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Philip Specht

Die 50 wichtigsten Themen der Digitalisierung

Für meine Eltern

Philip Specht

Die 50 wichtigsten Themen
der Digitalisierung

Künstliche Intelligenz, Blockchain, Robotik,
Virtual Reality und vieles mehr verständlich erklärt

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

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5. Auflage 2021

© 2018 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

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Redaktion: Christiane Otto, München

Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt, München

Satz: Carsten Klein, Torgau

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN Print 978-3-86881-705-8

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96267-020-7

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-021-4

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.redline-verlag.de

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Inhalt

Vorwort

Ein Blick in die Zukunft: Werden wir alle Maschinenmenschen?

1. Technologische Singularität

Das 1x1 der Digitalisierung

2. Bits & Bytes

3. Hardware

4. Software

5. Programmieren

6. Netzwerke

7. Internet

8. World Wide Web

9. Cloud

10. Exponentielles Wachstum

11. Digitale Disruption

12. Silicon Valley

13. Silicon Germany - die deutsche Digitalszene

14. Der digitale Arbeitsmodus: Design Thinking & MVPs

15. Venture Capital & Co.

Das Internet aus Sicht von Privatnutzern und Unternehmen

16. Online-Trends

17. Monetarisierungsmodelle im Internet

18. Search Engine Optimization (SEO)

19. Search Engine Advertising (SEA) & Google Adsense

20. Content-, Social-Media- & Influencer-Marketing, Bots

21. Online-Sales

Die Schattenseiten des Netzes

22. Die Millennial-Diskussion

23. Filterblasen

24. Fake News

25. Trolle

26. Viren, Würmer und andere Schadsoftware

27. NSA und Datenüberwachung

28. Darknet

Die zehn wichtigsten digitalen Technologietrends

29. Internet of Things

30. Big Data

31. Virtual Reality

32. Augmented Reality

33. 3-D-Druck

34. Blockchain und Bitcoin

35. Künstliche Intelligenz

36. Robotik

37. Nanotechnologie

38. Biotechnologie

39. Unausweichliche Entwicklungsstränge

Der Einfluss der Digitalisierung auf ausgewählte
Lebensbereiche

40. Smart Home

41. Sexualität

42. Smart Health

43. Autonomes Fahren

44. Industrie 4.0

45. Arbeitsmarkt & Wohlstand

46. Identität

47. Vom Homo Sapiens zum Homo Deus

48. Menschheit in Gefahr

Der Weg in eine menschenfreundliche digitale Zukunft

49. Digitale Ethik

50. Handlungsoptionen

Danksagung

Anmerkungen

Vorwort

Plötzlich war sie da, die Digitalisierung. Sie trat in mein Leben in Form eines klobigen, grauen Computers, den meine Eltern 1998 für unsere Familie gekauft hatten. Bis zu diesem Zeitpunkt – ich war gerade zwölf Jahre alt geworden – hatte Technik in meiner Kindheit nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Ab und zu hörte ich Kassette, sah fern oder spielte mit meinem ferngesteuerten Auto. Im Urlaub durfte ich manchmal mit der Videokamera meines Vaters ein paar verwackelte Aufnahmen machen. Das einzige technische Gadget, das ich mir immer gewünscht hatte, war ein Bildtelefon, um meine 600 Kilometer entfernt lebende Großmutter beim Telefonieren sehen zu können.

Mit dem neuen Computer wusste ich anfangs nicht viel anzufangen, doch Internet, E-Mails und der Flugsimulator erwiesen sich schnell als interessanter Zeitvertreib. Als ich 13 Jahre alt war, bekam ich mein erstes Handy geschenkt, ein Nokia 3210. Mehrmals täglich checkte ich meinen SMS-Eingang und auf einmal spielte digitale Technik eine zentrale Rolle in meinem Leben. Mit 22 kaufte ich mir mein erstes Smartphone. Seitdem beantwortet mir Google innerhalb von Sekunden jede wichtige Alltagsfrage. Auch der Wunsch nach einem »Bildtelefon« wurde Realität. Meine Großmutter traute ihren Augen kaum, als auf dem Laptop plötzlich per Skype das Gesicht ihres Enkels aus dem Auslandssemester in Singapur erschien. Spätestens seit meinem Berufsstart dominierte ein digitales Gerät den Großteil meines Alltags.

In den letzten Jahren habe ich viel darüber nachgedacht, wie die Digitalisierung, die nur 20 Jahre zuvor für mich völlig irrelevant war, mein Leben und unsere ganze Gesellschaft über die Zeit immer tiefgreifender geprägt hat. Dass dieser Trend sich noch weiter beschleunigt, faszinierte und beunruhigte mich zugleich. Je intensiver ich mich damit auseinandersetzte, desto geneigter war ich, mich der radikalen Meinung zahlreicher Digitalisierungsexperten und Zukunftsforscher anzuschließen: Der Fortschritt der Digitalisierung wird uns zeitnah mit der wohl größten zivilisatorischen Herausforderung konfrontieren, die es je zu bewältigen galt. Folgt man den progressiven Zukunftsprognosen, stehen wir menschheitsgeschichtlich nur einen Wimpernschlag vor dem Moment, in dem künstliche Intelligenz das bisherige Primat des Menschen als höchste Intelligenzform auf diesem Planeten ersetzt. Gleichzeitig führen Innovationen im Bereich der künstlichen Intelligenz, Genetik und Nanotechnologie unweigerlich dazu, dass Menschen sich künftig technisch »optimieren« können. In letzter Konsequenz könnten die Grenzen zwischen Mensch und Maschine tatsächlich verschwimmen – ein Szenario, das bis vor Kurzem im Reich der Science-Fiction angesiedelt war.

Falls Ihnen diese Gedanken zu weit hergeholt erscheinen, lassen wir an dieser Stelle die Aussagen von drei der weltweit einflussreichsten Köpfe für sich selbst sprechen. »Computer werden Menschen innerhalb der nächsten hundert Jahre mit künstlicher Intelligenz überholen«, sagt beispielsweise der berühmte Physiker Stephen Hawkings, und nennt dabei noch einen relativ weit gefassten Zeitrahmen.1 Sein Urteil zu dieser Entwicklung ist zwiespältig: Künstliche Intelligenz werde entweder »das Beste sein, das der Menschheit passieren kann. Oder das Schlechteste«.2 Der Visionär und Gründer von Tesla und Space X, Elon Musk, ist der Meinung, dass künstliche Intelligenz »das größte Risiko für unsere Zivilisation« sei. Die Menschheit müsste zudem ihre Fähigkeiten durch eine »Verschmelzung von biologischer und maschineller Intelligenz« erweitern, falls sie mit den Fähigkeiten künstlicher Intelligenzen mithalten wollte.3 Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch Elon Musks jüngst bekannt gegebenes Investment in die Firma Neuralink, die an der Technologie für Gehirn-Computer-Schnittstellen arbeitet. Der Chefingenieur von Google, Ray Kurzweil, geht in seinen Gedanken sogar noch einen Schritt weiter. Er behauptet, dass der technische Fortschritt sich in den nächsten drei Dekaden derart rasant entwickelt, dass nach dem Jahr 2045 »das menschliche Leben einen unwiderruflichen Wandel erfährt« und die Zukunft der Menschheit nicht mehr vorhersehbar ist.4

Natürlich gibt es auch moderatere Stimmen. Marc Zuckerberg glaubt zum Beispiel, dass künstliche Intelligenz menschliche Fähigkeiten nur in bestimmten Teilbereichen übertreffen wird. Darunter fallen Sinneswahrnehmungen wie Sehen und Hören oder die Spracherkennung. Er prognostiziert, dass es möglich sei, »in den nächsten fünf bis zehn Jahren an den Punkt zu kommen, an dem Computersysteme besser als Menschen in all diesen Fähigkeiten sind«. Die Furcht vor künstlicher Intelligenz hält er hingegen für »hysterisch«.5

Ich möchte Mark Zuckerberg mit allem Respekt entgegenhalten, dass die Furcht vor künstlicher Intelligenz keineswegs hysterisch ist. Zumindest eine ernsthafte Sorge ist angebracht, und zwar nicht nur vor künstlicher Intelligenz, sondern den Folgen der Digitalisierung im Allgemeinen. Wenn sich selbst die größten Experten nicht einig sind, wie viele Jahrzehnte der Mensch in seiner gegenwärtigen Daseinsform neben immer klügeren Maschinen eine vernünftige Lebensperspektive hat, sollte dann nicht jeder stutzig werden?

Als ich vermehrt begann, mit Bekannten über diese Fragen zu sprechen, erlangte ich zwei Erkenntnisse. Erstens: In Bezug auf digitale Zukunftstrends sind oft wenig mehr als Schlagworte und einige oberflächliche Fakten bekannt. Zweitens: Selbst wenn weitreichendere Kenntnisse vorhanden sind, erschwert ein mangelndes Verständnis technischer und konzeptioneller Grundlagen die Diskussion. Von diesem mangelnden Verständnis möchte ich mich selbst nicht ausschließen, im Gegenteil. Je mehr ich versuchte, eine ganzheitliche Perspektive auf das Thema Digitalisierung zu gewinnen, desto mehr Lücken entdeckte ich in meinem Grundwissen. Um diese persönlichen Beobachtungen einmal zu verallgemeinern, möchte ich die Behauptung aufstellen, dass sich das gesellschaftliche Verständnis von Digitalisierung grob in vier Personengruppen widerspiegelt:

  1. Die erste Gruppe sind die »Verweigerer«. Ich denke hier zum Beispiel an meine Großmutter, Jahrgang 1920. Sie hat niemals Ambitionen gehegt, die Welt des Internet und der Smartphones für sich zu erschließen.
  2. Die zweite Gruppe sind die »Neuland-Entdecker«, um Angela Merkels berühmte Aussage aus dem Jahr 2013 aufzugreifen, dass das Internet »für uns alle Neuland« sei.6 Zu dieser Gruppe würde ich beispielsweise meine Eltern zählen. Sie haben den Schritt in die digitale Welt gewagt und nutzen digitale Hilfsmittel im Alltag. Wenn Geräte aber nicht wie erwartet funktionieren, benötigen sie schnell Hilfe.
  3. Die dritte Personengruppe sind die »Digital-Affinen«. Sie setzen sich privat oder beruflich mit manchen Digitalthemen intensiv auseinander und würden das Internet daher sicher nicht als »Neuland« bezeichnen. Doch auch sie sind über einige Digitalthemen nur oberflächlich informiert. Die meisten der sogenannten Digital Natives zählen zur digital-affinen Personengruppe, also Menschen, die seit 1980 geboren wurden und bereits früh in ihrer Jugendzeit mit der Digitalisierung in Kontakt gekommen sind. Natürlich gibt es auch aus den vorherigen Generationen viele Menschen, die digital versiert sind.
  4. Schließlich gibt es noch die relativ kleine Gruppe der »Digital-Experten« und »Nerds«, die sich extrem gut im »Neuland« auskennen. Die Digitalisierung ist ihr Leben oder zumindest ihr Beruf. Sie arbeiten in der Start-up-Welt und den Innovationsabteilungen großer Unternehmen. Ihre Vorbilder sind die Vordenker, Erfinder und Konzernlenker aus dem Silicon Valley.

Es dürfte niemanden überraschen, dass der Kreis von Experten aus der vierten Gruppe mit seinen Unternehmungen und Entscheidun gen unsere Gesellschaft immer stärker prägt. Ihr Handeln hat bereits heute fundamentale Implikationen für unseren Alltag – und mehr noch in unserer Zukunft. Daraus sollten wir folgende Schlussfolgerung ziehen: Niemand darf sich beim Thema Digitalisierung abhängen lassen, der mit offenen Augen in die eigene Zukunft blicken und das Zepter der Zukunftsgestaltung nicht an einen kleinen Kreis von Digitalisierungsexperten abgeben möchte. Niemand darf sich beim Thema Digitalisierung abhängen lassen, der unsere Gesellschaft als Bürger und Wähler, als Angestellter oder Unternehmer dauerhaft mitgestalten möchte. Dabei ist es nicht notwendig, dass jeder selbst Experte wird. Ein guter Anfang ist es, sich ein umfassendes Grundlagenverständnis von Digitalisierung als Teil einer zeitgemäßen Allgemeinbildung anzueignen. Ein solches Vorhaben kostet Zeit – zu viel Zeit meiner Meinung nach.

Es gibt viele großartige Bücher über Digitalisierung, aber tatsächlich haben weder die Buchhandlung um die Ecke noch Amazon mir mit einem einzelnen Buch weiterhelfen können, das den gesamten Themenkomplex umreißt. Daher habe ich selbst den Versuch gewagt, dieses Buch zu schreiben und die 50 wichtigsten Aspekte der Digitalisierung jeweils auf wenigen Seiten zu erläutern. Als potenziellen Leser hatte ich dabei vor allem Menschen aus dem oben beschriebenen zweiten und dritten Personenkreis vor Augen – also Personen, die weder digitaler Laie noch Digitalexperte sind.

Vielleicht fragen Sie sich, warum gerade ich ein solches Buch schreibe. Ich bin weder Journalist noch selbsterklärter Digitalisierungsguru; doch durch meine frühere Tätigkeit als Unternehmensberater und durch den Aufbau eines digitalen Start-ups habe ich mit verschiedenen Digitalthemen einschlägige Erfahrungen gemacht, auf denen ich bei der Recherche für dieses Buch aufbauen konnte. Ich möchte vor diesem Hintergrund die Digitalisierung aus der Perspektive eines unbefangenen, neugierigen, digital-affinen Menschen beleuchten und sowohl die großen Zusammenhänge als auch wichtige Details in verständlicher Weise erläutern. Meine Hoffnung ist es, all denjenigen ein hilfreiches Kompendium an die Hand zu geben, die ihr Grundlagenverständnis von Digitalisierung möglichst schnell und dennoch umfassend erweitern wollen.

Ein Blick in die Zukunft: Werden wir alle Maschinenmenschen?

»Die Zukunft gehört denen, die die Möglichkeiten erkennen, bevor sie offensichtlich werden.«

Oscar Wilde

Versuchen Sie sich einen Moment vorzustellen, wie die Welt im Jahr 2045 aussehen wird. Was sehen Sie? Humanoide Roboter, die uns unsere Wohnung putzen? Fliegende autonome Autos? Menschen mit Gehirn-Computer-Schnittstellen, wie Elon Musk sie erschaffen will? Vielleicht ist das auch etwas zu weit gegriffen und Sie haben eine gemäßigtere Vorstellung vom technischen Fortschritt.

Welche Bilder auch immer gerade vor Ihrem inneren Auge erscheinen, sie sind wahrscheinlich stark durch Science-Fiction geprägt. Science-Fiction kann uns tatsächlich helfen, Möglichkeiten zu erkennen, bevor sie offensichtlich werden (um die oben zitierten Worte Oscar Wildes aufzugreifen). Denn wie die Vergangenheit uns gelehrt hat, werden einige Szenarien aus der Science-Fiction tatsächlich irgendwann Realität. Ein gutes Beispiel sind die selbstfahrenden Autos, die in zahlreichen Science-Fiction-Filmen die Straßen der Zukunft befahren. Lange Zeit wurde autonomes Fahren als Hollywood-Schwärmerei abgetan. Mittlerweile sind autonome Fahrzeuge aber so real, dass sie erfolgreich Millionen von Testkilometern auf den Straßen der USA und anderer Länder absolviert haben.

Was aber, wenn Science-Fiction zu kurz greift, um das wahre Potenzial des technologischen Wandels zu erkennen? Einige sehr kluge Menschen sind der Meinung, dass genau dies der Fall sei unddie Realität schon innerhalb der nächsten 30 Jahre (nicht 100 oder 200!) die meisten Science-Fiction-Szenarien überholen werde. Sie sind Anhänger einer Denkschule, die das baldige Eintreten der sogenannten technologischen Singularität postuliert: das Stadium einer Entwicklungsspirale, in dem sich technologischer Wandel so schnell und tief greifend vollzieht, dass er jeden Aspekt des menschlichen Lebens irreversibel verändert. Diesem Zukunftsszenario ist das erste Kapitel des Buches gewidmet – ein ähnlich radikaler Einstieg, als hätte man vor 100 Jahren ein Physikbuch mit Überlegungen zum Bau einer Atombombe eingeleitet. Die Singularität soll dabei nicht als unvermeidliches Schicksal der Menschheit positioniert werden. Vielmehr geht es darum, einen Denkanstoß zu geben, welche technischen, ethischen und vielleicht sogar existenziellen Fragestellungen die Digitalisierung aufwirft.

1. Technologische Singularität

Im Jahr 2045 erreicht die Menschheit die technologische Singularität. Der technische Fortschritt hat sich bis zu diesem Ereignis derart beschleunigt, dass die Zukunft der Menschheit danach nicht mehr vorhersehbar ist. Schon viele Jahre vor der Singularität wird es gelungen sein, mithilfe modernster bildgebender Verfahren ein genaues Verständnis von Aufbau und Funktion unseres Gehirns zu gewinnen. Bis zum Jahr 2030 kommen bei Gehirnscans sogenannte Nanobots in unseren Hirnkapillaren zum Einsatz, kleine Nanoroboter aus Kohlenstoffatomen. Dadurch kann das Gehirn nicht mehr nur von außen, sondern auch von innen »durchleuchtet« werden. Gehirnscans erkennen somit bis ins kleinste Detail, welche Neuronen bei bestimmten Handlungen und Emotionen Impulse senden. Auf Basis dieser Erkenntnisse kann in einem Reverse-Engineering-Verfahren Software erstellt werden, die alle Fähigkeiten unseres Gehirns simuliert, inklusive unserer emotionalen Intelligenz. Solche Computer und Maschinen entwickeln unweigerlich auch die Fähigkeit, sich ohne menschliches Zutun weiterzuentwickeln. Und je höher die Maschinen entwickelt sind, desto schneller können sie sich selbst weiter verbessern. So entsteht über die Jahre ein sich selbst verstärkender Prozess, eine Spirale des Fortschritts, die sich stetig beschleunigt. Im Jahr 2045 entfacht das Eintreten der Singularität eine Dynamik der Ereignisse, die sich unserer heutigen Vorstellungskraft entzieht.

Der entscheidende Treiber der Entwicklung bis zur Singularität ist exponentieller Fortschritt in verschiedenen technologischen Bereichen, insbesondere in der Computertechnologie, der Nanotechnologie, der Robotik und der künstlichen Intelligenz. Exponentielles Wachstum ist trügerisch: Im Gegensatz zu linearem Wachstum beginnt es zunächst langsam, nimmt aber dann zu einem bestimmten Zeitpunkt geradezu explosionsartig Fahrt auf. Dieses Phänomen erklärt den Entwicklungssprung der Technik in den Jahren 2015 bis 2045: Zwischen 2015 und 2020 ist ein Punkt in der Kurve erreicht, ab dem sich technischer Fortschritt – gerade im Bereich künstlicher Intelligenz – dramatisch beschleunigt.

Die Singularität wird die Menschheit jedoch nicht unvorbereitet treffen. Bis zu ihrem Eintreten werden wir die weitere Entwicklung absehen und proaktiv gestalten können. Die rasante technologische Entwicklung wird nämlich auch vor dem menschlichen Körper nicht haltmachen. Revolutionäre Fortschritte in der Genetik und Nanotechnologie werden dem Menschen erheblich bessere körperliche und geistige Fähigkeiten verschaffen. Unsere Körper werden jung und gesund bleiben und überwiegend aus anorganischen Teilen bestehen. In unseren Blutbahnen werden Milliarden von Nanobots fließen. Sie bekämpfen nicht nur Krankheiten und reparieren alternde Zellen; sie versorgen uns auch mit Sauerstoff – viel effizienter als die obsolet gewordenen roten Blutkörperchen. Auch in unseren Gehirnen werden Nanobots aktiv sein. Sie werden unsere geistigen Fähigkeiten um ein Vielfaches erweitern und uns mit dem Internet verbinden. Zudem können die Nanobots im Gehirn neuronale Reize aus der Außenwelt ausschalten und mit künstlichen überdecken, sodass wir uns je nach Belieben in der Realität oder einer virtuellen Realität aufhalten können. Bis zum Jahr 2045 wird ein neuer Typus Mensch entstanden sein: Cyborgs, bei denen es keine klare Unterscheidung mehr zwischen biologischer und nicht-biologischer Intelligenz gibt. Doch damit nicht genug: Sobald es uns gelingt, mittels Gehirnscans sämtliche relevanten Details der Gehirnstruktur zu erfassen, werden wir auch lernen, diesen Zustand in einem anderen, leistungsstärkeren Substrat zu reproduzieren. Ein solcher Gehirnupload wird uns ein ewiges Leben außerhalb unseres physischen Körpers ermöglichen.7

Vielleicht erschreckt Sie dieser Ausblick ins Jahr 2045 ein wenig. Oder Sie fragen sich, welch absurde Fantasien den Urheber dieser Gedanken überkommen haben. In beiden Fällen mag es Sie vermutlich erstaunen, dass der wohl renommierteste Zukunftsforscher unserer Zeit dieses Zukunftsbild skizziert. Ray Kurzweil lautet der Name des bereits in der Einleitung erwähnten und nicht unumstrittenen, US-amerikanischen Futuristen, der in Deutschland über Fachkreise hinaus noch relativ unbekannt ist. Dabei dürfen seine kühnen und folgenreichen Thesen in keiner ernsthaften Diskussion über die langfristigen Folgen der Digitalisierung fehlen. Doch wer genau ist die Person Ray Kurzweil? Und was entgegnen seine Kritiker?

Ray Kurzweil wurde 1948 in New York geboren und studierte nach der Highschool am Massachusetts Institute of Technology (MIT) Computerwissenschaften und Literatur. Schon vor seinem 30. Lebensjahr erlangte er Bekanntheit, indem er eine Maschine für blinde Menschen entwickelte, die in der Lage war, gedruckte Texte vorzulesen. Von 1990 bis heute veröffentlichte Kurzweil sieben Bücher (davon fünf Bestseller), die sich mit Zukunftstechnologien, Gesundheit, Transhumanismus und technologischer Singularität befassen. Darin sagte er gleich mehrere technologische Entwicklungen korrekt voraus, unter anderem den ersten Sieg eines Schachcomputers über den Schachweltmeister bis zum Jahr 1998. Seit 2012 ist Kurzweil Head of Engineering bei Google und hält damit eine der wichtigsten Positionen im Konzern inne. Im Jahr 2015 nannte ihn Microsoft-Gründer und Multimilliardär Bill Gates »die beste Person, die ich kenne, um die Zukunft künstlicher Intelligenz vorherzusagen«.8

Sie sehen also, dieser Mann sollte nicht allzu leicht als verrückter Zukunftsprophet abgetan werden. Immerhin hält die Unternehmensspitze von zwei der größten Technologiekonzerne der Welt, Google und Microsoft, große Stücke auf seine Fähigkeiten. Der Öffentlichkeit bekannt ist Ray Kurzweil heute vor allem durch seine Thesen zur Singularität. Erfunden hat er diesen Begriff allerdings nicht. »Singularity« ist ein fester Begriff der englischen Sprache und steht ursprünglich für ein einzigartiges Ereignis, mit einzigartigen Auswirkungen. Die Mathematik hat den Begriff schon früh übernommen, um einen Wert zu beschreiben, der alle endlichen Schranken übersteigt. 1958 wurde »Singularity« vom IT-Forscher John von Neumann, dem vielleicht wichtigsten Wegbereiter der modernen IT, erstmals in einem technologischen Kontext verwendet. Er beschrieb damals eine »stete Beschleunigung des technischen Fortschritts und der Veränderung im Lebenswandel, die den Anschein macht, auf eine entscheidende Singularität in der Geschichte der Menschheit hinauszulaufen, nach der die Lebensverhältnisse, so wie wir sie kennen, sich nicht fortsetzen könnten«.9 Kurzweil hat den Singularitätsbegriff jedoch entscheidend weiterentwickelt, insbesondere durch sein Werk The Singularity is near aus dem Jahr 2005.

Bei allem Renommee von Kurzweil gibt es auch zahlreiche Kritiker seiner Theorien. Ein häufig angeführter Kritikpunkt ist, dass Kurzweil zu sehr dem Prinzip exponentiellen Wachstums in verschiedensten Technologiebereichen verhaftet sei und reale Wachstumspotenziale überschätzt.10 Ein weiterer Einwand ist, dass Kurzweils theoretisches Verständnis des Gehirns sowie der Möglichkeiten zur Replikation des menschlichen Geistes nicht ausreiche.11 Besonders pointiert hat Pulitzer-Preisträger Douglas Hofstadter die Stimmen der Kritiker zusammengefasst: Kurzweils Buch über die nahende Singularität beschreibt er als eine »sehr bizarre Mischung von Ideen, die solide sind, mit Ideen, die verrückt sind«.12

Eines sollte bei der Auseinandersetzung mit Kurzweils Ideen aber deutlich werden: Auch wenn nur ein Teil seiner Prophezeiungen eintritt, wird die Digitalisierung die Menschheit stärker verändern, als die meisten unter uns bisher für möglich halten. Sie wird ungeahnte Chancen und Risiken mit sich bringen und mit jedem Tag an Einfluss auf unser Leben gewinnen. Nehmen wir diese Erkenntnis als Motivation, die Grundlagen der Digitalisierung besser zu verstehen und unsere digitale Zukunft kritisch zu hinterfragen.