Umschlag

Doris Fürk-Hochradl wurde 1981 in Braunau am Inn geboren und lebt heute mit ihrer Familie im beschaulichen Feldkirchen. Sie schreibt neben ihrer Haupttätigkeit als Lehrerin Krimis mit dem besonderen Schmunzelfaktor.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2018 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: LMDB/photocase.de
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Christine Derrer
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-362-2
Originalausgabe

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Für meine lieben Leser/innen und Freund/innen

Prolog

Ich zittere. Die ganze Welt steht kopf. Wie hat es so weit kommen können? Wer soll die Scherben wieder zusammenfügen, dass sie ein heiles Ganzes ergeben? Der stechende Duft von nassem Nadelholz steigt mir in die Nase. Unaufhaltsam peitscht der Regen auf meinen bewegungsunfähigen Körper.

Ich schlucke schwer. Der Wind schaukelt mich hin und her. Ich bin gefangen. Gefangen in einem Netz aus Intrigen, einer Heerschar an Verdächtigen ausgeliefert. Wer von ihnen hat mich jetzt in seiner Gewalt? Ob mich schon jemand sucht? Ob mich überhaupt jemand vermisst?

Der Schmerz in meinen Gliedern wird immer stärker. Die Schleimhäute meiner Nase schwellen an. Ich bekomme kaum noch Luft. Mir ist schwindlig.

Erneut möchte ich um Hilfe rufen, aber ich kann nicht. Übelkeit kriecht mir die Kehle empor. Die Schmerzen werden unerträglich. Das Schlimmste aber ist … ich bin allein.

Alles bleibt, alles geht

Eisenkrautwickel nach Hildegard von Bingen

Bei Entzündungen jeder Art ohne offene Hautstellen: Getrocknetes Eisenkraut kurz kochen, ausdrücken, in ein Tuch geben und noch warm auflegen. Weitere Tücher um den Verband wickeln. Einwirken lassen, solange es guttut. Im Anschluss daran Schafgarbentee trinken oder 1 TL Schafgarbenpulver nehmen.

Zusammengekrümmt wie ein Neugeborenes liegt sie vor mir. Behutsam ziehe ich die dünne Sommerdecke über ihren verschwitzten Körper. Der Kummer bereitet meiner Tochter in dem einen Moment Schweißausbrüche und Sekunden später Schüttelfrost. Dazwischen heult und jammert Daniela, als wäre sie ein geschlagenes Kätzchen. Der Schlaf wirkt manchmal Wunder, aber wenn die Wunde zu tief ist, kann auch er nicht mehr tun, als eine leichte Decke des Vergessens über die gequälte Seele zu legen. Eigentlich hätten diese Wochen die glücklichsten in Danis Leben werden sollen, doch das Schicksal hat es böse gemeint und unser aller Dasein aufs Tiefste erschüttert. Meine Tochter Daniela hat ihre Babys nicht zur Welt bringen können, sie hat mit den Zwillingen eine Fehlgeburt erlitten. Jetzt liegt sie bei mir auf dem Sofa, weil ihr Verlobter Kurt arbeiten muss und auf seine Art leidet.

Langsam erhebe ich mich von der Sofakante und schlurfe zur Tür. Daniela stöhnt leise. Vorsichtig drücke ich die Türklinke.

»Mama?«, fragt sie und richtet sich etwas auf.

Aschfahl leuchtet ihr Gesicht in der stets etwas dämmrigen Atmosphäre meines Wohnzimmers. So sind alte Bauernhäuser nun einmal. Mit ihren kleinen Fenstern, den niedrigen Decken und den vielen Holzbalken wird es nie richtig taghell im Inneren. Im Gegenzug dazu herrscht eine heimelige Atmosphäre.

Seit mein Liebster Sepp bei mir wohnt, habe ich sogar noch stärker auf den Charme meiner traditionellen Bauernmöbel geachtet und die vorher modernen Gardinen gegen die alten Blaudruck-Vorhänge ausgetauscht. Dadurch kommen die Kredenz und auch die Bauerntruhe richtig zur Geltung, und das Wohnzimmer wirkt viel gemütlicher als vorher. Sepp hat ein Gespür für die passende Einrichtung. Wahrscheinlich ist sein Talent dafür auch durch seinen ehemaligen Beruf gewachsen. Wer immer mit Frauen arbeitet und von Damen aus aller Welt umgeben ist, lernt die Schönheit zu schätzen.

Sepp war früher der Betreiber des hiesigen Dorfbordells. Er musste, um sein Geschäft am Laufen zu halten, nicht nur bei der Auswahl der Angestellten ein gutes Auge haben, sondern auch für das Ambiente. Das Herzkastl hatte in beiden Bereichen nur das Beste zu bieten. Bei den Damen und bei den Möbeln. Ich liebe Sepp auch wegen seines guten Geschmacks. Einige Leute mögen sich daran stoßen, dass ich, die gute Kräuterhexe und Beindlrichterin des Dorfes, mit Sepp zusammen bin, aber das Schicksal hat uns eben zusammengeführt.

Immer wenn ich daran denke, wie Sepp das erste Mal in meiner Stube saß, muss ich schmunzeln. Rot vor Scham berichtete er mir von seinem unangenehmen Problem. Sein kleiner Sepp wollte nicht mehr standhaft seine Pflicht erfüllen. Wie sich herausstellte, hatte es der kleine Sepp, ebenso wie der große, einfach satt, nur der Arbeit wegen zu funktionieren. Sepp suchte die wahre Liebe, und ich war so viele Jahre nach dem Tod meines Mannes endlich bereit für die zweite Liebe.

Sepp gehört zu mir und ich zu ihm, genauso wie die Blaudruck-Vorhänge in mein Wohnzimmer.

Ich blicke Daniela an. Das einfallende Licht schimmert leicht bläulich. Umso gespenstischer sieht Daniela dadurch aus.

Mein armes Kind, denke ich. »Alles in Ordnung, Liebling«, sage ich ruhig und verdränge jede Sorge aus meiner Stimme. Daniela blinzelt. Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Gitti ist in der Stube, wenn du etwas brauchst. Schlaf weiter.« Daniela brummt leise und kauert sich wieder zusammen.

Ich verlasse das Wohnzimmer und ziehe behutsam die Tür hinter mir ins Schloss. In der Stube hebt Gitti den Kopf und legt ihren Liebesroman zur Seite. Seit einiger Zeit hat meine beste Freundin nicht nur ihren Hang zur schnulzigen Schundliteratur entdeckt, sondern auch die Farbe rosa. Ihre einst lila schimmernden Locken leuchten nun in zartem Pink. Passend dazu trägt sie Kapselschmuck, wie ich die grauenhaften Dinger nenne. Ihre Enkelin Leonie bastelt im Werkunterricht aus meiner fliederfarbenen und altrosa Kaffeekapsel-Spezialedition ständig neue Ketten, Anhänger und Blumentopf-Kugeln. Selbst Krippenfiguren hat das Kind im Rahmen des Werkunterrichts produziert. Die Dinger haben sich erstaunlich erfolgreich beim Adventsmarkt voriges Jahr verkauft, sodass die Lehrerin unermüdlich neue Alumüll-Kreationen mit den Kindern entwickelt. Tetrapak-Taschen waren gestern, nun hat das Aluminiumfieber die Werklehrerinnen des Landes gepackt, und der Kaffeemüll bekommt ein zweites Leben an den Hälsen, in den Wohnungen und in den Blumentöpfen der Bevölkerung geschenkt. Gitti steht mit der gleichen Überzeugung hinter den Kunstwerken ihrer Enkelin und trägt die Schmuckstücke pausenlos, so wie sie es vor zwei Jahren mit der Getränkepackerl-Tasche getan hat. Liebe kennt eben keine Grenzen.

»Und, wie geht’s Dani?«, fragt Gitti.

»Nicht gut«, antworte ich. Das kurze Schweigen liegt schwer in der Luft. Keiner von uns weiß so recht, was er sagen soll. Zu viele Tränen wurden vergossen, zu viele scheinbar tröstende Floskeln gewechselt.

»Meinst du, dass sie bis Schulbeginn wieder wird? Der alte Wimmer ist eine Zumutung für die Kinder. Dass man den aus seinem Sabbatjahr zurückgeholt hat … unbegreiflich ist das. Er steht so kurz vor der Pensionierung«, bricht Gitti das Schweigen und zeigt mit ihren Fingern einen millimeterbreiten Spalt.

Ich seufze und mache mich daran, neuen Kaffee aufzusetzen. Die Schulkinder und der alte liebestolle Direktor sind mein kleinstes Problem. Durch den Wimmer wird das ohnehin schwer kranke Schulsystem schon nicht krepieren. Meine Sorge gilt Daniela, und die kann noch nicht so schnell wieder als Lehrerin einspringen.

»Ich weiß es nicht. Der Verlust. Daniela hat viel zu verarbeiten und wir auch«, sage ich. Ich nehme die Kanne und zwei Tassen mit zum Tisch und setze mich. »Aber immerhin haben wir erst Ende Mai, und bis zum Herbst vergehen noch Monate. Vielleicht wird es bis dahin.«

»Sepp und ich haben drüber geredet, und er meint auch, dass es vielleicht an der Zeit ist, na ja … du weißt schon …«

Gittis schuldbewusster Ton und ihr Stocken gefallen mir gar nicht. Ich grummle.

Gitti redet schnell weiter. »In einer speziellen Klinik könnte man Daniela vielleicht besser helfen als hier. Die können Medikamente verabreichen und Therapien machen, sodass sie wieder lachen kann.«

Zorn kocht in mir hoch, und ich habe Mühe, mich am Riemen zu reißen und nicht loszuschreien.

»Und der Arzt im Krankenhaus sagte doch auch, dass, wenn sie …«

Ich unterbreche Gitti schnell, aber die Wut bleibt. »Der Heini kann mir gestohlen bleiben. Wenn er mich und Daniela beim ersten Mal ernst genommen hätte, dann würden die Zwillinge vielleicht noch leben, und Daniela würde lachen! Und wie sie lachen würde! Wegen diesem Trottel von einem Arzt und seiner vorgefertigten Meinung, dass Dani nur eine hysterische ältere Erstgebärende ist, hatte sie überhaupt eine Totgeburt.«

Was ich sage, ist die Wahrheit, aber nicht die ganze. Ich wende meinen Blick ab und kämpfe mit den Tränen. Es tut mir im Herzen weh, dass meine Tochter so ein schreckliches Schicksal erleiden muss. Tagtäglich schwanke ich zwischen Selbstvorwürfen und Hass auf die Ärzteschaft. Obwohl die Wahrscheinlichkeit fast bei null liegt, denke ich immer daran, dass man die Zwillinge unter den richtigen Umständen hätte retten können. Vielleicht hätten wir früher ins Krankenhaus zurückkehren müssen. Vielleicht hätten wir auch beim ersten Besuch vehementer auftreten müssen oder ein anderes Krankenhaus wählen … Wie ich es aber auch im Kopf drehe und wende, das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, bleibt. Beim ersten Mal im Spital ließen wir uns vorschnell beruhigen und wegschicken. Am nächsten Tag war es dann schon zu spät. Trotz Notkaiserschnitt und Intensivstation. Die Schwangerschaftsvergiftung war zu weit fortgeschritten. HELLP-Syndrom, schwerste Verlaufsform, keine Chance, die beiden Babys zu retten. Kurzzeitig war es nicht einmal sicher, ob Daniela überleben würde. Und so blieb mir nichts anderes übrig, als Danielas Hand zu halten, bis sie aus dem Koma erwacht ist, und ihr dann die schreckliche Nachricht zu überbringen … »Mein Schatz, deine Babys sind tot, und nein, du kannst keine mehr bekommen, ohne dein Leben dabei aufs Spiel zu setzen.«

Seither weint meine Tochter, und ich weine mit ihr. Um nicht allein zu sein, wohnt sie nun bei mir und Sepp. Kurt hat sich nach kurzer Trauer und einer Woche Pflegeurlaub in die Arbeit gestürzt und spielt in der wenigen Zeit, die er zu Hause ist, den Unbekümmerten. Alle Pläne, von der Hochzeit bis zum Hausbau, sind auf Eis gelegt. Kurt kümmert sich um Danielas gemietetes Haus, ihren Hasen und die Pflanzen. Seinen Feierabend verbringt er bei Sepp und mir. Zum Schlafen aber fährt er in Danielas Häuschen. Ich habe mir die letzten Jahre immer mehr Leben in meinem Zuhause gewünscht. Oft war es mir zu ruhig in meinem Heim. Natürlich hatte ich stets genug Kundschaft, die sich von mir, der Kräuterrosi, das Kreuz richten lassen wollte, aber ich habe mich nach meiner Familie gesehnt und nicht nach Patienten. Jetzt lebt meine Tochter bei mir, aber der Grund dafür ist einfach nur schrecklich. Mein Sepp leidet auch darunter, dass ich die meiste Zeit an Danielas Bettkante sitze und kaum zu einem vernünftigen Gespräch fähig bin. So kämpfen wir uns durch den Alltag.

Heute werde ich ausnahmsweise nicht zu Hause in der Stube die Zeit totschlagen. Ich wurde eingeladen und konnte diese Einladung nicht ausschlagen. Mein Sohn Raphael und seine Lieben vermeiden Besuche bei mir. Der Grund ist Daniela. Zu schmerzlich ist der Anblick der kleinen Mariella für Dani. Aber er hat mich überredet, sie heute zu begleiten. Schon stürmt Raphael zur Tür herein.

»Bist du so weit, Mama?«, fragt er und deutet auf seine Armbanduhr. »Kalina und Mariella warten sehnsüchtig auf dich. Die Kleine freut sich schon sehr und ich auch.«

»Ich weiß nicht, ob ich Daniela allein lassen will«, gebe ich zu.

»Ach was, Rosi. Du fährst mit. Frühsommerfest am Baumkronenweg! Das darfst du dir nicht entgehen lassen. Außerdem hast du nicht nur eine Tochter, sondern auch einen Sohn und ein Enkelkind«, fällt mir Gitti ins Wort. Sie zieht dabei streng die Augenbrauen zusammen.

»Aber –«, setze ich an und werde sofort von beiden unterbrochen.

»Kein Aber. Du fährst mit!«, sagen Gitti und Raphael wie aus einem Munde.

Ich gebe mich geschlagen und trinke noch schnell den letzten Tropfen Kaffee aus. »Pass mir bitte gut auf Daniela auf. Sepp müsste in einer Stunde hier sein, und dann löst er dich ab. Ich hab das Handy an, falls ihr mich braucht«, plappere ich, während ich mir die dünne Frühlingsweste anziehe.

»Keine Sorge. Außerdem muss mich Sepp nicht ablösen. Wir passen beide auf«, beruhigt mich Gitti und nickt dabei wie der Wackeldackel auf der Kofferraumablage von meinem alten Auto.

Im Gegensatz zu meinem Donald, wie ich die Citroën Ente in meiner Garage nenne, ist Raphaels Wagen ein echtes Schlachtross. Seit Kurzem fährt er einen Lexus mit Hybridantrieb. Mir ist das Gefährt unheimlich, besonders wenn es so leise wie eine Schlange über den Asphalt gleitet. Wie soll man als Fußgänger diese Autos hören? Ich habe gelesen, dass man sich Lautsprecher einbauen lassen kann, die Motorgeräusche von sich geben. Irgendwie ist das seltsam und spricht für unsere Zeit, in der man mehr vorspielen muss, als man eigentlich ist. Ich könnte mich mit dem Gefährt nicht anfreunden. Raphael aber liebt seinen neuen Wagen und poliert ihn mindestens einmal wöchentlich auf Hochglanz.

»Man muss Mann Spielzeug lassen, sonst er beschäftigt noch auf falschem Spielfeld«, sagt meine Schwiegertochter Kalina immer, wenn ich einen Scherz über Raphaels neuen Putzfimmel mache. Kalina hat schon recht. Es ist wesentlich besser, wenn mein Sohn sich an seinem Auto austobt, als bei seinen Angestellten. Seit er Sepps Bordell übernommen hat, floriert das Herzkastl. Allerdings liegt die neue Berühmtheit des Puffs wahrscheinlich auch an Sepp und mir. Durch unsere unkonventionelle Beziehung und durch Sepps TV-Auftritte bei der Sendung »Pimp my Puff« haben wir einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt. Sepp hat für das österreichische Privatfernsehen Bordelle im ganzen Land saniert und sich dabei eine nicht unbeträchtliche Fangemeinde aufgebaut.

Doch es gibt noch einen weiteren Grund für das einträgliche Geschäft mit der Liebe. Raphael hat einfach ein Händchen für dieses Gewerbe. Er führt den kleinen Puff mit viel Engagement und behandelt seine Angestellten sehr respektvoll. Qualität vor Quantität, sagt er immer und hält sich auch daran. Obwohl er den Betrieb durch die Mehreinnahmen der letzten Monate vergrößern könnte, renoviert er lieber die Räumlichkeiten und investiert in einen größeren Wellnessbereich. Kalina unterstützt ihn dabei tatkräftig bei der Auswahl der Mädchen und der Einrichtung. Die beiden sind wirklich ein gutes Team und weichen gravierend von der gängigen Vorstellung der Bevölkerung über Bordellbetreiber ab.

Raphael hält mir die Vordertür seines Autos auf. Kalina und Mariella sitzen hinten. »Ma, Ma!«, quietscht Mariella, als sie mich sieht, und streckt ihre Ärmchen nach vorne.

Ich steige ein und drehe mich um, dass ich die Kleine tätscheln kann. »Na, mein Herzchen, freust du dich schon? Bald laufen wir in den Bäumen spazieren. Ganz hoch oben«, verspreche ich.

»Ma!«, quakt sie erneut. Das »O« vornedran bekommt sie nicht hin.

»Hallo, Oma Rosi. Jetzt geht es los«, kommentiert Kalina erfreut.

Wir sind gerade fünf Minuten auf dem Weg, da wird Mariella schon quengelig. Die Zeiten, in denen sie seelenruhig in der Babyschale geschlummert hat, sind vorbei, und Kalina beginnt Mariella mit klein geschnittenen Obststückchen zu füttern.

»Macht mir nicht wieder so eine Sauerei dahinten. Beim vorigen Mal musste ich eine ganze Stunde sauber machen«, beschwert sich Raphael halbherzig.

»Lieber ganze Stunde sauber machen, als Mariella schreit ganze Zeit«, antwortet Kalina kühl.

Ihren osteuropäischen Akzent wird sie wohl immer behalten. Ich nicke ihr aber bestätigend zu. »Genau, meine Liebe. Raphael hat als Kind auch immer Donald eingesaut. Und damals gab es noch keine richtigen Kindersitze. Da hatte man das Essen überall. Hab ich dir eigentlich schon erzählt, dass er mit Vorliebe Essiggurken mit Marillenmarmeladebrot gegessen hat? An einem Sonntag hat er sich beim Frühstück so überfressen, dass er sich in der Kirche direkt vor dem Altar übergeben musste. Der einzige Trost war, dass wenigstens ein Mal das Auto verschont geblieben ist.«

»Mama«, sagt Raphael mit einem beleidigten Unterton.

Er hasst es, wenn ich von früher erzähle. Wahrscheinlich weil er kein Engelchen war und sich in seinen jungen Jahren einige Fehltritte erlaubt hat. Kalina lächelt und füttert weiter kleine Bananenscheibchen in Mariellas aufgerissenen Mund.

»Wie geht es Daniela?«, wechselt Raphael das Thema, und ich werde zurückgeworfen in den Schmerz. Ich schüttle traurig den Kopf. Raphael brummt leise. Ich sehe aus dem Fenster. Der Frühling ist in voller Pracht, und das Leben hat nach dem Winter seinen Platz zurückgefordert. Überall leuchtet es grün, und die Blumen blühen auf den satten Wiesen. Ich atme durch und meine, trotz der geschlossenen Autofenster den Sommer riechen zu können. Er steht vor der Tür und mit ihm die Ferien- und Urlaubszeit. Doch dieses Jahr werde ich wohl ganz zu Hause verbringen, obwohl Sepp und ich eigentlich einen längeren Urlaub geplant hatten. Das Leben hat unsere Pläne gestrichen. Deshalb ist es wirklich ganz gut, dass ich heute einen Ausflug mache. Das Grün der Bäume und der Duft des Waldes werden mich entspannen und mich zumindest kurzzeitig auf andere Gedanken bringen. Außerdem ist es bestimmt lustig, in den Baumwipfeln spazieren zu gehen und Süßigkeiten in den Ästen zu suchen.

»Frühsommerfest mit Lampions, Luftballons und Zuckerstangen im Geäst«, lautete die Werbung auf dem Flyer des Baumkronenweges. Ich bin neugierig und sogar etwas aufgeregt. Obwohl der Baumkronenweg mitten im Innviertel und im Nachbarbezirk Schärding liegt, war ich noch nie dort. Wahrscheinlich hat mich meine Abneigung, längere Autofahrten zu machen, davon abgehalten. Als Mitfahrerin in Raphaels Wagen ist das eine feine Sache. Auf jeden Fall liegt der Baumkronenweg mitten im Sauwald. Wer mutig ist, kann nicht nur einen Spaziergang in luftiger Höhe unternehmen, sondern sogar im Baumhotel übernachten. Eigentlich hatte Raphael das für uns geplant, aber durch Danielas Unglück haben wir uns doch nur für einen Tagesausflug entschieden. Und selbst damit habe ich meine Probleme, und das schlechte Gewissen plagt mich. Bei Gitti und Sepp ist sie in guten Händen, das weiß ich, und trotzdem bin ich hin- und hergerissen. Dass Kurt sich so wenig Zeit für sie nimmt, tut mir im Innersten weh. Gerade jetzt, wo sie ihn dringender braucht als je zuvor, hängt er nur noch auf der Polizeistation herum. Die Arbeit beim Morddezernat nimmt ihn voll in Beschlag.

»Wir sind gleich da«, unterbricht Raphael meine Gedanken. Ich bin ins Grübeln geraten, und als ich aufblicke, befinden wir uns schon auf dem Parkplatz des Baumkronenweges.

Ich drehe mich um. Kalina hebt seufzend die Schultern. »Immer schläft ein, wenn wir da sind«, kommentiert sie Mariellas nach vorne gekipptes Köpfchen. »Raphael, trägst du?«

Raphael stöhnt. »Ich hab von Anfang an gewusst, weshalb ich kein pinkfarbenes Tragetuch wollte«, murrt er.

Wir steigen aus, und Kalina beginnt fachmännisch, das hell- und dunkelrosa gestreifte Tragetuch um Raphaels Körper zu schlingen.

Ich lache bei seinem Anblick. »Pink steht dir aber ausgezeichnet«, sage ich ironisch, worauf Raphael auch im Gesicht eine altrosa Farbe annimmt.

»Ich sehe damit aus wie ein homosexuelles Känguru«, mault mein Sohn weiter.

Kalina fährt ungerührt fort und lässt die kleine Mariella behutsam in den vor Raphaels Brust entstandenen Stoffbeutel gleiten. »Ich mag Beuteltiere«, sagt sie dann und tätschelt sanft Raphaels Hand.

»Sehe ich genauso. Außerdem ist es besser, du bist ein schwules Beuteltier als ein frauensuchendes Beutetier«, scherze ich.

»Als ob ich jemals eine andere Frau lieben könnte als meine Kalina«, antwortet Raphael sanft, um dann gleich wieder den Befehlston anzuschlagen. »So, jetzt aber los! Wir wollen heute hoch hinaus.«

Damit marschiert mein Sohn los, das schlafende Kleinkind eng an seine Brust geschnallt. Es ist schön zu sehen, wie sehr er sich in den letzten Jahren verändert hat. Obwohl er vor seiner Zeit als Puffbetreiber und Familienvater einer für die Außenwelt seriöseren Arbeit nachgegangen ist, trauere ich den Zeiten seiner Versicherungslaufbahn keine Sekunde nach. Das Geschäft mit der vermeintlichen Absicherung der Menschen und deren Besitztümern hatte ihn zu einem windigen, ausgefuchsten und geldbesessenen Egoisten gemacht. Das Geschäft mit der Liebe und der Lust hingegen hat ihn in einen liebevollen und fröhlichen Menschen verwandelt. Ich bin stolz auf ihn.

Beim Bezahlen der Eintrittskarten bekommen wir einen Plan der Anlage in die Hand gedrückt, und wir machen uns an den Aufstieg. Es ist sehr beschwerlich für meine alten Knochen, die Stufen hochzukommen. Immerhin gehe ich langsam, aber sicher auf den Siebziger zu, und diesmal kann ich nicht behaupten, dass es wilde Siebziger werden. Zum Glück tut das warme Wetter meinen Gelenken gut, außerdem habe ich die geschwollenen Knöchel regelmäßig mit Topfenwickel und den entzündeten Schleimbeutel im Knie mit Eisenkrautwickel behandelt. Dazu noch eine Tasse Schafgarbentee am Tag und die Beschwerden wurden zunehmend leichter. Diese Maßnahmen sind zwar zeitaufwendiger als der schnelle Griff zur Schmerztablette, dafür aber auch nachhaltiger. Mit Gottes Hilfe wird der Sommer nicht zu feucht, und meine Knochen können sich während der warmen Jahreszeit erholen.

Als ich oben bin, puste ich dennoch ziemlich. Meine Kondition war schon einmal besser. Ein erster Blick über das Geländer des Weges beschert mir ordentliche Schwindelgefühle.

»Du kippst mir nicht um, Mama!«, mahnt mich Raphael und schnappt meinen Arm.

Er hat wohl Angst, dass ich kollabiere. Das wundert mich nicht, da ich durch die Ereignisse der letzten Monate wirklich etwas wacklig auf den Beinen bin. Zuerst der grausige Mord in Maria Schmolln, als ich meine liebe Freundin Clara besucht habe und bei dem ich selbst in Gefahr geraten bin, bevor ich den wirklichen Täter ausmachen konnte. Und jetzt Daniela 

»Keine Sorge, es ist nur die Höhe«, beruhige ich ihn und schließe einen Moment die Augen. Ich stelle mir vor, dass dieser Weg nichts anderes ist als eine Holzbrücke. Schon geht es mir besser. Immerhin habe ich keine Scheu, im Ibmer Moor und rund um den Ibmer See über schmale Bretterstege zu gehen. Ich sehe erneut nach unten, und diesmal finde ich die Höhe nicht mehr beängstigend, sondern bin beeindruckt, welchen Unterschied die paar Meter machen. Der Wald wirkt ganz anders, wenn man ihn von oben aus erkundet. »Auf geht’s«, sage ich fröhlich, und wir wandern los.

Nach ein paar Metern schmücken bereits die ersten Lampions den Weg, und wir erreichen die erste Erlebnisstation. Vom Barfußweg über ein Labyrinth bis zur Riesenrutsche wird einiges geboten. Dazwischen hängen immer wieder Süßigkeiten im Geäst der Bäume. Angebrachte Tafeln mit Wissenswertem oder kleinen Geschichten ergänzen die Stationen. Die meisten Leckereien sind eindeutig auf den Geschmack der Kinder abgestimmt: Lutscher, Schokolade und Zuckerstangen baumeln herab. Trotzdem habe ich auch ein Nuss-Nougat-Waffelröllchen entdeckt und es mir gleich geschnappt. Diese Amicelli mag ich zwar am liebsten zu einem Espresso, aber zur Not nasche ich sie auch so. Auch Mariella, die nach ein paar Schritten in Raphaels Tragetuch erwacht ist, hat bereits ordentlich Süßes getankt und läuft nun selbst aufgeregt vor ihren Eltern her. Der Zuckerschock lässt grüßen. Kalina und Raphael schlendern händchenhaltend hinter der Kleinen, und ich bilde das Schlusslicht.

Der Nachmittag schreitet voran, und obwohl bereits der Frühsommer im Lande ist, wird es im Wald schneller dunkel als auf dem Feld. Die Lampions leuchten bereits schön bunt im leichten Dämmerlicht, und das Käuzchen schreit sein lautes »Huhu« durch das Dickicht. Da höre ich ein paar Schritte hinter mir ein verzweifeltes Jammern. Ich drehe mich um. Ein kleiner Junge steht auf der Aussichtsplattform und angelt gerade nach einem Riegel Kinderschokolade, während seine Eltern an die Brüstung gelehnt in ihre Smartphones vertieft sind und nicht sehen, dass ihr Sprössling sich gefährlich weit nach vorne lehnt. Manche Eltern verstehe ich wirklich nicht. Wären sie nur ein wenig aufmerksamer, dann würde sich der Kleine nicht wegen einem Bissen Schokolade in solche Gefahr begeben.

»Warte, mein Junge. Ich helfe dir.« Lauter als nötig sage ich: »Wenn deine Mama keine Zeit hat.« Doch die junge Frau zuckt nicht einmal mit der Wimper, sondern wischt nur weiter hektisch auf dem Bildschirm herum.

Ich reiße ihr nicht das Handy aus den Fingern, sondern mich zusammen und lächle den Knirps an. Dieser klatscht begeistert in die Hände. Die Kinderschoki hängt selbst für mich fast zu weit weg. Ich bin nun einmal keine besonders große Frau, und die Jahre auf meinem Buckel haben mich ein paar Zentimeter schrumpfen lassen. Auf Zehenspitzen strecke ich mich der Schokolade entgegen und erwische sie schließlich.

»Rosi, kommst du? Wollen noch essen gehen!«, ruft Kalina nach mir.

»Gleich«, antworte ich und reiche dem Jungen die Süßigkeit. Doch anstatt die Schokolade aus dem Papier zu wickeln und zu essen, deutet der Kleine wieder in Richtung der Äste und sieht mich mit großen Augen an. Ich runzle die Stirn.

»Da, Oma, die Puppe!«, sagt der Junge.

»Puppe?«, frage ich. Von Spielzeug in den Baumkronen war im Flyer keine Rede, aber vielleicht hat der Bub sie ja in die Äste geworfen und möchte sie nun zurück. Also beuge ich mich wieder nach vorne und sehe in die Zweige.

»Da!«, sagt der Bub und deutet nach unten.

Ich drücke den großen Ast zur Seite, an dem vorhin noch die Schokolade hing. Mein Blick wandert hinab. Die Zeit steht still. Ich sehe den Schrecken unwirklich klar vor mir, und gleichzeitig verschwimmt die Umgebung zu einem grünen Durcheinander. Mein Herz schlägt schneller und schneller. Das Blut rauscht in meinen Ohren wie die Salzach bei Hochwasser. Ich schlucke. Und dann … dann schreie ich so laut ich kann.

Alles Ungute kommt von oben

Beruhigender Lavendeltee

Lavendeltee wird im Unterschied zu anderen Teesorten nie mit kochendem, sondern nur mit 80 Grad heißem Wasser zubereitet. 1 TL Lavendelblüten ca. 3 Minuten ziehen lassen, abseihen und trinken.

»Was ist passiert?«, fragt Raphael besorgt. Er ist sofort herbeigelaufen.

»Ein Toter!«, japse ich nur und zeige in die gleiche Richtung, in die der kleine Junge gedeutet hat. Raphael runzelt die Stirn und zuckt ratlos die Schultern. Auch Kalina ist endlich bei mir angekommen und drängt sich zwischen den wach gerüttelten Handyeltern durch. Die zappelnde Mariella hält sie auf ihrer Hüfte fest.

»Rosi sieht nur noch Tote. Wahrscheinlich ein Lampion«, sagt sie und blinzelt dabei ins Geäst.

»Nein!«, antworte ich empört und werfe die Hände hoch. Neben mir weint der kleine Junge.

Raphael biegt endlich den Zweig zur Seite. »Heilige Scheiße«, keucht er erschrocken.

Ich wage es, die Leiche genauer anzuschauen. Mir wird schlecht. Mit einem Strick um den Hals hängt ein Mann im Geäst. Sein Gesicht ist blau und aufgedunsen, und es ist im ersten Moment schwer zu sagen, wie alt er ist. Aber anhand der Kleidung würde ich auf einen Teenager oder einen Jungen um die zwanzig tippen. Auf dem Kapuzensweater grinst makabererweise ein Totenkopf mit roten Herzaugen. Obwohl mir übel ist, zwinge ich mich dazu, genauer hinzusehen. Immerhin habe ich schon Schlimmeres erlebt.

Ja, jetzt bin ich mir sicher, dass ein junger Mensch da hängt. An seinem Handgelenk erkenne ich eine flache Handyuhr, er trägt rote Turnschuhe mit weißen Bändern und so eine schreckliche Hose, die so tief sitzt, dass man den halben Hintern sehen kann. So kleidet sich kein Mann über dreißig. Was ist dem armen Jungen nur zugestoßen? Ich schüttle den Kopf. Warum stolpere ich dauernd über den Tod? Verfolgt er mich, oder ist es mein Schicksal, den Toten Beachtung zu schenken, wo andere sie übersehen?

Selbst die Handyeltern interessieren sich jetzt für die Leiche. Sie beginnen doch glatt Fotos von dem Toten zu knipsen.

»Seid ihr total bescheuert? Ruft die Polizei, anstatt blöd zu fotografieren!«, herrsche ich die beiden an.

»Scho guat. Flipp net glei aus, Oide«, gibt der Vater zurück und wählt endlich die Notrufnummer.

Unter normalen Umständen würde ich dem Kerl die Leviten lesen. Niemand nennt mich eine Alte, auch wenn ich das in Wirklichkeit bin. In der gegebenen Situation aber halte ich mich zurück. Die junge Mutter steckt währenddessen endlich ihr Smartphone weg und nimmt ihren schluchzenden Sohn auf den Arm.

»Do hot sich wer dahängt. Im Baumkronenweg. Müssts wohl kemma und den obaschneidn!«, mault der Vater ins Telefon.

Ich kann angesichts solcher Emotionslosigkeit nur den Kopf schütteln. »Lass lieber mich telefonieren«, unterbreche ich und nehme dem Mann das Telefon aus der Hand.

»Pass fei auf, des ist des neue iPhone«, mahnt dieser.

Ich seufze.

»Bitte wiederholen Sie«, fordert mich da der Polizist am anderen Ende der Leitung auf. Ich sammle meine Gedanken und beginne das Gespräch von vorne. »Bleiben Sie vor Ort und berühren Sie nichts!«, sagt er zu mir. Ich nicke, obwohl er mich durchs Telefon nicht sehen kann. »Wollen Sie lieber in der Leitung bleiben, bis die Einsatzkräfte bei Ihnen sind?«, fragt mich der Polizist.

Wahrscheinlich hat er mein Schweigen falsch gedeutet und hat nun Angst, dass ich verschwinden oder vielleicht umkippen könnte. »Schon gut, ich bin nicht allein hier. Ich komme zurecht. Alle bleiben, wo sie sind, und verändern nichts am Tatort.« Damit lege ich auf und gebe das Telefon dem jungen Vater. Dieser wischt mit dem Ärmel seines Sweaters das Teil ab, als hätte ich es mit dem Telefonat irgendwie schmutzig gemacht.

»Ihr habt es gehört. Alle bleiben hier und fassen nichts an«, wiederholt Raphael im Befehlston mein Gespräch. Sein strenges Auftreten lässt, trotz rosa Babybeutel vor der Brust, keine Zweifel aufkommen. Raphael wird keinen Widerstand dulden. Er stemmt die Hände in die Hüften und fixiert die beiden Eltern mit eiskaltem Blick. Die beiden murren, trauen sich aber nicht, zu widersprechen. »Ich stelle mich ein paar Schritte weiter hinten hin und verhindere, dass weitere Baumkronenweg-Besucher hierher kommen«, sagt Raphael schließlich und marschiert los.

Es dauert eine Viertelstunde, bis endlich die Polizei anrückt. Schon als er um die Ecke biegt, erkenne ich Kurt an seinem Gang. Seit er die Hälfte seines Bauchspecks verloren hat, sieht er richtig attraktiv aus. Er ist immer noch ein Bär von einem Mann, aber eben kein runder mehr, sondern ein durchtrainierter. Man merkt sofort, dass in der Uniform eine gehörige Portion Muskelraft verpackt ist. Kurt hat außerdem dieses lässige Schlendern, wie ein Cowboy aus einem Western, nur dass es bei Kurt weder aufgesetzt noch übertrieben wirkt, sondern natürlich. Schon als kleiner Bub hatte er diesen Schritt drauf, und als er damals mit meinem Raphael durch die Felder gestreift und mit einem Holzgewehr auf Feldhasen gezielt hat, mussten mein verstorbener Mann Horst und ich oft schmunzeln. Entweder er wird mal Sherriff oder Bandit, haben wir dann gesagt und Wetten über Kurts Zukunft geschlossen. Ich habe gewonnen. Kurts gute Seite hat gesiegt, trotz seines grimmigen Gesichtsausdrucks, des Cowboy-Gangs und der ernsten Sorgenfalten auf der Stirn.

»Rosi«, sagt er knapp, als er vor mir steht.

»Kurt«, antworte ich und spüre, wie ein Gefühl der Beklemmung mein Herz umschließt.

»War ja klar, dass du nicht einmal einen Familienausflug machen kannst, ohne in irgendeine schmutzige Geschichte verwickelt zu werden«, spricht Kurt aus, was mich seit Längerem beschäftigt.

»Ich kann nichts dafür. Der kleine Junge hat den Toten entdeckt«, verteidige ich mich, obwohl es keinen Anlass dazu gibt. Da lächelt Kurt traurig und streift meine Schulter freundschaftlich mit seiner. Einen kurzen Moment kann ich hinter seine professionelle Fassade schauen und den Mann erkennen, in den sich Daniela verliebt hat. Er will beschützen, und der Umstand, dass er weder Daniela helfen noch mich von diversen Leichen fernhalten kann, muss ziemlich an seinem Ego nagen.

»Na, dann wollen wir mal«, sagt er und wendet sich seinen Kollegen zu. Andrea, seine Partnerin, beginnt die Plattform abzusperren. Wir müssen ans andere Ende des Steges gehen, während die Polizisten hinter die Zweige blicken.

Das Verhör dauert nicht lange. Unsere Daten werden aufgenommen, und ich muss schildern, wie ich den Toten gefunden habe.

»Was, glaubst du, ist passiert?«, hake ich nach und nicke in Richtung der Leiche.

»Wahrscheinlich wonach es aussieht«, antwortet er knapp.

Er erinnert mich in diesem Moment an Horst. Wenn etwas watschelt, schnattert und aussieht wie eine Ente, ist es wahrscheinlich eine, hat mein Mann immer gesagt. Kurt denkt wohl ebenso.

»Sag Daniela bitte, dass es heute später wird. Ich beeil mich«, sagt Kurt und schickt uns damit nach Hause. Zum Abschied tippt er sich nur kurz an die Kappe. Ich hebe die Hand zum Gruß, und wir gehen.

Der Ausflug ist vorzeitig beendet, der Baumkronenweg bis auf Weiteres gesperrt, das Sommerfest vorüber und die Stimmung am Boden. Als wir wieder in Raphaels Lexus steigen, scheint es, als würde die Leiche noch über uns baumeln und uns die ganze Fahrt lang begleiten.

»Ham, ham!«, jault Mariella und deutet auf ihren Mund.

Es ist erstaunlich, wie sehr kleine Kinder im Moment leben. Eben noch hing sie verängstigt in Kalinas Armen und wusste nicht, warum die Leute so aufgeregt umherirrten, und nun zeigt sie uns mit einer beeindruckenden Selbstverständlichkeit, dass das Leben weitergeht und der Hunger vor dem Tod nicht haltmacht.

»Wir sind bald zu Hause, und dann gibt es etwas für dich«, tröstet Kalina sie und gibt ihr zur Überbrückung ein paar Maisflips und Reiswaffeln. Das Schweigen im Wagen wird nur durch Mariellas leises Schmatzen unterbrochen.

»Ob Kurt uns heute noch mehr erzählt?«, frage ich schließlich.

»Wird wohl Selbstmord gewesen sein«, gibt Raphael ruhig zurück.

»Ich weiß nicht«, antworte ich. »So ein junger Bursche …«

»Vielleicht hatte er Liebeskummer? Auch junge Menschen können Probleme haben und in einer Kurzschlussreaktion einen Suizid begehen. Jeder hat Sorgen. Kümmern wir uns lieber um unsere eigenen und lassen Kurt das mit dem Selbstmörder lösen.«

Ich sehe verdutzt meinen Sohn an. Normalerweise reagiert er nicht so abgebrüht. Konzentriert lenkt er das Auto, und sein Gesichtsausdruck sagt mir eindeutig, dass er nicht länger darüber reden will.

Wir nähern uns meinem kleinen Häuschen. Rauch steigt trotz der milden Temperaturen aus dem Schornstein.

»Ich hab noch Reisauflauf mit Rosinen im Rohr stehen. Da könntet ihr etwas davon haben«, biete ich beim Aussteigen an.

Zum Glück willigt Kalina gleich ein und folgt mir mit Mariella. Auch Raphael ergibt sich dem Wunsch seiner Frauen und kommt mit, obwohl ich weiß, dass er Daniela eigentlich aus dem Weg gehen möchte. Dankbar lächle ich meine Schwiegertochter an. Ich verspüre das dringende Bedürfnis, die drei noch ein Stündchen bei mir zu haben, bevor es Zeit fürs Bett wird. Der Anblick des toten Jungen hat mich daran erinnert, wie wichtig es ist, jeden Moment miteinander zu verbringen, der uns vergönnt ist. Außerdem habe ich Angst, zu tief ins Grübeln zu geraten. Warum nur nimmt ein Mensch sich das Leben und wirft damit das Kostbarste weg, das uns der Herrgott geschenkt hat? Und warum reißt das Schicksal andere, die vielleicht gern gelebt hätten, so früh aus dieser Welt?

Egal, wie alt du wirst, du wirst wohl nie damit aufhören, mit Gott und dem Universum zu hadern. Doch Hadern bringt nichts. Schau lieber darauf, was du tun kannst. Du bist nicht zum Herumsitzen und Nachgrübeln geboren, Rosi, sondern zum Tun!, höre ich Horsts Stimme in mir. In meinen schwierigsten Momenten ist er immer noch da. Trotz Sepp, meiner zweiten großen Liebe, bleibt mein verstorbener Ehemann mein innerer Ratgeber.

Drinnen im Wohnzimmer ist es gemütlich. Sepp, Daniela und Gitti sitzen vor dem Kachelofen. Es riecht nach Beruhigungstee. Daniela hat die Wolldecke um sich geschlungen und hockt mit angewinkelten Knien auf dem Sofa. Sie sieht wesentlich besser aus als bei meiner Abreise.

»Schon zurück? Du traust uns wohl gar nichts zu. Nicht mal einen ganzen Nachmittag Tochtersitten«, meint Gitti scherzhaft.

»Mir ist nicht nach Späßen zumute. Überall, wo ich hinkomme, treffe ich auf den Tod«, entgegne ich ernst.

Sepp horcht auf. »Was ist passiert?«, fragt er besorgt.

Und ich beginne zu erzählen. Während Raphael und ich die Ereignisse schildern, wärmt Kalina für Mariella den Auflauf in der Stube auf.

»Ach Gott, ihr Ärmsten«, sagt Gitti schließlich.

Und dann warten wir gemeinsam. Wir warten auf Kurt und auf Neuigkeiten. Bald schon sind alle im zu warmen Wohnzimmer eingenickt, und nur Sepp und ich sind noch wach. Er rückt an meine Seite und legt den Arm um mich. Ich lehne mich an ihn. Gut riecht er. Nach Geborgenheit. Nach Wärme. Nach Liebe. Ich schließe die Augen.

»Und wie geht es dir?«, fragt er sanft.

Ich richte mich auf und will gerade antworten, als Kurt zur Tür hereinkommt. »Tja«, beginnt er, noch bevor ich ihn fragen kann, »die Leute im Ort sind sich einig. Der gstörte Gustl hat sich endlich aufgehängt.«

Ich höre das »Aber« in seiner Aussage so laut und deutlich, als hätte er es ausgesprochen. Kurt wirft seine Kappe auf den Tisch und geht neben Daniela in die Hocke. Sie streicht ihm durchs Haar. Kurt brummt leise. Ich weiß nicht, wer gerade wen tröstet, aber beide sehen danach aus, als hätten sie Trost dringend nötig. Dann setzt Kurt sich schweigend hin und beginnt den Rest des Auflaufs direkt mit dem Löffel aus der Rein zu essen. Ich spare mir einen Kommentar bezüglich Tischmanieren. Wer weiß schon, wann Kurt den letzten Happen zwischen die Zähne bekommen hat. Dann nimmt er auch noch den Aufsatz von Mariellas Schnabeltasse und trinkt ohne mit der Wimper zu zucken den restlichen Kakao. Zufrieden wischt er sich den Mund mit dem Handrücken ab.

»Also sicher Selbstmord?«, frage ich.

»So sicher man halt sein kann, wenn jemand nicht ganz richtig im Kopf war. Da ist die Sachlage immer schwierig. Außerdem mauert die Familie, besonders die Mutter, die Anneliese. Die Leute behaupten, dass der Bub eine Schande für die Walkners war. Ich glaube aber, dass der Schock gerade zu tief sitzt und sie deshalb nichts sagen. Es muss schlimm sein, wenn der geistig kranke Sohn sich trotz aller Bemühungen das Leben nimmt. Ich verstehe ihr Schweigen gegenüber der Polizei irgendwie. Es bräuchte vielleicht eine andere Art von Vertrauensperson … eine verständnisvolle, ältere, aufmerksame Oma-Figur vielleicht und keine bedrohlichen Polizisten, um sie zum Reden zu bringen.« Kurt zieht die Augenbrauen hoch und schaut mich eindringlich an.

»Du willst doch nicht etwa, dass ich mit der Familie rede?«, frage ich verdattert.

Er zuckt die Schultern und presst die Lippen aufeinander, als würde er darauf warten, dass ich mich aufdränge. »Warum nicht?«, meint er dann.

»Freilich nicht«, wirft Sepp empört ein. »Du hast mit knapper Not beim letzten Mordfall überlebt, Rosi. Wir waren uns doch einig, dass du in Zukunft mehr auf dich und deine Familie schaust.«

»Damals war es ein Mordfall. Diesmal deutet alles auf Selbstmord hin, und wir würden einfach gern mehr von den familiären Hintergründen verstehen. Dann könnten wir den Fall zügig abschließen. Rosi wäre uns bestimmt eine große Hilfe«, erklärt Kurt sachlich.

»Ich mach es«, sage ich schnell, bevor mich der Mut verlässt und ich mich, gegen meinen eigenen Willen, Sepps Wünschen beuge.

»Nein«, tönt es von drei Seiten. Gitti, Sepp und Raphael sind sich anscheinend einig. Daniela schweigt, und Kalina nimmt meinen Entschluss einfach als gegeben hin. Ich meine sogar, Daniela ganz leicht nicken und lächeln zu sehen. Sepp aber funkelt mich wütend an. Wahrscheinlich müssen wir heute noch ein längeres Gespräch miteinander führen.

»Prima. Das freut mich«, sagt Kurt.

In meinem Bauch kribbelt es vor Aufregung. Rosi ist wieder unter den Ermittlern und diesmal im Auftrag der Polizei.

A Mord is a Mord

Wald als Heilmittel

Positive Effekte einer Waldwanderung: Blutdrucksenkung durch beruhigende Wirkung. Duftstoff, Luftfeuchtigkeit und Kühle öffnen die Lungen und befreien die Atmung. Das Grün entspannt gestresste Augen und das Rascheln der Blätter den Geist.

Schon am frühen Morgen fahren Kurt und ich los. Kopfing, lautet unser Ziel, aber diesmal wird es kein lustiger Nachmittagsausflug. Der Familie des Verstorbenen gehört ein großer Hof am Rande des Ortes, das Walkner-Gut. Und Walkner August, der gstörte Gustl, wie ihn die Bevölkerung rief, war der älteste Sohn der Familie. Siebenundzwanzig Jahre jung, aber durch seine geistige Beeinträchtigung auf dem Stand eines Pubertierenden. Nie hatte er einen Beruf gelernt und nur zu den wenigen Zeiten, in denen er klar im Geiste war, in der geschützten Atmosphäre einer Behinderten-Werkstätte gearbeitet. Er war das Gespött des Dorfes. Der Dorfdepp, den niemand ernst nahm und der maximal zum Straßenkehren oder als Unterhaltung für die sogenannten Normalen gut war. Ich kenne solch arme Kerle. Früher gab es in jeder Ortschaft mindestens einen Menschen, der beeinträchtigt war. Heute sind Behinderte zu einer Besonderheit geworden, was vermutlich mit der Entwicklung der vorgeburtlichen Untersuchungen zusammenhängt.

Der Gustl hatte es bestimmt nicht leicht und seine Familie auch nicht. Während der Fahrt zum Hof informiert mich Kurt, welche Geschichten sich im Dorf rund um den dümmlichen Jungbauern ranken.

»Tja, dass der Gustl nicht ganz normal war, hat sich anscheinend schon früh herausgestellt. Schon im Kindesalter war er einfach anders als der Rest. Die Leute haben ihn schnell zum Dorftrottel abgestempelt, und seine Eltern haben ziemlich darunter gelitten, dass der Junge immer wieder Blödsinn getrieben hat. Außerdem war Gustl öfter in der Jugendpsychiatrie. Anscheinend konnte er ziemlich ausrasten und hat sich auch mit Jüngeren, ja sogar mit Kindern angelegt, wenn ihm jemand dumm kam. Von einem vermeintlichen Selbstmordversuch hat man mir auch erzählt, wobei sich die Nachbarin nicht sicher ist, ob der Gustl nur am Bahngleis spielen oder sich das Leben nehmen wollte.«

»Dann weißt du schon eine Menge über den August«, stelle ich fest.

»Ja, aber nichts aus erster Hand«, meint Kurt und zieht dabei die Augenbrauen zusammen. »Die Eltern und der jüngere Bruder sagen kein Wort. Alles, was wir wissen, haben uns die Dorfbewohner erzählt. Ich hoffe, dass sie dir gegenüber offener sind.«

Der Vierseithof ist größer als alle umliegenden Bauernhöfe bei mir zu Hause. Beim ersten Hinsehen kommt mir etwas seltsam vor, aber ich weiß nicht auf Anhieb, was mich stört. Wie im gesamten Innviertel handelt es sich um vier große Gebäude, die quadratisch angeordnet und durch vier Tore verbunden sind. Ich sehe genauer hin, und da fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Die Dächer passen nicht zusammen. Anscheinend wurde der Stall in den letzten Jahren neu gebaut. Er sticht hervor, sein Dach ist nicht pyramidenförmig wie bei den anderen Gebäuden, sondern pultförmig. Ansonsten aber entspricht der Hof ganz dem typischen Bild eines Vierblattlers. Eindrucksvoll steht er für sich allein auf einer großen Lichtung, und anscheinend gibt es auch keine direkten Nachbarn, so wie ich es bei mir daheim gewohnt bin. Dafür umgeben ihn bewaldete Hügel.

»Wo wohnt denn diese Nachbarin, von der du so viel weißt?«, frage ich Kurt, als er in die Zufahrt einbiegt.

»Hinter dem Wäldchen dort drüben«, antwortet er und nickt leicht nach rechts.

Ich sehe hinüber, kann aber hinter der Wiese nur Bäume entdecken. Ein Wäldchen stelle ich mir anders vor. Meiner Ansicht nach ist das ein richtiger Forst, der auf dem großen Hügel zwischen den Gehöften liegt. Ich kann nicht weiter nachfragen, schon fahren wir durchs Tor in den Innenhof. Wir parken neben einem nagelneuen Mercedes Coupé. Mit dem Abstellen des Wagens endet die Idylle abrupt. Wir werden durch lautes, aggressives Hundegebell begrüßt. Ein riesiger Berner Sennenhund springt am Auto hoch und bleckt die Zähne. Ich mag Tiere, auch Hunde, aber bei so einem Empfang wird mir doch etwas mulmig.

»Rambo, aus!«, brüllt eine nicht weniger wütend klingende Stimme. Ein hagerer Mann, Ende fünfzig, in Gummistiefeln, blauer Latzhose und mit einer Mistgabel in der Hand, schlurft aus dem Kuhstall. Wenn ich seinen Gesichtsausdruck betrachte, dann kommt mir das fletschende Hundevieh geradezu freundlich vor.