Mit großem Dank an Lamia Ekk

Siri Spont

1

»Ich will einen HAMSTER haben! Iiich wiiill einen Haaamster haaaben!«

Mama bringt meinen kleinen Bruder ins Bett. Fadi ist fünf und redet schon seit Wochen von diesem Hamster. Als ob das etwas nützen würde. Mama nervt er damit nur, und Papa hört sowieso nicht zu, weil er gerade in Göteborg Häuser baut.

Ich wünsche mir auch einen Hamster – so sehr, dass es wehtut. Aber ich habe den Hamster ganz oben auf meinen Wunschzettel an den Weihnachtsmann geschrieben. Das reicht aus, um es Papa und Mama begreiflich zu machen. Ich weiß, dass ich den Hamster nicht schneller kriege, wenn ich unseren Eltern auf die Nerven gehe.

»Es wird keine Ratte bei uns zu Hause einziehen«, höre ich Mama sagen, bevor sie in die Küche stampft.

»HAAAAAAAAAAAMSTER!«, heult Fadi. »HAAAAAAAAAAMSTEEEEEEEEEEEER

Noch ist es in unserer Wohnung nicht besonders weihnachtlich, aber zumindest bekommen wir jeden Tag bis Heiligabend ein kleines Geschenk. Die Päckchen hängen im Flur an einem Weihnachtsmannbild aus Stoff. Oma hat den Adventskalender auf dem Flohmarkt gekauft. Die Geschenke hat sie auch besorgt. Der Weihnachtsmann schielt und sieht ein bisschen verrückt aus. Aber das macht nichts, es geht ja um die Päckchen.

Jeden zweiten Tag darf ich ein Türchen öffnen, und an den anderen Tagen ist Fadi dran. Fadi hat schon auf allen Päckchen herumgedrückt, um herauszufinden, in welchem der Hamster stecken könnte. Fadi ist manchmal etwas dumm. Ich meine, wenn in einem der Geschenke wirklich ein Hamster wäre, würde der ja verhungern, bevor wir es aufmachen. Außerdem hat Fadi das größte Geschenk so fest gedrückt, dass er den Hamster zerquetscht hätte.

Ich durfte heute Morgen das erste Päckchen öffnen. Es war eine kleine Taschenlampe drin, die man an sein Schlüsselbund hängen kann.

 

Mama skypt mit einer Verwandten von uns, die noch in Mamas Heimatland wohnt. Ich kann verstehen, dass sie mit ihrer Familie sprechen möchte, sie vermisst natürlich alle. Aber ich wünschte, Mama würde es nicht so oft tun, denn davon wird sie nur traurig. Es ist Krieg da unten. An vielen Orten kann man nicht mal mehr wohnen. Ein Glück, dass wir hier in Schweden leben! So wie Oma.

Während Mama skypt, nehme ich mir einen Apfel und schaue aus dem Fenster. Es ist nicht schlimm, dass es drinnen bei uns noch nicht so weihnachtlich ist, denn draußen fallen dicke, weiche Schneeflocken aus einem weltraumblauen Himmel und bedecken Straßen und Autos und Hochhäuser mit weihnachtlichem Glanz. Hinter den Hochhäusern kann ich den Wald erkennen, der voller alter Eichen und Kiefern und Felsblöcke ist.

Fast alle Fenster und Balkons sind mit bunten Lichterketten geschmückt, manche blinken. Und überall funkeln Sterne und Kerzen! Auf einigen Balkons stehen sogar leuchtende Weihnachtsmänner und Rentiere. Und mehrere Bäume im Hof sind mit Lichterketten umwickelt. Wir haben runde Lampen, die glitzern wie Gold. Dank ihnen sieht unser Balkon festlich aus. Auf der anderen Seite des Hofs liegt die Wohnung von meiner besten Freundin Leah. Ihre Familie hat einen Stern im Küchenfenster und einen leuchtenden Schneemann auf dem Balkon. Unsere Häuser sehen aus wie der größte Adventskalender der Welt.

2

Fadi wacht als Erster auf. Das war ja klar! Schließlich darf er heute ein Päckchen aufmachen. Ich höre ihn aus seinem Zimmer in den Flur rennen. Eine Weile ist es still, er ist wohl mit Auspacken beschäftigt.

Ich schließe die Augen und verkrieche mich noch tiefer unter meiner Decke. Es ist so warm und gemütlich im Bett, und draußen ist es nach wie vor stockdunkel. Ich weiß nicht, wie spät es ist, aber vielleicht kann ich noch ein bisschen schlafen.

Dann kommt das Gebrüll. Und dann ein Rumsen, als Fadi sein Geschenk gegen die Wand wirft.

»Ich will einen HAAAMSTER haben«, heult er.

Jetzt höre ich Mama aus dem Schlafzimmer stürzen. Bei diesem Krach kann man unmöglich wieder einschlafen.

»Martha! Wir sind viel zu spät dran, steh sofort auf!«, ruft sie.

»Kannst du nicht erst mal Fadi sagen, dass er die Klappe halten soll?«, frage ich.

Mir geht das Gequengel um den Hamster auf die Nerven. Aber Mama ist bereits in die Küche gespurtet, um das Frühstück zu machen.

 

Zum Glück bin ich ordentlich und habe meine Schulsachen selbst im Griff. Ansonsten hätte ich wahrscheinlich nie meine Hausaufgaben oder meinen Turnbeutel dabei, wenn wir Sport haben. Mama hat irgendwie immer so viele andere Dinge im Kopf.

Leah steht ganz oben auf einem Schneewall im Hof und wartet auf mich. Wir haben die gleichen Schuhe und die gleichen Rucksäcke, und heute tragen wir zufällig auch noch die gleichen Mützen. Aber so ist das bei uns beiden – wir denken genau gleich. Allerdings ist Leah cooler als ich. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie eine Superheldin ist. Sie kann zum Beispiel unendlich hoch klettern, und sie hat vor nichts Angst.

»Ich dachte schon, du kommst NIE«, beklagt sie sich.

Aber sie lächelt mich an, und deswegen werde ich nicht sauer.

»Wir haben verschlafen. Hast du dein Sportzeug dabei?«, frage ich.

Es gibt noch einen Unterschied zwischen Leah und mir. Sie hat nie den Überblick, was in der Schule ansteht oder was wir mitbringen sollen. Wenn wir morgens nicht denselben Schulweg hätten, würde sie sich bestimmt verlaufen und am Ende im Supermarkt landen.

»Was? Haben wir heute Sport?« Sie reißt die Augen auf.

»Mensch, Leah. Wir haben jeden Freitag Sport.«

Sie schüttelt den Kopf, als würde ich sie veräppeln.

»Allerdings laufen wir heute wahrscheinlich nur auf der beleuchteten Loipe herum, und das kannst du auch in deinen normalen Sachen machen«, tröste ich sie.

Als wir den Schulhof erreichen, wartet unsere Klasse bereits vor der Turnhalle. Maja kommt gleich angerannt, um uns zu zeigen, was heute in ihrem Adventskalender war.

Maja ist auch unsere beste Freundin. Manchmal bin ich ein bisschen neidisch auf sie. Wenn sie über ihr Land redet zum Beispiel. Als sie zum ersten Mal davon erzählt hat, waren wir noch im Kindergarten, und ich war unheimlich beeindruckt, weil ich dachte, sie wäre eine Prinzessin oder so was Ähnliches. Als Maja und ihre Eltern in den Sommerferien in ihr Land fahren wollten, habe ich es mir ungefähr so wie bei Pippi Langstrumpf vorgestellt – eine Südseeinsel mit Palmen, wie die, auf der Pippis Vater König ist. Genau das fand ich bloß immer verwirrend, weil Majas Vater eine Brille und einen Pferdeschwanz trägt und mehr Ähnlichkeit mit einer Maus als mit einem König hat. Jetzt weiß ich, dass mit dem eigenen Land nur ein Grundstück außerhalb der Stadt gemeint ist, eine Hütte an einem See. Aber immerhin.

»Leah und Martha! Ihr habt keine Zeit mehr, euch umzuziehen. Wir gehen gleich los!«, sagt Özgun, unser Sportlehrer.

»Wir sind sowieso schon fertig«, verkündet Leah und steckt die Hände in die Taschen.

 

Im Sommer ist der Wald hier der reinste Dschungel. Einige Bäume sind riesengroß und sicher hundert Jahre alt. Seit Schnee gefallen ist, sieht er wie ein Märchenwald aus. Höchstens ein Reh, das durchs Unterholz läuft, durchbricht hin und wieder die Stille. Meine Lieblingsstelle ist ein verfallenes Häuschen in der Nähe eines schönen alten Gutshofs, wo im Sommer ein Café ist.

»Das ist ein altes Kühlhaus, das zum Hof gehört«, sagt Maja.

Sie weiß immer so komische Sachen. Es ist aber spannender, mit ihr über die unheimlichen Wesen zu reden, die in dem Häuschen wohnen. Leah und Maja glauben, dass es Gespenster sind. Ich glaube, dass dort Trolle leben, weil es in dem Haus so dreckig ist und stinkt.

Wir haben den kleinen Fluss erreicht, der direkt an dem Vorratshäuschen vorbeifließt, der Rest der Klasse ist schon ein Stück weiter. Plötzlich bleibt Leah stehen und reißt die Augen auf. Ich bekomme einen Riesenschreck, weil ich in Gedanken noch bei den Trollen bin.

»Ein Kühlhaus!«, sagt sie. »Das zum Gutshof gehört!«

Maja und ich sehen uns an. Hat sie den Verstand verloren? Das wissen wir doch längst.

»Kapiert ihr das denn nicht?«, fährt Leah fort und geht jetzt etwas schneller weiter.

Nein, tun wir nicht, aber wir folgen ihr trotzdem.

»Da bewahren sie im Winter, wenn das Café geschlossen ist, bestimmt die ganze Limo und die Süßigkeiten auf!«, jubelt Leah und rutscht den Abhang zum Fluss und dem Häuschen hinunter.

Ich rutsche ihr hinterher, obwohl ich mich eigentlich nicht traue. Natürlich hoffe ich auch, dass wir haufenweise Limo und Schokolade finden. Eine Weile bleiben wir vor der dunklen Öffnung stehen. Drinnen hat jemand mit blutroter Farbe »Rette mich!« an die Wand gesprüht.

»Wir sollten die anderen einholen, bevor sie zurückkommen, um uns zu suchen«, sagt Maja.

Ich merke, dass sie genauso viel Bammel hat wie ich. Aber Leah ist schon auf dem Weg in das Häuschen. Und obwohl ich mir vor Angst fast in die Hose mache, folge ich ihr.

Drinnen ist es kohlpechrabenschwarz. Zuerst sehe ich fast gar nichts. Als meine Augen sich ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt haben, entdecke ich ein altes Bett ohne Matratze, das hochkant steht. Und eine Tür, die nirgendwohin führt, sondern an der Wand lehnt. Die Wände sind vollgekritzelt. Es riecht merkwürdig, irgendwie verfault.

»Ach«, enttäuscht tritt Leah gegen das Bett. »Hier gibt es doch nichts zu entdecken.«

»Komm, wir gehen«, sage ich. Mein Herz klopft so schnell und so fest, dass ich kaum atmen kann. »Ist doch egal, dass es nichts zu sehen gibt. Es ist sowieso superunheimlich.«

»Kommt ihr endlich?«, piepst Maja von draußen.

Sie klingt so ängstlich, wie ich mich fühle.

3

Am Samstag ist in meinem Adventskalendertürchen nur ein ziemlich merkwürdiges Schmuckstück, aber das finde ich nicht schlimm, denn ich freue mich auf Papa!

Warten ist so anstrengend – auf Weihnachten warten und auf Papa warten. Je näher die Mittagszeit rückt, desto aufgeregter sind Fadi und ich. Wir rennen herum und versuchen, uns gegenseitig zu erschrecken, bis Mama genug hat und uns anbrüllt.

Aber diesmal ist Papa ja zwei Wochen weg gewesen, da ist es doch kein Wunder, dass wir überdreht sind.

»Glaubst du, er bringt uns ein Geschenk mit?«, fragt Fadi mit leuchtenden Augen.

»Das schönste Geschenk ist doch, dass er nach Hause kommt, oder?«, frage ich und fühle mich gut dabei.

Insgeheim male ich mir aber aus, was er für mich gekauft haben könnte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit geht die Tür auf, und Papa kommt endlich nach Hause. Er hebt uns sonst immer hoch oder lässt uns mit dem Kopf nach unten hängen, kitzelt uns durch und gibt uns lustige Kosenamen.

Aber heute nicht. Jemand scheint unseren Papa gegen einen anderen ausgetauscht oder ihn verzaubert zu haben. Denn derjenige, der da hereinkommt und uns in den Arm nimmt, sieht nur müde und ernst aus. Anstatt Scherze zu machen und mit strahlendem Gesicht Geschenke für uns hervorzuholen, sagt er, dass Mama und er reden müssen.