurch. Er nahm im Bereich des sympathischeren Kellners Platz und bestellte einen Veggie-Burger und ein Bier. Der Kellner, er hieß Raphael, trug Lederhose, ein schwarzes Satin-Hemd und ein Tattoo, das sich von einem mit vielen Ringen bewehrten Ohr bis in den Nacken zog. Ein blonder Pony kaschierte eine Narbe an der Stirn.

Ausgerechnet auf diesen Fremden setzte Simon, um auf Markus’ Spur zu kommen. Er bestellte noch einen Mom’s Apple Pie, damit er unauffällig bis zum Dienstschluss des Kellners bleiben konnte. Der nahm sein Trinkgeld mit breitem Grinsen entgegen.

»Wow, du bist garantiert kein Franzose«, sagte er, als er den Betrag sah.

»Na ja, doch.«

»Huch, da bin ich wohl ins Fettnäpfchen getreten. Hoffentlich willst du jetzt nicht dein Geld zurück.«

»Ich bin nur Halbfranzose. Ich habe dir also halb verziehen.«

»Das kommt davon, wenn man zu viel labert, wenn man kaputt ist. Tut mir echt leid.«

»Da du schon beim Zu-viel-Reden bist – vielleicht kannst du mir helfen. Ich habe die Spur eines Freundes verloren.«

Simon beschrieb Markus. Die Schilderung weckte keinerlei Erinnerung bei Raphael. Er erkundigte sich auch beim übrigen Personal, kam aber unverrichteter Dinge zurück.