Sündenfall

Jenseits des Kreises

Kristina Licht

Band 0

Ewans Geschichte

Eine kalte Dusche würde ihm guttun. Ja klar, damit meinte ich vermutlich hauptsächlich mich selber.

Er zog mich an wie eine zweite Schwerkraft. Ihn anzusehen, war ein Naturgesetz. In seiner Nähe zu sein, meine Bestimmung. Fast sieben Tage hatte ich mit ihm verbracht, die Wohnungssuche aufgeschoben, weil etwas an ihm anders war. Ich wollte herausfinden, was es war, was dieses Gefühl zu bedeuten hatte, das wie eine Naturgewalt über mich hereingebrochen war, bevor ich weiterzog.

Fast sieben Tage hatte ich nun diesen Mann vor meiner Nase – und heute war der erste Tag, an dem ich mehr sehen konnte, als ich sollte. Ewan wusste nicht, wer ich war. Und Ewan wusste nicht, dass ich ihn anziehend fand. Zwei Tatsachen, die mich eigentlich davon abhalten sollten, hinzusehen. Denn wenn er auch nur eines der beiden Dinge wüsste, hätte er sicher etwas dagegen, mit mir in einer Gemeinschaftsdusche zu stehen. Nackt – wie es beim Duschen für gewöhnlich üblich war. Ich hatte auch nie ein Problem mit Gemeinschaftsduschen gehabt, damit, mich nackt zu zeigen, oder damit, andere Männerkörper zu ignorieren. Die meisten ließen mich völlig kalt. Doch aus irgendeinem Grund (wie oben erwähnt: Naturgewalt) konnte ich seinen nicht ignorieren. Und ich musste verdammt aufpassen, dass er meine Blicke nicht bemerkte.

Noch mehr musste ich darauf aufpassen, dass das, was ich sah, mir nicht zu sehr gefiel.

Ich holte tief Luft und hielt meinen Kopf dann wieder unter den kalten Wasserstrahl. Meine Augen geschlossen. Das Wasser rieselte über mein Gesicht, trommelte auf meine Augenlider und floss mein Kinn hinab. Ich versuchte, das Bild in meinen Gedanken zu verscheuchen. Die Kälte tat ihr Übriges, um zu verhindern, dass hier etwas größer wurde, als es sollte.

Ich war froh, dass ich unsere Wette gewonnen hatte. Natürlich hatte Ewan nie eine realistische Chance gegen mich gehabt, aber ich war dennoch erleichtert. Warum wollte er auch immer noch wissen, was vor einer Woche im Club passiert war? Ich hatte gedacht, unsere Schlägerei juckte ihn nicht mehr. Besoffene fanden schließlich dauernd Gründe, um sich zu prügeln. Ich war nicht scharf darauf, ihm zu verraten, dass ich ihm eine reingehauen hatte, weil er mich eine Schwuchtel genannt hatte.

»Hey Milan.«

Ich öffnete die Augen und drehte meinen Kopf. Sein Blick brach durch jahrzehntealte Mauern und mein Herz klopfte so laut, dass es mir vorkam, als hätte es die letzten hundert Jahre regungslos in meiner Brust verbracht.

»Bist du fertig?« Ewan hatte sein Handtuch um seine Hüften gewickelt und schüttelte sein klitschnasses Haar.

Wortlos trat ich aus dem eisigen Wasserstrahl und griff nach meinem Handtuch. Als ich hinter ihm in den Umkleideraum zurücklief, meinen Kiefer angespannt, beim Anblick seines nackten, breiten Rückens, nahm ich mir etwas vor.

Ich brauchte eine eigene Wohnung. Doch vorher würde ich herausfinden, wer Ewan war. Was er war. Es war kaum möglich, dass ein einfacher Mensch eine solche Anziehungskraft auf mich ausübte. Ich streifte schon zu lange durch das Leben, war immer der Außenseiter, derjenige, der nicht dazugehörte. Mir war nicht klar, ob die Sinnlosigkeit der Jahrhunderte mir etwas genommen hatte, oder ob ich ohne dieses Etwas auf die Menschenwelt gekommen war. Aber ich suchte es, in jedem Jahrzehnt, an jedem neuen Ort, an den ich zog. Ich war ein Reisender auf der Suche nach einem Teil meiner Selbst. Und nun, endlich, schien ich es gefunden zu haben: im Körper eines einfachen, unwissenden, mürrischen Typen namens Ewan.

Ich fühlte mich zwar, als hätte ich es gefunden, doch was genau dieses Etwas war, wusste ich nicht. Aber ich würde es herausfinden. Ich werde deine harte Schale knacken, mein wortkarger neuer Freund.

Ich war gerade eingeschlafen, als mich ein Klingeln hochschrecken ließ. Verwirrt blickte ich mich in der Dunkelheit um, griff nach meinem Handy und sah nach der Uhrzeit. Kurz vor Mitternacht.

Erneut klingelte es an der Haustür.

»Wer zur Hölle -?«, brummte ich und hievte mich aus dem Bett. Ich zog mir noch schnell eine Jogginghose und ein T-Shirt über, bevor ich aus dem Schlafzimmer stolperte. Im Wohnzimmer brannte bereits Licht. Milan saß auf der Couch und blickte mir argwöhnisch entgegen. Sein blondes Haar zerzaust, seine Augen schläfrig zusammengekniffen.

»Erwartest du Besuch?«

»Nein.« Ich lief an ihm vorbei in den Flur und zog gedankenlos die Wohnungstür auf. Davor stand jemand, den ich nur allzu gut kannte. Ein junger dürrer Mann Mitte zwanzig mit zerzausten braunen Locken. »Joshua? Was? Ich hatte doch gesagt, ich mache bei deinem Scheiß nicht mehr mit, ich –« Ich hielt inne, als ich in sein bleiches ausdrucksloses Gesicht sah. »Josh, was ist?« Irgendetwas stimmte nicht und mein vom Schlaf benebeltes Gehirn brauchte zu lange, um das zu realisieren.

»Hil...fe«, krächzte der junge Mann vor der Tür und auf einmal sackte er in sich zusammen. Fiel auf den Boden wie ein Sack Kartoffeln.

»JOSH!« Ich ging in die Hocke und musterte voller Panik meinen bewusstlosen Kumpel. Der Geruch von Alkohol umhüllte ihn, doch das war nicht der Grund für seinen Zusammenbruch. Sein weißes T-Shirt war voller Blut. In seinem Bauch steckte ein Messer. »Scheiße verdammt.«

Ich sprang auf die Füße und rannte zur Brüstung des Treppengeländers. »Hey!«, schrie ich und sah abwechselnd nach oben und nach unten. Lauschte, doch es blieb still. Und das Treppenhaus leer. Josh war allein hier. Hatte er sich die ganzen Stufen verwundet hier hochgeschleppt? Wer hatte ihn angegriffen? Und warum?

Ich stürzte wieder zurück zu meinem Kumpel, als Milan plötzlich im Türrahmen stand.

»Was ist los?«, fragte er. Seine schläfrige Verwirrung war einer Wachsamkeit gewichen, die er mit seinem ganzen Körper ausstrahlte.

Ich sah hoch und lehnte mich dabei etwas zurück, ermöglichte Milan damit einen Blick auf den blutbeschmierten Oberkörper meines Freundes. Mehr brauchte es nicht.

»Wir tragen ihn rein. Komm«, ordnete Milan mit fester Stimme an. Er packte mit an und half mir, Josh in meine Wohnung zu tragen. »Vorsichtig«, sagte er und manövrierte uns zum Sofa, auf dem wir Josh ablegten. Seine Lider waren geschlossen, sein Gesicht so bleich, dass ich Sorge hatte, er würde uns jeden Moment wegsterben.

»Das Messer«, sagte ich. »Sollen wir es rausziehen?«

Milan schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, damit könnten wir nur noch mehr Schaden anrichten. Geh und ruf sofort einen Krankenwagen.«

Das musste er mir nicht zweimal sagen. Ich hastete in mein Schlafzimmer für mein Handy, eine Minute später sagte mir die freundliche Frauenstimme, dass ein Rettungswagen unterwegs sei.

»Was ist passiert?«, fragte Milan, als ich zurück ins Wohnzimmer kam. Josh lag immer noch regungslos auf der Couch und blutete mir alles voll.

»Ich weiß es nicht.« Ich stöhnte genervt und hockte mich neben Josh. Vergeblich versuchte ich, ihn wachzurütteln. In was für eine Scheiße hatte der Kerl sich bloß wieder reinziehen lassen?

»Kennst du den Typen denn?«

»Ja, wir waren mal Freunde. Er hatte aber dauernd Probleme mit Alkohol und dem Dealen und so.«

Milan nickte, als kenne er genug solcher Typen. »Er wird schon wieder. Du solltest ihn aber lieber nach Drogen durchsuchen, bevor der Rettungswagen hier ist.«

Stimmt. Josh würde vermutlich so schon eine Menge Probleme bekommen, wenn er später wegen seiner Verletzung ausgefragt werden würde. Da mussten sie ihn nicht noch mit irgendwelchen illegalen Substanzen finden.

Ich durchsuchte die Taschen seiner Jeans. Tatsächlich fand ich in den hinteren mehrere Tüten Kokain und eine Knarre, die zwischen seinem Hosenbund und seinem Steißbein eingeklemmt war.

»Shit«, fluchte ich. Josh hatte bestimmt keine Erlaubnis, eine Waffe mit sich zu führen. Wieso zur Hölle lief er überhaupt mit einer Knarre herum?

»Check auch seinen Oberkörper«, wies Milan an.

Als ich Joshuas Oberkörper betastete, fand ich heraus, was Milan damit meinte. Ich schluckte hart und zog vorsichtig an der Seite sein T-Shirt hoch. Um seine Mitte war noch weiteres Kokain getaped.

»Ich brauch deine Hilfe. Schnell«, sagte ich. Schweiß stand mir auf der Stirn. Wie sollten wir Josh das T-Shirt ausziehen, ohne das Messer oder seine Wunde zu berühren? Und wir hatten nicht mehr viel Zeit. Jede Minute könnte der Krankenwagen kommen.

Milan kniete sich zu mir auf den Boden und fühlte dann Joshuas Puls, legte sein Ohr auf seine Brust. »Er wird das überleben«, sagte er dann und griff nach dem Saum des T-Shirts. Mit einem Ruck zerriss er den Stoff und legte Joshuas Oberkörper frei, der eine reine Koksplantage war.

»Los, schnell.«

Wir entfernten die Drogen, die sicherlich einen Wert von mehreren tausend Euro hatten. Mittlerweile hatte ich sein Blut nicht nur im ganzen Wohnzimmer, sondern auch an den Händen. Die tiefrote Farbe brandmarkte mich, schien mich zu verhöhnen.

»Versteck es!«

Wohin sollte ich mit dem Zeug? Ins Schlafzimmer? Ins Badezimmer? Ich entschied mich für Letzteres und versteckte die Waffe und das weiße Pulver inmitten eines Stapels Handtücher. Dann wusch ich meine Hände mit so heißem Wasser, bis sie schmerzten. Joshua hatte Probleme schon immer angezogen wie Scheiße die Fliegen. Vermutlich sollte ich meinen Bruder Darian anrufen und ihm Bescheid geben. Sie waren gut befreundet, erst durch ihn hatte ich Josh überhaupt kennengelernt. Ich hatte das Gefühl, dass mein Bruder immer irgendwie auf ihn aufgepasst hatte. Oder es zumindest versuchte.

Ich wanderte erneut ins Schlafzimmer, hob mein Smartphone vom Bett und suchte in meinen Kontakten die Nummer meines Bruders. Es war ewig her, dass wir miteinander gesprochen hatten.

»Hey. Was ist los?«, drang es beunruhigt durch den Hörer. Vermutlich erwartete er schon das Schlimmste, wenn sein kleiner Bruder ihn nach Mitternacht aus dem Schlaf klingelte.

»Dein Freund Josh ist hier und blutet meine Couch voll.«

»Was?«

»Du hast richtig gehört. Er hat ein Messer im Bauch. Der Rettungswagen kommt jeden Moment.«

Darian fluchte. »Verdammte Scheiße. Hat er irgendwas bei sich, was ihm Schwierigkeiten bereiten könnte?«

»Eine Menge. Ich habe seine Sachen versteckt«, erwiderte ich, so ruhig ich konnte, und ging zur Fensterbank, wo ich eine Schachtel Zigaretten liegen hatte. Ich klemmte das Handy zwischen Schulter und Ohr und zog eine Kippe heraus. Meine Lippen hielten sie fest, während ich sie anzündete.

»Sobald der Junge wieder fit ist, werde ich ihm sagen, dass er seine Sachen bei dir abholen kann.«

»Also seid ihr immer noch gut befreundet?«, fragte ich und blies den Rauch in die Luft. So langsam fiel der Stress von mir ab und der Schweiß auf meiner Stirn und meinem Rücken trocknete. Dass ich nun eine Knarre im Haus hatte, die ich nicht besitzen durfte, und Drogen im Wert von mehreren tausend Euro, machte mich zwar etwas unruhig, doch wenn niemand davon erfahren würde, war die Sache in ein paar Tagen gegessen. Vorausgesetzt, Joshua würde so schnell wieder fit sein.

»Kann man so sagen.«

In dem Moment schrillte die Türklingel. Schnell drückte ich die Zigarette im Aschenbecher aus.

»Ich muss auflegen. Der Krankenwagen ist da. Wir reden demnächst.« Ich legte auf, ohne auf seine Antwort zu warten, und warf das Handy zurück aufs Bett.

Nachdem sie Josh mitgenommen hatten, saß ich neben Milan auf der frisch gereinigten Couch und starrte in die Luft.

»Danke.« Nicht nur dafür, dass er da war, sondern auch, dass er so ruhig geblieben war und mir sogar beim Saubermachen geholfen hatte.

Milan antwortete nicht. Er lehnte tief in den Kissen, die Arme hinten über die Lehne hängend und blickte nach vorn auf den schwarzen Bildschirm des Fernsehers. Zu gern würde ich wissen, woran er gerade dachte, doch ich würde ihn das nicht fragen.

Ich wartete darauf, dass er von selbst etwas über sich erzählte. Oder über das reden wollte, was gerade passiert war.

»Hast du schon mal einen Freund sterben sehen?«, fragte er irgendwann.

»Nein.« Ich machte eine Pause, dann fragte ich: »Du?«

»Ja.« Er beließ es bei dieser Antwort, auch wenn es sich für mich so anhörte, als würde er noch etwas hinzufügen wollen. Das Schweigen war nicht drückend, sondern zögernd. Als hinge etwas Unausgesprochenes in der Luft.

»Du bist nicht gerade der ruhige, zurückhaltende Typ«, sagte ich langsam. »Das seh’ ich dir an – und trotzdem sprichst du kaum mit mir. Warum?« Ich merkte, dass ich mich damit weiter aus dem Fenster lehnte als die ganze letzte Woche – oder tiefer in seine Seele hinein. Aber die nervenaufreibende letzte Stunde und die Tatsache, dass wir es mitten in der Nacht hatten, brachten mich in eine Gefühlslage, die ich sonst kaum von mir kannte. Nachdenklich, neugierig, ernsthaft interessiert daran, die Gedanken meines neuen Mitbewohners zu ergründen. Als würde uns etwas verbinden, was ich erst jetzt um ein Uhr nachts zuließ.

»Weil ich nichts Falsches sagen will.«

Milans Antwort verwunderte mich. Was könnte er denn Falsches sagen? Und wovor hatte er Angst, falls er es tat?

»Es gibt kein falsch oder richtig bei dem, was wir denken. Und alles, was du denkst, kannst du ruhig sagen.« Obwohl ich diese Worte ernst meinte, fühlte ich mich seltsam dabei, sie auszusprechen. Ich rutschte auf der Couch herum, als suchte ich nach einer gemütlicheren Position. Dabei ließ ich Milan nicht aus den Augen, der mir immer noch sein Profil zugewandt hatte. Schließlich lehnte ich mich seitlich zurück und bettete den Kopf auf meinem Arm. Ich wünschte mir eine Kiste Bier herbei, nur um das, was ich als Nächstes sagen würde, dem Alkohol in die Schuhe schieben zu können.

»Normalerweise interessiere ich mich kaum dafür, was andere Menschen denken oder fühlen. Die meisten enttäuschen einen ohnehin nur oder haben nicht viel in der Birne. Oder nicht das, was du gehofft hast, dass sie es hätten.« Da ich den Satz mit »Normalerweise« angefangen hatte, hätte jetzt ein »Aber« folgen müssen. Aber jetzt ist es anders. Ich interessiere mich für dich. Doch das konnte ich im nüchternen Zustand nicht sagen, weil es irgendwie schwul und kitschig klingen würde.

Milan verstand, was ich meinte, auch ohne dass ich den Aber-Satz anfügen musste, denn er drehte sich überrascht zu mir herum. Sein Blick aus grünen Augen legte sich auf meinen. Und beinahe hätte ich zurückgerudert und irgendetwas anderes gesagt, nur, damit er mich nicht so ungläubig anstarrte, als hätte ich ihm irgendetwas Weltbewegendes verkündet.

»Ich bin nicht wie die meisten Menschen«, sagte er langsam. »Ich trage Geheimnisse mit mir herum, die nicht gut für dich sind.«

Nicht gut für mich? Aufmerksam richtete ich mich ein wenig auf, hellhörig geworden durch seine Wortwahl. Es gab nicht viele Menschen, die wirklich interessante und spannende Geheimnisse mit sich trugen. Aber Milan war einer davon, darauf verwettete ich meinen Benz.

»Was muss ich tun, damit du mich in deine Geheimnisse einweihst?«, fragte ich. Aus irgendeinem Grund wollte ich, dass er mir vertraute.

»Du willst also etwas, was nicht gut für dich ist?«, fragte Milan und ein schiefes Grinsen umspielte seine Lippen. Als würde ich ihn amüsieren.

»Ich bin gut darin, Dinge zu tun, die nicht gut für mich sind«, gab ich augenrollend zurück. Mich ständig zu prügeln, belanglosen Sex zu haben, Alkohol und Partys - war auch alles nicht gut für mich und trotzdem tat ich es gerne.

»Ich werde dir meine Geheimnisse aber nicht verraten«, sagte Milan und wandte sich erneut dem ausgeschalteten Fernseher zu.

»Warum?«

»Weil wir dann nicht mehr befreundet sein könnten.«

Am nächsten Morgen erwachte ich auf dem Wohnzimmersofa. Ich musste hier eingeschlafen sein, nachdem ich mit Milan noch bis in die frühen Morgenstunden geredet hatte. Ich streckte meine steifen Glieder (wie zur Hölle hatten wir zu zweit auf der Couch Platz gefunden?) und sah mich um. Milan war nicht da. Kurz schoss die Frage durch meinen Kopf, ob er nicht vielleicht weitergezogen war, sich eine andere Bleibe suchte, ohne sich von mir verabschiedet zu haben, doch dann hörte ich Geräusche aus der Küche.

Angelockt vom Duft von Kaffee und Bacon machte ich mich auf den Weg. Milan hantierte tatsächlich am Herd, während die Kaffeemaschine vor sich hin brummte.

»Du machst mir Frühstück?« Ich konnte nicht anders, als anzüglich mit den Augenbrauen zu wackeln.

Milan drehte sich zu mir um, sein Blick streifte mich einmal kurz von Kopf bis Fuß, dann verdrehte er die Augen. »Ich mache uns Frühstück. Das ist ein Unterschied, Ewan.«

»Für mich nicht. Ich werde bekocht und bekomme Nahrung, ohne, dass ich etwas dafür tun muss. Und das am frühen Morgen. Nachdem wir nebeneinander eingeschlafen sind. Willst du mir etwas sagen, Milan?« Ich ließ mich auf einen Stuhl an meinem kleinen Küchentisch fallen und beobachtete, wie sich Milan mit zusammengepresstem Kiefer umdrehte und mir den Rücken kehrte.

»Hey, war doch nur Spaß. Warum so angespannt?«, fragte ich verwirrt.

Milan antwortete nicht.

»Es ist nicht einer von deinen Freunden gewesen, der gestern fast draufgegangen ist«, erinnerte ich ihn.

»Richte ihm gute Besserung von mir aus, wenn du ihn demnächst im Krankenhaus besuchst. Und sorg dafür, dass sein Zeug so schnell wie möglich aus deiner Wohnung verschwindet«, antwortete Milan kühl, während er Eier und Speck auf zwei Teller häufte.

Ich kniff skeptisch die Augen zusammen und beobachtete, wie Milan das Frühstück an den Tisch brachte, ebenso wie den Kaffee.

»Was ist los?«, fragte ich. Er verhielt sich seltsam. Ob das etwas mit dem gestrigen Abend zu tun hatte? Hielt er mich jetzt ebenfalls für kriminell?

»Ich habe gleich einen Termin für eine Hausbesichtigung«, sagte Milan und kam mit dem Besteck zurück an den Tisch.

»Willst du, dass ich mitkomme? Ich kann in der Firma anrufen und sagen, dass ich etwas später zur Arbeit komme.«

»Nein, nein. Du arbeitest ohnehin schon zu selten. Geh und verdien dein Geld. Häuser angucken, kann ich auch alleine.« Er setzte sich gegenüber von mir, doch mir kam es vor, als würde er absichtlich meinen Blick meiden.

»Hm okay.« Ich spießte den Bacon auf meine Gabel auf und kaute darauf herum.

»Wo ist das Haus, was du dir anguckst?«, fragte ich eine gefühlte Ewigkeit später.

»Ein bisschen weiter weg.«

Ich runzelte die Stirn. »Okay.«

Einige Sekunden lang hörte man nur das Klirren von Besteck. »Und wie sieht das Haus aus?«, fragte ich dann, nur um Milan noch weiter zu ärgern. Denn anscheinend war ihm heute nicht nach einer Unterhaltung zumute.

»Du bist doch sonst nicht so neugierig. Also was hältst du davon, wenn du deine Klappe hältst?«, fragte er und wedelte mit dem Messer drohend vor meinem Gesicht.

Doch das brachte mich nur zum Lachen. »Junge, so schnell kannst du mich nicht abwimmeln. Entweder du erzählst mir, was los ist, oder wir plaudern weiter über den heutigen Tag. Was machen wir heut Abend?«

Kurz war mir, als könnte ich in die Zukunft sehen, denn ich rechnete schon fest damit, dass Milan nur ein grimmiges »Nichts« knurren würde. Doch stattdessen hielt er inne, trank einen Schluck Kaffee und überlegte. Als hätte er einen Sinneswandel, sagte er dann: »Was hältst du von einer Party? Du und ich ... wir lieben doch beide Partys. Nicht diese kleinen, sondern die großen. Die, bei denen etwas passiert. Bei denen man sich lebendig fühlt.«

Ich dachte über seine Worte nach. Seit wir befreundet waren, waren weder er noch ich feiern gewesen. Wie lange hatte ich nun schon keinen Schluck Alkohol mehr getrunken? Er hatte Recht, es wurde wieder Zeit, die Sau rauszulassen. Vielleicht würde Milan das auch über seine schlechte Stimmung hinweghelfen. Und mir über die Bilder von Joshuas gestrigem Zustand.

»Was schlägst du vor? Ein Club? Eine Bar?«, fragte ich.

Milan schüttelte den Kopf. »Wir veranstalten die Party.«

»Hier

»Na klar. Es sei denn, du hast noch irgendwo eine Villa mit Pool. Spricht was dagegen?«

Ich zögerte. »Auf größeren Hauspartys geht immer etwas kaputt«, wandte ich ein. Möbel, Fenster, Fernseher – oder auch mal Kiefer, Nasen und Rippen.

»Angst?« Milan grinste und entblößte dabei eine Reihe weißer strahlender Zähne.

Ich presste die Lippen aufeinander. Wovor sollte ich Angst haben? Es widersprach nur meinem Drang, über alles die Kontrolle zu behalten. Den Überblick. Die Ordnung.

»Okay«, sagte ich schließlich. »Am Freitag dann. Ich übernehme die Gästeliste? Oder willst du auch jemanden einladen?«

»Nö, ich kenne hier ja niemanden«, erwiderte er, durchaus lockerer als noch vor fünf Minuten. Ich würde wohl nie erfahren, was ihm über die Leber gelaufen war.

»Dann wird es Zeit, dass du die Leute von hier kennenlernst.« Vielleicht war die Idee gar nicht so schlecht – nur wäre es mir lieber, wenn es nicht meine Wohnung war, die wir zur Partymeile erklärten. »Wenn meine Bude danach nur noch ein Häufchen Schutt und Asche ist, zahlst du«, warnte ich ihn und Milan lachte.

Nach dieser Nacht musste ich meine Pläne über den Haufen werfen. Erst das Adrenalin, das sein verwundeter, kleinkrimineller Freund in mir ausgeschüttet hatte, dann dieses Gespräch mit Ewan. Dass er neugieriger wurde, beflügelte mich zwar einerseits, andererseits wurde es so auch gefährlicher. Nicht nur für mein Herz, das viel zu schnell in dieser Nacht geschlagen hatte, sondern auch für Ewans Leben. Wenn er zu viel über mich herausfände, wenn er zu tief in die Sache hineingezogen würde, würde er vermutlich bald in Lebensgefahr schweben. Deswegen stand ich jetzt mitten in dieser riesigen, leeren Villa und war kurz davor, sie auf Anhieb zu kaufen. Sie befand sich zwar in derselben Stadt wie Ewans Wohnung, doch weit genug entfernt, um gebührenden Abstand zu ihm halten zu können. Ich machte meine Zukunft nämlich nicht gern von anderen Leuten abhängig. Die ‚Was wäre wenn’s’ waren zu risikoreich. Ob wir Freunde oder nur Bekannte waren, konnte ich nicht sagen, war zu voreingenommen von den Gefühlen, die er in mir auslöste. Seine Anspielungen heute Morgen hatten mich fast um den Verstand gebracht. »Wenn du nur wüsstest«, hätte ich ihm am liebsten an den Kopf geworfen. Und ihn dabei gegen eine Wand gedrückt. Seinen Duft eingesogen und wäre von seiner Nähe high geworden.

Bei dem Spiel ‚Verstand gegen Gefühl’ war ich normalerweise derjenige, der das Gefühl gewinnen ließ. Leidenschaftliche Hingabe – egal wofür – war mir stets lieber als rationale Kälte. Wären wir Jahreszeiten, dann wäre Ewan ein ruhiger Winter, während ich ein stürmischer Frühling wäre.

»Und wie gefällt Ihnen das Anwesen? Es wird bestimmt nicht mehr lange freistehen. Sollen wir uns vielleicht mal den Garten ansehen?« Die Maklerin redete wie ein Wasserfall. Am liebsten würde ich ihr sagen, dass sie die Klappe halten soll, doch Unhöflichkeit würde mich jetzt nicht weiterbringen.

»Gerne«, sagte ich also und ließ mich von der schlanken Frau auf die Terrasse geleiten, an die ein nicht zu verachtender Garten grenzte, samt eingelassenen Pool. An einer Seite endete das Grundstück zum Wald hin, auf der anderen Seite war es von einer mannshohen Hecke umzäunt, vor der mehrere Gemüsebeete angelegt waren.

»Sie können den Garten natürlich so umbauen, wie es Ihnen beliebt. Das Grundstück umfasst eine Fläche von rund fünfhundert Quadratmetern. Mit wie vielen Personen ziehen Sie denn ein? Haben Sie Kinder?«

»Nein. Allein«, antwortete ich wortkarger als üblich und ließ meinen Blick auf der Wasseroberfläche des Pools ruhen. Sie reflektierte die Sonnenstrahlen und auf einmal war mir so warm, dass ich mich am liebsten auf der Stelle in das Becken fallen lassen würde.

»Ich nehme das Haus.«

»Was?«, rutschte es der Frau heraus, dann fing sie sich schnell wieder. »Natürlich gerne. Ich kann Ihnen heute Abend den Kaufvertrag zufaxen. Wann wollen Sie einziehen?«

»So schnell wie möglich.« Auf einmal vibrierte das Handy in meiner Hosentasche. Ich zog es heraus und warf einen Blick drauf. »Entschuldigen Sie, da muss ich rangehen«, murmelte ich und ging durch die geöffnete Glastür zurück ins Haus.

»Hallo Aidin«, sagte ich, als ich aus der Hörweite der Maklerin war.

»Ich war an allen vereinbarten Orten«, sagte der Mann mit gesenkter Stimme. Im Hintergrund hörte ich vorbeifahrende Autos und Menschen.

»Und hast du es gefunden?«, fragte ich, erwartete aber schon das unbefriedigende Nein als Antwort. Meine Suche dauerte schon zwei Jahrhunderte an. Mehr als ein paar abgeschriebene Seiten oder Gerüchte hatte ich nie bekommen.

»Kein Buch, aber dafür einen Haufen Waffen«, berichtete Aidin.

Ich nickte. »Okay, bring sie her. Ich habe eine neue Unterkunft, die hoffentlich für die nächsten paar Jahre sicher ist. Ich schicke dir nachher die Adresse. Komm auf direktem Weg nach Deutschland und hilf mir beim Einrichten.«

Ich starrte auf die weißen leeren Wände des Wohnzimmers. Vor meinem geistigen Auge nahm die Einrichtung dieses Hauses bereits Gestalt an. Eine cognacfarbene Ledergarnitur auf einem weißen Teppich, ein riesiger Flatscreen an der Wand, die ich aber nicht weiß lassen wollte. Kurz schoss mir das Bild durch den Kopf, wie Ewan und ich das Zimmer strichen, doch ich schüttelte diese Vorstellung so schnell wie möglich ab.

»Wird gemacht, Meister«, sagte Aidin und riss mich aus meinen Gedanken. Ich beendete das Gespräch und schob das Handy zurück in meine Hosentasche.

»Hey, Immobilienfrau, wo sind Sie? Können wir uns nochmal den Balkon im Schlafzimmer ansehen?«, rief ich.

Die Frau, deren Name ich leider vergessen hatte, stöckelte über die Terrasse und streckte ihren Kopf zwischen die gläsernen Schiebetüren. Auf ihrem Gesicht ein Lächeln, als störte es sie gar nicht, dass ich ihren Namen nicht behalten hatte.

»Sehr gerne doch, Herr Vogelsang«, zwitscherte sie und klimperte mit ihren langen schwarzen Wimpern.

Der Freitagabend kam viel zu schnell. In dieser Nacht sollte unsere Party steigen und diese Nacht war auch etwas Besonderes, weil es die letzte war, die ich bei Ewan schlief. Es war eine Art Abschied und ich fragte mich, ob Ewan das bewusst war. Oder ob es ihm gleichgültig war. Ich war schließlich nur ein obdachloser Fremder, der ein paar Tage auf seiner Couch schlafen durfte. Ich würde nicht behaupten, dass Ewan großzügig war oder so sozial, weil er mir Unterkunft gewährt hatte. Um genau zu sein, wusste ich den Grund bis heute nicht, warum er mich zu sich eingeladen hatte. Ein Teil von mir wollte glauben, dass diese seltsame Anziehung, die ich spürte, nicht einseitig war, dass er mich deshalb mitgenommen hatte, dass wir uns deshalb so gut verstanden.

Ich genoss die frische Abendluft, die eine willkommene Abwechslung zur stickigen Hitze am Tag war. Die Nacht brach ein und ich war auf dem Weg zu Ewans Wohnung. Bis Ladenschluss hatte ich noch in einem Einkaufszentrum in der Nähe nach einem neuen Outfit gesucht, um genau zu sein nach einem Hemd, einer Krawatte und einer Anzughose. Das war mein gängiger Stil, auf den ich verzichtet hatte, solange ich aus der Tasche hatte leben müssen. Anzüge verknitterten viel zu schnell, wenn man keinen Schrank hatte, in dem man sie aufhängen konnte.

Die Straßenbeleuchtung war schon an und es waren kaum noch Menschen oder Autos unterwegs. Die Stadt lag verlassen und dunkel vor mir. Ich musste die Schwärze eines Tunnels passieren, in dem es nach Alkohol und Pisse stank. Nachts war es nicht nur wortwörtlich dunkler, es schien, als würde auch die Menschheit nachts dunkler sein. In den Schatten der Gassen gingen sie kriminellen Geschäften nach, der menschliche Abschaum kroch aus den Löchern, Prostituierte standen an jeder Ecke, Alkoholiker taumelten durch die Straßen.

Als würden die Menschen sich tagsüber benehmen müssen, um ein Bild einer anständigen Stadt zu wahren, als würden sie alltägliche Rollen spielen. Und dann – wenn die Sonne dem Mond wich – konnten sie sich erst gehen lassen, wer anders sein, anderes tun.

Der arme Mond, der stets nur Dunkelheit sah. Die ahnungslose Sonne, die stets nur ein Schauspiel beleuchtete.

Ich klingelte bei dem Namensschild Bredenck und wartete auf das hereinbetende Surren. Dann erklomm ich die Treppen zu Ewans Wohnung, fühlte mich dabei fast, als würde ich nach Hause kommen.

»Hey!«, rief ich, sobald ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. Im Flur war niemand zu sehen, auch im Wohnzimmer nicht. Ich stellte meine Einkaufstüten ab, als Ewan aus dem Schlafzimmer kam.

»Was hast du gekauft? Noch mehr Alkohol?«, fragte er.

Ich brauchte einen Moment, um antworten zu können, da Ewan nur in schwarzen Boxershorts vor mir stand, sein dunkles Haar noch nass vom Duschen. Ich wusste, dass mein Blick eine Sekunde zu lange an den unteren Muskeln seines Oberkörpers hing, vermutlich auch eine Nanosekunde zu lange auf dem Stoff seiner Shorts.

»Nur etwas zum Anziehen«, sagte ich. Versuchte mich an einem gelangweilten Ton, doch meine Stimme war zu rau, zu heiser. Ich hoffte nur, Ewan bemerkte es nicht. Ich richtete meinen Blick wieder hoch auf sein Gesicht, doch es wurde nicht besser.

Manchmal reicht es aus, wenn zwei Menschen sich in die Augen sehen, dass dieser eine Augenblick etwas in einem in Gang setzt. Wie eine Lawine, die ausgelöst wird.

Ich räusperte mich, als hätte ich etwas im Hals und packte meine neuen Klamotten aus. Während ich sie auf dem Sofa ausbreitete und die Preisschilder abriss, trat Ewan hinter mich. Warum tat er das? Ich brauchte gar nicht in seine Richtung zu schauen, ich spürte seine körperliche Nähe und ich roch sie. So frisch und herb – ich liebte das Duschgel, das er verwendete. Und es so intensiv in meiner Nase zu haben, machte mich wahnsinnig. Ich spürte, wie mein Blut bereits in andere Körperregionen floss. Was würde Ewan tun, wenn ich ihn einfach küsste? Würde er mich schlagen? Mich verprügeln? Mich aus der Wohnung schmeißen? Es war ohnehin meine letzte Nacht hier. Ich war kein Feigling, genug Mut hätte ich. Aber was würde es mir bringen, wenn er mich direkt von sich stoßen würde?

»Ein Hemd und Krawatte? Bist du übergeschnappt?«, rief Ewan ungläubig aus.

Ich verdrehte die Augen. »Das hat immer Stil. Glaub mir. Ich geh jetzt duschen.« Und mit diesen Worten ließ ich ihn stehen und flüchtete ins Badezimmer.

Hier war die Luft noch vom warmen Wasserdampf getränkt. Die Spiegel waren beschlagen und es roch auch hier nach seinem verdammten Duschgel. Ich lehnte die Tür an – machte sie aber nicht zu. So war der Nervenkitzel größer, als ich mich meiner Kleidung entledigte. Natürlich würde Ewan nie auf die Idee kommen reinzuschauen und er würde auch nicht zufällig ins Bad müssen, trotzdem hatte es etwas Verruchtes an sich. Ich stellte mich nackt in die Dusche und durch die durchsichtigen Wände der Kabine konnte ich direkt auf die einen Spalt breit geöffnete Tür blicken.

Einen Heteromann zu wollen, war verdammt dämlich. Aber es war auch verdammt heiß. Meinem Kopfkino haftete eine Spur Verbotenes an, ein Hauch Unmöglichkeit. Ich drehte das Wasser auf und während es über meinen Körper prasselte, schloss ich die Augen und umfasste meine Erektion. Bei der Berührung fuhr ein Schauer durch meinen ganzen Körper und mir entwich ein leises Stöhnen. Dass Ewan nur ein paar Meter weiter war, ebenfalls halb nackt, und jeden Moment hereinkommen könnte, erregte mich so sehr, dass ich nicht anders konnte, als meine Hand auf und ab zu bewegen. Herrgott ich brauchte Erlösung, wenn ich diese letzte Nacht nichts Dummes tun wollte. Zu lange hatte ich schon die Hände von mir gelassen und noch länger war es her, dass jemand anderes die Hände an mir hatte ...

Die Tür schwingt auf und mein Blick fängt sofort den von Ewan ein.

»Ich wollte nur eben –«, er verstummt, als er mich unter der Dusche sieht. Und er guckt dahin, wo er nicht hingucken soll. Und er sieht, dass ich mich selbst anfasse und dass ich hart bin. Sein Blick flackert, in seinen Augen liegt etwas Dunkles. Ich kann beinahe seine Gedanken hören. Soll ich gehen, soll ich tun, als würde ich nichts sehen? Als würde es mich kalt lassen?

Da er nur Unterwäsche trägt, sehe ich, dass es ihn nicht kalt lässt. Ich muss hart schlucken und blinzeln, um sicherzugehen, dass ich es mir nicht einbilde.

»Komm«, sage ich über das Rauschen des Wassers hinweg und Ewan gehorcht. Genauso wie er in der einen Nacht mit Joshua jeder meiner Anweisungen aufs Wort gefolgt ist. Ohne zu zögern, ohne zu fragen. Ich schiebe die durchsichtige Tür der Duschkabine auf, das Wasser spritzt jetzt auch auf die Bodenfliesen, doch das ist mir egal.

Ich greife nach Ewans Hand und ziehe ihn zu mir, während das Herz in meiner Brust zu rasen beginnt.

»Was tust du?«, fragt er. Und der Mann, der es hasst, unsicher zu sein, zeigt so viel Unsicherheit, dass es befremdlich ist. Dass ich so eine Macht über ihn habe, dass er so aus seiner Rolle fällt, lässt das Verlangen in mir nur noch weiter wachsen. Er ist derjenige, der die Kontrolle haben will. Doch jetzt habe ich sie und das weiß er. Er will es nicht zeigen, will vermutlich umkehren, doch er weiß, dass er das hier ohnehin nicht rückgängig machen kann. Es ist schon zu spät. Er ist schon zu weit gegangen.

Ohne ein Wort greife ich seinen Nacken und ziehe seinen Kopf zu mir heran. Ich drücke meine Lippen auf seine, während das Wasser über unsere Köpfe rinnt, über unsere Stirn und unsere Nasenspitzen. Ich öffne meinen Mund, nur um noch fester mit seinem zu verschmelzen. Ich spüre seinen Widerstand, sein ganzer Körper spannt sich an, will sich wehren gegen das, was er nicht kennt. Gegen das, was wir hier tun. Was jenseits jeglicher Vernunft ist. Jenseits allem, was er sich vermutlich je vorgestellt hat. Doch ich lasse ihn jetzt nicht los. Ich habe nichts zu verlieren. Es ist meine letzte Nacht hier. Also drücke ich seinen Kopf weiter zu mir herunter, während meine andere Hand über seine muskulöse Brust streicht, immer weiter hinab, den Wassertropfen folgend, bis zum Bund seiner nassen Shorts.

Ich stöhne, als ich mich an ihn drücke und ...

Mein Kopfkino war zu heiß. Ich spürte, wie die Welle der Ekstase mich von den Füßen riss, mich komplett von Kopf bis Fuß überrollte und ich mich in meiner Hand ergoss.

Schweratmend ließ ich meine Arme sinken und lauschte meinem eigenen dröhnenden Herzschlag. Als ich die Augen öffnete, stellte ich erleichtert fest, dass die Tür immer noch angelehnt war. Ich bettete meine erhitzte Stirn gegen die kühlen Fliesen, während ich versuchte, wieder ruhig zu atmen und das wackelige Gefühl aus meinen Beinen zu vertreiben. Am liebsten hätte ich mich jetzt hingelegt, doch das ging natürlich nicht. Schnell wusch ich mich zu Ende und trocknete mich mit einem Handtuch ab. Ich wollte noch einen prüfenden Blick in den Spiegel erhaschen, kontrollieren, ob man mir irgendetwas ansah, doch das Glas war so beschlagen, dass ich darauf verzichtete und nur mit einem Handtuch bedeckt aus dem Badezimmer floh.