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HYBRID VERLAG

Ebookversion

12/2017

 

 

 

 

 

Mike Chick

www.facebook.com/Mike.Chick.Autor

 

© 2017 by Hybrid Verlag, Homburg

 

Umschlaggestaltung:

© 2016 by Creativ Work Design, Homburg

Lektorat: Timo Arnold

 

Coverbild ›Gesichter aus Stein‹

© 2009 by Shannon Pruitt

Coverbild ›Das Eden-Projekt‹

© 2016 by Creativ Work Design, Homburg

 

 

ISBN 978-3-946-82014-7

 

www.hybridverlag.de

 

 

 

 

 

Die Gameshow

Mike Chick

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Roman

 

Inhaltsverzeichnis

 

PROLOG

ERSTER TEIL – Der Teufel

1.

2.

3.

4.

5.

6.

ZWEITER TEIL – Ein Jahr später

1.

2.

DRITTER TEIL – Paula

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

Vierter Teil – Die Mitteilung

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

FÜNFTER TEIL – Kleidertausch

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

SECHSTER TEIL – Das Wiedersehen

1.

2.

3.

4.

EPILOG

für

Isabel Wiemer, Corinna Zürn & Isabel Ehrenfried

 

Nicholas, danke für die Idee! Obwohl du selbst wahrscheinlich gar nichts davon weißt.

 

P.S. (denjenigen, die nicht an mich glaubten) Ätsch!

 

PROLOG

 

Oliver betrachtete mit Unbehagen den purpurroten Vorhang. Wie er hier hergekommen war, wusste er nicht mehr, aber die Beule und das getrocknete Blut an seinem Hinterkopf kochten eine unangenehme Vorahnung in ihm hoch.

Vom Regen in die Traufe, dachte er, presste die Augenlider zusammen und kämpfte gegen den Schmerz an, der in seinem Schädel wütete. Sein Gehirn war ein Bienennest, dessen Volk sich bedroht fühlte und wild schwirrte. Selbst Aspirin, hätte er einen Zugang dazu, würde nichts mehr nutzen, denn er wusste, dass die Bienen in seinem Kopf bald verstummen würden. Den Grund dafür, dass er hier stand, kannte er genau. Oliver wusste auch, wem er diese Tatsache verdankte, und dieser jemand befand sich ganz sicher noch in der Nähe.

Er war nicht der Einzige. Hinter ihm standen noch zwei Männer in Ketten, bewacht von schwarz uniformierter Security, die jeden Winkel des Raums mit stummer Autorität erfüllten. Oliver konnte ihre Augen unter den Basecaps nicht sehen, aber er hoffte, dass sie die Verachtung in seinem Blick erkannten.

Wer sich zu solch einem Job bereit erklärte, hatte Frau und Kind längst auf dem Gewissen, dachte er.

Eine Frau sprintete hastig auf ihn zu, als wollte sie ihn über den Haufen rennen. Bevor er sich versah, klopfte sie ruppig ein kratziges Stück Stoff über jede Wölbung und Vertiefung seines Gesichts. Angewidert und zu perplex, um etwas zu sagen, drehte er den Kopf zur Seite.

»Halten Sie still!«, fuhr sie ihn an. »Halten Sie still, Mensch! Wie soll ich denn sonst meine Arbeit machen?« Ihre hinter Brillengläsern schwimmenden Augen waren dunkel und kalt. Oliver kannte solche Augen, von da, wo er herkam. Zu viele Menschen mit zu wenig Gefühl. Nach und nach puderte sie alle drei der sogenannten Enemy, um sie im Rampenlicht gut aussehen zu lassen, und überließ sie schließlich alle ihrem Schicksal; einem Schicksal, das nichts mit Gott, Jehova, Allah, oder wie sie alle hießen, zu tun hatte. Es war vom Menschen selbst, der Krönung aller existierenden Spezies, kreiert worden. Von Menschen, für Menschen, wie es so schön heißt. Der Vorhang öffnete sich. Gleißendes Licht brachte die Bienen in Olivers Kopf zum Durchdrehen. Sie summten nicht nur – sie kreischten.

Einen Augenblick lang blendeten ihn die Scheinwerfer so stark, dass er überhaupt nichts erkennen konnte. Gleichzeitig schlug es ihn beinahe nach hinten um, als eine gewaltige Geräuschkulisse an ihn brandete. Eine Hundertschaft an Personen tobte, grölte und buhte, als er in den Lichtkreis des grellen Spots hineintrat. Das Klirren der Ketten, das ihn die letzten vierzehn Jahre auf Schritt und Tritt bis in seine Träume verfolgt hatte, hörte er nun nicht mehr. Nur das Gefühl, wie sie in seine Haut schnitten, verhinderte die Illusion, sie wären endlich verschwunden. Hätte das heute nicht eigentlich geschehen sollen? Hätte er heute nicht zum ersten Mal seit vierzehn Jahren frische, ungesiebte Luft atmen sollen?

Jetzt kam der Mann auf ihn zu, dem die Leute zujubelten. Seine Zähne waren weiß wie Papier und so perfekt angeordnet wie die Grabsteine auf einem Soldatenfriedhof. Aber Oliver fiel zuerst die Tolle auf, die der bekannte Louis Weber auf seinem Kopf trug.

Wie Clinton in seinen besten Tagen, dachte Oliver zusammenhangslos. Sein Herz schlug rasend, aber sein brummender Kopf schien umso langsamer zu arbeiten.

Buhrufe, die von allen Seiten auf ihn niedergingen, verstörten ihn genauso wie das grelle Licht. Weber redete irgendetwas zu der Masse, sagte etwas wie »Besiege deinen Feind – Defeat Your Enemy« – und zwang Oliver dazu, sich erneut die Klageschrift anzuhören. Die Verbrechen, wegen denen man ihn zu vierzehn Jahren Haft in der Justizvollzugsanstalt Freiburg verurteilt hatte. Vierzehn beschissene Jahre in Block B, voller Erniedrigung und Pein. Oliver dachte, er habe ausreichend gebüßt und dass es nichts weiter gab, das er noch tun könnte, um die gegenwärtige Justiz zufriedenzustellen. Aber natürlich gab es noch etwas. Eine Sache gab es immer. Bis man auch diese verbraucht hatte. Seine Hinrichtung. Die Bienen in seinem Kopf schienen eine Pause einzulegen. Er sah sich um und begriff jetzt erst so richtig, dass das hier das letzte Mal sein würde; das letzte Mal außerhalb der JVA; das letzte Mal unter Menschen. Alles geschah so schnell, dass sein Gehirn die einzelnen Geschehnisse kaum einordnen konnte, und doch so langsam, dass Oliver sich fühlte, als hätte jemand der Zeit eine Last auf den Rücken gebunden, wodurch sich alles wie in Slow Motion abspielte.

Ein Mann stand Weber gegenüber. Der Showmaster händigte ihm etwas aus. Oliver wusste, dass dieser Mann einer von ursprünglich Fünfen war, schließlich hatte er die Show selbst schon im Fernsehen gesehen. Sogar im Knast. In der Glotze wurde an dieser Stelle immer hineingezoomt, wodurch man das Gerät in den Händen des Mannes problemlos erkennen konnte. Aber live – live, wie seltsam das klingt – hatte er seine Schwierigkeiten damit. Erst jetzt fiel Oliver auf, dass er seine Brille nicht aufhatte. Wo war sie? Noch in seiner Zelle?

Von der Nase gefallen, als man ihm die Beule und die darauf folgende Bewusstlosigkeit verpasst hatte? War das wichtig? Er kniff die Augen zusammen und erkannte etwas Braunes, das irgendwie wie ein Bogen aussah, nur hielt der Kandidat ihn nicht wie einen solchen. Wieso hatte er …

Plötzlich dröhnte sein Schädel wieder. Die Bienen hatten ihre Pause beendet, als er erkannte, um welches Gerät es sich in der Hand des Kandidaten handelte. Die Knie versagten ihm und sein Körper wollte sich der Gravitation ergeben, als einer der Sicherheitsleute ihn unter den Armen packte und tiefer ins Studio hinein manövrierte, ohne dass er irgendetwas dagegen tun konnte.

Oliver wand sich wie eine Schlange, versuchte, sich zu befreien, schrie: »Nein! Nein! Ich will nicht! – Ich will nicht!«, und hatte letztlich doch keine Chance. Die Security stellte ihn auf einen blutroten Stern und verpasste ihm einen Schlag in die Nieren, worauf Oliver sich unter Schmerzen krümmte.

Schmerzen, dachte Oliver. Ein Zeichen dafür, dass ich lebe … noch!

Tränen schossen ihm in die Augen. Nicht aufgrund des Hiebes, sondern wegen der Erkenntnis, dass der Kandidat den Lauf seiner Armbrust auf ihn richtete. Seine Lippen zitterten. Er weinte und schrie.

»Nein! Nicht!«

Die Spitze des Bolzens, den der Kandidat selbst mit zitternden Fingern in die Armbrust gelegt hatte, glänzte im Scheinwerferlicht. Der Kandidat zielte.

»Nein! Nein…«

Der Bolzen flog und der Kandidat traf auf Anhieb das vom Zufallsgenerator bestimmte Ziel. Die Bienen in Oliver Freys Kopf hörten auf, umherzuschwirren. Ihr Dröhnen und Summen verstummte mit einem Mal. Plötzlich stachen sie alle zu. Hunderte, tausende Stiche, bis Olivers Empfinden in Dunkelheit hinüberglitt.

Kurz bevor die Schwärze ihn ganz eingehüllt hatte, dachte er noch einen Gedanken.

Es trifft immer die Unschuldigen.

Dann existierte seine Welt nicht mehr. Nur noch sein Körper lag auf dem roten Stern.

Louis Weber gratulierte dem Kandidaten. Er hatte es geschafft. Einen Verbrecher gebührend gestraft. Und noch viel besser: Fünfzigtausend Euro, eine Menge Geld im Jahr 2031, gehörten nun ihm. Eine Waffe, ein Ziel, ein Treffer. Armbrust, Auge – Tod.

Wie es der Zufallsgenerator gewollt hatte.

Der nächste Enemy stand schon bereit, besiegt zu werden.

 

ERSTER TEIL – Der Teufel

1.

 

Matthew Stevenson steckte ganz schön tief in der Scheiße. Er wusste es noch nicht, konnte aber schon die ersten Ausläufer einer gewissen Beklemmung nach ihm greifen spüren. Mit nachdenklich gesenktem Kopf lief er von der Arbeit nach Hause und kickte einen Schotterstein mit der Schuhspitze vor sich her, bis dieser in den Ritzen eines Gullydeckels verschwand.

Graue Wolken hingen tief über den Dächern der Hochhäuser, die in wenigen Jahren aus dem Boden gestampft worden waren und der Stadt das Aussehen eines Waldes, aus eng aneinander liegenden Granitpalisaden, gab. In einem dieser Bauten wohnte Matthew mit seiner Familie; seiner Frau Lilian und Rosalie, seiner fünfjährigen Tochter. Bäume oder gar Grünanlagen gab es in diesem Wald kaum mehr, als hätte sich sein Umfeld Matthews Laune angepasst. Oder umgekehrt. Alles war irgendwie nur noch grau.

Was ihm durch den Kopf spukte, hatte allerdings weniger mit dem Wetter zu tun, als mit seiner Arbeitsstelle. Mit seinem Job konnte er mit Müh und Not ihren gemeinsamen Lebensunterhalt aufbringen. Lilian hatte, seitdem sie von den Staaten nach Deutschland übergesiedelt waren – wie waren sie nur auf diese blöde Idee gekommen –, noch weit weniger Glück.

In einer grauen Welt brauchte man keine Modedesigner mehr. Kleidung war nur noch monotoner Einheitsbrei, der aus den Fabrikhallen weniger Firmen stammte, die alle zusammen einen großen Konzern bildeten. Global Fashion Industry.

Eine Marke, ein Design, eine Welt in Grau.

Matthew war verantwortlich dafür, dass sie sich die Miete für das Loch (ein allgemeiner Titel, den fast jeder benutzte), in dem sie hausten, überhaupt bezahlen konnten. Nun, nach dem kurzen, aber gewichtigen Gespräch mit dem Boss der UTD Baumarktkette, gab es viel nachzudenken. Und er hatte noch mehr als die Hälfte des Nachhausewegs vor sich.

Fast schon zaghaft hatte er nach Ende seiner Schicht an die Tür des Chefbüros geklopft. Herr Müller war ein überaus ungeduldiger Mann, der es überhaupt nicht mochte, wenn man ihn während der Arbeit störte. Nur wusste leider niemand, wann er arbeitete und wann nicht. Die Tür zu seinem Büro stand nie offen. Jeden Tag verbarrikadierte er sich dahinter, was niemand so richtig verstand. Wie ein Hund, der freiwillig in einen Zwinger flüchtet, hatte Hans, ein langjähriger Mitarbeiter, mal zu Matthew gesagt, und Matthew stimmte dem insgeheim zu. Er selbst hatte sich nie getraut, etwas Unflätiges über die Firma oder ihre Mitarbeiter laut auszusprechen. Mittlerweile galt auch hier The Right To Work, was so viel bedeutete wie: dass man jeden gottverdammten Tag ohne Vorankündigung gefeuert werden konnte. Das mieseste Gesetz von allen, wenn es nach Matthew ging.

»Herein«, brummte eine bassige Stimme beinahe unverständlich durch die Tür. Beim Eintreten sah ihn Herr Müller mit entrüsteter Miene durch die dicken Gläser einer Hornbrille an. Wie konnte er es auch nur wagen, seinen Boss sprechen zu wollen?

In der Firma war Herr Müller einfach nur Herr Müller oder der Boss. Den Vornamen wusste Matthew nicht, und niemand in der Firma schien ihn zu kennen. Er war ein Mann in den späten Fünfzigern, groß und mit überaus kräftiger Statur, knapp an der Grenze zur Fettleibigkeit. So fett wie ein Schwein, das immer drei Eimer mehr zu fressen bekam, als alle anderen, dachte Matthew manchmal.

»Was ist denn?«, bellte Herr Müller, den Kopf sofort wieder in den Unterlagen auf seinem Schreibtisch versenkt. »Sehen Sie denn nicht, dass ich zu tun habe?«

Natürlich hatte er zu tun. Das hatte er immer.

»Entschuldigen Sie …«, wollte Matthew beginnen, doch nicht einmal dazu kam er.

»Ah, der Herr … Herr …«, er schnippte zweifach mit den Fingern.

»Stevenson.«

»Stevenson! Treten Sie ein!«

Jawohl, Sir, sagte eine Stimme in Matthews Kopf und sein Körper gehorchte. Der moderne, graue Schreibtisch seines Bosses stand mitten im Raum und trennte diesen somit in zwei Teile. Chef und Angestellter, eine unübersehbare – wahrscheinlich beabsichtigte – Herabwürdigung. Dem Angestellten waren lediglich zwei dazu passende, harte Plastikstühle gegönnt. Müller hingegen saß in enger Hose auf einem bequemen, schwarzen Ledersessel, dessen Armlehnen so nah an seinem überbreiten Hintern scheuerten, dass er nach einem Arbeitstag sicherlich rote Stellen davontrug.

Matthew beäugte zwar die Stühle, benutzte sie jedoch nicht ohne weitere Aufforderung, die so oder so ausbleiben würde. Hier saß man nur, wenn man den Arbeitsvertrag unterzeichnete oder wenn … Na ja, The Right To Work in Kraft trat.

Lieber blieb er stehen, als sich eine weitere böse Miene einzufangen, denn das konnte Matthews Boss gut; es schien beinahe eine Leidenschaft von ihm zu sein.

Müller senkte seinen Blick erneut, vertieft in die Dokumente auf seinem Schreibtisch, während Matthew sprach. Er fühlte sich wie ein Linienrichter eines Fußballspiels, außerhalb der Seitenlinie, nur dann beachtet, wenn er die rot-gelbe Flagge hob.

»Ich wollte Sie fragen, ob ich die zwei Tage Urlaub, die ich noch übrig habe, statt im Oktober bereits …«, Matthews Stimme klang schwach und zögerlich. Seinen Boss schien das nicht zu jucken, »… bereits nächste Woche nehmen könnte.«

Zuerst schien Herr Müller auf Matthews Nachfrage nicht zu reagieren, doch dann legte er seinen Stift beiseite und sah zu seinem Untertan hoch.

Seit Matthew hier arbeitete, war er immer pünktlich gekommen und niemals zu früh gegangen. The Right To Work saß ihm, wie allen anderen, stetig im Nacken.

Matthew konnte den sonderbaren, steinernen Ausdruck auf Müllers Gesicht nur schwer einschätzen und gewann den Eindruck, dass sein Chef nicht unbedingt wusste, was er sagen sollte. Wobei das für Herrn Müller wirklich sonderbar gewesen wäre. Eigentlich wusste er immer, was zu sagen war, denn nur sein Wort galt.

»Meine Tochter wird nächste Woche sechs Jahre alt und meine Frau und ich wollen …«, rechtfertigte sich Matthew sofort. Er war nervös, schließlich wollte er Rosalie nicht auch dieses Jahr wieder enttäuschen.

Doch Müller schnitt ihm das Wort ab.

»Es ist mir gleich, was Sie vorhaben«, brummte Müller, blieb dabei jedoch ruhig.

Wieder folgte unangenehme Stille.

Matthew spürte, wie es in seinen Fingerspitzen kribbelte. Sein Zeigefingernagel scharrte willkürlich an seinem Daumen.

»Eine Sekunde«, sagte Müller schließlich und begann, auf der Tastatur zwischen den auf dem Schreibtisch verstreuten Dokumenten zu tippen.

Hätte Matthew ihn nicht dabei beobachtet, hätte er gedacht, Müller versuche, die einzelnen Tasten mit den Fingerspitzen zu zertrümmern, eine nach der anderen.

TACK-TACK-TACK-TACK.

Müllers Augen waren dabei zu Schlitzen verengt wie die des Maulwurfs in der Zeichentricksendung Alfred Jodocus Kwack. In einer weniger angespannten Situation hätte Matthew bei dem Gedanken lachen können.

Während Müller die Augen auf den Bildschirm gerichtet hielt, beruhigte sich Matthew ein wenig. Vielleicht … Ja … Vielleicht sah Müller gerade nach, ob denn überhaupt die Möglichkeit bestünde, seinen Angestellten kommende Woche zu entbehren. Oder ob ihm die zwei Tage extra zustanden. Warum denn auch nicht? Schließlich hatte Müller nicht direkt verneint. Es gab zwar zwei Mitarbeiter, die gerade wegen Krankheit ausgefallen waren, aber …

»Herr …«, Müller überlegte wieder kurz, schnippte mit den Fingern, sah nochmals genauer auf seinen Bildschirm und fand anschließend, wonach er gesucht hatte. »Stevenson. Sie werden morgen früh bitte nochmals in mein Büro kommen. Am besten direkt zu Beginn Ihrer Schicht, um sieben Uhr dreißig. Klopfen Sie aber an. Wenn ich nicht antworte, warten Sie, bis ich es tue. Wir haben morgen früh noch eine kleine Besprechung, und ich möchte dabei nicht gestört werden. Herr Bremer wird sich unserer Unterhaltung anschließen. Wir haben da noch etwas mit Ihnen zu klären. Ihr Urlaub wird dann ebenso zur Sprache kommen.« Sein Blick war nun starr auf Matthew gerichtet; die Augen eines Maulwurfs, der nach mehrjähriger Abstinenz das erste Mal wieder das Sonnenlicht erblickte.

Matthew sagte nichts, wartete stattdessen ab, ob noch etwas folgen würde. Doch da kam nichts.

»Okay«, sagte Matthew leicht verstört über diese Aussage. Was gab es denn, dass Herr Müller und sein Stellvertreter mit ihm klären wollten? Soweit er es nachvollziehen konnte, hatte er nichts falsch gemacht. Jeden Tag war er pünktlich zur Arbeit erschienen und hatte den richtigen Leuten die richtigen Sachen verkauft.

Es gab also keinen Grund, oder doch?

»Stehen Sie da nicht wie angewurzelt herum! Wir sehen uns morgen früh, und seien Sie pünktlich! Vergessen Sie auch nicht, dass wir eine Besprechung haben, die nicht gestört werden darf! Kommen Sie also ja nicht ins Büro, bevor ich es Ihnen nicht ausdrücklich mitteile!«

Werde ich nicht, dachte Matthew, nickte jedoch bloß.

Müller starrte wieder auf die Papiere auf dem Schreibtisch und zückte aufs Neue seinen Kugelschreiber, dessen Druckknopf er in rasendem Tempo immer wieder klicken ließ.

Matthew verstand dies als wortlose Aufforderung, den Raum umgehend zu verlassen. Ohne zu zögern kam er ihr nach. Ein ungutes, merkwürdiges Gefühl hatte sich in seiner Magengegend gebildet, das ihn den gesamten Nachhauseweg nicht mehr losließ. Er fragte sich immer wieder, aus welchem Grund die zwei Chefs sich mit ihm unterhalten wollten. Vielleicht eine Bestellung, die seinerseits falsch ausgeführt worden war? Vielleicht ein Kunde, der sich über ihn beschwert hatte? Oder ein Mitarbeiter? Während er den nächsten Schotterstein fand, den er vor sich her kicken konnte, ging er im Geiste die letzten Arbeitstage noch einmal durch.

Er erinnerte sich an einen Mann, der eine Motorsäge zurückgeben wollte. Der Typ machte einen Aufstand, nachdem Matthew ihm erklärt hatte, dass die Motorsäge nicht aus dem UTD stammte. Nichts weiter als eine Verwechslung, doch der Mann ließ sich nicht abwimmeln.

»Das Gerät ist nicht von uns. Aber TOOM wird Ihnen sicher …«, hatte Matthew mehrfach betont, worauf der nach billigem Fusel stinkende Mann das Gerät wutentbrannt zu Boden schmetterte, wo es in unzählige Teile zerbarst. Matthews Herz rutschte einen Augenblick lang in die Hose. Er war kurz davor Herrn Müller oder seinen Stellvertreter anzurufen, um die Sache zu klären, und den Mann gegebenenfalls vor die Tür setzen zu lassen. Das stellte sich jedoch als nicht notwendig heraus. Schnaubend sammelte der Mann die gröbsten Einzelteile auf, packte sie allesamt unter die Arme und verließ glücklicherweise umgehend das Geschäft.

Matthew traf eigentlich keine Schuld daran und er hatte sein Bestes gegeben, um den Mann zu besänftigen, also …

War dies der Grund für das anstehende Gespräch?

Auch dieser Schotterstein schien es nicht auf Dauer mit ihm und seinen Selbstzweifeln aushalten zu wollen und verabschiedete sich wortlos, als zwei Kids mit Skateboards Matthews Weg kreuzten und ihn beinahe über den Haufen fuhren.

»Pass doch auf!«, brüllte einer von ihnen, selbst fast vom Brett fallend. Matthew sah ihnen einen Augenblick nach und dachte benommen: Pass doch auf … Aber was habe ich denn verpasst?

Er ging weiter. Seine Gedanken kreisten um Geschehnisse der letzten Tage; keines davon groß genug, um The Right To Work in Kraft treten zu lassen.

Oder doch?

 

 

 

2.

 

Den ganzen Abend über kaute er nervös an seinen Fingernägeln und schnippte taktlos mit den Fußzehen, was Lilian beinahe rasend machte, als sie gemeinsam auf der Couch vor dem Fernseher saßen.

»Kannst du bitte damit aufhören?«, schnaubte sie ihn an. »Schon seitdem du von der Arbeit gekommen bist, zappelst du nur herum. Wenn du mich damit nerven willst, dann Gratulation, du hast es geschafft. Kannst du mir vielleicht mal erklären, was los ist?«

»Entschuldige«, sagte Matthew stumpf und versuchte, mit dem Schnippen seiner Fußzehen aufzuhören, wobei er automatisch, nach ein paar Sekunden, wieder damit begann. »Es ist nur …« Dann fehlten ihm die Worte. War Müllers Aussage wirklich so furchteinflößend, dass er sich nicht mehr unter Kontrolle hatte? Dass er an seinen Fingernägeln kaute, war keine Seltenheit. Auch wenn es ihn selbst störte, sobald er es bemerkte. Selbst der bittere Geschmack des Ecrinal hatte nichts zur Abgewöhnung beigetragen. Letztlich stand von seinen Nägeln kein Millimeter mehr über. Das mit den Zehen war für ihn neu. Nervosität war eben eine Ganzkörpersache.

»Sag mir endlich, was los ist«, sagte sie. Dann fügte sie scherzhaft hinzu: »Hast du eine andere? Bist du mir fremdgegangen? Hast du eine Krankheit, die du verschweigst? Dein Gezappel macht mich wahnsinnig. Sag jetzt bloß nicht, dass nichts ist, denn das glaube ich so oder so nicht. Verraten hast du dich schon, also … Hast du eine …«

»Nichts von alledem.« Matthew kannte Lilians direkte Art. Sie machte keinen Hehl aus den Dingen. Wenn es etwas gab, das sie wissen wollte, dann fragte sie es einfach, direkt und ohne Umschweife.

Ihre stechend blauen Augen, die sie dabei auf einen richtete, waren wie spitze Dolche, die jedem ihrer Worte Nachdruck verliehen. Wenn Matthew in sie hineinsah, dann versank er entweder in ihnen wie in einem ruhigen Gewässer oder – wie in diesem Fall – starrte er in einen Spiegel, der ihm seine eigene Torheit vorwarf. Dazu musste sie noch nicht einmal etwas sagen. Wenn sie diesen Ausdruck auflegte, dann war es unmöglich, Lilian zu entkommen.

Sie fesselte einen damit geradezu, ohne dabei auch nur mit der Wimper zu zucken.

»Na wenigstens etwas«, scherzte sie. »Aber es scheint trotzdem etwas an dir zu nagen, das ist nicht zu übersehen. Also sag schon!«

Matthew nahm die Fernsehfernbedienung – Ultra Definition konnten sie sich nicht leisten, deshalb hatten sie einen altmodischen Fernseher – und schaltete auf stumm. Die Stille, die dabei entstand, machte es ihm nicht unbedingt einfacher, seine Gedanken in Worte zu fassen. Einerseits wusste er, dass Müllers Aussage gar nichts zu bedeuten haben konnte, andererseits …

»Mein Boss, Herr Müller … Ich habe dir doch erzählt, dass ich ihn wegen Urlaub fragen werde. Dass ich ihn gerne auf nächste Woche, auf Rosalies Geburtstag verschieben würde.«

»Ja, und? Hat Herr Müller ihn dir wieder einmal nicht gewährt?«

»Das ist es nicht«, seufzte Matthew, setzte sich etwas gerader auf und räusperte sich, wodurch er seiner Stimme wieder zu klarem Ton verhelfen versuchte. Es gelang jedoch nur bedingt. »Nach der Arbeit bin ich zu seinem Büro gegangen und er hat tatsächlich ›herein‹ gesagt. Das alleine grenzt schon an ein Wunder.«

Er lächelte matt.

»Na ja. Ich war bei ihm.«

»Und, was hat er gesagt? Hast du ihn darauf angesprochen oder hat er dich gleich, als er dich gesehen hat, wieder hinausgeworfen? Lass dir doch nicht alles so aus der Nase ziehen, Matth.«

Schon seitdem sie ein Paar waren, nannte sie ihn Matth, wobei sie die Einzige war.

Seine wenigen Freunde Chris Maslovski, Tommy Baumann und Sebastian Basti Fischer nannten ihn dagegen immer Johnny; ein Spitzname, der auf ein weniger gutes Erlebnis mit einem Joint zurückführte.

»Nein. Hinausgeworfen hat er mich nicht«, sagte Matthew und dachte an Müllers Blick; die Augen eines Maulwurfs.

In der Erinnerung kamen sie ihm nun bissiger vor, gefräßiger, eher wie die Augen eines angriffslustigen Tigers.

»Das wäre auch das Letzte gewesen …«

»Ja. – Schon. – Wie dem auch sei, ich hab ihn nach meinem Urlaub gefragt und er sah einen Augenblick lang so aus, als wüsste er nicht, was er sagen sollte. Ich meine, wenigstens hat er nicht direkt mit ›Nein‹ geantwortet, aber sein Gesichtsausdruck war irgendwie… seltsam. Und noch viel merkwürdiger ist, dass er mich morgen wieder bei sich im Büro sehen möchte.«

»Wie? Auf die Verschiebung deiner zwei freien Tage antwortete er nicht, lud dich aber für morgen in sein Büro ein?«

»Er hat mich nicht eingeladen, er hat mich geladen. Er will mich sprechen und Herr Bremer, sein Stellvertreter, wird ebenfalls anwesend sein. Gleich morgen früh, zu Beginn meiner Schicht.«

»Und das bereitet dir solches Kopfzerbrechen, dass du mit den Füßen zuckst wie ein sprunghaftes Känguru? Das verstehe ich nicht.«

»Na ja … es war …, weil er mich so komisch angesehen hat«, sagte Matthew, von seiner Aussage überzeugt, wobei er verstand, dass Lilian das nicht so nahe ging wie ihm selbst. Schließlich hatte sie nicht in the Big Boss' Augen gesehen.

»Vielleicht will er dich ja befördern?«, sagte sie und Matthew sah sie darauf mit großen, verdutzten Augen an. Diese Möglichkeit hatte er nicht in Betracht gezogen.

Eine Beförderung? Er? Warum sollte Herr Müller ihn befördern?

Doch im selben Augenblick, in dem er den Gedanken zu Ende dachte, kam ihm, dass dies nicht nur äußerst unwahrscheinlich war, sondern völlig außer Frage stand. Zum einen tat Matthew Stevenson nichts als seinen Job. Zwar gut, aber auch nicht herausragend. Er verkaufte keine Schundware an treudoofe Menschen, die wegen etwas völlig anderem in den Markt kamen.

Das überließ er freiwillig Samuel Reuter und vielleicht auch Justin Schmitz. Diese beiden Narzissten konnten einem Affen einen Panzer verkaufen, vor allem Samuel Reuter, der allgemein bekannte Träger der braunen Halskrause. Er war der Typ Mann, den man gerne beförderte. Matthew würde man eher – und diese Gewissheit tat weh – zum Etikettieren versetzen. Das war wirklich ein Job für jemanden, der Frau und Kind erschlagen hat. Schließlich schüttelte er den Kopf und machte damit unbeabsichtigt Lilians kleinen Tagtraum zunichte, den sie gerade aufbaute. Eine Beförderung würde mehr Geld bedeuten. Und mehr Geld bedeutete, endlich dieses Loch hinter sich zu lassen. Doch so etwas war schlichtweg blanker Unfug.

»An eine Beförderung glaube ich nicht«, sagte Matthew resigniert, wobei Lilians Wunsch auch ihm gefiel. Er träumte selbst oft davon, aber immer mit einem Gummiband im Nacken, das sich Realität nannte. »Als ich Herrn Müller ansprach, konnte er sich nicht einmal an meinen Nachnamen erinnern. Er musste in seinem PC nachsehen. Außerdem hätte Chris davon Wind bekommen und es mir gesagt. Schließlich geht er zu jedem Meeting.«

Lilian antwortete darauf nichts und Matthew meinte, sehen zu können, wie etwas in ihr leichte Risse bekam.

Dann sah sie ihn wieder durchdringend an und sagte: »Vielleicht hat Chris es auch einfach nicht mitbekommen. Die Chefetage hat er bislang noch nicht erobern können, auch wenn er sich noch so sehr bemüht. Da macht Samuel niemand so schnell etwas vor. Der würde wahrscheinlich seinen Kopf so tief in Müllers Arsch schieben, dass der seine Haare schmecken kann, bevor er seine Position für Chris ›hab euch alle ganz doll lieb‹ Maslovski freigibt.«

Auf diesen Kommentar mussten sie beide lachen, sodass Rosalie, die in ihrem Bettchen lag und am Einschlafen war, die Decke bis über beide Ohren zog.

Das liebte Matthew an Lilian.

Obwohl sie fünf Zentimeter kleiner als er war und beide gerade auf gleicher Höhe auf der Couch die Füße ausstreckten – mit seinen Eins Siebzig taugte er auch nicht gerade zum Basketballspieler –, schaute er zu ihr auf. Oftmals, wenn er die Hoffnung bereits aufgegeben hatte, kam sie mit einem kleinen Kracher und seine Laune besserte sich schlagartig. Sie machte ihn glücklich, trotz gelegentlicher Meinungsverschiedenheiten.

Aber welches Paar war schon perfekt?

Ihre gemeinsame Imperfektion gab es nun schon seit neun Jahren. Vor drei Jahren schlossen sie den Bund der Ehe, und trotz finanzieller Schwierigkeiten und Uneinigkeiten, was die Erziehung ihrer kleinen Tochter oder den Haushalt anbelangte, konnte er sich keine Bessere an seiner Seite vorstellen. 2029 waren sie aus den Vereinigten Staaten von Amerika nach Deutschland gezogen und eigneten sich beide anschließend in bahnbrechendem Tempo die Sprache an. Wohl hörte man ihren Slang noch heraus, aber auch das brachten sie einigermaßen unter Kontrolle, da sie auch zuhause nur deutsch sprachen.

Für Lilian hatte sich das Thema des Abends offensichtlich schnell erledigt. Nachdem sie ihm zusicherte, dass sie an ihn glaubte, schwieg sie darüber.

Matthew tat sich damit jedoch etwas schwerer. Während in der Mattscheibe Kanal 2 anfing, seinen neuesten Quotenbrecher ›Defeat Your Enemy‹ auszustrahlen, grubbte er weiter an seinen Nägeln herum und verzog sein Gesicht, während der Moderator Louis Weber die fünf Anwärter auf das Preisgeld präsentierte.

Als der Kameramann schließlich auch den Gefangenen, einen Typen namens Oliver Frey, zeigte, schaltete er den Fernseher aus. So einen Scheiß brauchte er sich nicht zu geben. Im alten Rom gab es Gladiatorenkämpfe und heute beschissene Gameshows, deren Zuschauer sich an den ausgeweideten Gedärmen irgendwelcher Schwerverbrecher ergötzten. Für Matthew gab es wichtigere Dinge im Leben. Das morgige Gespräch, zum Beispiel.

»Lass uns ins Bett gehen«, sagte Lilian. »Nicht, dass du morgen noch dunkle Augenränder hast.«

Matthew stimmte ihr zu, wobei er weniger an die möglichen Augenränder dachte, als an die Frage, was seine beiden Chefs von ihm wollten. Selbst die Dusche, die er vor dem Schlafengehen immer genoss, wusch seine Befürchtungen nicht ab. Lilian hatte sich bereits ins Bett gelegt, wartete allerdings auf ihren Ehemann, bevor sie einschlief. Normalerweise pflegte sie, ein Buch in die Hände zu nehmen und unter dem flackernden Licht mehrerer Kerzen zu lesen. Auch Matthew duschte im fahlen Schein mehrerer Teelichter. Sich selbst konnte er kaum sehen, aber dafür sie, wenn er aus dem Fenster schaute. Die Nachtschwärmer, die mit Fackeln bewaffnet die Straßen entlang patrouillierten. Schweigend und penibel genau darauf achtend, dass alle schön artig waren. Deshalb auch die Kerzen. – Elektrisches Licht war ab 23.00 Uhr untersagt. Das brachte das Leben in einem Loch mit sich.

Aber es hatte auch etwas Gutes, wie Matthew jetzt wieder mal bemerken durfte.

Als er mit einem Handtuch um die Hüfte aus der Dusche trat und ins Schlafzimmer nebenan gehen wollte, blieb er überrascht und fasziniert im Türrahmen stehen. Er sah Lilian an und sie ihn. Auge in Auge. Dort lag sie, wunderschön und nackt, wie Gott sie schuf. Ihre langen, schwarzen Haare hingen offen über ihre Schultern und über ihre kleinen, festen Brüste, deren Brustwarzen sich nach oben reckten. Ihre langen Beine hatte sie bis zu den Waden hinauf unter der Bettdecke versteckt, aber das tat ihrem Anblick keinen Abbruch. Das wenige Kerzenlicht ebenfalls nicht.

»Komm zu mir!«, flüsterte sie und hob die Decke ein Stück an. Ihre Augen funkelten.

Blau wie der Ozean, dachte Matthew, ließ das Handtuch von seinen Hüften gleiten und stieg zu ihr. Sie fuhr sanft über seine, von dunklen Haaren übersäte Brust. Er streichelte ihre Schulter. Ein reizvolles Lächeln umspielte ihre schmalen, rosa Lippen. Ein Zauber machte sich breit, wie ihn nur die Liebe hervorrufen kann; ein Zauber, der dazu führte, dass das bevorstehende Gespräch vorerst vergessen war.

Und niemand konnte diesen Bann brechen. Lilian verführte ihn noch immer genauso wie vor neun Jahren und er konnte nicht anders, als sich fallen zu lassen. Der betörende Duft frischen Schweißes stieg ihm in die Nase, und als sie sich mit ihren schlanken Hüften auf die seinen setzte, war es um ihn geschehen. Die Vergangenheit und die Zukunft, die Welt um sie herum – nichts außer ihnen spielte in diesen Momenten der absoluten Hingabe eine Rolle. Der folgende Tag war ausgeblendet, doch nicht viele Stunden später, würde das Schicksal mit aller Härte zuschlagen. Das Leben der kleinen Familie sollte sich für immer verändern.

 

 

 

3.

 

Da war es wieder. Das merkwürdige, leere Gefühl, furchterregender Vorahnung.

Wie eine Schaufensterfigur geschniegelt, stand Matthew vor der Tür zum Büro seines Chefs. Die kurzen, dunkelbraunen Haare gut frisiert und seine Arbeitskleidung – ein weißes Hemd und eine schwarze Jeans – ordnungsgemäß gerichtet. Die Lederschuhe, ein Geschenk Lilians zu seinem Geburtstag im letzten Jahr, hatte er am Morgen gebürstet und mit Schuhwachs eingerieben, sodass sie im Neonlicht des Flurs glänzten. Und dennoch fühlte er sich nicht sicher. Auf sein Klopfen, das nun schon ganze zwei Minuten zurücklag, folgte bislang kein ›Herein‹. Gestern warnte ihn Müller noch vor, dass ein Meeting bevorstand, welches Matthew nicht stören durfte. Doch die Zeit verging und Matthew hegte die Befürchtung, dass man sein zaghaftes Anklopfen nicht wahrgenommen hatte. Immer wieder starrte er auf seine alte Armbanduhr und zählte die Minuten.

Was, wenn Herr Müller gar nicht da war? Was, wenn er irgendwo im Markt herumschlenderte oder ihn sogar dort suchte? Es war bereits 8:34 Uhr – vier Minuten später, als die vereinbarte Zeit – und immer noch war die Tür zum Büro nicht aufgegangen. Vielleicht hatte Herr Müller seinen Termin mit Matthew verschwitzt?

Möglich war auch, dass sich Müllers Terminplan einfach geändert hatte und er auswärts unterwegs war. Aber dann wäre zumindest Herr Bremer anwesend oder die Sekretärin, Frau Meisner, die für gewöhnlich im Raum nebenan saß und allmorgendlich die Anwesenheit aller Arbeitnehmer kontrollierte. Sie hätte ihm sagen können, ob sein Termin mit Herrn Müller flachfiel. Es gab unzählige Möglichkeiten, doch es würde nicht lange dauern, bis Matthew merkte, dass nichts von alledem zutraf.

Im Markt ging es noch friedlich zu. Die restlichen Kollegen saßen wahrscheinlich noch in der Umkleide und konnten die letzten Minuten vor dem Kundenandrang noch genießen, während Matthew wie auf Nadeln stand. Chris Maslovski hätte sicher über Müllers An- oder Abwesenheit Bescheid gewusst. Aber er würde erst in zwei Stunden eintreffen.

Weitere zwei Minuten verstrichen und noch immer geschah nichts. Matthew konnte nach Frau Meisner suchen gehen, doch wenn er seinen Posten verließ und die Tür in gerade diesem Moment aufging, würde das sicherlich Konsequenzen nach sich ziehen.

Seine Kollegen verteilten sich bereits einen Stock tiefer im Markt. Hier oben gab es niemanden mehr, außer ihm, einem surrenden, alten Kühlschrank und einem Kaffeeautomaten, welche gemeinsam ohne Regung den Pausenraum ein paar Meter weiter zu seiner Linken bewachten.

Weitere drei Minuten später entschied Matthew sich, es erneut zu versuchen. Um 8:45 Uhr fing seine Schicht offiziell an. Stünde er dann nicht auf seinem Platz, zöge das ebenfalls Konsequenzen nach sich. Manche Mitarbeiter, wie Frau Dresch von der Information, warteten nur auf solche Augenblicke, um – wahrscheinlich aus Lust und Laune – jemandem wie ihm, eins reinzuwürgen.

Wieder klopfte Matthew sachte an die weiß lackierte Bürotür.

Tock – Tock – Tock.

Wieder keine Reaktion.

Tock – Tock – Tock – Tock.

Nichts. Er strich sich mit der Hand übers Gesicht und atmete tief ein. Jetzt ›leck mich am Arsch‹ zu denken und an die Arbeit zu gehen, konnte für Müller bereits ausreichen, um The Right To Work anzuwenden.

Beschissene Gesetze, dachte er.

The Right To Work, das die Europäische Union von den Amerikanern übernommen hatte (wie so vieles), war mindestens genauso bescheuert wie das Gesetz, das in Minnesota wahrhaftig immer noch gültig war; dass man eine Grenze nicht mit einer Ente auf dem Kopf überschreiten darf. Allein die Möglichkeit einer fristlosen Entlassung, glich einem Drahtseilakt über den Niagarafällen.

Die Tür, vor der er stand, öffnete sich nach wie vor nicht. Was ihn wunderte, war, dass er von dahinter nichts hören konnte. Bis auf das Brummen des alten Kühlschranks, das etwa alle zwei Minuten einsetzte und dann wieder verstummte, herrschte Totenstille. Hätten hinter der Eingangstür des Büros Gespräche stattgefunden, so hätte er sie zwar nicht verstehen, aber zumindest hören müssen. Matthew ging einen Schritt näher an die Tür heran. Er lauschte. Kein Wort kam aus dem Raum. Auch nicht das leiseste Wispern, wobei man Stimmen normalerweise immer irgendwie durch solche Wände hören konnte.

Nichts.

Noch einmal näherte er sich mit dem Ohr der Tür. Beinahe berührte er sie. Keine Stimmen.

Tock – Tock – Tock.

Wieder nichts.

Sollte er oder sollte er nicht? Eine Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass er es nicht tun sollte, doch was konnte schon passieren, außer dass man ihn im Falle des Falles wieder vor die Tür setzen würde?

Als er die Klinke sachte hinunterdrückte, berührte er sie nur mit zwei Fingern, als könnte er sich daran verbrennen. Doch vielmehr hatte er die Befürchtung, dass genau in diesem Augenblick, die Tür von innen aufgezogen würde und er wortwörtlich mit der Tür ins Haus fiel. Behutsam, als könnte er dadurch seine Schuldigkeit, unerlaubt einzudringen, mindern, drückte er die besagte Klinke nach unten und öffnete die Tür.

 

 

 

4.

 

Zur selben Zeit, als Matthew Stevenson gerade übervorsichtig in das Büro seines Chefs eintrat, kam Harald Metzger von der Mittagspause zurück in Block B. Sein Puls tobte und Zorn stand ihm ins Gesicht geschrieben. Sein massiger, behäbiger Körper strotzte nur so vor Energie, angeschürt durch blanke Wut.

Die Häftlinge spürten es und zogen sich in die hintersten Ecken ihrer Zellen zurück, wie sie es immer taten, wenn er die Bühne betrat; und so liebte er sie: Schafe des Teufels, die sich wie fromme Lämmer verhielten, wenn man ihnen zeigte, wo der Hammer hängt. Auf seinem grimmigen Gesicht wirkte das kurzzeitige Lächeln wie der Ausdruck eines Wahnsinnigen. Weit entfernt war er davon nicht.

Mit stampfenden, zielstrebigen Schritten betrat er den Zellentrakt, zog den Zentralschlüssel, den nur er als Oberaufseher besitzen durfte, und öffnete die Zelle von Häftling 23765, Viktor Puschkin. Eine rote Lampe über der Zelle begann zu blinken und ein kurzes Tröten, das an eine tiefe Autohupe erinnerte, erklang. Ein metallisches Rasseln folgte, während die Gittertür zur Seite rollte, und Harald Metzger sah 23765 unmittelbar und ungehindert in die Augen. Puschkin stürzte sich rücklings in eine Ecke der Zelle, stieß sich dabei den Hinterkopf an der Toilettenschüssel und japste kläglich, bevor Metzger den Mund öffnete und seine persönlichen Zauberworte sprach.

»Jetzt wird ausgeglichen!«

Seine Stimme traf perfekt den Ton seiner Präsenz; ein schweinisches Grunzen. Puschkin zuckte zusammen und starrte sein Gegenüber mit angsterfüllten Augen an, die sich in ihren Höhlen derart weiteten, dass sie drohten, herauszufallen.

Der pure Schrecken lag auf seinem Gesicht. Doch Metzger achtete nicht darauf, es interessierte ihn auch nicht. Er wollte nur ausgleichen, um seinen Puls zu senken, um die rasende Wut zu bändigen, die wie ein Hurrikan aus dem Nichts aufgetaucht war, als er sich seinen Kontostand angesehen hatte. Dieses verdammte Miststück! Diese miese Schlampe!

Seine Handfläche spielte mit dem Griff des Knüppels, den er immer mit sich führte, egal wohin er ging. Selbst wenn er mit dem Bus zur Arbeit fahren musste, fühlte er ihn gern in der Hand. Er trug ihn bei sich, ganz nah. Er liebte das glatte Hartgummi mehr als seine eigenen drei missratenen Kinder.

Ich werde es dir zeigen! Du hast zum letzten Mal meine Taschen geleert, du und die drei Rotzgören. Nein, ihr zieht mich nicht weiter aus, das verspreche ich euch. Ihr bekommt keinen Cent mehr, dafür werde ich …

»Was wollen Sie … Bitte! Herr Metzger …«, stotterte Puschkin. »Bitte! Bitte! Ich habe Ihnen nichts getan.«

Metzger ragte über ihm wie ein Wolkenkratzer über eine Vorstadt. Seine Hand umspielte den Knüppel. Ein sadistisches, fast schon satanisches Grinsen zierte sein Gesicht. Und mit jedem Augenblick, mit dem Puschkins Furcht wuchs, verbreiterte sich auch das Grinsen, bis es schräg gewachsene Zähne entblößte, die aussahen, als würden sie jeden Moment zubeißen wollen. Schwarze, vor Fett triefende Haare hingen dem Aufseher in wirren Strähnen ins Gesicht. Er schnaufte wie ein Löwe, der seinen Feind unmittelbar vor sich sah.

»Für dich: Herr Oberaufseher! Und lass mich mit deinem Geplärr in Frieden, du gottverlassenes Stück Scheiße!«, keuchte Metzger. Das Vibrieren seiner Stimme verriet deutlich seine innere Anspannung. Aber auch die Erregung, die sich nicht nur in seiner Hose abspielte ... »Deine Mami hat dir wohl nicht beigebracht, wann es besser ist, die Schnauze zu halten. Dabei sollte eine Hure wie sie, es besser wissen. Aber das werden wir nachholen. Keine Sorge!«

»Was … Was habe ich denn getan?« Er zuckte bei jeder Bewegung Metzgers zusammen, die Arme schützend vors Gesicht haltend.

Metzger lachte. Ein widerliches Lachen, das kaum mehr menschlich schien.

Dieser Dreckskerl von einem Dealer war genauso ein Heuchler wie sie, seine Frau, Fiona. Winseln, wenn es ernst wird und sich in eine Ecke verkriechen wie ein Tier, sobald man ein wenig den Freund schwingt.

»Was du mir getan hast? Was du mir getan hast?« Sein Lachen verschwand. Ein hasserfüllter Blick durchbohrte den Häftling regelrecht. »Ihr alle seid schuld daran. Ihr alle, die ihr eure Ehre und Würde für Drogen oder Mord verkauft habt. Aber ihr seid jetzt bei mir. – Bei mir!«, wiederholte er und das Grinsen entstand erneut. »Ja. Recht ist Recht und fair ist fair, wie man so schön sagt. Jeder bekommt das, was er verdient.« Er zog den Knüppel aus seinem Gürtel und wog ihn nahezu liebevoll in beiden Händen wie ein Antiquitätenhändler den Baseballschläger von George Herman »The Babe« Ruth. Kein Schläger war so gut wie der eigene.

Dann, ohne zu zögern, holte er aus und schlug zu. Der Knüppel traf Puschkin an der Schulter, als dieser den Arm abermals schützend vors Gesicht schwang. Es knackte. Puschkin schrie auf. Tränen rollten über seine Wangen.

»Was habe ich Ihnen denn getan? Was habe ich …«

»Schnauze! Du bist nichts als Dreck. Ihr alle seid Dreck!« Ein weiterer Hieb. Nun traf er Puschkins Hand, die mit einem Mal schlaff vom Gelenk herabhing wie ein fast durchgesägter Ast. Ein Trümmerbruch, der nie wieder ganz heilen würde.

Puschkin jammerte und schrie so laut, dass jeder im Zellentrakt es mitbekam. Gesichter blickten verstohlen zwischen Gitterstäben hindurch, beobachteten bestürzt und neugierig, was da vor sich ging. Aber keiner der anderen Häftlinge traute sich, auch nur einen Mucks von sich zu geben. Auch nicht, als der Knüppel Puschkins Stirn traf. Mit verschwommenem Blick stierte er durch einen Vorhang aus Blut.

»Hast heute einen schlechten Tag, was?«

Metzger fuhr herum, den Knüppel fest umklammert.

An die Zellentür angelehnt stand Walter, ein breitschultriger Bulle, groß wie ein Hüne, mit Unterarmen so dick wie mancher Oberschenkel. Er hätte viel eher in einen Wikingerfilm gepasst als in die Freiburger JVA. Er lächelte Metzger mit einer Unberührtheit und Gleichgültigkeit an, die dieser stets zu schätzen wusste.

»Oh ja, den habe ich«, sagte Metzger, sichtlich erleichtert, dass es Walter, sein langjähriger Schichtpartner war. Doch Metzgers Atem ging schwer. Nicht nur, weil die Beanspruchung seines massigen Körpers ihn anstrengte, sondern aufgrund der noch immer nicht ganz erloschenen Wut. Er war hier noch nicht ganz fertig. »Und den hättest du auch, wenn du meinen …« Puschkin keuchte, versuchte, sich kriechend aus der Schussbahn zu schleppen.

Metzger drehte sich abrupt herum. Er schlug abermals zu und schrie. Jede Silbe unterstrich er mit einem weiteren schmerzhaften Hieb. »Kon-to-stand ge-se-hen hät-test.« Metzgers Atem ging so schnell, als hätte er einen Hundert-Meter-Sprint hinter sich, was er seit Jahren gar nicht erst versucht hatte. Für ihn gab es nur noch eine Sportart, der er sich mit größter Hingabe widmete. Und diese Leidenschaft hatte Puschkin gerade am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Der Gefangene lag blutüberströmt in einer Zellenecke, den Kopf am Toilettenrand angelehnt, als würde er sich nur mal eben ausruhen wollen. Sein Atem ging flach und keuchend. Blutblasen bildeten sich an seiner Nase, oder dem, was übrig war. Ein flaches, löchriges Etwas.

»Ich hoffe, du Dreckskerl hörst mir gut zu«, sagte Metzger an Puschkin gewandt. Er beugte sich so tief, dass er die von Puschkins Blut ausgehende Wärme spüren konnte. »Diese Welt ist ein beschissenes Gerechtigkeitsvakuum – es gibt sie nicht.« Der Oberaufseher beugte sich zu Puschkins zerschlagenem Gesicht und hob dabei dessen Kinn mit dem Knüppel an. Er starrte in Puschkins glasige Augen. »Wenn du ich wärst, wüsstest du, was ich meine. Der wahre Feind dort draußen ist nicht das Gesetz, es sind nicht die Millionen Regeln, die es zu beachten gilt… Es sind die Menschen selbst. Du bist eine Nummer, genauso wie ich eine bin; eine Nummer von zig Milliarden, die sich alle auf diesem Planeten drängen wie Sardinen in Dosen.«

»Passende Metapher«, sagte Walter hinter ihm, doch Metzger beachtete ihn nicht. Seine wulstigen Lippen berührten nun fast Puschkins Ohr. Er flüsterte und Puschkin hörte ihn, obwohl er kaum noch im Hier und Jetzt war.

»Es ist die Gier, mein guter Freund, die unser Leben rabiat verändert, wenn wir ihr nicht entgegenwirken. Meine Gier, hat mir meine ganze Familie genommen. Aber diese Gier war lange nicht so … so ausgeprägt wie deine. Für heute sind wir hier fertig. Du wirst am Leben bleiben. Aber sieh‘ dich vor. Ich wache über dich, und bin ich nicht da, dann …« Er deutete mit dem Daumen auf Walter, der noch immer entspannt im Türrahmen stand.

»Komm, Walter. Lass uns einen Kaffee trinken …«

»Was ist denn hier passiert?« Willi Helbrich, ein recht neuer Wärter, war zu ihnen getreten.

Metzger blickte flüchtig über die Schulter zu Viktor Puschkin, der in seinem eigenen Blut badete.

»Nichts.« Dann beugte er sich zu Willi Helbrich, der gut einen Kopf kleiner war und nicht gerade die Autorität vermittelte, die man in diesem Job haben sollte, wenn es nach Metzger ging. »Und wenn du nicht auch so enden willst«, sagte er. »Dann wäre es besser, du schleichst dich wieder dahin zurück, wo du hergekommen bist: an deinen Schreibtisch.«

Einen Augenblick lang schien Helbrich nicht zu wissen, was er tun sollte. Er beäugte entrüstet und zugleich außerordentlich nervös den Häftling, der sich keinen Zentimeter mehr zu bewegen schien. Dann sah er in die Augen seines Vorgesetzten, die immer noch ernst auf ihn herab blickten. Er schluckte hörbar, bevor er weitersprach. »I … Ich wollte Ihnen mitteilen, dass Sie Besuch haben, Herr Oberaufseher.«

Immerhin das hat sich das Greenhorn schon eingeprägt, dachte Metzger. Herr Oberaufseher. Das gefiel ihm.

»Ihre Frau«, sagte Helbrich, dann schüttelte er nervös den Kopf und korrigierte sich. »Ihre Exfrau ist im Haupttrakt und wartet dort auf Sie.«

Metzgers Augen weiteten sich.

Sie hier?, dachte er und die Wut, die durch diesen kleinen Ausgleich erloschen schien, stieg erneut in ihm auf. Sein Blutdruck schoss in die Höhe, in sein Gehirn, wo er dröhnte wie eine Insektenfarm, die durchgeschüttelt wurde.

Fiona ist hier. Das kann nicht sein. Dieser Jüngling will dich verarschen, will dir eins auswischen, für das, was du den Häftlingen antust, ganz klar. Es kann nicht sein, dass sie hier ist; sie war noch nie hier. Helbrich sah ihn noch immer sichtlich nervös an. Was will sie hier? Hat sie nicht schon genug Schaden angerichtet?

»Soll ich ihr sagen, dass Sie verhindert sind?«, wollte Helbrich wissen. Metzger merkte, wie der junge Kollege abermals zu Puschkin hinüber sah, sein Gesicht eine Nuance blasser wurde und er dann wieder unsicher zu ihm aufsah.

»Sagen Sie ihr, ich komme«, sagte er. Aber war es das, was er wirklich tun wollte? Im vergangenen Jahr hatte Fiona tiefe Fußabdrücke in seiner Psyche und auf seinem Bankkonto hinterlassen. Sie hatte immer mehr gewollt und schon seit Monaten war er so arm wie eine Kirchenmaus; so arm, dass es wehtat.

Helbrich nickte. Dann machte er eine Hundertachtziggraddrehung und marschierte zielstrebig aus dem Trakt hinaus. Dabei sah er sich noch einmal um. Metzger sah es genau. Das war kein Blick auf seinen Vorgesetzten oder Walter, den anderen Wärter, nein, das war ein Blick auf den Häftling – ein mitleidiger Blick. Bei ihm würde Metzger sich in Acht nehmen müssen … Nicht in Acht, aber … Er musste ihn noch richtig motivieren, ihm die richtige Fährte zeigen, ihn in die korrekte – seine – Richtung weisen. Andernfalls …

Er blickte selbst hinab zu Puschkin, Häftling 23765, der mit breiten Beinen auf dem Boden lag, als warte er darauf, dass eine Ratte vorbeikam, die ihm den Schwanz lutschte. Mit ihm hatte er abgerechnet. Zumindest vorerst.