Umschlag

Tessy Haslauer, in Niederbayern geboren und aufgewachsen, veröffentlichte mit »Bruthitze« 2012 ihren ersten Kriminalroman um Kommissar Zinnari. Der zweite Band »Nebel über dem Bayerwald« erschien 2014 bei Emons. Tessy Haslauer lebt und arbeitet als Projektbetreuerin in Neustadt an der Donau. Neben dem Schreiben, Lesen und der Naturfotografie wandert sie in ihrer Freizeit am liebsten gemeinsam mit Ehemann und Hund durch den Bayerischen Wald, dem sie seit ihrer Kindheit eng verbunden ist.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2018 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: iamthesven/photocase.de
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Uta Rupprecht
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-351-6
Originalausgabe

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Gewidmet all jenen, die den Bayerischen Wald lieben, seine Schönheit schätzen und seine mystische Seele erkannt haben

Jetzt geht’s wieder o, de finstere Zeit,

Und d’ Menschheit macht sich af des Schlimmste bereit,

Des Böse hod d’ Finger nach unserer Seel ausg’streckt,

Da Deife is in unserer Mitt’n,

Geheim und unentdeckt.

Aus: »De finstere Zeit« in »Woidrauschen« von Christian Fischer, genannt »Der letzte Waidler«

»Vorspui«

Um kurz vor zwölf Uhr mittags betrat der ehemalige Bankdirektor Ludwig Dietl, wie an nahezu jedem Freitag um diese Zeit, die Landbank Bodenmais.

Er betrachtete sie noch immer als »seine Bank«, obwohl er seit nunmehr zwei Jahren offiziell im Ruhestand war. Dreiundzwanzig Jahre lang hatte er hier als Direktor gewirkt, und er kannte jeden persönlich, der in irgendeiner Weise mit dem Kreditinstitut zu tun hatte. Auch heute noch.

Diese Verantwortung, hauptsächlich jedoch das Insiderwissen um Finanzgebaren und Geschäfte sämtlicher »Großkopferten«, wie die einflussreichen und betuchten Persönlichkeiten von der Bevölkerung gern genannt wurden, ließen ihn nicht los. Und das hätte er auch gar nicht gewollt.

Wissen bedeutet schließlich Macht, und je mehr davon Ludwig Dietl bekommen konnte, umso besser. Zu tief hatte er seine manikürten Finger in manch dubiose Dinge gesteckt, als dass er sich jetzt einfach in Rente schicken lassen konnte – oder wollte. Nein, so einfach ging das nicht!

Gewohnheitsmäßig zwinkerte er den Mädchen hinter dem Schaltertresen zu, nickte grüßend hinüber zu den beiden rundköpfigen, rotbackigen jungen Burschen, die geschniegelt mit Hemd und Krawatte hinter ihren Schreibtischen saßen. Freundliche Worte wechselnd und Interesse an den Geschäften heuchelnd, blieb er einige Minuten stehen, bevor er durch eine Tür verschwand, die ins Treppenhaus nach oben und in die Büroräume der verschiedenen Abteilungen führte.

Die Zurückbleibenden grinsten sich bedeutungsvoll an. Es war für niemanden in der Landbank ein Geheimnis, wohin der »Alte« ging.

Zuerst zu Bernd Gerlach, seinem Nachfolger, um sich von ihm auf dem Laufenden halten zu lassen und ihm seine – selten erwünschten, indes häufig ausgeteilten – Ratschläge zu geben.

Dann begab er sich hinüber zur Immobilienabteilung, um dort ebenfalls sämtliche Neuigkeiten auf dem Markt zu eruieren.

Ganz zum Schluss, immer einige Minuten nach halb eins, trat Ludwig Dietl ins Personalbüro, um die dortige Sachbearbeiterin zu begrüßen. Wie es der Zufall wollte, machte sie just zu dieser Zeit Feierabend – sie arbeitete nur halbtags –, und so gingen sie zusammen die Treppe hinunter, durch die Schalterhalle, verabschiedeten sich von den Kollegen und verließen gemeinsam die Bank.

Durch die deckenhohen Fensterscheiben konnte man sie auf dem Bürgersteig noch miteinander reden sehen, den attraktiven Mittsechziger, dem man – braun gebrannt und sportlich, wie er war – sein Alter nicht ansah, und die stets gepflegte, mit einem engen, kniekurzen Rock und Stöckelschuhen ausstaffierte Dame Anfang vierzig.

Nach auffallend gestenreicher Verabschiedung trennten sie sich. Beide bestiegen ihre Autos, um gleich darauf dennoch in dieselbe Richtung zu fahren, hinaus aus dem Markt Bodenmais. Irgendwohin, wo es schattig und einsam war, nach Baumharz und Tannennadeln duftete und nur selten Wanderer vorbeikamen. Die hätten sich, wären sie häufiger hier unterwegs gewesen, vielleicht darüber gewundert, dass fast jeden Freitag um die gleiche Zeit ein dicker Mercedes hier parkte, dessen Fahrer weit und breit nicht zu sehen war 

1

Freitag, 16. September

»Jetzt geht’s endlich los, mein Schatz!« Voller Vorfreude schob sich Kriminalhauptkommissar Mike Zinnari hinter das Steuer seines Renault SUV. Es war früher Freitagnachmittag, die Sonne schien von einem samtblauen Himmel und erwärmte die Luft auf annähernd sommerliche Temperatur. Ein freies Wochenende stand bevor, knapp drei Tage ohne Dienst und ohne Kinder, nur er, Isabel und – Schorschi.

Schorschi musste mit, keine Frage, er gehörte schließlich zur Familie. Für Mike galt das jedoch nur insofern, als er relativ gehorsam, pflegeleicht und stubenrein war, deshalb durfte er Mike und seine Freundin Isabel Weingartner bei dem geplanten Erholungstrip begleiten. Isabels Golden Retriever schien sich dieser Ehre bewusst zu sein, mit glänzenden Augen und leicht heraushängender Zunge hechelte er der Abwechslung zum Alltag entgegen. Hoch aufgerichtet im Kofferraum sitzend, drehte er den Kopf aufgeregt zum Fenster hin.

Isabel schnallte sich auf dem Beifahrersitz an und lächelte. »Kaum zu glauben, Mike! Haben wir es tatsächlich geschafft, ein Wochenende nur für uns allein zu haben. Ich freu mich so!«

Mike konnte es ihr bestens nachfühlen. »Und ich erst! Hast du alles?«

Zuvor hatte Mike seine siebzehnjährige Tochter Barbara nach Deggendorf zu ihrer Mutter, seiner Ex-Frau Marion, gebracht, wo sie bis Sonntagabend bleiben würde. Babs war nach seiner Trennung von Marion bei ihm wohnen geblieben, während ihre Mutter den damals zehnjährigen Lukas nach Deggendorf mitgenommen hatte. Lukas kam jedes zweite Wochenende zu Mike, in den Ferien auch mal für länger, doch diesmal hatte es sich ergeben, dass beide Kinder das Wochenende bei ihrer Mutter verbrachten.

So nahm Mike die Gelegenheit wahr, ein paar Tage lang das schöne Spätsommerwetter zusammen mit Isabel zu genießen, und holte sie und Schorschi von ihrem kleinen Häuschen in Rundlberg, nahe bei St. Englmar gelegen, ab.

Eigentlich war es eine ziemliche Kilometerfresserei, von seinem Wohnort Bogen bei Straubing erst nach Deggendorf und dann hinauf nach Rundlberg zu fahren, quasi im Zickzack durch den Bayerwald, doch für ein paar Tage allein mit Isabel würde Mike noch ganz andere Dinge in Kauf nehmen.

Isabel nickte. »Ja, ich glaube schon. Und herrje, falls was fehlt, können wir’s immer noch irgendwo nachkaufen. Schließlich sind wir ja ned am Nordpol.«

»Ja, Gott sei Dank. Also, los geht’s!«

Ihr Ziel war eine kleine Pension in Böbrach, Haustiere ausdrücklich willkommen. Ausschlafen, gemütlich frühstücken, Wanderungen machen, sich ihrer gegenseitigen Nähe und Zuneigung sicherer werden, so schwebte Mike das bevorstehende Wochenende vor. Gemeinsam entschleunigen sozusagen.

Seine Beziehung mit Isabel bestand gerade mal ein Jahr, und bisher war sie leider Gottes durch die häufige Anwesenheit seiner Kinder oder die Arbeitspflichten sehr eingeschränkt verlaufen. Aber jetzt! Ab sofort bis zum Sonntagabend gab es nur Isabel, Schorschi und ihn!

Mit Kribbeln im Bauch und Maikäfergrinsen im Gesicht fuhr Mike los.

***

Leuchtend wie eine Orange zeigte sich die Sonne immer wieder zwischen den Berggipfeln des Bayerischen Waldes, sodass Bäume und Sträucher am Fahrbahnrand scharfe Schatten warfen.

Amy Brunner war froh, das blendende Licht im Rücken und nicht vor sich zu haben, allerdings musste sie den Rückspiegel an der Frontscheibe zurückklappen, um die plötzlichen grellen Reflexionen aus ihrem Gesicht zu verbannen.

Sie fuhr sehr konzentriert, trotzdem ließ sie ihren Blick hin und wieder über die vorbeiziehende Landschaft wandern. Es kam ihr so vor, als hätte sie bereits eine halbe Weltreise hinter sich. Eine Stunde Autobahn, von München über Landshut nach Deggendorf, dann seit einer halben Stunde unterwegs auf der B 11 in Richtung Patersdorf. Seit ihrer Kinderzeit war Amy diese Strecke vertraut, früher war sie hier mindestens einmal im Jahr mit ihren Eltern in großer Vorfreude entlanggefahren.

Heute jedoch hatte sie eher das Gefühl, als würde sie in die Verbannung rollen. Weg von München, weg von allem, was ihr lieb und vertraut war.

Amalie, wie sie mit vollen Vornamen hieß, konnte ein leichtes Kopfschütteln nicht vermeiden. »Verdammt viel Gegend hier«, murmelte sie zu sich selbst.

Seit Amy die Autobahn bei Deggendorf verlassen hatte, wirkte die Landschaft mit den Bergen, Wiesen und Wäldern zunehmend übermächtig, während Häuser und Menschen immer weniger wurden. Wären da nicht die zahlreich vor ihr herschleichenden Touristenautos gewesen, sie hätte sich glattwegs gefühlt, als würde sie durch Lappland kurven.

Sie tuckerte weiter durch Teisnach und Böbrach, bis sie den Kreisverkehr kurz vor Bodenmais erreichte. Das Navi lotste sie nach links, zum Glasparadies Joska. Gleich darauf empfahl ihr die freundliche Damenstimme, die Staatsstraße zu verlassen und in den Parkplatz des bekannten Glas-Einkaufzentrums einzubiegen.

Mittlerweile ziemlich erschöpft, grummelte Amy angesäuert vor sich hin: »Himmel, ich brauch kein Bleikristall, ich will nur nach Hausbach, verdammt!«

Die Strecke kam ihr nun immer weniger vertraut vor. Einiges musste in den letzten Jahren neu gebaut worden sein, deshalb hatte sie nicht mehr den Mut, ihrem eigenen Orientierungssinn zu vertrauen. Gehorsam bog sie also in den Parkplatz ein, umrundete diesen und kam wie durch ein Wunder auf eine schmale Nebenstrecke, die unter der Staatsstraße hindurchführte. Ein Hinweisschild zeigte ihr den Weg: »Hausbach 5 Kilometer«. Na also, ging doch.

Die schmale Straße führte an vereinzelten Gehöften vorbei, von Wiesen und Wäldern umgeben, und jetzt kam ihr die Gegend wieder deutlich bekannter vor.

Am Beginn eines kleinen Waldstücks stand am Straßenrand ein großes Warnschild mit dem Aufdruck: »ACHTUNG TREIBJAGD«.

Amy bremste ab. »Das auch noch. Treibjagd – und das an einem Freitagnachmittag! Unglaublich.«

Ihre ohnehin schlechte Laune sank noch um einige Grad. Hoffentlich schossen jetzt nicht plötzlich zig verängstigte Hasen und Rehe aus dem Gehölz, so was hätte ihr zu ihrem Glück gerade noch gefehlt.

Langsam schaukelte Amy mit ihrem Polo durch den Wald, doch Gott sei Dank ließen sich kein Bambi und kein Klopfer blicken. Dann lag wieder offenes Feld vor ihr, und sie beschleunigte vorsichtig. Ein Wildunfall wäre nun wirklich kein schöner Auftakt ihres Urlaubs gewesen.

Ihre zügige Fahrt wurde indes erneut gebremst, als ihr ein einsamer Radfahrer ziemlich weit in der Mitte der Fahrbahn entgegenkam. Leise vor sich hin schimpfend schwenkte sie bis zum rechten Fahrbahnrand aus, um an ihm vorbeizukommen.

Geschafft. Aufatmend drückte sie endlich ungehindert aufs Gas.

***

»Wie schön!« Begeistert rutschte Isabel Weingartner auf ihrem Sitz hin und her, konnte sich kaum sattsehen an der Landschaft.

Mike lachte sie aus. »Mach mal langsam, eure Berge und Täler in St. Englmar sind genauso schön! Oder gefällt’s dir nimmer dort?«

Sie zog eine Grimasse. »Blöde Frage. Freilich ist es bei uns auch schön, aber das hab ich ja jeden Tag! Jetzt seh ich halt mal was anderes, und – he, wir sind ja schon da!« Sie deutete auf das Ortschild am Straßenrand.

»Das ging schneller, als ich dachte. So, wo geht’s jetzt lang?« Prüfend warf Mike einen Blick auf das Display seines Navis. Ihre gebuchte Unterkunft lag am Ortsrand von Böbrach, sie mussten vor der Ortsmitte links abbiegen, einen kleinen Hügel hinauf und standen gleich darauf vor der Pension »Sonnenhöhe«.

»Wie schön!«, wiederholte Isabel verzückt, während sie den Gurt losmachte und die Tür öffnete. Sosehr Mike ihre Freude genoss, hoffte er doch, sie würde diesen Ausruf nicht über das komplette Wochenende alle zehn Minuten hervorbringen.

Angesichts ihrer fast kindlichen Begeisterung musste er lächeln, stieg ebenfalls aus und sah sich um.

Eine Fernsicht hatte man von hier oben, unbeschreiblich. Etwas weiter unten im Tal ragte der graue Kirchturm von Böbrach über die Hausdächer empor, grüne Wiesen und dunkle Wälder umgaben den Ort weitläufig, am Horizont erhoben sich im leichten Dunst die höheren Berge des Bayerwalds.

Mike musste seiner Freundin recht geben. »Mhm, stimmt, hier ist’s wirklich schön. Lass uns mal reingehen und uns anmelden, sonst stehen wir bei Sonnenuntergang immer noch da!«

Mit einem ärgerlichen »Wuff!« brachte sich Schorschi in Erinnerung. Schnell ließ Mike die Heckklappe herunter und befreite ihn aus dem Kofferraum, während Isabel an der Haustür läutete.

Die Vermieterin war jung, resolut und fröhlich. »Sagt’s einfach Gisela und Du zu mir«, erklärte sie bei der Begrüßung lachend und mit einem kräftigen Händeschütteln.

Selbst Schorschi bekam ein paar liebevolle Klapse, dann führte Gisela ihre neuen Hausgäste zu ihrem Zimmer, das ebenerdig auf der Ostseite lag. Eine Terrassentür ging hinaus in den Garten und zum angrenzenden Wald. Ideal, um einen Vierbeiner zwischendurch seine Bedürfnisse erledigen zu lassen, ohne weit gehen zu müssen. Das entsprach genau Mikes Vorstellung von Erholung, er stieß ein anerkennendes Grunzen aus.

Der Raum selbst war nett eingerichtet, das dazugehörige Badezimmer für Mikes Körpergröße von über eins neunzig ausreichend groß, und das Wichtigste: Es gab ein richtiges Doppelbett, nicht nur zwei zusammengeschobene Bettgestelle mit Besucherritze! Darauf grunzte Mike gleich nochmals zufrieden, während er insgeheim darauf wartete, von Isabel das obligatorische »Wie schön« zu hören. Sie verzichtete darauf, ihre strahlenden braunen Augen in dem hübschen Gesicht sprachen für sich.

Eine halbe Stunde später hatten Mike und Isabel ausgepackt und Schorschis Hundekorb in eine Ecke des Zimmers verfrachtet. Ein tiefer Blick, ein erwartungsvolles Lächeln, und für die beiden war der sagenhafte Ausblick aus dem Fenster nur noch Hintergrundkulisse 

Zehn Minuten darauf meldete sich Mikes Handy, das er achtlos auf den kleinen Schreibtisch geworfen hatte, mit dem bekannten und in dieser Sekunde absolut verhassten Klingelton: »Drah di ned um, der Kommissar geht um …«

2

Polizeimeister Andi Rosenmüller war sauer. Auf nichts Spezielles, sondern auf alles und jeden. Es war Freitagnachmittag, wohl einer der letzten warmen, sonnigen Frühherbsttage, und sein Dienstschluss hatte sich soeben in unabsehbare Ferne verschoben.

Im Mietstall der Familie Schwarzhofer wartete sein Pferd darauf, an diesem schönen Nachmittag endlich zum Ausritt geholt zu werden. Stattdessen musste Andi die Zeit damit verbringen, zusammen mit Kollegen einen Unfallort abzusperren und Zeugen zu vernehmen.

Der getötete Autofahrer hatte das ganz große Los gezogen, denn diese Todesart kam mit Sicherheit nicht so oft vor wie ein Sechser im Lotto. Mit Zusatzzahl.

Der grauenhafte und groteske Anblick, der sich Andi und seinem Kollegen Sebastian Rieger geboten hatte, als sie zugleich mit dem Krankenwagen am Unglücksort eingetroffen waren, sprach für sich.

Der Wagen lag mit der Schnauze voran im Graben, der Kopf des Fahrers war auf die blutüberströmte Brust herabgesunken, die Scheibe auf der Fahrerseite bestand nur noch aus Splittern und Scherben.

Die Sanitäter hatten die Fahrertür geöffnet, den Mann auf Vitalzeichen hin überprüft, erkannt, dass jede Hilfe zu spät kam, und dann mehr als bereitwillig das Feld geräumt. Das unübersehbare Einschussloch in der linken Brustseite des Toten war schließlich nicht ihr Problem, sondern das der Kriminalpolizei.

Mit emotionsloser Stimme gab Andi sofort die Meldung eines mutmaßlichen Tötungsdelikts an die Dienststelle weiter. Dass ihm nun die Zeit für einen Ausritt buchstäblich davongaloppierte, war ihm da schon längst klar. In Momenten wie diesen verwünschte er seinen Beruf aufs Tiefste.

Bald darauf trafen die Leute von der Spurensicherung ein. Ihr Chef, der schmächtige Paul Heise, Pauli genannt, übernahm sofort das Kommando. Seine penible Arbeitsweise war allseits bekannt, sein strenger, alles sehender Blick gefürchtet. Zügig machten sich er und seine Mitarbeiter ans Werk.

Andere Kollegen der Regener Polizeidienststelle sperrten die Straße rund um das Auto weiträumig ab, während Andi und Sebastian eine abseits der Unglücksstelle versammelte Jäger- und Treibergruppe befragten.

Die Männer standen ratlos beieinander, in den rot-orangenen Signaljacken wirkten sie mehr wie fehlgeleitete Feuerwehrmänner als wie eine stattliche Jagdgesellschaft. Übereinstimmend schilderten sie, wie der kreischende, splitternde Lärm des verunglückten Autos sie veranlasst hatte, zur Straße zu laufen, um nachzusehen, was passiert war. Der Jagdleiter hatte sofort den Notruf abgesetzt.

Von einem Geschoss, das in der Brust des toten Mannes steckte, wussten sie angeblich nichts.

Auf Anordnung von Pauli sammelte die Spurensicherung – freilich unter Protest der Jäger – sämtliche Gewehre und die zugehörigen, noch nicht verschossenen Patronen ein, während Andi die Namen der jeweiligen Herren notierte, um eine korrekte Zuordnung der Waffen zu gewährleisten.

Auch einige Anwohner mussten noch vernommen werden, die, von Blaulicht und Sirenen aufgeschreckt, aus dem nächstgelegenen Dorf herbeigelaufen waren. Ihre eher wirren Aussagen und sämtliche Personalien notierten die Beamten gewissenhaft.

Inzwischen war auch die Kripo aus Straubing zu ihnen gestoßen.

Andi kannte Kommissarin Jutta Heinze nur vom Sehen, sie stand neben dem verunglückten Wagen und unterhielt sich mit Pauli und mit Joachim Hauser, seinem Chef.

Andi warf einen schnellen Blick auf die Gruppe, ging aber nicht hin. Auf den Anblick des Toten konnte er ganz gut verzichten, insbesondere aber auf den Anblick seines Vorgesetzten Joachim Hauser, mit dem ihn keine sonderlich enge Freundschaft verband. Wie der sich bei der Dame von der Kripo gerade wieder anbiederte, einfach nur peinlich. Andi fand den stellvertretenden Dienststellenleiter arrogant und aufgeblasen und war froh, wenn er möglichst wenig mit ihm zu tun hatte.

Polizeimeister Sebastian Rieger steckte seufzend den Schreibblock ein, als er zusammen mit Andi endlich zum Streifenwagen zurückging.

»Was für ein schlechtes Karma muss man haben, damit einem so was passiert?«, fragte Sebastian und schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Andi Rosenmüller hätte jetzt auch eine gebrauchen können, mochte aber nicht darum bitten.

Stattdessen fragte er: »Was meinst du damit?«

Sein stämmiger semmelblonder Kollege zuckte die Schultern und grinste halbherzig. »Na ja, da fährst du nix Böses ahnend von der Arbeit heim, freust dich aufs Wochenende, auf die Familie und so, und dann knallt dir so ein Schwachkopf von Amateurjäger eine Kugel ins Hirn – und bei deiner Weiterfahrt hockt der Sensenmann am Steuer!«

Andi öffnete die Beifahrertür des Streifenwagens und ließ Funkgerät, Block und Stift auf den Sitz fallen.

»Erstens war es ned das Hirn, sondern die Brust«, verbesserte er sachlich, »und zweitens ist doch noch gar ned raus, was tatsächlich passiert ist, Wastl. Die Jäger waren nur als Erste vor Ort. Ob wirklich einer von ihnen aus Versehen anstelle einer Wildsau das Auto erwischt hat, muss die Spusi erst abklären.«

»Ja, schon klar. Trotzdem.« Sebastian inhalierte ein letztes Mal und trat die Kippe auf dem Boden aus, ehe er sie wieder aufhob.

»Der arme Autofahrer«, sagte er noch, »einfach so in voller Fahrt ins Jenseits befördert.«

»Sagt dir der Name von dem eigentlich was?«, wollte Andi wissen, während er sich nun seinerseits eine Zigarette anzündete. Er meinte das Opfer.

Sebastian nickte. »Bernd Gerlach? Klar. Das ist, äh, war der Direktor von der Landbank in Bodenmais. Persönlich kannte ich ihn ned, nur dem Namen nach halt.«

Wenig später konnten sie endlich abrücken.

Sebastian bot an, den Bericht zu schreiben, was Andi nur zu gern annahm. Schließlich musste er vor dem Ausritt noch von der Dienststelle in Regen nach Hause düsen, was nochmals eine knappe halbe Stunde Fahrzeit bedeutete.

Ihm konnte es gar nicht schnell genug gehen, heim- und in den Stall zu seinem Pferd zu kommen.

***

Jetzt war es nicht mehr weit bis Hausbach, dann hatte Amy ihren Urlaubsort erreicht. Unwillkürlich verzog sie das Gesicht. Okay, als Urlaub war ihr Aufenthalt hier gar nicht gedacht, sondern vielmehr als eine Art Reha-Ersatz.

Burn-out – diesen Begriff, über den sich wohl die Hälfte der arbeitenden Menschheit totlachte, hatte ihr der Arzt vor drei Wochen knallhart ins Gesicht gesagt. Burnout – und das im zarten Alter von fünfundzwanzig! Lachhaft war das.

Amy selbst bezweifelte diese Diagnose, sie empfand ihren nervlichen Zusammenbruch einfach als Reaktion auf die vielen unerfreulichen Ereignisse, die in letzter Zeit auf sie eingestürmt waren.

Angefangen hatte es damit, dass ihr Arbeitgeber, ein großes Autohaus mitten in München, von heute auf morgen Insolvenz anmeldete und den Angestellten die letzten drei Lohnzahlungen schuldig blieb. Mittlerweile war die Firma geschlossen, die Geschäftsführer nicht mehr auffindbar. Vermutlich lagen sie in der Karibik unter Palmen, mit Cocktails in der Hand und Sonnencreme auf dem nackten Hintern, und lachten sich ins Fäustchen.

Als Nächstes war diese heftige Grippe gekommen, die Amy ohne Vorwarnung tagelang ins Bett gezwungen hatte.

Und zum krönenden Abschluss hatte ihr Freund, mit dem sie seit über zwei Jahren zusammen war, verkündet, er habe sich anderweitig verliebt und wolle nichts mehr mit ihr zu tun haben.

War es da nicht verständlich, dass es für Amy einfach keinen Grund gab, gesund zu werden und das Bett zu verlassen? Für was – für wen? Job weg, Freund weg, kein Geld, warum also sollte sie aus den Federn kriechen und wieder unter Leute gehen?

Tagelang hatte sie im abgedunkelten Zimmer gelegen, hatte pausenlos geheult, nichts gegessen und in immer neuen Fieberschüben unter Schüttelfrost und Schweißausbrüchen phantasiert.

Schließlich hatten die Eltern über ihren Kopf hinweg entschieden, dass sie Erholung brauchte.

»Fahr irgendwohin zur Kur, mach eine Reha oder einen ausgiebigen Urlaub«, hatte ihr Vater streng gesagt, »aber schau bloß zu, dass du rauskommst aus München, eine Zeit lang weg von allem, was dich krank macht!«

Die Genehmigung einer Kur hätte wahrscheinlich zu lang gedauert, und so fand er, der Bauernhof seiner Schwester im Bayerischen Wald biete sich wie von selbst an. Amys schwache Proteste waren gar nicht zur Kenntnis genommen worden.

Hätte sie die Wahl gehabt, dann wäre ihr die Karibik bedeutend lieber gewesen, da hätte sie wenigstens gleichzeitig nach ihren abgängigen Ex-Bossen Ausschau halten können. Leider stellte sich diese Alternative mangels finanzieller Mittel gar nicht.

Amy seufzte tief. Eine tolle Karriere hatte sie bisher hingelegt, das musste man schon sagen. Zwar konnte sie stolz ihr Abitur und ein Diplom zur Marketingfachfrau vorweisen, aber überhaupt nicht stolz war sie auf die Tatsache, dass sie mit fünfundzwanzig arbeitslos und Single war.

Und als ob das noch nicht reichte, hatte sie sich wie ein kleines Kind von ihrem Papa fortschicken lassen. Fast widerspruchslos hatte sie zugestimmt, einige Wochen bei den Schwarzhofers zu verbringen – im einsamen Bayerwald, mitten in der Pampa, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagten.

Und nun war sie mit gemischten Gefühlen unterwegs dorthin, ohne jede Vorfreude oder gar Dankbarkeit für die Einladung ihrer Tante. Sie erwartete sich nichts von diesem Aufenthalt.

Was sollte sie in den nächsten Wochen in dieser abgeschiedenen Gegend bloß den ganzen Tag tun? Was hatten ihre Eltern sich dabei gedacht, sie hierher in die hinterwäldlerische Einsamkeit zu schicken? Sollte sie traurig und verbittert in ihrem Zimmer sitzen?

Dafür hätte sie auch in München bleiben können 

***

Das Anwesen der Schwarzhofers lag etwas außerhalb des kleinen Dorfes Hausbach, dicht umgeben von alten Eichen und hohen Birken. Saftige Wiesen zogen sich hinter dem Haus einen weiten Hügel hinauf, abgegrenzt von einem dichten dunkelgrünen Wald, der bis zum Gipfel des dahinterliegenden Berges reichte. Das große, zweistöckige Hauptgebäude wurde von beiden Seiten, jeweils nur durch einen schmalen Durchgang getrennt, von Stall und Scheune flankiert, sodass sich die Form eines U ergab. Oberhalb der breiten, granitbelegten Eingangstreppe zog sich ein verschnörkelter Holzbalkon über die ganze Länge des Hauses, der mit üppig blühenden Geranien und Petunien geschmückt war.

Amy war froh, endlich am Ziel zu sein. Sie parkte mitten im Hof, stieg aus und streckte sich, während sie den Blick über das Anwesen wandern ließ.

Die weißen Mauern des Bauernhauses wurden von der untergehenden Sonne rosa gefärbt. In den Bäumen und Sträuchern neben der Einfahrt schimpften Elstern, Tauben gurrten irgendwo unterm Dach, auf den Weiden hinter dem Anwesen grasten Pferde. Im Hintergrund ragten dunstig die Gipfel der Bayerwald-Berge auf, aus dem Dunkelgrün der dichten Wälder darunter stachen die ersten rötlichen Farbtupfer des nahenden Herbstes hervor.

Wie idyllisch. Wenn schon raus aus der Stadt, dann wenigstens gleich an den Arsch der Welt, damit es sich auch rentierte.

Amy wollte es hier nicht schön finden. Doch trotz allen Missmutes musste sie zugeben, dass es irgendwie anheimelnd wirkte, geradezu friedlich und ungewohnt ruhig.

Plötzlich wehte der Wind die leisen Töne eines Martinshorns herüber. Es klang weit entfernt, erinnerte sie aber angenehm an ihr Zuhause, denn in der Münchener Innenstadt waren ständig irgendwo Sirenen zu hören.

Na ja, dachte sie, ein bisschen weniger ungnädig, vielleicht würden die nächsten Wochen, die sie hier verbringen sollte, doch nicht so schlimm werden. Zumindest hatte sie nun die Strapazen der Fahrt hinter sich, Amy empfand dies schon als halben Erfolg ihres erzwungenen Urlaubs. Dass sie trotzdem die vereinbarte Zeit in der Pampa absitzen würde, damit musste sie sich wohl oder übel abfinden. Wenigstens zeigte sie damit ihren guten Willen, und ihre Eltern waren zufrieden 

Ihre Ankunft war bemerkt worden, die Eingangstür öffnete sich.

Jasmin, ihre fünfzehnjährige Cousine, sprang sportlich die Stufen herunter und kam lächelnd auf sie zu.

»Hey, Amy, schön, dass du da bist!« Sie umarmten sich.

Jasmin war eine der wenigen ihrer Verwandten, die ihren verhassten Vornamen wohlwollend abkürzten. Amys Eltern und die meisten anderen Familienmitglieder nannten sie Amali-e, was umso schlimmer war, weil sie das E am Ende so betonten.

Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sich einfach als Amy vorzustellen, was in ihren Ohren weit besser klang als Amali-e. Mit deutlichem E am Ende.

»Hoffentlich war die Fahrt ned zu anstrengend? Komm erst mal rein, das Gepäck können wir auch später noch holen. Mensch, haben wir uns schon lange nimmer gesehen!« Jasmin packte sie an der Hand und zog sie die Eingangstreppe hoch.

Amy folgte gehorsam und musterte dabei die etwas pummelige Gestalt ihrer Cousine, die eine abgewetzte Reithose zu einem blauen Pulli trug und mit Filzpantoffeln an den Füßen vor ihr herschlappte. Rotbraune Locken umrahmten ein hübsches stupsnasiges Gesicht, ihre Augen leuchteten in einem hellen Grün, was einen interessanten Kontrast zu ihrem dunklen Haar bildete. Fröhlich sah Jasmin aus, freundlich und unkompliziert. Als Amy sie zuletzt gesehen hatte, war die Cousine in ihren Augen noch ein Kind gewesen, inzwischen zeigte sie selbstbewusst eine frühreife Fraulichkeit.

Das Innere des Hauses hatte Amy anders in Erinnerung. Die Diele des Bauernhauses hatte sich beeindruckend verändert, sie war mit hellbeigen und braunen Fliesen im Schachbrettmuster ausgelegt und wirkte mit rot gemusterten kleinen Teppichen und bäuerlichen Truhen und Schränken viel größer als früher und angenehm heimelig. Auf der linken Seite nahm ein mannshoher Garderobenschrank mit anschließender Sitzbank und Kleiderhaken sehr viel Platz ein.

Flüchtig musterte sich Amy im Vorbeigehen in dem großen Spiegel, ihr langes blondes Haar, die müden grauen Augen und ihr schmal gewordenes Gesicht. Nur die vollen, geschwungenen Lippen waren noch wie früher, den Rest konnte man getrost vergessen. Schnell wandte sie den Blick ab, ehe sie der Versuchung erlag, sich selbst die Zunge herauszustrecken.

Gerda Schwarzhofer, die Schwester ihres Vaters, trat aus einer Tür zur Rechten und kam lächelnd auf die beiden Mädchen zu.

»Amalie, da bist du ja endlich. Grüß dich!« Sie reichte ihr herzlich die Hand.

Tante Gerda trug ein schlichtes, aber dennoch stilvolles hellgrünes Kostüm mit kniekurzem Rock, eine Perlenkette zierte ihren schlanken Hals, sie war dezent geschminkt und wirkte auf natürliche Weise elegant. Ihr dunkles Haar hatte die gleiche Farbe wie das von Jasmin, es war modisch kurz geschnitten, was dem Gesicht etwas von seiner Kantigkeit nahm. Gerda Schwarzhofer entsprach keineswegs dem Bild einer Bauersfrau, die sich den ganzen Tag im Haus und auf dem Hof abrackerte. Ganz im Gegenteil.

Dass Georg, der Ehemann ihrer Tante, kein bettelarmer Landwirt war, wusste Amy zwar, bei den Besuchen mit ihren Eltern war ihr jedoch nie aufgefallen, dass man das überall so deutlich sehen konnte. Das große, gepflegte Anwesen und seine distinguierte Besitzerin weckten plötzlich eine Scheu in Amy, die sie früher nie gekannt hatte.

Sie schluckte trocken, bevor sie antworten konnte.

»Tante Gerda, danke, dass du mich eingeladen hast, bei euch zu wohnen. Ich hoffe, es macht keine Umstände –«

Da lachte die Tante auf, freundlich und nett, der Anflug von Arroganz, den Amy vorhin wahrgenommen hatte, war verschwunden. Ihre Augen strahlten die junge Frau warmherzig an.

»Ach, liebes Kind, wo denkst du hin! Wir freu’n uns doch, wenn wir was für dich tun können! Jetzt komm erst mal rein. Jasmin, sag bitte Tomasz Bescheid, er soll Amalies Gepäck nach oben bringen.«

Ihre Tochter verzog das Gesicht, doch sie gehorchte schweigend und verschwand wieder nach draußen.

Gerda fasste Amy am Ellbogen und führte sie in den angrenzenden Raum, aus dem sie vorher gekommen war. Es war die Küche, groß und hell, mit allen denkbaren modernen Geräten, einer riesigen gedrechselten Eckbankgarnitur, Rüschenvorhängen und Echtholzdielen. Alles sah sehr exklusiv und gediegen, aber dennoch gemütlich aus. Wunderbar gemütlich, stellte Amy fest, als sie auf die weichen Polster der Sitzbank sank.

Tante Gerdas hochhackige Sandalen klackerten leise, während sie zwischen Schränken und Kühlschrank hin- und herging und Getränke und Gläser auf den Tisch stellte. Dann zog sie sich einen Stuhl heran und nahm Amy gegenüber Platz.

»So, lass dich mal anschauen, Amalie. Dünn wie eine Bohnenstange und blass wie ein Stück Schimmelkäse bist du. Was machst du bloß für Sachen, sag mal? In deinem Alter, Himmel, da muss man doch das Leben genießen, Spaß haben, und sich ned daheim im Zimmer vergraben und deprimiert sein!«

Ihr Ton klang vorwurfsvoll, doch zugleich auch besorgt, sodass Amy ihr die Worte nicht übel nehmen konnte.

Sie seufzte leise. »Das sagt sich so leicht, Tante Gerda. Wenn so viel auf einmal zusammenkommt, dann kann es halt passieren, dass man ganz plötzlich und unerwartet auf der Nase liegt.«

Ernst erwiderte Gerda ihren Blick. »Ich weiß. Entschuldige. Eigentlich wollt ich dich nur ein bisserl aufheitern. Pass auf, du wirst schon sehen, in ein paar Wochen schaut alles anders aus. Hier bei uns kannst du tun und lassen, was du magst, lange schlafen, spazieren gehen oder einen Berg raufwandern, reiten, faulenzen – was immer dir guttut. Fühl dich einfach wie daheim.«

Sie griff über den Tisch hinweg nach Amys Hand und drückte sie. »Hauptsache, dir geht’s gut, und – sei mir ned bös – lass dich von uns ein wenig mästen, Kind! So dünn, das kann doch gar ned gesund sein!«

Das klang so resolut und ehrlich, dass Amy lachen musste. »Schlank war ich eigentlich immer, und gegen ein paar Pfund mehr hätt ich auch gar nichts einzuwenden, Tante Gerda. Zurzeit hab ich bloß keinen rechten Appetit …«

»Der kommt schon wieder, keine Sorge. Ah, Jasmin, da bist du ja.« Gerda warf einen missbilligenden Blick auf die speckige Reithose ihrer Tochter, aber sie verkniff sich einen Kommentar.

»Jasmin zeigt dir oben dein Zimmer, Amalie, und wenn du willst, kannst du gleich auspacken, duschen oder dich etwas hinlegen. Wir essen erst gegen sieben, also hast du noch gut zwei Stunden, um dich einzurichten.«

Sie erhob sich. »Wenn du was brauchst, sag es Jasmin oder mir, ja?« Unschlüssig blieb sie stehen, als Amy sich ebenfalls erhob. Dann legte sie eine Hand auf die schmale Schulter ihrer Nichte, was wohl liebevoll gemeint war.

»Wie gesagt, fühl dich wie daheim bei uns, Amalie. Werd wieder ganz gesund, ja?«

Amy nickte. Erneut erfüllte sie eine seltsame, unerklärliche Scheu. War ihre Tante schon immer so kühl gewesen, so betont distanziert? Es war ihr früher nie aufgefallen, wobei sie allerdings zugeben musste, dass ihr letzter Besuch in Hausbach schon ein paar Jahre zurücklag.

»Danke, Tante Gerda. Mach dir keine Sorgen, so weit geht’s mir ja wieder ganz gut«, gab sie leichthin zurück, »und bei eurer Fürsorge wird der Rest bestimmt auch bald.«

Sie lächelten sich an, dann zog Jasmin ihre Cousine aus dem Zimmer.

Das Gästezimmer war schlichtweg bezaubernd. Eine sprossenbesetzte Flügeltür ging hinaus auf den blumengeschmückten Balkon und ließ die rötlichen Sonnenstrahlen ein, die den Raum in ein warmes Licht tauchten. Ein breites Bett, ein Schreibtisch mit Stuhl und ein Sofa, alles im ländlichen Stil, bildeten zusammen mit einem geräumigen Kleiderschrank die Einrichtung. Auf einem niedrigen Rolltisch in der Ecke befand sich sogar einen Fernseher mit DVD-Player. Hier konnte man sich durchaus wohlfühlen.

Amys zwei Koffer und die riesige Reisetasche standen mitten im Zimmer auf dem Teppich. Was für ein Service. Sie öffnete den ersten Koffer.

Jasmin hockte sich auf die Bettkante, sah dann schuldbewusst an sich hinunter und sprang schnell wieder auf. Mit angezogenen Knien setzte sie sich auf die breite Fensterbank, den Rücken an die Fensterleibung gelehnt.

»Es gibt zwei Badezimmer hier oben, jeweils am Ende des Flurs, du kannst dir aussuchen, welches du benutzen willst«, erklärte sie Amy. »Gegessen wird immer in der Küche, und falls du zwischendurch mal Hunger hast, bedien dich einfach. Kühlschrank und Speisekammer haben immer was zu bieten.« Sie grinste. »Das sieht man mir ja auch an.«

»Jetzt übertreib mal nicht, Jasmin, du hast doch eine prima Figur«, kommentierte Amy aus den Tiefen des Kleiderschrankes, wo sie gerade einen Stapel T-Shirts verstaute.

»Klar, das Gewicht passt, ich bin nur ungefähr zehn Zentimeter zu klein dafür!« Jasmin lachte. Ungeachtet dieser Bemerkung schien sie mit sich ganz zufrieden zu sein.

Amy richtete sich auf und warf ihr einen nachdenklichen Blick zu.

»Bist du sicher, dass ich keine Umstände mache, Jasmin? Ich weiß nicht, irgendwie hab ich das Haus und deine M…«, sie zögerte kurz, »… äh … irgendwie anders in Erinnerung. Bei euch scheint es richtig feudal zuzugehen.«

Eigentlich hatte Amy es gar nicht so deutlich ausdrücken wollen, es war ihr einfach so herausgerutscht. Und sie fühlte sich tatsächlich unbehaglich.

Früher war sie gern nach Hausbach gekommen. Hier war es gemütlich, freundlich und harmonisch. Die Schwarzhofers hatten schon immer ein paar Pferde besessen, und bei ihren seltenen Besuchen mit den Eltern hatte sie sich am meisten auf die kurzen Reitstunden gefreut, die Onkel Georg ihr erteilte.

Damals war ihr der große Bauernhof längst nicht so luxuriös erschienen. Selbst Tante Gerda war noch vor ein paar Jahren eine ganz normale Bauersfrau gewesen, die mit einer einfachen Schürze angetan in der Küche gestanden oder hinter dem Haus Wäsche an die Leine gehängt hatte. Ob die elegant gekleidete Tante das wohl immer noch tat? Oder hatte sie dafür längst eine Haushälterin?

Aufmerksam musterte sie das Gesicht ihrer jungen Cousine, während sie auf eine Antwort wartete. Eigentlich rechnete sie damit, dass Jasmin lachend ihre albernen Bedenken zerstreuen würde.

Aber das tat sie nicht.

Jasmins Miene verdunkelte sich, sie runzelte die Stirn und sah sekundenlang schweigend aus dem Fenster, ehe sie sich zu Amy umwandte.

»Wie lange warst du nicht mehr hier? Drei Jahre ungefähr, ja? Vier sogar? Das ist eine lange Zeit, Amy, da kann sich vieles verändern.« Sie verzog spöttisch den Mund.

»Wie meinst du das? Was hat sich denn geändert? Abgesehen davon, dass ihr anscheinend das Haus umgebaut und modernisiert habt, mein ich.«

»Ned nur das Haus, den Stall genauso, da wirst du Augen machen.« Jasmin lächelte jetzt, doch ihre Miene wirkte durch die zusammengezogenen Augenbrauen so geheimnisvoll wie das Gesicht der Sphinx.

Mit einer wegwerfenden Handbewegung fuhr sie energisch fort: »Ach, vergiss es, so schlimm ist es auch wieder ned. Dass du jetzt da bist und bei uns wohnst, freut uns alle gewaltig, und Umstände macht du uns gar keine, ganz ehrlich.«

Sie sprang von der Fensterbank und reckte sich, dann setzte sie wieder ihr gewohnt schelmisches Grinsen auf, das sie zusammen mit den grünen Augen und den rötlichen Locken wie einen kleinen irischen Kobold erscheinen ließ.

»Falls du aber tatsächlich Ruhe und Erholung suchst«, bemerkte sie, »bist du, glaub ich, bei uns an der falschen Adresse. Außer du verkriechst dich den ganzen Tag im Zimmer oder im Garten. Abwechslung und Aufregung haben wir hier genug, das kann ich dir versprechen. Lass dich von der Idylle hier nur ned täuschen!«

Amy lachte. Klar, Jasmin musste ihre hinterwäldlerische Heimat der großstädtischen Cousine gegenüber verteidigen. Auch wenn es etwas kindisch wirkte, sie konnte diese aufrichtige Heimatliebe sogar verstehen, obwohl ihr nicht ganz klar war, was in diesem Kaff Aufregendes passieren sollte.

Daran lag es auch nicht, dass Amy ein merkwürdiges Unwohlsein beschlich.

Etwas an Jasmins Verhalten kam ihr trotz der scheinbar guten Laune ihrer Cousine rätselhaft und ein bisschen beunruhigend vor.

Nachdem Jasmin sie verlassen hatte, nahm Amy ihr Handy und rief zu Hause an, um ihre wohlbehaltene Ankunft zu melden. Ihre Mutter klang wie immer besorgt, ihr Vater dagegen betont fröhlich und zuversichtlich. Mit beidem konnte Amy momentan wenig anfangen, sie beendete das Gespräch schnell wieder.

Dann setzte sie sich, wie ihre Cousine zuvor, mit angezogenen Beinen auf die Fensterbank und sah über die Landschaft im langsam schwindenden Tageslicht.

Einige Autos waren in der Zwischenzeit auf den Hof gefahren, sie hatten sich – im Gegensatz zu Amys Polo, der noch immer mitten vor der Eingangstür stand – auf dem gekiesten Seitenstreifen der Einfahrt nebeneinander aufgereiht. Die breiten Stalltüren standen offen, Leute mit und ohne Pferd kamen und gingen.

Der Reiterhofbetrieb hatte eingesetzt, die Stallmieter erschienen nach Feierabend, um zu reiten, auszumisten oder sich um ihr Pferd zu kümmern.

Das hatte Jasmin wohl gemeint, als sie von Abwechslung und Aufregung sprach. Ein lebhafter Betrieb, ständig fremde Menschen auf dem Hof. Nun, Amy hatte durchaus nichts dagegen. Vielleicht war es hier doch nicht so einsam, wie sie befürchtet hatte.

3

»Nein, Mike, das ist jetzt nicht dein Ernst!«

Isabels entsetzte Stimme sprang Mike förmlich hinterher, als er sich reflexartig erhoben hatte, um an sein Handy zu gehen.

Sie fuhr fort: »Verdammt, du hast dein freies Wochenende, oder? Leg das blöde Teil aus der Hand und komm sofort zurück ins Bett!«

Ohne nachzudenken, war Kriminalhauptkommissar Michael Zinnari sofort aufgesprungen, als er registriert hatte, dass seine Kollegin Jutta Heinze ihn zu erreichen versuchte – nur ihre Nummer war unter Falcos Kultsong »Der Kommissar« als Klingelton eingespeichert.

Gerade trällerte der Wiener Sänger: »… er wird di anschaun, und du waast, warum …«, als Mike Isabels zornigen Blick sah.

Seine Hand, schon fast am Telefon, sank herab. Himmel, wie konnte er nur so blöd sein! Da hatte er endlich die ersehnte Zweisamkeit mit Isabel, und was tat er? Spurtete ans Telefon, sobald seine Kollegin anrief. Unverzeihlich!

Beschämt senkte er den Kopf. Als hätte er nie etwas anderes im Sinn gehabt, drückte Mike den Anruf weg und sagte: »Ich … äh … ich wollte doch nur für Ruhe sorgen, mein Schatz! Was denkst du denn von mir?«

»Ich denk nicht, ich sehe! Hallo, Mike – du bist nicht im Dienst!«

Er hätte wissen müssen, dass sie seinen kläglichen Versuch einer Notlüge sofort durchschaute.

Isabel hatte sich auf die Ellbogen gestützt und sah ihn ernst an. »Ich weiß, dass du erst vor ein paar Stunden von der Dienststelle weg bist und immer glaubst, deine Kollegen könnten nicht ohne dich. Aber, Herrgott noch mal, du hast frei! Alles andere kann warten bis Montag, oder?«

Der Anblick, der sich Mike gerade bot, konnte jedenfalls nicht bis Montag warten.

Energisch drückte er am Smartphone den Aus-Schalter, und noch ehe das Licht auf dem Display erloschen war, hatte er Isabel mit einer festen Umarmung recht gegeben.

Eine Stunde später saßen sie entspannt bei einem Glas Wein auf der Terrasse vor ihrem Gästezimmer. Schorschi tobte zwischen ihnen und dem Waldrand hin und her, die Luft roch würzig nach feuchter Erde, und noch war es so mild, dass sie ohne zu frösteln bei Kerzenschein im Freien sitzen konnten.

Mike war ungewöhnlich schweigsam, und Isabel wusste genau, warum. Er wollte brennend gern wissen, aus welchem Grund seine Kollegin versucht hatte, ihn anzurufen. Ein Polizist sei immer im Dienst, hatte er ihr einmal erklärt, verständlich, dass er seine Gedanken an die Arbeit nicht einfach so abschalten konnte.

Eigentlich wollte Isabel nicht nachgeben, sie hatte sich viel zu sehr auf dieses Wochenende gefreut und war nicht bereit, ihren Freund schon wieder mit seiner Arbeit zu teilen. Andererseits war ihr sehr wohl bewusst, was für ein guter Kommissar er war, und als Chef der Straubinger Kriminalinspektion hatte er schließlich Verantwortung zu tragen.

Unentschlossen drehte sie das Weinglas zwischen den Fingern, dann gab sie sich einen Ruck.

»Herrje, Mike, jetzt mach nicht so ein Gesicht. Ruf Jutta endlich an, damit du weißt, was los ist. Ich bin dir nicht bös, echt jetzt.« Sie lächelte ihm zu – hoffentlich ehrlich genug.

Mikes Blick zeugte von deutlichem Schuldbewusstsein.

»Es tut mir leid, Isabel. Du kennst das ja schon. Jedes Mal, wenn wir uns was vornehmen, kommt was dazwischen. Ich will’s eigentlich gar ned wissen, was los ist, nur … na ja, Richard ist noch im Urlaub und unser Willi bei einem Seminar. Ich will halt Jutta nicht ganz im Stich lassen. Andererseits bist du mir natürlich viel wichtiger …« Zaghaft hob er die Schultern.

Insgeheim war Mike wütend auf sich selbst, weil er nicht imstande war, an einem freien Wochenende die Gedanken an die Arbeit rigoros auszublenden. Angesichts seines seelischen Zwiespalts fühlte er sich richtiggehend elend.

Freilich wollte er wissen, was los war, andererseits hatte er Isabel ein freies Wochenende versprochen und wollte keinesfalls wortbrüchig werden. Das hatte sie nicht verdient.

Isabel winkte ab. »Hör auf mit dem Schmarrn, Mike«, gab sie energisch zurück. Mit einer schnellen Handbewegung wischte sie sich eine Strähne ihres langen blonden Haares über die Schulter, lächelte ihn mit gerunzelter Stirn an. »Ich kann auch nicht raus aus meiner Haut, Mike. Ich liebe dich, weil du bist, was du bist: ein lieber Mann und ein guter Kommissar. Also nimm endlich das Telefon und ruf an. Dann können wir wenigstens planen für die nächsten Tage.«

Was für eine tolle Frau!

Erleichtert ob ihrer Toleranz, aber noch mehr wegen ihrer Liebeserklärung beugte er sich über das Tischchen ihren funkelnden braunen Augen entgegen und küsste sie. »Danke dir, mein Schatz. Ich liebe dich!«

Wenig später hatte Mike seine Kollegin erreicht.

»Jutta, servus. Ich hatte einen Anruf von dir drauf, was gibt’s denn?«

Kriminalhauptkommissarin Jutta Heinze schien überrascht und erfreut über Mikes Rückruf.

»Danke, dass du dich meldest, Mike. Ich weiß ja, dass du eigentlich freihast, aber … nachdem ich vorhin in deiner Nähe war, dachte ich, du wärst vielleicht gern dazukommen, weil es dich interessiert hätte.«

»Wohin? Und warum?«

»Nach Hausbach, das ist ein paar Kilometer hinter Bodenmais. Eine wirklich kuriose Sache, echt. Unglaublich, was alles passiert.«

Normalerweise war Jutta eher pragmatisch veranlagt. Dass sie sich nicht kurzfasste, sondern ihre Eindrücke ausschmückte, war ungewohnt. Und für Mike auch gerade absolut unpassend, weil er eigentlich auf einen romantischen Abend mit Isabel hoffte.

Dementsprechend genervt unterbrach er sie: »Mach’s nicht so spannend, Jutta. Jetzt sag schon, was Sache ist, Herrschaftszeiten!«

Sofort wurde ihr Ton geschäftsmäßig. »Also, wir haben einen Autounfall mit einem Toten. Allerdings ist er nicht durch den Sturz in den Straßengraben umgekommen, sondern durch eine Kugel. Irgendwer hat ihn erschossen, während er vorbeifuhr. Im Tatortbereich fand gerade eine Treibjagd statt, aber keiner der Jäger will’s gewesen sein. Welches Geschoss aus der Brust des Mannes gezogen wird, werden wir ja sehen. Egal, so oder so ist das ein Fall für uns, deswegen dachte ich, du wärst gern selbst zum Unglücksort gekommen.«

Mike seufzte. Wochenlang schlugen sie mit nervigen Kleindelikten die Zeit tot, doch kaum meldete er sich für ein Wochenende ab, passierte ein Mord. Okay, so weit waren sie noch nicht, es könnte auch ein Unfall oder fahrlässige Tötung sein. Trotzdem, Murphys Gesetz hatte anscheinend wieder einmal zugeschlagen.

Isabel Weingartner vernahm Mikes Seufzen und schluckte. Das gemeinsame Wochenende schien sich soeben aufzulösen wie Kaminrauch im Herbststurm. Mit gesenkten Augen nahm sie einen Schluck aus dem Weinglas und versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

»Okay, ich fahr später hinüber nach Regen und schau mir die Unterlagen an«, hörte sie Mike sagen. »Noch was, Jutta, damit das klar ist: Ich hab frei und keine Lust darauf, die nächsten zwei Tage zu ermitteln! Ich hör mich kurz in der Inspektion Regen um und steh dir am Telefon gern zur Verfügung. Alles Weitere bitte erst am Montag.«

Neue Hoffnung stieg in Isabel auf, erwartungsvoll sah sie Mike an. Dieser hob die Augenbrauen in ihre Richtung und nickte. »Ja, alles klar«, sprach er ins Telefon, »ich meld mich dann bei dir. Servus.«

Genervt warf Mike das Handy auf die Tischplatte und stöhnte.

»Verdammt, ausgerechnet jetzt! Nein, du musst ned so schauen, Isabel, unser Wochenende bleibt uns erhalten!«

Was sie über die Situation dachte, konnte Mike an ihrer verkniffenen Miene ablesen. Er hätte es sich ebenfalls anders gewünscht, leider konnte er sich den Zeitpunkt für eine neue Leiche nicht aussuchen.

Mike tat es beinahe körperlich weh, dass er sie enttäuschen musste, doch noch blieb ihm eine klitzekleine Chance, die Romantik dieses Wochenendes nicht ganz zu versauen.

Als er ihren zweifelnden Blick sah, stand er auf und zog sie vom Stuhl hoch. Beide Hände um ihr Gesicht gelegt, zwang er sie, ihn anzusehen.

»Isabel, die nächsten zwei Tage gehören uns, so wie wir es geplant haben. Ich werd mich zwischendurch nur manchmal informieren lassen, was es Neues gibt, schließlich muss ich mich ab Montag an den Ermittlungen beteiligen und will vermeiden, dass vorher irgendwas versäumt wird. Das verstehst du, gell?«

Ergeben nickte Isabel und legte ihm die Arme um den Hals. Schorschi drängte sich zwischen sie, trat dabei tollpatschig auf Mikes Zehen, schaute schwanzwedelnd abwechselnd zu ihnen beiden hoch.

Isabel musste lachen. »In Gottes Namen, dann will ich dir mal glauben.«

***

»Jetzt beweg dich halt mal ein bisserl, Dicker!«

Mit energischen Worten und ein paar Klapsen auf das Hinterteil des schweren Wallachs trieb Andi Rosenmüller sein Pferd aus dem Stall.

Andi war in Eile. Bald würde die Dämmerung in Dunkelheit übergehen, für einen weiten Ausritt war die Zeit schon wieder viel zu knapp.

Doch auch wenn es nur für eine halbe Stunde war, Andi wollte an diesem Freitagabend einfach raus und das vertraute Gefühl von stummer Einheit mit seinem Pferd spüren.

Er brauchte die Ruhe und die ländlichen Geräusche, die ihn umgaben, wenn er auf schmalen Pfaden durch den Wald und quer über Wiesen ritt. Dadurch konnte er richtig abschalten und sich von den oft schrecklichen Erlebnissen des Tages ablenken.

Immer noch nachdenklich stemmte Andi sich in den Sattel.

Nie würde er sich an die Toten gewöhnen. Mordopfer, Unfallopfer, mit leeren offenen Augen, bleichem Gesicht, verstümmelten Gliedmaßen. Er hatte in den letzten Jahren schon viele tote Menschen gesehen, doch dadurch wurde es nicht leichter, nein, kein bisschen. Manchmal zweifelte Andi sogar daran, den richtigen Beruf gewählt zu haben, er befürchtete, niemals so abgebrüht zu werden wie seine älteren Kollegen, seine Vorgesetzten.