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Originalcopyright © 2013 Südpol Verlag

Corinna Böckmann und Andrea Poßberg GbR, Grevenbroich

Autor: Ina Krabbe

Illustrationen: Ina Krabbe

E-Book Umsetzung: Leon H. Böckmann, Bergheim

ISBN: 978-3-943086-61-4

Alle Rechte vorbehalten.

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Inhalt

Ein ganz besonderer Baum

Tierische Verwandlung

Ein Rentier stand im Walde

Herr Dudelhubers seltsame Begegnung

Ein Plan für Oswald

Räuberhauptmann Lotti

Der falsche Weinachtsmann

Chaos im Kaufhaus

Schreck am Morgen

Rentier im Anflug

Alarm im Flughafen

Unbekanntes Flugobjekt

Der Ausbruch

Unverhoffter Besuch

Doch noch frohe Weinachten

Zuerst sah es ganz danach aus, als ob es ziemlich blöde Weih­nachtstage für Marek werden würden. Seine Mutter hatte vor einiger Zeit so einen fürchterlichen Job angenommen und musste immer mehr arbeiten und arbeiten und arbeiten. Oft das ganze Wochenende, sodass sie mit Marek gar nichts mehr unternehmen konnte. Und jetzt auch noch an Weihnachten! Da musste sie für ihre Firma nach New York fliegen. So eine Sauerei! Denen war es ganz egal, dass Marek jetzt ohne Mama Weihnachten feiern musste.

Seine Mutter hatte aber auch ganz schön schlucken müssen, damit sie nicht weinte, als Marek sie zusammen mit Oma Lotti zum Flughafen gebracht hatte. Marek hatte ziemlich geheult und gesagt, er wolle nicht alleine bei seiner langweiligen, kleinen Oma bleiben. Das hatte er natürlich nur aus Wut gesagt, weil seine Mutter wegflog.

Wenn er wenigstens einen Vater gehabt hätte, mit dem er hätte Weihnachten feiern können. Er hatte natürlich einen. Ma­ma sagte, dass jeder Mensch schließlich einen ha­ben muss, denn sonst würde es einen ja nicht geben. Aber er kannte seinen Vater nicht, und seine Mutter kannte ihn auch nicht – oder zu­mindest nicht mehr.

Oder wenn er Geschwister gehabt hätte. Das wäre auch toll gewesen. Einen Bruder oder vielleicht auch eine Schwes­ter. Aber Mama meinte, sie sei zu alt, um noch ein Kind zu bekommen. Schade, Marek hätte sogar ein Baby genommen. Außerdem war seine Mutter überhaupt nicht alt! Oma Lotti schon eher.

Zum Glück war wenigstens noch Oma Lotti da. Denn sonst gab es nur noch seinen Onkel Henning, Mamas Bruder, und seit zwei Jahren noch Onkel Jens. Da hatte Onkel Henning den Jens nämlich geheiratet. Und das war dann auch schon seine ganze Familie: Mama, Oma Lotti, Onkel Henning, Onkel Jens und er selbst, Marek. Und jetzt war Mama in New York, seine beiden Onkel hatten zwei Wochen Skiferien in den Alpen bei einem Preisaus­schrei­ben gewonnen, und Oma Lotti und er mussten alleine Weihnachten feiern.

Marek saß auf Oma Lottis Küchenbank und starrte trübsinnig vor sich hin.

»Marek, komm mein Kleiner, lass uns losgehen.« Seine Oma stand plötzlich vor ihm, schon eingehüllt in ihren roten Wollmantel und einen dicken Strickschal. »Wir müssen doch noch unseren Weihnachtsbaum schlagen. Sonst ist der schönste nachher weg.«

Marek grinste. Wenigstens das war wie immer. Schnell schlüpfte er in seine Jacke, wickelte sich den Schal um den Hals und stülpte sich die Mütze auf den Kopf. Von ihm aus konnte es losgehen!

»Wir müssen noch das Werkzeug holen«, sagte Oma Lotti.

Die beiden gingen gemeinsam zum Schuppen. Eigent­lich hätte jetzt der Schnee unter ihren Füßen knirschen müssen, dann hätten sie den Schlitten herausgeholt und hinter sich hergezogen. Aber auch das war wie immer, sobald Weihnachten näher kam, wurde es matschig, und weit und breit war keine einzige Schneeflocke in Sicht. Also zogen sie den Bollerwagen aus dem Schuppen, legten Säge und Axt hinein und machten sich auf den Weg.

Oma Lottis Haus lag direkt am Dorfrand und – wie Mama immer sagte – mitten in der Natur. Man fiel aus der Haustür direkt in den Wald. Marek wohnte mit seiner Mutter in der Stadt, da gab es so etwas natürlich nicht. Sie hatten zwar einen sogenannten Stadtwald, aber der bestand nur aus etwa zwanzig Bäumen, und wenn man gerade angefangen hatte zu laufen, dann kam man am anderen Ende schon wieder heraus. Das konnte einem in Oma Lottis Wald nicht passieren. Da konnte man stundenlang geradeaus gehen und war immer noch mitten im Wald.

Oma hatte wie in jedem Jahr mit dem Förster, Herrn Gruber, telefoniert und ihn gefragt, ob sie sich einen Tan­nenbaum im Wald schlagen dürften. Und wie immer hatte er gesagt: »Aber selbstverständlich Frau Haselbach, da brauchen Sie mich doch nicht jedes Jahr zu fragen.«

Und so waren sie nun – wie in jedem Jahr – unterwegs, um sich ihren Weihnachtsbaum zu suchen. Marek und Oma Lotti. Es war herrlich, so durch den Wald zu stapfen. Sie hörten den Matsch unter ihren Schuhen quatschten. Ansonsten herrschte eine andächtige Stille, bis Oma Lotti und Marek Stille Nacht, Heilige Nacht zusammen an­stimmten.

Herr Gruber hatte Oma Lotti genau beschrieben, wo sie Tan­nen in der passenden Größe finden würden. Und da steuerten sie jetzt mit dem Bollerwagen hin.

Nachdem sie eine ganze Weile gelaufen waren, hatten sie den Tannenwald erreicht. Ehrfürchtig blieben sie stehen. Vor ihnen lag eine breite Lichtung mit Tannen­bäu­men, einer schöner als der andere.

»Das wird ja nicht einfach werden, sich da zu entscheiden«, murmelte Oma Lotti.

Marek nickte. »Du, Oma, vielleicht essen wir erst einmal was«, schlug er vor. Die Wanderung hatte ihn hungrig gemacht. Und Oma Lotti packte immer sehr köstliche Sachen ein, wenn sie zum Weihnachtsbaumschlagen gingen. So war es natürlich auch heute. Sie machten es sich auf einem umgestürzten Baumstamm bequem und breiteten die Leckereien zwischen sich aus. Da gab es Würstchen im Schlafrock, Lebkuchen, Käsebällchen und zum Nachtisch Schokoladenkuchen. Dazu tranken sie heißen Apfelsaft aus der Thermoskanne.

Marek machte sich ausgehungert darüber her. Und während Oma Lotti noch ihren Schokokuchen verspeiste, rutschte Marek schon unruhig auf dem Baumstamm hin und her.

»Marek, such uns doch schon mal einen schönen Baum aus«, lächelte Oma Lotti. »Du musst ja nicht warten, bis deine langweilige, kleine Oma fertig mit dem Essen ist.«

»Das wäre aber ziemlich unhöflich«, wandte Marek ein und sprang auf. »Aber wenn es dir wirklich nichts ausmacht ...?« Fragend sah er seine Oma an.

»Nein, nun lauf schon«, sagte sie lachend. »Aber bleib in der Nähe, damit du mir nicht im Wald verloren gehst.«

»Geht klar Oma!«, rief Marek und lief im Zickzack durch die Tannenschonung. Kritisch betrachtete er die einzelnen Bäume. Sie sahen eigentlich alle ganz schön aus, welchen sollten sie nur nehmen? Immer tiefer ging er auf seiner Suche nach dem perfekten Baum in die Tannenschonung hinein, bis sie plötzlich zu Ende war und vor ihm ein Tannenwald mit sehr viel höheren Bäumen auftauchte. Vorsichtig ging Marek weiter. Es war ganz schön dunkel hier im Wald und mucksmäuschenstill. Ein dickes Tannen­n­adelpolster dämpfte seine Schritte. Marek hatte das Gefühl, als wäre die Zeit stehengeblieben. Eine geheimnisvolle Stimmung umhüllte ihn inmitten dieser Tannen­riesen. Aber diese Bäume waren natürlich alle viel zu groß, um ein Weihnachtsbaum in Oma Lottis Wohnzimmer werden zu können. Da müssten sie schon ein Loch ins Haus­dach sägen, damit einer von ihnen hineinpassen würde.

Er wollte gerade umkehren, als er plötzlich eine kleine Lichtung entdeckte, und mitten auf dieser Lichtung wuchs ein hübscher, kleiner Tannenbaum, der genau die richtige Größe hatte. Es sah fast so aus, als ob die Riesentannen dem Kleinen ein wenig Platz gelassen hätten, damit erge­nug Licht zum Wachsen abbekam. Andächtig stand Marek da und betrachtete seinen Baum. Denn, dass er gerade seinen Weihnachtsbaum gefunden hatte, das war völlig klar.

»Marek, Marek, wo steckst du?« Oma Lottis Stimme klang dumpf durch den Wald, wie aus einer anderen Welt.

»Oma, ich bin hier«, rief Marek zurück. »Komm, ich habe unseren Weihnachtsbaum gefunden!«

Wenig später stand Oma Lotti neben ihm, in einer Hand die Säge, in der anderen die Axt.

»Na, was sagst du?«, fragte Marek gespannt.

»Hm, ich finde ihn ... besonders«, sagte Oma Lotti und nickte bedächtig. »Er hat irgendwie etwas Besonderes. Wie ist er nur zwischen diese Riesentannen geraten? Die sind doch bestimmt schon hundert Jahre alt.«

»Ich finde, es sieht aus, als ob er auf uns gewartet hat«, stellte Marek fest.

»Wenn nicht auf uns, dann auf irgendetwas anderes. Komm!« Oma Lotti setzte die Säge an. »Ran an die Arbeit.«

Marek ergriff die Säge auf der anderen Seite, und dann legten sie los. Es war ziemlich anstrengend, und bald taten ihnen die Arme weh von der ungewohnten Arbeit. Nach­dem sie einen tiefen Spalt gesägt hatten, schlugen sie ab­wechselnd mit der Axt auf den Stamm ein. Und danach kam wieder die Säge zum Einsatz. Die ganze Zeit über hatte Marek das komische Gefühl, der Baum würde sich freuen, dass sie ihn mitnehmen wollten. Das war natürlich Quatsch. Ein Baum konnte sich schließlich nicht freuen. Und wenn er es gekonnt hätte, dann bestimmt nicht darüber, dass ihn jemand umhaut. KRACKS! Endlich kippte die Tanne mit einem lauten Krachen zur Seite.

Marek und Oma Lotti schoben und zogen den sperrigen Baum durch den Wald. Das war echte Schwerstarbeit. Mit Mamas Hilfe wäre das viel einfacher gewesen. Marek schnaufte. Aber das würde er heute Abend Mama mal am Telefon sagen, dass das zu zweit fast kaum zu schaffen gewesen war!

Endlich hatten sie den Bollerwagen erreicht und wuchteten den Baum hinein. Jetzt ging es leichter. Gemeinsam zogen sie mit dem Wagen über den Feldweg nach Hause, und dabei sangen sie Weihnachtslieder, so laut sie konnten.