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6. Auflage 2022

© 2018 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch

Umschlagabbildung: shutterstock.com/oneinchpunch, Africa Studio

ePub by Konvertus

ISBN E-Book (PDF) 978-3-95971-974-2

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95971-975-9

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Inhalt

Schock im Bus

Gab es noch nie: Ein komplettes Leben in Frieden

Will jeder werden, aber keiner sein: alt

Luxusfrage: Wohin mit der vielen Zeit?

Nicht jedermanns Sache: Ehrenamt

Des Rentners liebstes Hobby: Reisen

Im Alter ausgeprägter: Spleens und Marotten

Merkwürdige Schrullen: Rentner im Supermarkt

Nur nicht übertreiben: Herausforderungen

Die Überlegenheit der Alten: Gelassenheit

Kann tierisch nerven: Altersweisheit

Laber, laber, laber: Zum Punkt kommen!

Hatten wir früher auch nicht: Nostalgie

Schöner werden wir alle nicht: Äußere Erscheinung

Ein paar Kilo mehr: Altersbäuchlein

Vor allem teuer: Anti-Aging

Einfach nur peinlich: Jugendwahn

Ab sechzig geht’s bergab: Altersbeschwerden

Gesprächsthema Nummer eins: Krankheiten

Verschlissenes einfach austauschen: Ersatzteile

Skat unter Senioren: Schwerhörigkeit

Was wollte ich hier eigentlich? Schusseligkeit

Welche? Wann? Wie viele? Medikamente

Reden gegen die Wand: Altersstarrsinn

Leben nach Stundenplan: Feste Rituale

Nabel der Welt? Ich-Bezogenheit

Wenn alles nur noch schlecht ist: Dauerpessimismus

Nichts Genaues weiß man nicht: Liebe und Sex

Gar nicht so schwer: Glücklich altern

Sieben Faktoren für ein gelungenes Alter

Länger fröhlich leben: Positive Einstellung

Vermeidet Probleme: Altersgerechte Wohnung

Weg damit: Unnützer Krempel

Wichtiger als alles andere: Fit bleiben

Da blickt doch kein Schwein durch: Ernährung

Heißen nicht umsonst so: Genussmittel

Geistige Fitness: Gehirnjogging

Nicht von vornherein ablehnen: Computer und Co.

Bringt’s voll: Mehr Bewegung

Jederzeit möglich: Erholsames Nickerchen

Unbedingt pflegen: Soziale Kontakte

Werden immer wichtiger: Freunde und Bekannte

Warum nicht bequemer? Feiern

Geht gar nicht: Jugendliche Anmaßung

Nicht jedermanns Sache: Vereine

Einmal und nie wieder: Jahrgangstreffen

Gemeinsam gegen die Einsamkeit: Senioren-WGs

Muss man mögen: Überwintern im Süden

Für Senioren besonders wichtig: Familie

Entscheidend für das Glück im Alter: Stabile Ehe

Leben ihr eigenes Leben: Kinder

Auch mal Nein sagen: Enkel

Ist kein Schicksal: Der Tod

Noch mal zwanzig? Schlusspfiff

Schock im Bus

Ich hätte mir über das Älterwerden wohl kaum ernsthaft Gedanken gemacht, wäre da nicht dieser Schock gewesen. Es passierte in einem überfüllten Bus auf der Fahrt von der Innenstadt nach Hause. Ein kurzer Rundumblick hatte mir gezeigt, dass ich, wie so oft, würde stehen müssen. Na gut, sei’s drum. Doch dann! Ein junges Mädchen, vielleicht sechzehn oder siebzehn, lächelt mich freundlich an, steht auf und bietet mir mit einer einladenden Geste ihren Sitzplatz an. Mir! Der ich doch noch vor Kurzem selbst einer gehbehinderten älteren Frau meinen Platz überlassen habe! Schließlich bin ich gerade mal siebzig geworden!

Das mit dem »gerade mal« sehe ich allerdings, das gebe ich zu, erst seit einigen Jahren so. Früher, als Schüler oder Student, war mir zwar klar, dass es Menschen gab, die dieses biblische Alter erreichen, ja, ich kannte sogar den einen oder anderen Methusalem persönlich. Aber dass ich die ominöse Zahl selbst einmal mit mir herumtragen würde, konnte ich mir damals beim besten Willen nicht vorstellen. Und wenn doch, dann verband ich damit einen grenzwertigen Greisenzustand, ein Mehr-tot-als-Lebendig, in dem es nur zwei Dinge, sofern noch nicht geschehen, zu tun galt: sein Testament machen und für ein Grab sorgen. Und zwar schleunigst. Doch mit jedem Jahrzehnt, das ich seit damals überlebte, sah ich die Sache ein wenig anders. Mit vierzig kam ich mir noch irgendwie wie Ende zwanzig vor, mit fünfzig wie Mitte dreißig und mit sechzig wie Anfang vierzig. Wobei – und diese Erfahrung machen wir wohl alle – jedes Jahr und vor allem jedes Jahrzehnt deutlich schneller vergangen ist als das vorausgegangene.

Und mit siebzig? Abgesehen von der eindrucksvollen Zahl hat sich seit meinem letzten runden Geburtstag nichts, aber auch gar nichts geändert. Klar merke ich, dass ich keine Bäume mehr ausreißen kann, mich beim Holzhacken öfter zwischendurch ausruhen muss und ich das, was andere mir zunuscheln, oft nicht mehr auf Anhieb verstehe. Doch auf dieses leidige Thema komme ich später noch ausführlich zu sprechen. Fest steht jedenfalls, dass ich für mein Alter alles in allem noch recht gut beieinander bin. Glaubte ich jedenfalls.

Und dann das! Allein dass eine Jugendliche heutzutage überhaupt noch für einen Älteren auf ihre Sitzgelegenheit verzichtet, hätte ich nie und nimmer für möglich gehalten. Früher, als ich noch jeden Morgen mit der Straßenbahn zur Schule gefahren bin, war das eine Selbstverständlichkeit. Von klein auf hatten uns unsere Eltern eingetrichtert: Ein Kind – wobei »Kind« auch Jungen und Mädchen einschloss, die wir heute Jugendliche nennen –, das in der Bahn sitzt, springt auf der Stelle auf, sobald ein Senior den Wagen betritt. Und zwar auch dann, wenn noch der eine oder andere Platz frei ist. Von denen kann der Hochgeschnellte anschließend ja wieder einen besetzen. Aber zuvor hat er unter allen Umständen dafür zu sorgen, dass der oder die Ältere bei der Abfahrt sitzt. Das war für mich seinerzeit so was von selbstverständlich, dass ich nie und nimmer auf die Idee gekommen wäre, darüber nachzudenken, wie sich der oder die so Beglückte ob der großzügigen Geste fühlte. Ich vermute, lange nicht so bedröppelt wie ich jetzt in dem Bus. Denn mit dem Von-einem-Jugendlichen-den-Platz-angeboten-Bekommen war man seinerzeit spätestens seit dem vierzigsten Geburtstag vertraut, das erwartete man ganz einfach.

Doch bei mir kann weder von Erwartung noch von Mit-der-Situation-vertraut-Sein die Rede sein, wenn mich das Mädchen offensichtlich für beeinträchtigt genug hält, um mir eine Fahrt im Stehen nicht zumuten zu wollen. Verstohlen blicke ich mich um. Wenn ich Glück habe, bin ja gar nicht ich gemeint. Vielleicht klammert sich ja hinter mir ein humpelnder Fünfundneunzigjähriger krampfhaft an seinem Rollator fest, oder der Bauch einer Hochschwangeren schwuppt in jeder Kurve gegen ihre Stehnachbarn. Doch nichts dergleichen! Das Sitzplatz-Angebot gilt zweifelsfrei mir. Also nehme ich es – was bleibt mir anderes übrig – mit einem dankenden Kopfnicken an, lasse mich neben eine beleibte Dame mittleren Alters plumpsen und vermeide, den Umstehenden ins Gesicht zu blicken. Bestimmt kann sich zumindest der eine oder andere ein hämisches Grinsen nicht verkneifen, und das muss ich mir ja wirklich nicht antun. Doch während ich krampfhaft auf den Boden starre, wird mir allmählich widerwillig bewusst, dass das Busfahren im Sitzen im Grunde doch erheblich angenehmer ist, als an eine schmuddelige Haltestange gekrallt in jeder Kurve hin und her zu schwanken wie ein Betrunkener. Und dabei denke ich unwillkürlich über das Alter oder – gefällt mir wesentlich besser – den Lebensabend nach.

Ab wann ist man eigentlich alt? Sobald man den Beruf an den Nagel gehängt hat und in den Ruhestand gegangen ist, sodass die Rente das Leben gleichsam in ein »Davor« und ein »Danach« teilt? Oder spätestens wenn, wie mein Onkel Heinz zu sagen pflegte, die Geburtstagskerzen mehr kosten als der Kuchen? Oder wenn man beim Schuhe-Binden denkt: »Jetzt bin ich schon mal unten; was könnte ich da vielleicht gleich mit erledigen?« Früher habe ich die Frage gern folgendermaßen beantwortet: Das Alter beginnt grundsätzlich mit der Zahl der eigenen Lebensjahre plus zehn. Aber das funktioniert natürlich irgendwann nicht mehr so richtig. Das wurde mir spätestens vor einigen Tagen klar, als ich an einer Online-Umfrage teilnahm, die mit ein paar Fragen nach meiner Person endete.

»Wie alt sind Sie?«, stand dort, gefolgt von mehreren Antworten, von denen eine anzukreuzen war: a) bis 29, b) 30 bis 39, c) 40 bis 49, d) 50 bis 59, e) 60 und älter. Ich gebe zu, dass ich beim Markieren von e) einen unangenehmen Druck in der Magengegend verspürt habe, bedeuteten die vorgegebenen Kategorien doch nichts anderes, als dass mit sechzig offenbar die letzte Phase des Lebens beginnt, nach der nur noch der Tod kommt. Zu dieser Gruppe von Menschen gehörte ich also. Und das sogar schon eine ganze Weile. Die Erkenntnis machte mich – das gebe ich offen zu – einigermaßen fassungslos.

Doch zurück zu dem Bus, in dem ich jetzt dank der noblen Geste der jungen Dame recht bequem durch die Stadt rolle. Denn da kommt mir plötzlich in den Sinn, dass ich das morgendliche Sockenanziehen schon seit einer ganzen Weile nicht mehr, wie früher, im Stehen, sondern auf dem Klodeckel sitzend absolviere. Dass mich mein Sohn erst letzte Woche gefragt hat, ob der Fernseher unbedingt so brüllen müsse, und dass ich vor Kurzem vom Supermarkt, weil ich den Einkaufszettel mal wieder irgendwo habe liegen lassen, nur die Hälfte – und auch davon nicht alles wie von meiner lieben Ehefrau gewünscht – mit nach Hause gebracht habe.

Doch dann – ich wohne ziemlich weit draußen in einem Vorort und habe deshalb eine Menge Zeit zum Sinnieren – machen sich in mir nach und nach positivere Gedanken breit. Habe ich es heute Morgen, als ich in unserem Mehrfamilienhaus die jungen Leute aus dem ersten Stock die Treppen herunterkommen hörte, um zur Arbeit zu gehen, nicht genossen, im warmen Bett liegen zu bleiben? Ja, mich sogar noch mal so richtig in die Kissen zu kuscheln? Finde ich es nicht immer wieder großartig, bei Vollmond auf einer Jagdkanzel bis tief in die Nacht auf Schwarzwild anzusitzen, weil ich ja am nächsten Tag, wenn ich müde werde, jederzeit ein Nickerchen machen kann? Sie müssen nämlich wissen, dass ich leidenschaftlich gern zur Jagd gehe, und das mit großem Vergnügen auch schon am sehr frühen Morgen, noch vor Sonnenaufgang oder bis weit nach Mitternacht.

Im Fall des frühen Morgens nehme ich auf der Heimfahrt aus dem Revier vom Bäcker Brötchen mit, und während Angehörige der werktätigen Bevölkerung von ihrem Chef herumgescheucht werden oder unter der Last der Termine stöhnen, frühstücke ich mit meiner lieben Ehefrau gemütlich und in aller Ruhe, lese dabei ausführlich die Zeitung und löse das alltägliche Sudoku. Und wenn mir nach der zweiten Tasse Kaffee noch nach einer dritten oder vierten ist, was spricht dagegen? Anschließend tausche ich mich am Telefon mit meinem Jagdfreund Bernhard über die morgendlichen Erlebnisse auf der Pirsch aus und hole danach genüsslich einen Teil der verpassten Nachtruhe auf dem Sofa nach. Der weitere Tagesablauf ändert sich je nach Lust und Laune, ist aber eines ganz sicher nicht: stressig. Selbst die Zeit zum Schreiben von Büchern, von denen Sie ja eines gerade in Händen halten, kann ich mir ganz nach Belieben einteilen. Solange ich das Manuskript termingerecht abliefere, kräht kein Hahn danach, ob ich gerade vor dem Computer sitze oder lieber ein paar Tage durch Wald und Flur streife. Denn Wandern ist nach der Jagd mein zweites großes Hobby. Immer öfter kommt mir dabei der Lieblingsspruch meines verstorbenen Vaters in den Sinn:

»Jedes Lebensalter hat seine Vor- und Nachteile. Man muss die Vorteile nach Kräften nutzen und die Nachteile in Gottes Namen in Kauf nehmen.«

Er hatte, soweit ich mich erinnere, mit dem Älterwerden keine Probleme. Jedenfalls hat er sich nie darüber beklagt, sondern hat, so gut es ging, einfach so weitergelebt wie vorher auch. Und ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, wie er einmal einem Bekannten, der jeden zweiten Satz mit »Man wird halt nicht jünger« beendete, kurzerhand das Wort abschnitt und kategorisch das verkündete, was er immer zu sagen pflegte, wenn er klarmachen wollte, dass ihm irgendetwas ganz und gar gleichgültig war: »Weiß du was? Darauf pfeif’ ich!«

Und dort, im Bus, auf einem von einem jungen Mädchen freundlicherweise überlassenen Sitzplatz, nehme ich mir vor, künftig exakt nach dieser Devise zu leben und zu handeln. Das Altwerden soll mir in Zukunft nicht nur nichts ausmachen, es soll mir nicht nur wurscht oder schnuppe sein, nein, ich werde das Beste daraus machen, ich werde die Vorteile genüsslich auskosten und mich mit den zwangsläufig zunehmenden Einschränkungen optimal arrangieren. Das Motto meines Lebensabends soll, wann immer mir beim Älterwerden etwas gegen den Strich geht, bis ans Ende meiner Tage exakt das meines Vaters sein:

»Weißt du was? Ich pfeif drauf!«

Doch bevor ich Ihnen näher erläutere, wie ich mir das im Einzelnen vorstelle, noch eine kurze Anmerkung: Wenn in diesem Buch etwa von Senioren, Enkeln, Schülern, Ärzten oder Patienten die Rede ist, beziehe ich automatisch immer auch Seniorinnen, Enkelinnen, Schülerinnen, Ärztinnen und Patientinnen ein. Damit will ich die weiblichen Angehörigen einer Gruppe weder herabwürdigen noch gar unterschlagen, ich finde nur, dass es ausgesprochen albern und verkrampft »politisch korrekt« klingt, wenn etwa Politiker – und natürlich auch Politikerinnen – immerzu von Wählerinnen und Wählern oder Schleswig-Holsteinerinnen und Schleswig-Holsteinern sprechen. Dann wäre es ja auch falsch zu behaupten, Deutschland habe rund zweiundachtzig Millionen Einwohner – schließlich sind etwa die Hälfte davon Einwohnerinnen.

Also, geh’n wir’s an.

Gab es noch nie:
Ein komplettes Leben in Frieden

Kaum sind wir dem Mutterleib entschlüpft, fangen wir an, älter zu werden. Von da an summieren sich die Tage zu Wochen, die Wochen zu Monaten und die Monate zu Jahren. Und ohne dass wir selbst irgendetwas dazu tun müssten, sind das dann eines Tages, wie bei mir, siebzig Jahre geworden. Und zwar ganz besondere siebzig. Einzigartige siebzig sogar. Denn nie zuvor in der deutschen Geschichte hat es eine derart lange Phase vollkommenen Friedens gegeben. Die meisten von uns, die wir Ende der Vierziger, Anfang der Fünfziger des vorigen Jahrhunderts das Licht der Welt erblickt haben, haben nie einen Krieg erlebt und werden, wenn nicht irgendetwas total schiefläuft, bis zu ihrem Tod wohl auch nie das Leid und Elend eines solchen zu erdulden haben. Ein komplettes Leben ohne Opfer, Lebensgefahr, Hunger und Unterdrückung, ist das nicht toll? Doch anstatt für so viel Glück dankbar zu sein, beklagen sich meine Altersgenossen mit Hingabe darüber, dass ihre Knie beim Bücken knirschen, sie Menschen, deren Gesicht ihnen bekannt vorkommt, nur mit einem knappen »Hallo« begrüßen können, weil ihnen der Name mal wieder nicht einfällt, oder sie zum x-ten Mal im Keller stehen und sich fragen: »Was will ich hier eigentlich?«

In einem Wissenschaftsmagazin habe ich neulich gelesen, dass das Altern bis heute einer der am wenigsten verstandenen biologischen Prozesse ist. Zwar gibt es dazu eine ganze Reihe von Theorien, aber keine, die sämtliche dabei auftretenden »Symptome« stichhaltig erklären kann. Ersparen Sie mir bitte nähere Einzelheiten. Fest steht jedenfalls, dass der allmähliche Abbauprozess niemanden verschont, auch wenn es Tiere und andere Organismen gibt, bei denen er deutlich langsamer abläuft als bei uns. Aber möchte man deshalb ein Grönlandwal, eine Schildkröte oder gar eine Vogelspinne sein, von einem Nacktmull ganz zu schweigen?

Da nehme ich in Gottes Namen lieber hin und wieder das Augenrollen der Kassiererin in Kauf, wenn ich etwa im Supermarkt nachfragen muss, weil ich den Preis nicht verstanden habe, oder wenn ich den Betrieb aufhalte, weil ich mal wieder meinen Geldbeutel im Auto vergessen habe. Oder ich lasse achselzuckend beknackte Kommentare über mich ergehen. So wie den eines jungen Mannes am Eingang einer Disco. Da war ich, soweit ich mich erinnere, gerade mal Mitte vierzig und wollte mit Freunden in besagter Lokalität – einer höchst gemäßigten Variante, in der man sich sogar noch halbwegs verständlich unterhalten kann – einen feucht-fröhlichen Junggesellenabschied feiern. Und was meint der Typ am Eingang, uns feixend zurufen zu müssen? »Na, braucht man zum Sterben jetzt schon Musik?« Ich war schon dabei, tief Luft zu holen, um ihn anzuschreien, was er sich eigentlich einbilde, doch dann ist mir gerade noch rechtzeitig eingefallen, dass für mich mit achtzehn so ein Mittvierziger auch, wenn schon nicht gerade ein Greis, so doch zumindest ein alter Herr war. Also habe ich die Luft wieder abgelassen, den Kerl nur augenzwinkernd angegrinst und mir die gute Laune nicht verderben lassen.

Blöde Anmache über das Alter – pfeif drauf!

Will jeder werden, aber keiner sein: alt

Den Spruch vom Alt-Werden, aber nicht Sein-Wollen kennen Sie sicherlich. Tatsächlich beschreibt er ein höchst merkwürdiges Paradoxon, das man etwa mit der Situation eines Präsidentschaftskandidaten vergleichen kann, der, um gewählt zu werden, eine immense Propaganda betreibt, die Wahl aber, nachdem er schließlich Erfolg gehabt hat, nicht annimmt. Fakt ist jedenfalls, dass es keineswegs ein unabänderliches Schicksal ist, wie lange wir leben. Experten gehen sogar davon aus, dass unsere Lebensspanne nur zu etwa einem Viertel von unseren Erbanlagen, zu drei Viertel aber davon bestimmt wird, was wir den lieben langen Tag über tun, und noch mehr, was wir lassen. Aber dazu später mehr.

Doch auch unabhängig davon, wie wir unsere Tage und, nicht zu vergessen, unsere Nächte verbringen, wird uns der Tod mit großer Wahrscheinlichkeit deutlich später ereilen als unsere Eltern und vor allem unsere Großeltern. Tatsächlich steigt die mittlere Lebenserwartung seit Langem Jahr für Jahr um drei Monate, das sind jeden Tag volle fünf Stunden. Was nicht mehr und nicht weniger bedeutet, als dass zwei der vier Kinder, die in den letzten zwei Jahren in unserer Nachbarschaft geboren wurden, beste Chancen haben, älter als hundert zu werden. Wenn ich das höre, werde ich fast ein wenig neidisch, denn hätte meine Mutter mich nicht schon kurz nach dem Krieg, sondern erst gestern zur Welt gebracht, könnte ich mit einem etwa fünfzehn Jahre längeren Leben rechnen. Was natürlich insofern totaler Quatsch ist, weil meine Mutter, wenn sie denn noch leben würde, zum Kinderkriegen längst viel zu alt wäre und ich als Säugling überhaupt noch nicht rechnen könnte. Und nicht dieses Buch schreiben. Was doch auch schade wäre, oder?

Tatsache ist jedenfalls, dass der Anteil der Senioren bei uns immer größer wird. Schon 2030 wird voraussichtlich ein Drittel aller Deutschen älter als fünfundsechzig sein und dann hoffentlich meinen gut gemeinten Ratschlag befolgen, den arbeitsfreien Lebensabend, der ja einen immer größeren Anteil unseres Daseins ausmacht, nicht als Last zu betrachten, sondern nach Kräften das Beste daraus zu machen und auf die weniger erfreulichen Begleiterscheinungen eben achselzuckend und überlegen lächelnd zu pfeifen.

Dabei kommt uns Menschen natürlich zugute, dass wir immer später alt werden und dabei immer länger fit bleiben. Wobei nicht von dem in Zahlen ausgedrückten, sondern vom sogenannten »gefühlten Alter« die Rede ist. Achtzig sei das neue Sechzig, habe ich kürzlich gelesen, und Sechzig das neue Vierzig. Das kann ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen. Wenn ich etwa an meine Oma mütterlicherseits denke, habe ich eine verhärmt wirkende, stets gebückt daherkommende Greisin vor Augen, an der das einzig nicht Schwarze ihre schneeweißen Haare und ihre blauen Augen waren. Niemals hätte sie sich als Witwe getraut, etwas auch nur halbwegs Farbiges anzuziehen. Und mein Opa wäre eher auf die Idee gekommen, die Dachwohnung seines Hauses an einen Arzt oder eine Krankenschwester zu vermieten, um stets medizinisches Fachpersonal in seiner Nähe zu wissen, als etwa mit Gleichaltrigen eine Fahrradtour zu unternehmen oder sich mit ihnen zu einem Bier in der Stadt zu verabreden. Oder gar als bekennender Anhänger – das Wort »Fan« existierte seinerzeit noch nicht – des 1. FC Nürnberg mit uns Enkeln zu einem Heimspiel ins Stadion zu gehen. Wie er überhaupt sein Haus nur verließ, wenn er zum Arzt, zum Friseur oder zum Einkaufen musste. Und doch kann ich mich nicht erinnern, dass er jemals lamentiert hätte, so wie das heute ab einer bestimmten Zahl an Lebensjahren geradezu Mode geworden zu sein scheint. Die unnützen Debatten um das letztlich vergebliche Bemühen, dem Alter zu entfliehen, wären ihm sinnlos, ja, geradezu frivol vorgekommen.

In diesem Zusammenhang ein heißer Tipp: Wenn Sie mal wieder froh sind, dass die Treppe, die Sie sich gerade hochmühen, ein Geländer zum Daran-Ziehen hat, und Ihnen schon die Bemerkung auf der Zunge liegt, ja, ja, man werde halt älter, vergleichen Sie Ihre aktuelle Situation doch einmal nicht mit früheren Lebensabschnitten, sondern mit der von Gleichaltrigen vergangener Zeiten: Als man mit einem kaputten, weil abgenutzten Hüftgelenk eben schmerzgeplagt herumhumpeln musste, anstatt es sich mal eben gegen ein fabrikneues Exemplar austauschen zu lassen. Und als man verloren gegangene Zähne – dass die immer weniger werden, hielt man seinerzeit noch für ein unabwendbares Schicksal – allenfalls mithilfe einer lästigen Prothese ersetzen konnte, die einen zwang, ein Schnitzel fürderhin vor dem Verzehr klein zu schneiden, anstatt sich Implantate in den Kieferknochen schrauben zu lassen und darauf Kronen zu befestigen, die den eigenen Zähnen in puncto Kaukomfort in nichts nachstehen.

Dass es ihnen heute so viel besser geht als früheren Generationen, sehen zum Glück immer mehr Senioren ein und freuen sich aufrichtig darüber. Ist es nicht großartig, dass in einer aktuellen Studie zwei Drittel aller befragten Siebzig- bis Fünfundachtzigjährigen angeben, sie seien mit ihrem Leben »hoch zufrieden« und nur jeder Fünfundzwanzigste klagt, ihm gehe es eher schlecht? Ich hoffe, liebe Leser, Sie gehören zu besagten zwei Dritteln! Lassen Sie sich von den Pessimisten, die es halt leider auch gibt, in Bezug auf das, was noch alles auf Sie zukommt, bloß nicht irre machen! Sonst besteht nämlich – darüber sind sich alle Experten einig – die nicht zu unterschätzende Gefahr, dass die Angst vor dem Alter zu einer Art Selbstläufer oder neudeutsch: einer »self-fulfilling prophecy« wird.

Kurz gesagt:

Angst vor dem Alter – pfeif drauf!

Luxusfrage: Wohin mit der vielen Zeit?

Das waren noch Zeiten, als bei uns ein kurzer telefonischer Rundruf ausreichte, um sich mit Freunden abends im Biergarten der »Friedrichshöhe« oder mit den Männern der Nachbarschaft zum Skatspielen zu verabreden – von den Frauen unserer Altersklasse spielten nur sehr wenige Skat und blieben beim Reizen, Contra- und Re-Sagen unter sich. Aber egal ob Mann oder Frau, kurzfristig eine Runde zum Quatschen, mindestens drei Mann zum Kartenspielen oder ein paar Altersgenossen zum gemeinsamen Sonst-was-Machen bekommt man heute auf die Schnelle schlicht nicht mehr zusammen. Jeder Termin muss mindestens acht Wochen vorher fixiert werden. Und spontane Zusagen wie »Okay, heute Abend um sieben in der Krone« hört man auch nur noch in Ausnahmefällen, viel öfter dagegen: »Moment, ich muss erst mal in meinem Terminkalender nachsehen.«

Ein Terminkalender im Ruhestand – das muss man sich mal geben! Zumal einer, der bei vielen Senioren voller und unübersichtlicher ist als während ihres Arbeitslebens. Damals kamen wir alle abends müde nach Hause und waren froh, wenn wir uns nach dem Abendessen aufs Sofa oder vor die Glotze fallen lassen konnten. Oder uns eben mit Gleichgesinnten treffen. Doch jetzt, da wir eigentlich Zeit im Überfluss haben, klappt das plötzlich nicht mehr. Wobei es mit der Zeit im Alter ja ohnehin so eine Sache ist: Einerseits können wir über viel mehr als früher verfügen, andererseits wird uns von Tag zu Tag bewusster, dass die Restzeit begrenzt ist. Und diese beiden Zeitberechnungspole bringen denn auch zwei Gruppen von Senioren hervor: zum einen die weitaus kleinere, für die es das Allerhöchste ist, dass sie ganz spontan und ohne jegliche Einschränkung entscheiden können, was sie die nächste Stunde, den nächsten Tag oder auch das nächste Jahr tun wollen. Die auch mit größtem Vergnügen einfach auf der Couch liegen, ein Buch lesen oder von mir aus auf dem Smartphone Solitär spielen. Auf der anderen Seite stehen die, die, anstatt sich über die reichliche Freizeit zu freuen, ängstlich das Ende dieses paradiesischen Zustandes näher kommen sehen und die bis dahin noch verbleibende Zeit optimal nützen wollen. Die mit jedem Jahr, das vergeht, immer mehr von einer Art »Todschlusspanik« ergriffen werden. Das sind die Vertreter meiner Generation mit dem rappelvollen Terminkalender: heute noch zwei Ausstellungen, eine Vernissage und ein abendliches Kirchenkonzert, morgen Vormittag die Eröffnung des neuen Einkaufszentrums mit ausgedehnter Besichtigung, anschließend ein Umtrunk mit dem Bürgermeister und den am Bau Beteiligten, danach – je nach Jahreszeit – die Besichtigung des Rosengartens beim Schloss, des Ostereierbrunnens in Untermulfingen, der Adventsausstellung im Schloss Hohenzinnberg oder der grandiosen Krippen in Nördlingerhausen. Dazwischen sind jährlich mindestens drei mehrwöchige Reisen – auf die komme ich noch eigens zu sprechen – einzuplanen, dazu noch zwei Studienfahrten mit dem Geschichtsverein, zwölf Theater- und Konzertvorführungen im Rahmen eines Jahresabos, aber natürlich auch diverse eigene Aktivitäten wie Gesangsverein (zweimal wöchentlich Üben, einmal jährlich Auftritt), Posaunenchor und nicht zu vergessen allerlei Familienfeste – Taufen, Kommunionen, Konfirmationen der Enkel, Geburtstage, Hochzeiten und leider mit zunehmendem Alter immer häufiger: Beerdigungen. Wobei letztere sich naturgemäß nur sehr bedingt vorausplanen und konfliktfrei in den Terminkalender integrieren lassen.

Doch das Zeitverplanen geht noch schlimmer. Christa zum Beispiel, eine gute Bekannte meiner lieben Ehefrau, die, weil sie sich permanent um eine Enkelin kümmern muss, auch so schon oft nicht weiß, wo ihr der Kopf steht, ist der ultimative Fernsehserien-Freak. Ob »Ein Fall für zwei«, »Großstadtrevier«, »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« oder »Alarm für Cobra 11« – sie muss, seit sie im Ruhestand ist, unbedingt und unter allen Umständen die nächste Folge sehen. Und weil das so ohne Weiteres beim besten Willen nicht geht, hat sie sich zwei Rekorder gekauft, die sie eifrig programmiert, um nur ja nicht eine einzige Sendung zu verpassen. Reichen selbst die beiden Geräte nicht aus, bittet sie uns oder andere Bekannte, ihr doch bitte diese oder jene Folge von »Unter uns«, »In aller Freundschaft« und wie die Dinger alle heißen, aufzuzeichnen.

Einen Fernsehtick hat auch Wolfgang. Zwar steht er nicht auf Serien, aber sobald er die neueste Programmzeitschrift aus dem Briefkasten geholt hat, darf ihn die nächsten ein, zwei Stunden niemand ansprechen. Dann ist er nämlich hochkonzentriert damit beschäftigt, die Naturdokus, Sportsendungen, Talkshows und Spielfilme – um nur die wichtigsten Kategorien zu nennen – der nächsten zwei Wochen, die er unter keinen Umständen verpassen will, in den Kalender seines iPhones einzutragen – mit Erinnerungsfunktion versteht sich. Da kann es schon mal passieren, dass Bernhard und ich mit ihm gemütlich bei einem Bierchen sitzen, und plötzlich schmettert eine Fanfare. Woraufhin Wolfgang panisch auf sein Smartphone starrt und erschrocken hervorstößt: »O Mann, das hätte ich jetzt doch fast vergessen! Bei arte kommt gleich eine Doku über die Zwergheuschrecken auf Borneo, die muss ich unbedingt sehen. Zahlt bitte für mich mit, kriegt ihr wieder.« Und schon ist er weg.

Zum Schluss noch kurz zu Tabea. Seit wir sie kennengelernt haben, und das ist schon mindestens dreißig Jahre her, will sie auswandern. Irgendwohin nach Südostasien, Pakistan, Thailand, Kambodscha oder so. Richtiggehend besessen ist sie davon aber erst, seit sie ihren Job an den berühmten Nagel gehängt hat. Seitdem bereitet sie sich pausenlos mit intensiver Lektüre und vor allem mit diversen Volkshochschulkursen darauf vor. Zurzeit hat sie, wie sie mir kürzlich freudestrahlend anvertraut hat, davon nicht weniger als fünf belegt: Thailändisch, Indisch und Malayo-Molukkisch in diversen Fortgeschrittenenstadien, WhatsApp für Einsteiger – man will ja mit den Lieben zu Hause in Kontakt bleiben –, Qigong Taijiquan für Aussteiger (zum Meditieren beim Kofferpacken) sowie Hindu-Buddhistisch für Einsteiger (um sich intensiv mit der Mentalität der einheimischen Bevölkerung vertraut zu machen). Dass sie daneben jede Fernsehsendung – ob Reisereportage, Auswanderer-Seifenoper oder fernöstlicher Spielfilm –, die auch nur entfernt mit ihrem Herzenswunsch zu tun hat, begierig in sich aufsaugt, versteht sich ebenso von selbst wie die Tatsache, dass sie jeden Tag stundenlang Yogaübungen wie den Verletzten Pfau oder den Skorpion im Handstand zelebriert und jeden dritten Tag einen entsprechenden Kurs besucht.

Wenn ich so etwas höre, kann ich nur den Kopf schütteln. Mehr als fünfunddreißig Jahre bin ich in meiner Praxis von einem Termin zum anderen gehetzt, stand von morgens bis abends unter Strom. Da ist das, was ich im Ruhestand am wenigsten gebrauchen kann, Hektik in jeglicher Form. Das Einzige, was ich leidenschaftlich gern tue und was mir auch nie zu viel wird, ist, zur Jagd zu gehen. Wenn ich auf einem Hochsitz am Waldrand sitze, den sanften Wind spüre und meinen Blick über Wald und Flur schweifen lasse, bin ich total mit mir im Reinen. Ob ich dabei auch noch jagdlichen Erfolg habe, ist zweitrangig. In der Natur fühle ich mich so was von sauwohl, mehr brauche ich an Freizeitaktivitäten wirklich nicht.

Na ja, das stimmt nicht ganz. Denn schließlich halten Sie ja gerade ein Buch von mir in Ihren Händen. Das hat sich natürlich auch nicht von selbst geschrieben. Im Gegenteil: Von der ersten Idee über die Recherche und das Schreiben bis hin zum wiederholten Überarbeiten, Korrigieren und Fahnenlesen ist eine ganze Menge Zeit vergangen. Doch die – Sie werden es nicht glauben – habe ich wirklich gern geopfert. Zwar habe ich früher, als ich noch im Hamsterrad meiner Praxis rotiert bin, jeden zweiten Tag über die viele Büroarbeit geflucht und mir fest vorgenommen, im Ruhestand keinen Kuli mehr in die Hand und keine Tastatur unter die Finger zu nehmen, aber es ist eben doch etwas anderes, ob man etwas tun muss oder freiwillig tut. Selbst wenn das, was man da macht, letztlich genau dasselbe ist.

Wobei man, was die viele freie Zeit angeht, natürlich auch nicht in das totale Gegenteil der Terminkalender-Fraktion verfallen darf. So wie Rita, eine gute Bekannte, die, seit sie ihren Ehemann nach schwerer Krankheit verloren hat, mit Verpflichtungen, gleich welcher Art, überhaupt nicht mehr klarkommt. Nach dem Motto: »Nächste Woche geht bei mir nicht, da habe ich einen Friseurtermin.« Dabei musste sie früher als Chefsekretärin eines vielbeschäftigten Firmenbosses von früh bis spät Termine vereinbaren, koordinieren, umlegen, canceln oder sonst wie verwalten. Aber vielleicht liegt ja genau da das Problem. So wie etwa Manager, die jahrein, jahraus den ganzen Tag in Anzug und Krawatte daherkommen müssen, im Urlaub auf Mallorca besonders schlampig – etwa mit ärmellosem, fleckigem Shirt zur knallgrünen, kurzen Hose oder gar mit nacktem Oberkörper in der Innenstadt von Palma – rumlatschen, so scheint es auch in anderen Bereichen so zu sein, dass Menschen, die – und wenn auch nur für begrenzte Zeit – einen lästigen Zwang loswerden, ins genaue Gegenteil verfallen. Eben so wie Rita, die wir schon lange als Erste anrufen, wenn es etwa darum geht, einen Termin für ein Abendessen mit Gästen festzulegen.

Ich: »Wie sieht’s bei dir nächsten Freitag aus?«

Rita (die Antwort kommt prompt, ihre wenigen Termine hat sie mühelos im Kopf): »Tut mir leid, geht nicht. Da muss ich zum HNO-Arzt.« Ich (augenrollend, was sie ja zum Glück durchs Telefon nicht sehen kann): »Aber doch nicht am Abend.«

Rita (schnaubend): »Nein, das natürlich nicht. Aber ich hasse es, wenn ich von einer Verpflichtung zur anderen hetzen muss. Hektik hatte ich früher wirklich genug.«

Ich (bemüht ruhig): »Wann würde es dir denn passen?«

Rita: »Muss es unbedingt freitags sein?«

Ich (ein Stöhnen unterdrückend): »Ja, Müllers kommen auch. Du weißt doch, Hans arbeitet die ganze Woche auswärts und kommt erst am Freitagnachmittag nach Hause. Er möchte dann das Wochenende verständlicherweise mit seiner Familie verbringen. Da ist Freitagabend tatsächlich der einzig mögliche Termin.«

Rita: »Das verstehe ich natürlich. Aber nächsten Freitag hab’ ich die Enkel und am Freitag drauf einen Fußpflege-Termin. Aber dann kommt eine Woche, da habe ich noch gar nichts vor.«

Ich (erleichtert ausatmend): »Prima, dann nehmen wir die.« – Was soll ich sonst auch sagen?

Das Problem mit der Zeit im Ruhestand und was man damit anfangen soll, wird noch dadurch verstärkt, dass jedes Jahr ein bisschen schneller vergeht als das vorausgegangene. Die Erfahrung haben Sie sicher auch schon gemacht. Besonders bewusst wird mir dieses Phänomen immer, wenn meine liebe Ehefrau mal wieder fragt: »Was machen wir eigentlich Silvester?« Dann habe ich regelmäßig das Gefühl, das Thema doch erst gestern ausdiskutiert zu haben. Doch unser diesbezügliches Gespräch liegt tatsächlich schon wieder ein Jahr zurück. »Die Jahre werden schneller, wenn sie knapper werden«, hat der Abt eines Benediktinerklosters hier in der Nähe einmal gesagt, und von Curd Jürgens stammt der Spruch: »Es ist wichtiger, den Jahren mehr Leben zu geben als dem Leben mehr Jahre.«

Dem ist, denke ich, nichts hinzuzufügen.

Nicht jedermanns Sache: Ehrenamt

Ja, den Jahren mehr Leben geben, das ist es, dem stimme ich vorbehaltlos zu. Aber das Wort »Leben« durch »Hektik« oder gar »Stress« zu ersetzen – allein bei dem Gedanken krampft sich in mir alles zusammen. Ich hatte so viele Jahre lang so viele Verpflichtungen, musste mich um so viel kümmern und mir wegen so vieler Dinge Gedanken machen, da möchte ich mich im Alter nicht wieder in ein Korsett von »Du solltest« oder gar »Du musst« einzwängen lassen. Deshalb möchte ich auch nicht jeden Montagabend um achtzehn Uhr dreißig im Klassenraum irgendeines Gymnasiums hocken, um in einem Volkshochschulkurs mein Italienisch oder meine Kenntnisse