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Christoph-Maria Liegener (Hrsg.)

3. Bubenreuther

Literaturwettbewerb

2017

© 2017 Christoph-Maria Liegener

Herausgeber: Christoph-Maria Liegener

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 42, 22359 Hamburg

Druck in Deutschland und weiteren Ländern

ISBN:

978-3-7439-7037-3 (Paperback)

978-3-7439-7038-0 (Hardcover)

978-3-7439-7039-7 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Das Copyright liegt bei den Autoren. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autoren unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Vorwort

Die Siegertexte

Erster Platz: Michael Spyra

Zweiter Platz: Walther (Werner Theis)

Dritter Platz: Gerhard Gerstendörfer

Vierter Platz: Helge Hommers

Fünfter Platz: Franziska Lachnit

Weitere ausgewählte Werke

Susanne Ulrike Maria Albrecht

Mona Ullrich

C. Richardt

Stefanie Haertel

Suna Silena Yilmaz

Achim Nowak

G. Siema

Till Kammerer

Frederik Durczok

Wolfgang Rinn

Carmen Purr

Rita Kuonen

Ulrike Tovar

Michael Lehmann

Herbert Schmidt

Werner Siepler

Heike Haltenhoff

Irmgard Wackerzapp

Magdalena Ecker

Dorothee Hövel-Kleibrink

Marcel Zischg

Clemens Ottawa

Carsten Stephan

Chiara Blum

Katrin Jahn

Isabelle Thier

Friederike Keil

Dietmar Füssel

Susanne Rzymbowski

Regina Schleheck

Rüdiger Butter

Ursula Hellmann

Helmut Glatz

Thomas Glatz

Sandy Mercier

Achim Deubert

Wolfgang Fink

Claudia Falk

Michael Wäser

Werner Krotz

Rudolf Strohmeyer

Frank Tichy

Leah Richter-Reichhelm

Sonja Rabaza

Rotraud Ehler

Helmut Herrmann

Svenja Volpers

Klaus-Peter Möller (Potsdam)

Gregor Schürer

Gudrun Maria Gräbner

Sven Klöpping

Jutta Gornik

Herbert Steingen

Alessio Hirschkorn

Johannes Heiner

Victoria Lubarski-Goldbeck

Anja Pompowski

Fuchstraum (Christoph Große)

Eusebius van den Boom

Fitnat Ahrens

Anneliese Kindel

Olaf Ludmann

Kristin Fieseler

Susanne Mathies

Irena Habalik

Leonhard Michael Seidl

Stefanie Baier

Jürgen Rösch-Brassovan

Daniel Mylow

Moritz Mayer

Jessica Pietschmann

Julia Pfeifer

Ilka Sommer

Marie Brandhofer

Werner Bliß

Dörte Müller

Lieselotte Degenhardt

Harald Kappel

Ems Shay

Roland Rothfuß

Carmen Gauger

J. A. Heger

Kai Focke

Nico Feiden

Gisela Baudy

Birgit Schwermann

Gerhard Schmuck

Johanna Hansen

Heike Stuckert

Thomas Fürtges

Jens-Philipp Gründler

Christiane Schwarze

Katrin Karrasch

Christina Stöger

Corinna Reinke

Swantje Baumgart

Hajo Fickus

Ulrich Kaufmann

Nicolai Kistner

Frank Erz

Hendrik Preßler

Mariela Sievers

Frank Schmitter

Julia Glaser

Nicole Zieseniss

Meike Bruhns

Jan D. Stechpalm

Andreas Bohnensack

Dirk Schmoll

Daniel Klaus

Julia Kersebaum

Gianna Suzann Goldenbaum

Aneka Brunßen

Norman P. Franke

Carl Reiner Holdt

Christina Schößler

Susan Szabo

Selina Carolin Albert

Nicole Makarewicz

Erich Carl

Julia Elflein

Christa Mollenhauer

Andreas Kleingrothe

Renate Gottschewski

Daniela M. Fiebig

Bernhard Behrendsen

Wolfgang Rödig

Angélique Duvier

Klaus Frank

Melanie Horn

Ingrid Svoboda

Nina Waldkirch

Helmut Rinke

Martin Schwietzke

Frank Freimuth

Waltraud Gelder

Philipp Unsinn

Claudia Dvoracek-Iby

Ines Oppitz

Paul-Gerhard Theymann

Bernd Daschek

Hermann Markau

Mara Meier

Herbert Fehmer

Klaus-Dieter Boehm

Tanja R. Müller

Benjamin Mark

Benjamin Bächle

Petra Pohlmann

Claudia von der Haar

Ralf Arnold

Stefanie Dominguez

Anna Hackl

Marco Wittemann

Alina Noël Voigt

Marion Mink

Christina Weißenböck

Viktoria Wehrle

Lukas Kiemele

Tania Rupel Tera

Lea Dettli

Elisabeth Steinfeld

Tristan Bernart

Jule Lange

Caroline Danneil

Matthias Thurau

Leonie Halter

Ulrike Feifar

Sören Heim

Christoph Fortmann

Bastian Kienitz

Michael Longerich

Tobias Grimbacher

Cornelia Koepsell

Dagmar Dusil

Wolfram Liebing

Christin Habermann

Gebhard Manntz

Patrick Winter

Barbara Peveling

Vanessa Hämmerl

Bastian Klee

Ann-Katrin Preis

Günther Sturmlechner

Tiphan(StephanTikatsch)

Vera Heinrich

Sascha A. Wanke

Linda Müller

Anne Magdalena Wejwer

Dörthe Huth

Annelie Schmücker

Anna Straetmans

Sandra Karin Foltin

Horst Decker

Xenia Hügel

Herbert Glaser

Laura Bärtle

Renate Meier

Angelika Eichhorn

Jennefer Mocci

Rudolf Arlanov

Leonie Fliess

Abend mit Freunden

Ina Berninger

David Heinze

Frank Knollmann

Jutta Rülander

Cornelia Becker

Monika Loerchner

Franz Schart

Mone Jendreyko

Silvia Orgel

Horst-Dieter Radke

Annelie Kelch

Alex Breugl

Reinhold Kusche

Renate Wunderer

A. E. Eiserlo

Werner Somplatzki

Miriam Exner

Felix Wendler

Meike Wanner

Brigitte Stammschröer

Kerstin Schreiber

Norbert Autenrieth

Heidi Maria Pongratz

Elli Bunt

Kathrin Hehn-Mark

Georg Weigl

Michael Gernot Sumper

Kristin Schultz

Alma Pfeifer

Mesut Bayraktar

Paul Theobald

Claus M. Schwarz

Jennifer Rendla

Markus Thielemann

David Benedikt Käter

Friederike Langwasser

Eileen Leistner

Beate Hilger

Brigitta Michel-Schwartze

Bettina Schneider

Kathrin B. Külow

Marianne Behechti

Eva-Maria Bläsi

Karl Johann Müller

Eleni Tzivaki

Anita Gröger

Franziska Bauer

Lukas Friedland

Jan Zänker

Henrik Lode

Janina Michl

Achim Stößer

Dorothea Burger

Renate Maria Riehemann

Barbara Kammerer

Boris Mirovski

Lena Hauser

Constantin E. Martin

Andreas Andrej Peters

Susann Obando Amendt

Lisa Meyer

Frank Wittmer

Alexander Grun

Vorwort

Die Art, wie Literatur geschrieben und vertrieben wird, hat sich gewandelt. Die Zeit der großen Dichterfürsten ist vorbei. Kleine, schnelllebige Werke werden in Mengen produziert und über moderne Medien kommuniziert. Der Impact ist wichtiger als theoriegeladene Qualitätsstandards. Ein breites Feedback beeinflusst wiederum die Werke.

Es handelt sich dabei um einen Übergang von zentralistischen Hierarchien zu netzwerkartigen Strukturen im Literaturbetrieb. Eine ganz neue Art von Aktivität entsteht. Bekanntlich bauen Männer Hierarchien, Frauen Netzwerke. So kann in diesem Bereich ein Weiblich-Werden der Organisationsform beobachtet werden, ein Symptom für eine Entwicklung, die mittlerweile unmerklich die ganze Welt umformt: Die Welt wird weiblich. Genauer gesagt zeigt das Kollektiv der Menschheit – psychologisch betrachtet – zunehmend weibliche Züge. Dies lässt sich in auch in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen feststellen. Es ist eine Entwicklung, die der Selbstzerstörung der Menschheit entgegenwirkt, also eine positive Entwicklung.

An noch einer Stelle äußert sich im Umgang mit Literatur das Weiblich-Werden der Welt. Frauen sind statistisch gesehen um Längen kommunikativer als Männer. Während Männer früher im stillen Kämmerlein über ihren Texten brüteten, haben Frauen ihre Gedanken schon immer gern mit anderen geteilt. Dieses Teilen von geistigen Ergüssen ist nunmehr Teil unserer Kultur geworden, nicht nur in den sozialen Netzwerken des Internets.

Dieser Trend hat seine Ursache nicht darin, dass heute mehr Frauen literarisch aktiv sind als Männer (bei Lyrik könnte das sogar der Fall sein), sondern darin, dass sich das kollektive Bewusstsein gewandelt hat. Es ist inzwischen „in“, seine Texte der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Anthologien mit Werken von Autoren verschiedenster Couleur werden immer beliebter. Sie erfüllen eine wichtige Funktion: einen Überblick über die jeweils aktuellen Aktivitäten zu geben. Auch die vorliegende Anthologie hat sich der Teilnahme an dieser Bewegung verschrieben. Es gibt ein Heer mehr oder weniger bekannter Schriftsteller und sie könnten unzählige Anthologien füllen. Das ist gut so. Jede Anthologie, und so hoffentlich auch diese, kann dem Austausch der Werke diesen und damit dem Einzelnen das Gefühl der Zugehörigkeit zur Gruppe geben.

Nicht zuletzt ist es für die Autoren ein schönes Gefühl, ihr Werk in gedruckter Form in den Händen zu halten. Beim Bubenreuther Literaturwettbewerb wurde dieser Gedanke mit der Idee eines zwanglosen Wettstreits verbunden. Um nicht nur eine Auflistung von Texten vorzulegen, habe ich mir ferner die Freiheit genommen, den einen oder anderen Kommentar zu den Texten einzustreuen.

Wie im letzten so bleibt auch in diesem Jahr die Verantwortung für die Texte allein bei den Autoren. Mit Korrekturen wurde sparsam umgegangen. Der ursprüngliche Eindruck sollte erhalten bleiben. Gerade bei jungen Autoren ist die manchmal zu beobachtende Sorglosigkeit im Umgang mit der Rechtschreibung Ausdruck einer Unbeschwertheit, die, wenn der Text in ein Korsett gezwängt würde, verloren ginge. Ähnliches gilt für die Metrik, in seltenen Fällen sogar für die Sprachfertigkeit. Wenn man sich hier nicht schulmeisterlich gibt, kann man wahre Perlen entdecken.

Wieder wurde mit den Siegertexten begonnen. Die weiteren ausgewählten Texte erscheinen in der Reihenfolge ihres Einganges. Auch diesmal konnten nicht alle eingereichten Texte aufgenommen werden. Mit einer Ablehnung ist jedoch keine Wertung verbunden. Verschiedenste Kriterien spielten eine Rolle.

Meiner Familie und der Gemeinde Bubenreuth möchte ich für die Unterstützung danken. Auch den vielen Einsendern sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Ihre Teilnahme machte diese Anthologie erst möglich.

Dr. Dr. Christoph-Maria Liegener

Die Siegertexte

Erster Platz: Michael Spyra

Aus dem Zyklus

„Die Berichte des Voyeurs“

10.

Ein Mann geht Sonntagnachmittag spazieren

und trinkt ein Bier und noch ein Bier und noch

ein Bier und noch ein Bier und mit den vieren

im Bauch versinkt der Mann in einem Loch.

Ein Mann setzt sich im Loch an einen Tresen,

macht sich von innen silberschwer und dann

beginnt ein Mann in einem Buch zu lesen

und fängt dabei das Buch von hinten an.

Ein Mann, das Bier, das Loch, das Buch von hinten,

der Sonntagnachmittag, ein Mann, das Bier,

das Loch, der Tresen, silberschwere Finten.

Ein Mann will weiter und bleibt trotzdem hier

Kommentar: Der ganz normale Feierabend des sogenannten kleinen Mannes, dargestellt in all seiner Traurigkeit. Er endet mit dem Versacken in der eigenen Vergangenheit und der daraus folgenden Ausweglosigkeit.

Zweiter Platz: Walther (Werner Theis)

Rebentrauer – Trauerreben

Die Trauer ist, sich willig zu ergeben:

Wenn etwas nicht mehr ist und fortgegangen,

Wenn – wolkenfrei – die Sonne scheint verhangen,

Dann kommt die Ruhe nach dem Seelenbeben.

Man steht an einem Grabstein, denkt ans Leben,

Erinnert Stimmen, die vertraut erklangen,

Bemerkt die Winde nicht, die sich verfangen,

In Haaren, Mänteln und im Widerstreben.

Ich blicke auf, der Morgen ist vergangen,

Und um das Grab ist’s still. Wer will vergeben

Für den, der drunten liegt, und das Verlangen,

Sich noch ein letztes Mal zu reiben? Reben

Umschlingen ein Gerüst aus Eisenstangen

Und weisen blühend auf das Weiterleben.

Kommentar: Ein Sonett über die Trauer. In den Quartetten wird das Endgültige akzeptiert und verinnerlicht. Dann die Zäsur: In den Quartetten wird das Geschehene der Vergangenheit zugeordnet, die Reben symbolisieren das nun folgende Weiterleben.

Dritter Platz: Gerhard Gerstendörfer

Auf dem Dach „menschelt‘s“

„Des is net annersch wie bei uns Menschen aa. Manchsmoll ieberkummts an halt.“

Diese lakonische, ja fast philosophische Erkenntnis verdanken wir, im Zusammenhang mit den Störchen, einem gestandenen Eltersdorfer „Herbergsvater“. Der muss es schließlich wissen, bietet er doch den Adebaren seit vielen Jahren Heimstatt auf seinem Dach.

Was hat den Mann zu diesem Ausspruch veranlasst? Ganz einfach: Die Moral der Störche, denen offensichtlich keine menschliche Verhaltensweise fremd ist, d.h., sie benehmen sich wie Hinz und Kunz auch.

Einen Beweis für diese Theorie lieferte nämlich ausgerechnet die Störchin oben auf dem First des Mannes. Sie konnte die Rückkehr des Gatten einfach nicht mehr erwarten, denn der hatte sich, wie sich bald herausstellen wird, um ganze 14 Tage verspätet - typisch Mann eben. Deshalb tat sie etwas durchaus Menschliches, Allzumenschliches - sie ging fremd! Das nimmt auch nicht Wunder, hatten doch Ihre Hormone schon seit Tagen immer wieder Salsa getanzt.

So kam was kommen musste. Der Brucker Storchenmann, ein Casanova, folgte der Einladung nach Eltersdorf nur zu gern. Und wie‘s bei solchem Anlass oft mal „in“, zog er sie halb - halb sank sie hin; da war‘s um sie geschehen. Es folgten 14 Tage unbeschwerter, federleichter Seligkeit.

Doch schon Schiller wusste: „…mit des Geschickes Mächten ist kein ew‘ger Bund zu flechten, und das Unglück schreitet schnell.“ Das brach dann auch über die beiden Fremdgänger mit Urgewalt herein. Wie ein Racheengel stürzte sich plötzlich der unverhofft heimgekehrte Gatte auf die Ehebrecher herab und jagte letztlich den Brucker „Hallodri“ mit Schimpf und Schande davon. Allerdings dürfte der in den 14 Tagen ungetrübten Glückes seine Gene längst und irreversibel bei der Störchin deponiert haben, was letztlich bedeutet, dass der gehörnte Ehemann ein paar Kuckuckskinder großziehen wird. Wie formulierte es doch einst Gorbi so trefflich: „Wer zu spät kommt, …“

Dem Vernehmen nach sollen die „Quecker“ (Eltersdorfer) recht stolz gewesen sein, als ihr Storchenmann den Brucker „Bazi“ hochkantig rausgeschmissen hatte. Und am Stammtisch soll man, laut Fama, auch kräftig darauf angestoßen haben. Tenor: „Dena Brucker hammer‘s widder amoll richtich zeicht.“ Doch die wiederum - so war auch zu hören – haben längst ihre eigene Theorie (siehe. irreversibel verabfolgte Gene) und lachen sich ihrerseits klammheimlich ins Fäustchen.

Bleibt dem gefoppten Storch von Eltersdorf nur noch zu wünschen, dass ihm die zu erwartenden kleinen Adebare nicht ein freches „Kuckuck“ entgegen schreien, sondern es beim dezenten Storchengeklapper belassen werden.

Kommentar: Eine amüsante Anekdote aus dem Erlanger Raum. Lokalkolorit und mehr. Man muss nicht unbedingt aus der Region kommen, um zu verstehen, was hier abgeht. Herzerfrischend!

Vierter Platz: Helge Hommers

„Keine Zeit“

Gemächlich, wenn auch nicht zu gemächlich, aber mit Sicherheit nicht zu schnell, sondern genau so, wie sein hohes Alter es ihm gestattet, schlendert er zu seiner Holzbank. Mit der rechten Hand umfasst er ihre linke Lehne und dreht sich auf den Fußballen herum. Dann stützt er sich mit der linken Faust auf und lässt sich mit einem langgezogenen „Ahhh!“ auf sein Sitzkissen nieder. Nachdem er es sich und seinem Hintern gemütlich gemacht hat, rümpft er die Nase, kratzt sich am rechten Ohrläppchen und hebt den Blick. Hinten am Horizont, weit hinter seinen Äckern, den dahinter liegenden Pferdekoppeln und der alten Ziegelei, erblickt er die Sonne, die rubinrot aufleuchtet und einen dunklen Schatten um sich führt, während ihre untere Hälfte schon nicht mehr zu sehen ist.

„Wird aber auch Zeit“, nuschelt er und entnimmt seiner Manteltasche einen Beutel, aus dem er ein Blättchen, einen Tabakhaufen und einen Filter hervorkramt und neben sich auf die Bank legt. Dann verschnürt er den Beutel wieder und steckt ihn zurück. Den Tabak nimmt er in die linke Handfläche, pflückt ihn mit den rechten Fingerspitzen auseinander und dreht ihn in das Blättchen ein, bevor er wieder zum Horizont blickt.

Ist ja immer noch warm, denkt er, obwohl es bereits dämmert. Da ist es hinten in der Feldmark bekanntlich ja am schönsten, wenn es vom Sommer in den Herbst übergeht. Die angeblich beste Zeit für Fahrradtouren, sagt man. Das sollte man mal wieder machen, so wie früher mit den Kleinen, sich auf den alten Drahtesel schwingen und mal was unternehmen.

Das wäre bestimmt eine feine Sache, denkt er und nickt.

Doch die ganze Vorbereitung, all die Planung und was es da nicht alles zu bedenken gibt. Das Wetter, die richtige Ausrüstung, die Route. Das wird schwierig, denkt er, wenn nicht sogar nahezu unmöglich.

„Wat ärgerlich“, spricht er, „für so 'n Zeug, da hab ich einfach keine Zeit.“

Er faltet das Blättchen mit dem Tabak vorsichtig wieder auseinander, nimmt den Filter zur Hand und setzt ihn an das Zigarettenende. Dann rollt er ihn in das Blättchen hinein und sieht wieder in die Ferne.

Die Hecken könnten auch mal wieder geschnitten werden, denkt er, die schießen ja so schnell in die Höhe, das nimmt ja überhand, das versaut einem ja die ganze schöne Aussicht. Überall nur Grün, wie sieht denn das aus, das muss man mal köpfen. Ab muss das, das sieht ja fürchterlich aus, denkt er und nickt.

Doch wenn man dann mal fertig ist, dann hat man ein paar Tage Ruhe und dann wächst die ja schon wieder. Dann geht der Mist wieder von vorne los und dann müsst man da ja schon wieder ran, denkt er, und das ist ja nun wirklich auch nicht das Wahre. „Wat ärgerlich“, spricht er, „für so 'n Zeug, da hab ich einfach keine Zeit“.

Mit großer Sorgfalt leckt über die Klebefläche des zusammengerollten Blättchens, verschließt die Papierenden miteinander und steckt sich die fertige Zigarette zwischen die Lippen. Dann gräbt er mit der freien Hand in seinen Manteltaschen, zieht eine Streichholzschachtel hervor und schaut wieder in den Abend.

Zigaretten und Bier, das war auch immer etwas Feines, denkt er. Das macht man ja heute gar nicht mehr, dass man mal ausgeht mit seinen Zigaretten und sich in die Kneipe setzt zu den anderen Rauchern und ein Bierchen trinkt, das hat man früher öfter getan. Vielleicht sollte man daran mal wieder anknüpfen, sich mal wieder sehen lassen, die alten Bekanntschaften pflegen und hegen, das wäre doch mal was, da erlebt man mal wieder was und kommt mal wieder unter Leute, denkt er und nickt.

Aber was könnte man nicht alles Sinnvolles in der Zeit tun?

Da muss man ja fast ein schlechtes Gewissen haben, wenn man sich wieder in die Kneipe setzt und ein Bier trinkt, denkt er, anstatt was Sinnvolles zu tun und einfach sinnlos die Zeit verplempert.

„Wat ärgerlich“, spricht er, „für so 'n Zeug, da hab ich einfach keine Zeit“.

Er zieht ein Streichholz über die braune Brennfläche der Schachtel und zündet sich an der auflodernden Flamme seine Zigarette an. Vorsichtig nimmt er einen Zug und während er über die Äcker, die dahinter liegenden Pferdekoppeln und die alte Ziegelei in Richtung des Horizonts blickt, behält er den Rauch einen Moment in seinen Lungen, bevor er ihn kurz darauf durch die Nase wieder entschwinden lässt.

Plötzlich öffnet sich die Hintertür und seine Frau tritt nach draußen, stemmt die Fäuste in die Hüften und betrachtet für einen kurzen Moment die untergehende Sonne. Dann fährt sie herum, blickt ihn an und schüttelt den Kopf.

„Und ich dachte, du tust was Sinnvolles!“, ruft sie.

„Tu ich doch!“

„Was tust du denn?“

„Ich denke nach.“

„Na, dann überanstreng dich mal nicht.“

„Keine Angst, mach ich nicht.“

Sie lässt ihren Blick einen Moment auf ihm haften, dann schüttelt sie erneut den Kopf, geht zu ihm hinüber und setzt sich neben ihm auf die Bank.

„Und hör endlich auf mit deiner verdammten Raucherei! Du hast doch schon genug geraucht, dein ganzes langes Leben schon!“, schimpft sie.

Es dauert einen Moment, bis er sich zu ihr dreht und sie anlächelt.

„Nun hör mir mal zu, meine Liebe“, beginnt er. „Du hast mich vor fünfzig Jahren als Raucher kennengelernt und dich genau in den auch verliebt. Wenn ich nun damit aufhören sollte, dann mach ich mir einfach Sorgen, dass du mich verlassen wirst. Für einen anderen Raucher, weil ich nicht mehr der bin, in den du dich verliebt hast, verstehst du?“, endet er und wendet den Blick wieder von ihr.

Ohne sie anzusehen, reicht er ihr seine Zigarette herüber.

Nach kurzem Zögern nimmt sie an und klemmt die Zigarette zwischen ihren rechten Daumen und Zeigefinger. Dann nimmt sie ebenfalls einen Zug. Auch sie lässt den Rauch für einen Moment in ihren Lungen, bevor sie ihn durch die Nase wieder ausbläst und ihm die Zigarette zurückreicht.

„Auch fünfzig Jahre später kommen mir immer mal wieder Momente, in denen ich mich frage, wie ich mich in so einen Kauz wie dich verlieben konnte“, antwortet sie, streicht ihm über das wenige Haar, das ihm noch geblieben ist, und drückt seinen Kopf auf ihre Schulter.

„Übrigens: Falls du mit dem Nachdenken mal fertig bist und Zeit hast – das Essen ist fertig.“

Von einem Moment auf den anderen wirft er seine Zigarette in den Blumenkübel, springt aus seinem Sitz auf und stürmt an ihr vorbei ins Haus.

„Für dich“, entgegnet er und hält ihr die Haustür auf. „Für dich hab ich doch immer Zeit.“

Kommentar: Ein wundervolles Stimmungsbild, melancholisch und besinnlich. Gleichzeitig eine hinreißende Liebesgeschichte. Großartig.

Fünfter Platz: Franziska Lachnit

It’s a kind of magic – „Die, die nicht an Magie glauben, werden sie nicht finden.“ – Roald Dahl. Das stand auf einem Bild im Café. Außerdem war ein kleiner Vogel darauf abgebildet. Ich las die Worte - in diesem Augenblick plusterte sich der kleine Vogel auf, verharrte kurz und hob sich dann von seinem Ast und flatterte aus dem Bild – durch das Café und durch die geöffnete Tür. Hinaus in den Frühlingstag. Er schwang sich zur Kirchturmspitze empor und sah zum ersten Mal die Welt.

Ungläubig nippe ich an meinem Tee. Auf dem Tisch steht eine Vase mit einer kleinen Rose darin. Während ich nochmals an die Worte über die Magie denke, schlängeln sich auf einmal feine Wurzeln aus dem Stiel der Rose. Zuerst zaghaft, dann beinahe gierig füllen sie die Vase. Kriechen aus ihr heraus, über die Tischplatte hinweg. Immer kräftiger werden sie und bahnen sich ihren Weg nach draußen in den Garten. Dort graben sie sich in den Boden.

Irritiert schaue ich um mich. Am Nachbartisch sitzt eine Damengruppe, heftig ins Gespräch vertieft. Meistens reden zwei oder drei von ihnen gleichzeitig. Offenbar haben sie nicht bemerkt, wie sich der Vogel aus dem Bild befreite oder wie die Rose Wurzeln schlug. Auch das Rentnerpaar, das gerade die Tagessuppe löffelt, scheint von den rätselhaften Wundern unberührt. Ich werfe einen Blick in meine Tasse und schnuppere: Eindeutig Tee! – An einem weiteren Tisch haben sich zwei junge Mütter auf einen Kaffee getroffen. Von ihren Kinderwagen umzingelt, tauschen sie Erfahrungen aus. Auch sie sind unberührt von den sonderbaren Ereignissen. Doch der kleine Junge, der bis eben quirlig auf dem Stuhl herumrutschte, macht plötzlich große Augen. Abwechselnd schaut er auf das Bild, dem der Vogel entflatterte, und auf die Rose, die ihre Wurzeln in den Garten schickte. Und dann - verwundert, verbrüdert und mit einer Ahnung von Magie - treffen sich unsere Blicke.

Kommentar: Magie im Alltag – auch Erwachsene können sie erleben und wieder zu Kindern werden. Zauberhaft.

Weitere ausgewählte Werke

Susanne Ulrike Maria Albrecht

Danke für die Erfüllung!

Das Himmelsdach erstrahlt in klarem Blau.

Die Wiesen stehen in einem satten Grün.

Blumen recken sich der Sonne entgegen,

Blühen in ihrer schönsten Pracht

Und färben sich täglich bunter.

Lieber Frühling, auf Deine Treue ist Verlass.

Voll Freude, danken wir Dir, Herr, Du

Schöpfer alles Lebens, für Deinen Segen,

Und die Wunder der Natur.

Kommentar: Der Text wurde so gelassen, wie er war. Einfache Sprache, aber aufrichtig. Man spürt, dass die Worte von Herzen kommen. Das trifft.

Mona Ullrich

Not

Das vergesse ich nie. Ich saß in meinem Bett und dachte nach. Ich denke gerne nach. Aber da kam mein Ehemann zu mir herein und sagt: „Deine Mutter ist gestorben“. Und ich sollte gleich den Vater anrufen.

Ich kam nicht dazu, mir Gedanken über den Verlust zu machen. Es sollte schnell gehen. Wozu? Ein Aktivist.

Ich hatte mit dieser Nachricht gerechnet, schon lange. Ich lag die ganze Nacht wach und konnte an nichts anderes denken. Hätte ich doch nur eine Zigarette rauchen können, ein Stück Menschenwürde gegen die Widerwärtigkeit unseres Schicksals. Aber mein Ehemann wollte das nicht.

Den Vater hatte ich angerufen. Aber er wollte allein sein. Was Reden hilft?

Kommentar: Die erbarmungslose Realität in einfachen Worten. Ergreifend.

C. Richardt

Die Geliebte

Die Straßen der Stadt, erfüllt von Tönen und Gerüchen, die Schwärze der Nacht umhüllt sie mit Müdigkeit. Sie ist allein, obwohl sie nicht allein sein sollte. Wann, fragt sie sich selbst, wann kommt er wieder? Eine weitere Frage drängt in ihr Bewusstsein, eine Frage, der sie nicht erlauben möchte, deutlicher hervorzutreten. Sie drängt die Frage zurück. Aber die Frage ist stark, zu stark, um verdrängt zu werden. Es ist die Frage nach dem Wo, die sie quält. Wo ist er, wo, wenn doch nicht bei ihr?

Sie steht auf, streckt ihre Glieder, bemüht, ihre Angst abzuschütteln. Sie hat diesen Tag lange gefürchtet, den Tag, der alles verändern wird. Jetzt ist er da. Bilder erscheinen vor ihr, Bilder, die sie seit Monaten quälen, so hell und klar, dass ihre Augen schmerzen. Er und die andere in ein vertrautes Gespräch vertieft. Sie, wie sie ihn zärtlich umarmt. Er, wie er sie anschaut, sein Blick voller Hingabe und Treue.

Noch nie waren sie selbst sich so vertraut, das weiß sie. Sie hat es verdrängt, tief verdrängt, bis zum heutigen Tag. Denn heute ist der Tag da. Er wird nicht mehr zu ihr kommen, nicht heute und auch nicht morgen. Er wird dort bleiben und sie wird alleine sein, alleine mit sich und der schwarzen Nacht.

Sie wählt seine Nummer, hört seine Stimme, muss es jetzt wissen. „Wo bist du?“, fragt sie.

„Zuhause!“, antwortet er.

Stefanie Haertel

Ein wohlbekannter Freund

Ich verlor mich in meinen Dingen

und die Dinge wurden zu meinem Ich.

Sie bekamen mein Gesicht,

eine altvertraute Stimme schallte aus ihnen hervor.

Ihr Laut war mir so fremd,

wie ein ungelesenes Buch

und doch so bekannt,

wie der Mond der Nacht.

Ich konnte sie nicht verstehen,

auch deren Herkunft blieb mir ungewiss,

doch ab und an besuchten diese Dinge mich,

wie ein wohlbekannter Freund.

Kommentar: Klare, ehrliche Worte.

Suna Silena Yilmaz

Traumrealitäten

„Zwei Tage.“

Im Dunst des Alkohols und einer rauen, subtilen Kälte findet im Anbeginn einer unberechenbaren Nacht eine von so vielen Partys statt, die den jungen Menschen den Kopf verdreht und die Definition von Lebendigkeit neu geschrieben hat. Die meisten jedoch besuchen den Ort des Geschehens mit leerem Verstand und abgeklärten Augen, die genauso wenige Erwartungen an einen Abend haben, wie an das ganze Leben. Und wie bereits von allen antizipiert, beginnt die Party ohne großen Knall und zerläuft in den ersten Stunden in geschauspielerter Freude und peinlicher Stille. Keiner vermag zu sagen, ob der Wendepunkt, der irgendwann eintritt, durch den Alkohol oder durch die Gleichgültigkeit evoziert wird oder ob auch dieser Moment nur eine Lüge ist, die sich die verzweifelten Jugendlichen einreden, um ihre Existenz zu rechtfertigen. Tatsache ist, dass die ausreichend konsumierten Drogen eine seichte Perspektive auf das Leben werfen und auf diesem wolkenhaften Spaziergang, wird es plötzlich wirklich leicht, die Lebensfreude in den Kleinigkeiten und den größeren Kleinigkeiten zu finden.

„Wer hätte gedacht, dass ich dich hier treffe?“

Als die Tanzfläche beginnt sich hier und da mit mutigen oder betrunkenen Gästen zu füllen, hat ein noch nüchterner Blick die auffallend schmale Statur eines jungen Mannes entdeckt, der mit dem Gesicht einer engelsgleichen Figur und den beinah unnatürlich hellgrünen Augen eigentlich die Aufmerksamkeit eines jeden Künstlers auf sich ziehen müsste. Aber in der schäbigen Atmosphäre einer alkoholisierten Jugend geht er in der Beliebigkeit der Drogenwelt verloren und hat sich diese Rolle als Gleichgesinnter vermutlich selbst ausgesucht. Seine etwas gebeugte Körperhaltung richtet sich im Laufe der Zeit auf und seine Offenheit zeigt sich immer großzügiger. Es ist nicht zu übersehen, dass er dem Alkohol mit zwingender Notwendigkeit verfallen ist, um genau solche Fortschritte zu erzielen. Wie ein Verlorener, der sich nichts sehnlichster wünscht, als die Normalität der Jugend leben zu können, kippt er sich nach und nach die zähe Flüssigkeit hinunter. Aber genau dieser Umstand ist es, der ihn dazu befähigt, die Worte zu erwidern, die der nüchterne Blick jetzt an ihn richtet. Er kann sogar ein Lächeln aufbringen.

Keiner, und vielleicht nicht einmal er selbst, weiß, ob er ohne die Drogen diesen Traum leben kann, der jetzt beginnt.

Die Sonne eines gerade erst herangebrochenen Frühlings legt sich über die Natur, die dankbar aufatmet, weil sie den kalten Händen des Winters endlich entkommen ist. Die Kirschblüten aber recken ihre Köpfe selbstbewusst in die Höhe, als würden sie die Vergänglichkeit nicht kennen. Auf dem Asphalt liegen ihre Blüten wie rosa Goldstaub und manchmal trägt der Wind sie ein bisschen fort.

„Ich habe nicht bemerkt, wie schön die Kirschblüten waren.“

Der zierliche Körper des jungen Mannes streift die Landschaft, er geht jetzt wieder krumm, als würde ihn die Schönheit der Landschaft verschrecken. Seine Jacke ist längst überfällig geworden, vermutlich trägt er sie noch aus der Gewohnheit des Winters heraus und vielleicht ist auch das Frieren zur Gewohnheit geworden. Im Farbenspiel des Frühlings sieht er grau und trist aus, die gebeugte Haltung lässt ihn wie einen Fremdkörper aussehen, der auf der Leinwand eines Meisterwerks Einzug gefunden hat. Zwischen dem Horizont und den Bäumen geht er langsam verloren, wie ein grauer Punkt verschwimmt er im Licht der Sonne. Man möchte nach ihm greifen, seine kalte, kleine Hand halten und ihm den Blick öffnen, der jetzt nur seine Fußspitzen trifft.

„Warst du glücklich?“

Auf dem See glänzt der Himmel wie eine zweite Welt, die sich nur hinter der seidenen Linie des Wassers versteckt hält. Enten und Schwäne schwimmen sanft auf der Oberfläche, als könnten sie mit Leichtigkeit zwischen den Welten wechseln. In der Luft liegt ein schüchternes Glitzern, das sich hier und da in die Aussicht auf den See mischt. Das Gras ist noch weich vom vielen Regen, der die letzten Tage den Winter hinfort gespült hat und die feuchte Erde verrät die Kälte, die sich nachts noch manchmal zeigt.

„Es war genauso, wie ich es mir immer gewünscht habe.“

Da sind schon wieder diese schmalen Schultern, die jetzt endlich von der Jacke befreit sind. Der junge Mann hat sich an den See gesetzt und blickt mit merkwürdiger Gleichgültigkeit auf das Geschehen. Er hat die Knie angezogen, seine Arme darauf gelegt und bohrt mit den Hacken seiner zertretenen Schuhe in der leicht formbaren Erde. Manchmal schaut er zur Seite und in diesen Momenten füllen sich seine hellgrünen Augen mit Leben, als gäbe es neben ihm etwas, das ihm zum Nachdenken bringt.

„Hast du mich wirklich gesehen?“

Er steht auf, geht ein Stück und lässt sich dann auf einer Bank nieder. Immer mehr Menschen füllen die Spazierwege, den See und die Bänke, aber er lässt sich davon nicht stören. Obwohl er klein und verschreckt wirkt, scheinen ihm die Menschenmassen nichts anzuhaben. Aber es ist immer noch der Blick zur Seite, der ihn verrät, denn im Hellgrün spiegelt sich jetzt Zurückhaltung und ein wenig Angst.

„War ich alles, das dir durch den Kopf ging?“

Er beugt sich rüber, rutscht zur Mitte der Bank und deutet ein Lächeln an. Sein Arm ist immerzu damit beschäftigt, etwas berühren zu wollen, aber er scheint sich nicht sicher zu sein, ob er genug Mut aufbringen kann, diese ganzen unsichtbaren Grenzen zu überwinden. Er ist nicht so wie der Schwan auf dem See, der die dünne Wasserlinie leicht durchtrennen kann und die unbekannte Welt der Tiefe lächerlich einfach betritt.

„Fiel es dir so schwer?“

Als die Sonne beginnt sich zurückzuziehen, bleibt eine angenehm kühle Luft, die zusammen mit den Stadtlichtern schon an die Sommernächte erinnert, die bald die Herzen der Menschen entzücken werden. Mit geschlossenen Augen kann man sich in eine solche Nacht hineinfantasieren und die Sterne zählen, während die Ewigkeit sich warm an den Körper schmiegt. Im Lächeln der Menschen ist schon die Vorfreude zu sehen, als sie zugedeckt auf den Terrassen der Restaurants sich aneinander ihre Träume erzählen. Die ganze Stadt kann dann plötzlich magisch wirken, wenn man voll von diesen euphorischen Fantasien ist. Sogar der junge Mann scheint diese Möglichkeiten zu erwägen, denn in seinen Augen reflektiert sich das Licht der Schaufenster in tausend Farben, aber er beeilt sich es zu verbergen und senkt den Kopf, als würde er sich nicht einmal selbst einen Traum erzählen wollen.

Die Gefühle eines Moments sind manchmal Lügen. Hast du das gedacht?“

Im Restaurant ist es stiller gewesen als hier, obwohl Musik aus den Lautsprechern den ganzen Raum gefüllt hatte und die Menschen dichter aneinander saßen. Jetzt, unter dem freien Himmel, scheint er sich viel verbundener, viel fröhlicher zu fühlen, als in der fingierten Vertrautheit des Restaurants.

„Wir haben nur uns gebraucht.“

Eine Umarmung in der Freiheit und der Unendlichkeit des Nachtzelts verbirgt die gesamte Rührung der Menschlichkeit, aber der junge Mann denkt zu viel nach, um dieses Gefühl der Vollkommenheit anzunehmen.

„Weil es nicht ehrlich war? Oder weil du es nicht ausgehalten hast?“

Trotzdem kann er nicht ablehnen, immer mehr zu wollen, so viel zu nehmen, wie diese zauberhafte Nacht hergibt.

Er kennt die Wohnung nicht, die er so spät noch aufgesucht hat. Aber seine Blicke sind dezent und zurückhaltend, als würde er den Gastgeber schonen, ihn nicht in seiner ohnehin schon preisgegebenen Verletzlichkeit verunsichern wollen. Vermutlich kennt er das Gefühl einer einsamen Seele, die zaghaft versucht, jemandem Einlass zu gewähren. Alles, das er jetzt tut, ist getränkt in unendlich sanfter Zuneigung und nur seine eigene Angst macht ihn manchmal unfähig zu handeln. Er hat gemerkt, dass es auch noch andere Zerbrechlichkeiten gibt, als seine eigene.

„Hast du diesen Gedanken ertragen?“

Es scheint ihn immer mehr aus dem Gleichgewicht zu bringen, nicht mehr zu wissen, wie weit er gehen darf, wie schnell das Glas zerspringt, wenn er es berührt. Und wenn er darüber nachdenkt, kann er nicht mehr erkennen, ob es nicht seine eigenen Scherben sind, vor denen er sich fürchtet. Zwei gebrochene Hände, die ineinandergreifen, hinterlassen ein unkenntliches Bild, auf dem der Schmerz des Einzelnen nicht mehr zu finden ist.

„War das nur mein eigener Gedanke?“

Aber er wird das Gefühl nicht los, zwei schutzlose Herzen beisammen legen zu wollen. Etwas in ihm drängt danach, es ist ein Verlangen, das nicht zu stillen ist, aber es ist von reiner Natur und er gibt sich nur nicht hin, weil das Rudiment seiner Angst kleine, aber ernstzunehmende Zweifel sät. Er will nicht verletzen und er will nicht verletzt werden, aber vielleicht will er nur nicht, dass diese Nacht sich zu einer unantastbaren Perfektion erheben wird, wenn er alles gibt und alles einfordert.

„War sie das nicht längst geworden?“

Es ist genau diese Art von Traum, unter der er zerbrechen könnte, genau diese Art von Schönheit, die ihm Angst macht, weil der Rest der Welt dann dunkel wird, wenn sich das hellste Licht in einer einzigen Person findet. Aus diesem Grund redet er sich ein, dass es nur natürlich ist, diesen Traum entmachten zu müssen, diese Nacht nicht noch magischer werden zu lassen.

„Haben wir das Gleiche gedacht? Und das Gleiche gefühlt?“

Und wieder verschwindet sein schmaler Rücken in der Ferne und diesmal ist es auf ewig, auch wenn er es noch nicht weiß. Die Last so großer Tiefen, wie er sie heute gespürt hat, wird ihn in seiner Zartheit übermannen. Die karge, trostlose Leere in seinem Inneren schützt ihn und sie redet ihm ein, dass sich die Welt weiterdrehen wird, dass mancher Traum auch nur eine Realität von vielen ist.

„Hast du das wirklich geglaubt?“

„Zwei Tage. Nur zwei Tage. Du und ich, das waren nur zwei Tage.“

Ich blinzele, weil die Sonne direkt in meine Augen scheint, als würde sie mich blenden, um die Landschaft geheim zu halten, die gerade an mir vorbeizieht. Ich weiß nicht, wie alt ich bin, wie viele Jahre vergangen sind oder wohin der Zug fährt, in dem ich sitze. Vielleicht bin ich nur kurz eingeschlafen, aber vor mir war der Rücken eines zierlichen jungen Mannes in so gestochener Klarheit zu sehen, als könnte ich ihn mit den Fingern berühren und ihn bitten, sich umzudrehen. Ich glaube sogar, er hätte mir vielleicht zugelächelt, wenn ich nach ihm gerufen hätte, wenn ich ihn gebeten hätte, zu bleiben. Während ich darüber nachdenke, warum mich die Traurigkeit plötzlich wie ein Schlag ins Gesicht trifft, kann ich einen Kirschblütenbaum vorüberziehen sehen. Und da erinnere ich mich. Ich erinnere mich an die raue Nacht und den Dunst des Alkohols. Ich erinnere mich an den Moment, als der Traum begann.

Ich habe meinen ganzen Mut zusammengenommen und das Wort an dich gerichtet, weil ich so etwas Schönes noch nie gesehen hatte. Wir haben bis in die Unendlichkeit miteinander gesprochen und irgendwann habe ich gesagt:

„So etwas habe ich noch nie erlebt.“

Und du hast geantwortet:

„Küss mich einfach.“

Ich weiß nicht, wie alt ich bin, wie viele Jahre vergangen sind oder wohin der Zug fährt, in dem ich sitze, aber ich weiß:

„Du warst der einzig reale Traum, den es auf der Welt gibt.“

Achim Nowak

nordwohnend

jedes Jahr im Frühling,

fast auf den Tag genau,

ziehen hoch über mir

Gedichte wie Zugvögel

nach Norden

Vergessenes aufzutauen,

Erinnerung zurück

zu schenken.

nahe bei mir

lassen zwei vertraut sich nieder.

erschöpft - wie krank,

habe ich heimlich

ihre Ankunft ersehnt.

G. Siema

Seine vierte Zeit

Die vierte Zeit

Ungläubig fühlt er, wie ihn die Kraft verlässt. Er muss nachgeben, in den Schnee sinken. Jetzt ist er da, der Schmerz! Der Eingeweide und Gehirn zum Vibrieren bringt. Obwohl ihn eine enorme Energie durch die gefrorene Schneedecke in das Erdinnere ziehen will, kämpft er dagegen an, will aufstehen. Versucht es. Immer wieder. Der Schmerz hat inzwischen seinen ganzen Körper ausgefüllt. Sein Haupt plumpst in den Schnee. Da steigt ihm plötzlich ein Duft in die Nase. Er kennt ihn, aber es dauert noch ein wenig, bis er ihn der Mutter zuordnen kann. Er hat sich dicht an sie gedrängt um ihre warme, köstliche Milch zu trinken. Etwas später sind sie zusammen auf einen Schlag gezogen. Dort hat er das erste Mal die feinen Kräuter gekostet.

Als der Schmerz seinen Körper zum Erzittern bringt, weiß er, dass Mutter schon lange nicht mehr da ist. Damals ist er auf seinem Platz über der Lichtung gestanden, als sie dort unten plötzlich niedergesunken ist. Schon öfter hat er so etwas gesehen. Keiner ist wieder aufgestanden. Keinen hat er je wieder getroffen. Und jetzt kann der Hirsch nicht mehr hochkommen.

Die erste Zeit

Es war Zeit, den Kirchgang anzutreten. Zweige knackten verräterisch, als er sich zwischen die Fichtenzwillinge zwängte. Einige Hirschlängen weiter tat er sich nieder, in eine Mulde. Alles war hier erfüllt von seinem Duft und das war der Ort, wo er vertraut war.

Endlich war die Zeit der Brombeer- und Himbeersträucher, der Baumflechten und des Tannenreisigs vorbei. Endlich gab es ausreichend Gräser und Kräuter, Laub, saftige Triebe und Knospen. Der Wald war nicht mehr still und karg, die Luft war genauso von Leben erfüllt wie der Boden.

Sein Dasein erlebte er in einem Dreierrhythmus. Eine Zeit des Überflusses, eine Zeit, um sich fortzupflanzen und zu kämpfen und eine Zeit der Kargheit. Damals wusste er noch nicht, dass es für ihn noch eine vierte Zeit geben würde.

Es galt, zu jeder Zeit das Richtige zu tun.

Bald wurde er wieder hoch. Gelassen zog er ein Stück weiter hinauf, um sich im Schlammwasser seiner Lacke ausgiebig zu suhlen. Dort oben kannte er auch einige kräuterbewachsene Plätze. Sehr bald würden sich hier die Familien zu einem Rudel versammeln. Die jüngeren Hirsche hielten sich dann etwas abseits. Sie wussten, dass sie keine Chance gegen ihn hatten. Er als Platzhirsch war allein durch seine Erscheinung Respekt einflößend. Dennoch galt es bald zu kämpfen. Doch das gehörte zu dieser Zeit.

Die zweite Zeit

Es war das erste Mal, dass er in seinem Einstand Witterung, die ihn beunruhigte, aufnahm. Schneller als üblich wurde er hoch. Im Schutze der graubraunen Fichtenstämme beobachtete er emsiges Treiben. Der Wind trug den säuerlichen Geruch des Jägers zu ihm empor. Bald stieg auch noch ein verführerischer Duft mit der unangenehmen Ausdünstung des grünen Menschleins in seinen Windfang. Als der Platz wieder leer war, witterte der Hirsch nur mehr Gutes. Es schien aus dem Fichtenbaumstumpf zu kommen. Bevor er der Sache nachgehen konnte, waren schon die Eichelhäher zur Stelle. Der Platzhirsch hatte jetzt ohnehin Wichtigeres zu tun. Kurz dachte er an zwei Baumstümpfe im Revier, aus denen es auch nach Gerste, Hafer und Mais duftete. Manchmal hatte er schon davon genascht. Doch seit er zwei Mal beobachtet hatte, dass genau vor diesen süßen Verlockungen so mancher Kamerad, sogar seine Mutter, leblos niedersank und er sie dann nie mehr gesehen hatte, wollte er damit nichts zu tun haben. Sein Rudel war in den letzten Jahren ohnehin dezimiert worden. Auch bei den Rehen fiel ihm auf, wie wenige sie geworden waren.

Es war zwar nicht ungemütlich für ihn, denn er hatte jetzt kaum noch zu kämpfen, aber unsicherer. Es gab aber auch weniger Partnerinnen für ihn. Dennoch hatte er immer noch genug zu tun. Da wagte sich doch ein Halbstarker viel zu nahe an das Kahlwildrudel! Eilig, aber majestätisch, trabte er auf den Mutigen zu. Seine Erscheinung, seine 16 Enden genügten, um die Furchtlosigkeit des vermeintlichen Kontrahenten schmelzen zu lassen. Kein Kampf war nötig. Doch einen Hirsch gab es, der jedes Jahr eine Herausforderung für ihn war. Selbst ihn hatte er heuer noch nicht gesichtet. Diese Begegnung könnte für ihn tödlich enden.

Seit auch sein Nebenbuhler nicht mehr erschien, war er noch vorsichtiger geworden. An jeder Ecke schien Gefahr zu lauern. Oft entdeckte er den Jäger in Begleitung anderer Menschen. Immer vernahm er dann Schüsse und sah Familienmitglieder niedersinken. Sogar Gamswild war schon lange nicht mehr in der Überzahl.

Die Brunftzeit klang für ihn erfolgreich aus. Mit wenig Aufwand so viel Nachkommen wie möglich gezeugt. Nun war es wieder Zeit, sein Leben als Einzelgänger aufzunehmen.

Die dritte Zeit

Die karge Zeit war angebrochen. Eigentlich lebte er in einem Paradies. Die Raufen waren immer gut gefüllt, manchmal gab es auch Rüben und Kartoffeln. Doch die duftenden Baumstümpfe mied er selbst in der Schonzeit.

Nach Menschenzeit gerechnet war es eine Woche vor Weihnachten. Für die dritte Zeit ungewöhnlich satt, verweilte er am oberen Ende eines Schlages. Hier gab es etwas zu beobachten. Sehr gut zu sehen war sein grün uniformierter Jäger, doch da war noch Bewegung, die er nicht gut zuordnen konnte. Nicht lange zuvor hatte er einen Knall vernommen. Das Geschehen im Schlag wurde zu einem Potpourri aus Klängen. Dieses Knattern, das er immer lange bevor ein bestimmter Mensch in Erscheinung trat, vernahm, der unheimliche Knall, Menschenstimmen, die direkt aus dem Graben kamen. Dazu mischte sich noch der Duft, den das Knattern immer mit sich brachte, der säuerliche Geruch von Menschen, einer davon war ihm bekannt, und er witterte Tod. Da erkannte er plötzlich, dass die Menschen einen Gamsbock in den Graben zerrten. Verwundert stellte er fest, dass der Bock sich nicht wehrte. Der Gams verhielt sich wie seine Artgenossen, die er bei den süßen Baumstümpfen niedersinken sehen hatte. Leise und beunruhigt verließ er seinen Posten.

Die vierte Zeit

Würde er in Menschzeit rechnen, so wäre es die erste Januarwoche. Er weiß, nun ist die Zeit, in der er nichts zu befürchten hat. Und er kennt die Plätze, wo er seinen Hunger stillen kann. Gleich beim ersten Fütterungstisch findet er, womit er satt werden kann. Voller Gier langt er nach dem duftenden Heu, als er fühlt, wie ihn die Kraft zu stehen verlässt. Der Knall ist später gekommen, er hätte ihn hören müssen. Doch der Schmerz hat ihn in eine andere Zeit versetzt. Diese ließ ihn noch einmal Kalb und bei seiner Mutter sein, ihn daran denken, was sie ihn gelehrt hatte. Das Überleben.

Plötzlich spürt er etwas auf dem Rücken. Er fühlt etwas an den Geweihstangen und kann den Geruch noch dem Menschen seines Reviers zuordnen. Trotz der Schmerzen nimmt er seine ganze Kraft zusammen.

Der Mensch versucht, das Haupt des Waidwunden in den Schnee zu drücken.

Jetzt ist eine vierte Zeit für diesen Hirsch angebrochen! Die Zeit der Rache! Mit aller Wucht stößt er sein Haupt zurück. Eines der Geweihenden verheddert sich dabei in der grünen Jägerkleidung und dringt in die Bauchhöhle des Jägers. Der Mörder hängt wie an einem Kleiderrechen auf dem mächtigen Hirschgeweih. Ungläubig starrt der Jagdpächter den Hirsch an. Eiskalt durchfährt es ihn, bevor das warme Blut aus seinem Bauch rinnt. Dieser Hirsch hat ihn zur Trophäe gemacht.

Den Fangschuss des Oberförsters hören beide nicht mehr.

Till Kammerer

GLOCKENSCHLAG

Ezra blickte auf die Wand vor ihm, müde und stumpf. Das stechende Ziehen an seiner linken Schläfe war in ein dumpfes Pochen übergegangen, was weitaus gnädiger war. Der Kopf fühlte sich an wie die Moore draußen, in Caithness und Sutherland. Matschig. Nebelig. Und das bis zum Horizont. Er verstand nicht, warum sie so ausgerastet waren. Wegen einer Frage.