Zwei Thomas West Kriminalromane: Alte Leichen / Die schöne Russin

Thomas West

Published by Cassiopeiapress/Alfredbooks, 2018.

Inhaltsverzeichnis

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Die schöne Russin | Thriller von Thomas West

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Prolog: Spittal, Österreich - Spätsommer 1984

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ENDE | Thomas West | Alte Leichen | Ein Jesse Trevellian Roman

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Die schöne Russin

Thriller von Thomas West

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Der Umfang dieses Buchs entspricht 235 Taschenbuchseiten.

Ein Österreicher hat als Informatiker Karriere im Silicon Valley gemacht. Seit er als Kind Zeuge eines Banküberfalls wurde, ist es sein Ziel, ein Sicherheitsprogramm für Banken zu entwickeln, das Überfälle verhindern soll. Bevor er seine geniale Software der >Transatlantic Traffic Bank< in New York anbieten kann, wird er beinahe Opfer eines Mordanschlags. Offenbar wollen nicht nur Gangster sein Computerprogramm stehlen, sondern auch ein Killer ist hinter ihm her.

Jesse Trevellian und seine Kollegen setzen alles daran, den Fall zu lösen - während die schöne wie undurchsichtige Russin Saskia nicht nur dem Ermittler gefährlich nahe kommt ...

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

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© dieser Ausgabe 2016 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.

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Prolog: Spittal, Österreich - Spätsommer 1984

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Die Bank lag in einer kleinen Seitenstraße, nicht weit vom Fluss - ein hässlicher Flachbau mit grauer Eternitfassade und ein paar verblühten Azaleentöpfen in den beiden ansonsten schmucklosen Fenstern.

Auf dem Vordach über der einflügeligen Eingangstür leuchtete in roten Neonbuchstaben der Name der Bank: >Raiffeisenkasse<. In fast jedem Kuhdorf der Hohentauern fand man diese schlichten Bankfilialen mit dem roten Namenszug an der Fassade oder auf dem Vordach - zweckmäßig und nach rein praktischen Gesichtspunkten konzipiert.

Bergbauern, Handwerker und Sägewerksbetreiber legten keinen Wert auf Bankgebäude, deren Architektur an Kathedralen oder antike Tempel erinnerte. Kirchen hatten auszusehen wie Kirchen und Banken wie Banken: Büros mit einem Kassenschalter eben. Ordentlich und ein wenig wie staatliche Behörden.

Die Dreitausender um das kleine Kreisstädtchen waren aufregend genug. Genau wie der Fluss, der während der Schneeschmelze manchmal zu einem reißenden Strom anschwoll, oder die anstrengende Landwirtschaft auf dem oftmals steilen Äckern und Weiden. Da konnten die Gebäude der öffentlichen Institutionen ruhig ein wenig Langeweile ausstrahlen. Und das taten die meisten Filialen der Raiffeisenkasse.

Dem Halbwüchsigen, der an diesem Vormittag mit feuchten Händen die Milchglastür zum Schalterraum der Bank aufdrückte, klopfte trotzdem das Herz.

Nicht, weil mit dem Betreten der Bank sechs katastrophale Minuten für ihn anbrachen - sechs Minuten, die sein Leben entscheidend prägen sollten. Das wusste der Dreizehnjährige zu diesem Zeitpunkt, als sich die Eingangstür der Bank scharrend hinter ihm schloss, noch nicht. Wer merkt das schon, wenn sich die entscheidenden Weichenstellungen des Schicksals vollziehen. Im Rückblick dann, sicher, im Rückblick sagt man: Dann und dann ist es geschehen. Jahre später würde auch der junge Wolf Amann das sagen.

Aber jetzt war er nur aufgeregt, weil er zum ersten Mal in seinem Leben Geld abheben wollte. Und zwar Geld, das ihm niemand geschenkt hatte. Geld, das er sich selbst verdient hatte. Mit seinen Händen, mit seinem Schweiß, mit eigener Kraft. Wolf Amann hatte die Sommerferien über als Küchenhilfe in einem Hotel gearbeitet: Geschirrspülen, Putzen, Mülleimer leeren und Kartoffeln schälen - vier Wochen lang.

Zwei Leute standen vor ihm am Kassenschalter. Eine junge Frau und ein Mann in den Vierzigern. Die Frau kannte Wolf flüchtig. Eine Kollegin der ältesten seiner vier Schwestern. Sie war Verkäuferin in einer Bäckerei schräg gegenüber. Er beobachtete, wie sie einen großen Geldschein unter dem Schalterglas hindurchschob. Der Kassierer auf der anderen Seite des Glases, ein dicklicher Endfünfziger in grauem Anzug, legte ihr ein halbes Dutzend Münzrollen in die Schublade.

Den Mann, der jetzt direkt vor ihm stand, kannte Wolf ebenfalls. Hannes Gastein. Er war in den ersten vier Schuljahren sein Klassenlehrer gewesen. Und hatte sich bei Wolfs Vater dafür eingesetzt, dass der Junge das Gymnasium besuchen konnte.

»Na, Wolf - Bankgeschäfte?«, lächelte er.

Wolf murmelte einen Gruß und nickte. Bankgeschäfte - das klang gut. Das klang sogar sehr gut. In seiner Brust schwoll etwas an, und er musste tief durchatmen, damit der Stolz ihm nicht als breites Grinsen aufs Gesicht kroch. Achttausend Schilling abheben - wenn das kein Bankgeschäft war!

Sein ehemaliger Lehrer lächelte immer noch. Und zog dabei fragend die Brauen nach oben.

»Hab' gejobbt in den Ferien«, erklärte Wolf, »und jetzt hol' ich's Geld.«

»Gratuliere.« Gastein machte ein anerkennendes Gesicht. »Größere Anschaffung geplant?«

Noch einmal holte Wolf tief Luft. Stereoanlage, neue Abfahrtski, Moped und anderes schoss ihm für Momente durch den Kopf.

Doch dann sagte er die Wahrheit.

»Einen Computer.«

Er hielt den Atem an, während er die Gedanken seines ehemaligen Lehrers auf dessen Gesicht zu lesen versuchte. Überraschung mischte sich in das Lächeln des Mannes. »Das ist eine lohnende Investition«, sagte er schließlich.

Eine lohnende Investition - Wolf platzte fast vor Stolz. Sein Vater hatte anders reagiert, als er ihn vor einem halben Jahr um Geld für einen gebrauchten Commodore gebeten hatte.

»Schmarren«, hatte sein Vater gesagt, »kommt mir nicht ins Haus, so ein Schmarren!«

Er war Schreinermeister und hatte einen kleinen Betrieb von Wolfs Großvater übernommen. Sein Lebenstraum: dass sein einziger Sohn die Schreinerei eines Tages übernehmen würde.

Wolfs Onkel, der Bruder seines Vaters, hatte ein gutes Wort für den Filius eingelegt. Er war Techniker beim Schieferbergwerk in der Nachbarstadt.

»Dem Computer gehört die Zukunft«, hatte er seinem Bruder in langen, feuchten Nächten auseinandergesetzt.

Und irgendwann hatte der alte Amann gesagt: »Von mir aus. Aber ich zahle keinen Groschen für so einen Schmarren. Sieh zu, wie du an das Geld kommst!«

Das hatte Wolf getan.

Und jetzt lagen fast achttausend Schilling auf seinem Konto.

Zusammen mit seinem Ersparten konnte Wolf damit sogar einen neuen Rechner kaufen.

Und genau das wollte er tun.

Die Frau raffte ihre Münzrollen zusammen und wandte sich vom Kassenschalter ab. Gastein nickte Wolf noch einmal zu, zückte seine Brieftasche und drehte sich zu dem Bankangestellten hinter dem Schalter um.

Und dann ging alles sehr schnell.

Die Frau stieß einen unterdrückten Schrei aus. Wolf sah die Augen des Kassierers sich weiten. Gleichzeitig mit Gastein fuhr er herum.

Das Mädchen stand wie festgewurzelt zwei Schritte vor dem Ausgang, mit hochgezogenen Schultern und die Hände mit der Geldtasche gegen ihre Brust gepresst.

Vor ihr ein Maskierter - rote Turnschuhe, schwarze Zimmermannshose, schwarzes Blouson, schwarze Wollmütze mit Augen und Mundschlitzen bis über das Kinn gezogen.

In seiner Rechten eine Flinte mit abgesägtem Lauf.

»Überfall!«, schrie er und stieß die junge Frau zurück in den Raum. »Keiner rührt sich, sonst knallt's!«

Er richtete die Waffe auf Wolf und Gastein.

»Hinlegen! Auf den Bauch!«

Der Kassierer war aufgesprungen und streckte die Arme in die Luft, als wäre dort eine unsichtbare Stange, an der er sich festhalten konnte. Sein Mund stand weit offen, und Wolf sah für einen Moment eine Reihe von Goldkronen in seinem Unterkiefer.

»Du auch!«, fuhr der Mann die Frau an. Wolf warf sich neben seinen ehemaligen Lehrer auf den Boden.

Plötzlich ein donnerndes Krachen über ihm.

Wolf hob unwillkürlich den Kopf.

Der Maskierte holte zu einem weiteren Schlag mit einem kurzstieligen Vorschlaghammer aus - die Scheibe vor dem Kassenschalter zersplitterte. Die Bruchstücke sausten in den winzigen Kassenraum.

Von dem Kassierer sah Wolf nur das leichenblasse Gesicht mit den weit aufgerissenen, starren Augen und die hoch gestreckten Hände. Er hatte sich bis an die Rückwand des Schalterraums zurückgezogen.

Der Maskierte zog eine Plastiktüte aus der Jacke. »Rein mit dem Geld!«

Wolf konnte seinen Blick nicht von dem Bankräuber losreißen. Breitbeinig stand der Mann drei Schritte vor ihm, vor der zertrümmerten Schalterscheibe, und hielt die abgesägte Flinte auf den Kassierer gerichtet.

Plötzlich sah er sich um. Für einen Moment nur blickte Wolf in das maskierte Gesicht - weite Pupillen zwischen zusammengekniffenen Lidern, und über der Oberlippe glänzte ein feiner Schweißfilm.

»Glotz nicht!«, schrie der Mann. Mit zwei raschen Schritten war er neben dem Jungen und trat zu.

Wolf drückte die Stirn auf den kalten Steinboden, schlang die Arme über Kopf und Nacken. Die Tritte trafen seine Ohren, seine Rippen, seine Nieren ...

»Hören Sie auf!« Gasteins heisere Stimme neben ihm.

Aus den Augenwinkeln sah Wolf, wie der Lehrer das Hosenbein des Maskierten umklammerte, sah, wie der taumelte, sah den kurzen Lauf des Gewehrs senkrecht nach unten in sein Blickfeld stoßen und auf Gasteins Kopf zielen.

Wolf schloss die Augen. Sein Körper krampfte sich zusammen, als der Schuss fiel.

Panik raste seine Beine hinunter, dann hinauf bis in seine Kopfhaut und wieder zurück in die Zehenspitzen.

Der Junge spürte nichts mehr - nicht seine schmerzenden Rippen, nicht den kalten Stein an seiner Stirn, nicht, wie sich sein Darm und seine Blase leerten.

Er sah auch nicht, wie der Maskierte dem Kassierer fluchend die Plastiktüte mit Geld entriss und aus der Bank stürmte.

Endlose Minuten später drang das sich nähernde Signalhorn der Gendarmerie in sein Bewusstsein. Und das Schluchzen der jungen Frau über ihm. Zitternd hob Wolf den Kopf.

Die Frau stand direkt vor ihm, beide Hände auf den Mund gepresst. Ihre tränenverhangenen Augen blickten nicht zu Wolf herunter, sondern zu Gastein.

Der Kopf des Lehrers lag in einer Blutlache. Sein Mund öffnete sich alle vier, fünf Sekunden, und er schnappte nach Luft. Sein Körper bäumte sich immer leicht auf dabei.

Der Kassierer kniete neben ihm. »Heilige Mutter Gottes«, flüsterte er immer wieder. »Heilige Mutter Gottes ...«

Wolf hörte sein Herz durch seine Brust galoppieren, als hätte es sich losgerissen. Sein Unterkiefer schien sich ebenfalls zu verselbstständigen, denn seine Zähne schlugen klappernd aufeinander. Die Gestalt des sterbenden Lehrers verschwamm vor seinen Augen.

Die Intervalle zwischen den schnappenden Atemzügen des Angeschossenen dehnten sich mehr und mehr. Während draußen Bremsen quietschten und Autotüren knallten, zuckte Gasteins Körper zum letzten Mal ...

Spät am Abend brachte ihn ein Polizeiwagen aus der Klinik nach Hause. Seine Schwestern und seine Eltern warteten vor dem Eingang des hell erleuchteten Fachwerkhauses. Und fast zwei Dutzend andere Bewohner des kleinen Bergbauerndorfes.

Im Schein der Außenbeleuchtung erkannte Wolf die glitzernden Spuren zwischen den Bartstoppeln seines Vaters. Nie zuvor hatte er ihn weinen gesehen.

Sie umringten ihn wie eine schützende Eskorte und führten ihn ins Haus.

Drei Tage lang sprach der Junge kein Wort. Stumm hockte er auf der Bank des großen Kachelofens und starrte vor sich hin. Er fand keine Worte, um das zu beschreiben, was er mit hatte ansehen müssen - große Pupillen in den Sehschlitzen einer schwarzen Wollmütze, ein Schweißfilm auf einer Oberlippe, einen sich gierig öffnenden Mund, das letzte Aufbäumen eines Sterbenden ...

Als er nach drei Wochen zum ersten Mal wieder das Haus verließ, begleitete ihn seine älteste Schwester hinunter in die Stadt. Mit zwei großen Paketen kehrten sie Stunden später zurück. Wolfs Herz klopfte, als der >Commodore< endlich auf seinem Schreibtisch thronte.

Von diesem Tag an ging Wolf wieder zur Schule. Äußerlich nahm sein Leben den gewohnten Gang. Abgesehen davon, dass er fast seine gesamte Freizeit vor dem Computer verbrachte.

Oft stand sein Vater außen an seiner Zimmertür und lauschte dem Klappern der Tastatur.

»Weißt du eigentlich schon, was du später einmal beruflich machen willst?«, fragte ihn eines Tages der Psychiater, der ihn in den zwei Jahren nach dem Banküberfall behandeln musste.

»Ja, das weiß ich«, antwortete Wolf, »das weiß ich sogar ganz genau.«

Er blickte in die fragenden Augen des Arztes und schwieg.

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Catskill Mountains, New York State, 20. September 1998

Etwa zwanzig Bootslängen vor mir huschte ein grauer Schatten über das flach abfallende Geröllfeld auf das Ufer des Flusses zu. Ich steuerte meinen Kajak näher an die gegenüberliegende Uferseite, legte das Doppelpaddel vor mir über mein Boot und beobachtete das Tier.

Es war ein Waschbär. Ein ziemlich fetter Bursche. Er trug einen länglichen Gegenstand in seiner spitzen Schnauze. Ich war noch zu weit entfernt, um seine Beute identifizieren zu können.

Am Ufer angelangt, griff sich der Waschbär das Ding in seinem Maul und tauchte es ins Wasser des Gebirgsflusses.

Langsam trieb mein Kajak näher.

Seit fünf Tagen hatte ich mich hier in der Wildnis der Catskill Mountains verkrochen. Fünf Tage ohne einen Menschen zu Gesicht zu bekommen, fünf Tage ohne Telefon, Hektik und die vierundzwanzig Stunden am Tag dröhnende Geräuschkulisse des Big Apple. Fünf Tage nur mit mir allein.

Ein ungeplanter Kurzurlaub. »Sie beide müssen mal eine Woche raus«, hatte unser Chef gesagt.

Die letzten Monate waren weiß Gott hart gewesen - wir hatten einen Waffenhändlerring gesprengt, einen Killer durch New York State verfolgt, der einen hochgefährlichen, bakteriologischen Kampfstoff aus Armybeständen geraubt hatte, und ein aufreibender Undercover-Einsatz an der Route 66 lag hinter uns.

Eine kleine Atempause war also angesagt.

Mit Streichhölzern hatten wir ausgeknobelt, wer zuerst fahren sollte. Ausnahmsweise hatte Milo mal den Kürzeren gezogen. Er würde seine Woche Urlaub nach mir antreten.

Mit beiden Pfoten drehte der Waschbär seine Beute im Wasser hin und her. Bis jetzt hatte er mich noch nicht entdeckt.

Er war nicht das erste Wildtier, dass mir in diesen Tagen über den Weg gelaufen war. Gestern hatte ich einen Rudel Rothirsche beobachtet. Und gleich in der ersten Nacht hatte ich tatsächlich einen ausgewachsenen Uhu gesehen.

Wie meistens in der ersten Nacht auf ungewohnter Matratze hatte ich nicht schlafen können. Am Flussufer hatte ich im Gras gelegen und fasziniert den glitzernden Sternenhimmel beobachtet. Im von Abermillionen Watt erleuchteten Manhattan kommt man selten in diesen Genuss.

Plötzlich war über mir die Silhouette der riesigen Eule aufgetaucht. Sie war lautlos über das Wasser gesegelt und dann wie ein Stein in die gegenüberliegende Uferböschung gefallen. Der Todesschrei einer Bisamratte oder eines Kaninchens, Flügelschlagen und das Rascheln fliehender Tiere im Unterholz. Fast eine halbe Stunde lang hatte ich beobachten können, wie der Uhu seine Beute kröpfte.

Bis auf etwa zehn Bootslängen kam ich nun an den Waschbären heran. Dann entdeckte er mich. Er stellte sich auf die Hinterbeine und beäugte mich kurz.

Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen, als ich die Beute zwischen seinen Vorderpfoten erkannte - ein knusprig braun gebratener Hühnerschlegel!

Im nächsten Augenblick schoss das Vieh die steinige Böschung hinauf und tauchte ins Unterholz des dichten Waldes ein.

Mir schwante Übles. Ich hatte keinen Camper, Angler öder Pfadfinder in der näheren Umgebung meiner Blockhütte gesehen. Also gab es nur eine mögliche Quelle für angebratene Hühnerbeine ...

Ich paddelte zum Ufer, zog den Kajak an Land und trug ihn hinauf an den Waldrand, wo ich ihn mit Ästen und Zweigen tarnte. Das Doppelpaddel nahm ich mit. Die Hütte lag keine zehn Minuten vom Fluss entfernt auf einer kleinen Waldlichtung. Sie gehörte Orry. Fast jeder aus unserem Team war hier schon einmal in Klausur gegangen. So manches Wochenende hatte ich auch zusammen mit Milo in dem urigen Holzhaus verbracht.

Schon von Weitem bestätigte sich mein Verdacht: Das Dachfenster stand offen. Eine Fichte streckte ihr Geäst bis dicht an das Ziegeldach der Hütte heran.

Als ich die Eingangstür aufstieß, gab es keinen Zweifel mehr: Der Tisch, auf dem ich das Mittagsgeschirr hatte stehen lassen, war leer gefegt. Auf dem Boden: zerbrochenes Glas, Scherben eines Tellers, Besteck und Essensreste, dazwischen angebissene Äpfel und zermanschte Bananen. Und vor dem Herd lag die Bratpfanne in einer fettglänzenden Soßenpfütze. Keine Spur mehr von dem Hühnerschlegel, den ich heute zum Abendbrot hatte essen wollen.

Ich trat wieder hinaus ins Freie.

»Mistvieh!«, brüllte ich in den Wald hinein.

Die nächste Stunde war ich mit Aufräumen und Putzen beschäftigt. Fluchend beseitigte ich das Chaos, das das räuberische Pelzvieh angerichtet hatte.

Danach hatte ich genug von der Einsamkeit. Nichts gegen Gebirgsflüsse, Naturromantik, Eulen und Rotwild - aber fünf Tage reichten. Ich musste mal wieder einen Menschen zu Gesicht bekommen, ein paar banale Sätze mit jemandem reden und mal wieder ein frisch gezapftes Bier trinken.

Der nächste Ort lag eine knappe Autostunde entfernt. Ich rasierte mich, wechselte Hosen und Hemd und holte meinen Sportwagen aus der Wellblechgarage neben der Hütte.

Ein paar Meilen ging es über holprige Waldwege, bevor ich endlich auf eine schmale asphaltierte Straße gelangte.

Links und rechts von mir zogen die Ahornbäume und Buchen vorbei. Erste orangene und ockerfarbene Flecken breiteten sich in ihrem grünen Laub aus. In spätestens drei Wochen würden sich die Wälder hier in ein atemberaubendes Farbenmeer verwandelt haben.

Nach über einer halben Stunde erreichte ich den Highway 28 und konnte endlich aufs Gaspedal treten. Und fünfundzwanzig Minuten später passierte ich den Ortseingang von Woodstock.

In der ortsansässigen Künstlerkolonie hatten hier vor dreißig Jahren einige Größen der Rockmusik gelebt. Jimmy Hendrix und Bob Dylan. Und wenn ich mich recht erinnerte auch Van Morrison.

Das legendäre Musikfestival, das den idyllischen Ort 1969 schlagartig berühmt machte, hatte allerdings sechzig Meilen südwestlich von hier stattgefunden. In Bethel. Ein paar alternative Wohngemeinschaften waren das einzige Überbleibsel dieser glorreichen Tage.

>Woodstock Pizza< verkündete der große Schriftzug auf einer der Holzfassaden eines großen Flachbaus. Genau das Richtige für mich. Ich stellte meinen Sportwagen auf dem Parkplatz ab.

Flüchtig glitt mein Blick über die Kennzeichen der parkenden Wagen: Connecticut, Maine, Ohio, Michigan - fast alle östlichen Bundesstaaten waren vertreten. Sogar texanische Kennzeichen entdeckte ich. Und ein Wohnmobil aus Kalifornien.

Vermutlich alles Altfreaks, die hierherkamen, um in Erinnerungen zu schwelgen.

Ich betrat das Restaurant. Der große Gastraum war nicht mal zur Hälfte gefüllt. Neben ein paar Waldarbeitern und Truckern schienen die meisten der Gäste tatsächlich Touristen zu sein. Genau wie ich.

Ich orderte eine Riesenpizza und Bier vom Fass. Auf einem leeren Stuhl lag die Sonntagsausgabe der >New York Times<. Ohne die Zeitung anzurühren, überflog ich die Schlagzeilen >Rechtsausschuss des Kongresses gibt die Videobänder des Präsidenten-Verhörs vor der Grand Jury zur Veröffentlichung frei< >Hurrikan George tobt auf der Karibik zu< ...

Das reichte mir. Ich beschloss, meine in den fünften Tag gehende Nachrichtenabstinenz noch ein Weilchen durchzuhalten. Die großen und kleinen Katastrophen konnten warten, bis ich mich übermorgen in der Federal Plaza zurückmelden würde. Als ich meine Lederjacke auszog und über die Stuhllehne hängte, fiel mein Blick auf das Handy. Es ragte aus der Innentasche heraus und schien mich vorwurfsvoll anzugucken. Ich hatte es auf Mailbox umgestellt und seit vier Tagen nicht mehr hineingehört. Trevellian in Urlaub - unerreichbar und nicht zu stören.

Ich zögerte.

Bis deine Pizza im Holzofen durchgebacken ist, kannst du ruhig mal in die Box hören, sagte ich mir. Um ehrlich zu sein: Es gab da eine gewisse Lady, über deren Anruf ich nicht ganz unglücklich gewesen wäre.

Also zog ich das lästige Gerät heraus und tippte die Nummer meiner Mailbox in die Tastatur.

Ich hätte es bleiben lassen sollen - wenigstens noch vierundzwanzig Stunden lang.

Drei Anrufe waren auf der Box gespeichert. Und einer tatsächlich von der gewissen Lady - Sarah Boyle. Ein paar Tage vor meinem Urlaub war ich zum ersten Mal mit der Nachrichtensprecherin von CBS essen gewesen. Leider wirklich nur essen. Jetzt teilte sie mir mit, dass sie vier Wochen an der Westküste zu tun hätte. Schade.

Der zweite Anruf von Orry Medina. »Ich hab' was vergessen, Jesse - du musst unbedingt darauf achten, die Fenster zu schließen. Ein Waschbär hat sich in der Nähe der Hütte angesiedelt. Ein verdammt frecher Bursche. Vor dem ist nichts sicher ...«

Ich verdrehte die Augen. »Vielen Dank, Kollege«, murmelte ich, »herzlichen Dank für die Warnung ...«

Der dritte Anruf schließlich von Mr McKee. Er hatte erst im Laufe des Vormittags versucht, mich zu erreichen. Im Telegrammstil bat mich unser Chef um Rückruf.

Es lag auf der Hand, was das zu bedeuten hatte: Mein Kurzurlaub war beendet!

Ich versuchte, meine Pizza und mein Bier zu genießen, so gut es eben ging. Danach rief ich die Zentrale in Manhattan an.

»FBI District Office New York, was kann ich für Sie tun?« Die Altstimme unserer Chef-Telefonistin. Nach fünf Tagen Einsamkeit in der Wildnis schien sie mir noch eine Spur erotischer zu klingen als sonst.

»Trevellian hier. Hi, Linda - wie geht's?«

»Hallo, Jesse! Hast du etwa Sehnsucht nach uns?«

So schlimm war es nicht. Aber ich konnte nicht leugnen, dass es mir guttat, eine vertraute Stimme zu hören. »Muss ich mal drüber nachdenken, Linda. Sicher ist aber, dass der Chef Sehnsucht nach mir hat. Er hat mir nämlich auf die Mailbox gesprochen. Kannst du mich mal eben mit ihm verbinden?«

»Mach' ich - bye, bye, Jesse!«

Ein paar Sekunden später die Stimme von Mr McKee. »Hallo, Jesse. Schön, dass Sie sich gleich melden. Tut mir wirklich leid, Sie im Urlaub stören zu müssen, aber ich hab' da ein Problem.«

Mein Verdacht schien sich also zu bestätigen. »Mein Urlaub ist zu Ende, stimmt's?«

»Na ja - so schnell noch nicht. Aber wenn Sie einen Tag früher zurückkommen könnten, wäre ich Ihnen dankbar. Ich habe keinen Agenten frei im Augenblick und brauche Sie dringend. Oder genauer gesagt: Norman Ruther braucht Sie.«

»Ruther? Was hat der denn für Sorgen?« Norman Ruther war Inspector der New York City Police und leitete die >Bank Robbery Task Force<. In dieser Spezialeinheit ermittelten Beamte der New York City Police und Agenten des FBI gemeinsam in Fällen von Bankraub. Insofern arbeiteten wir immer wieder eng mit Ruther zusammen. Ich kannte ihn gut.

»Das ist mit wenigen Worten am Telefon nicht zu sagen ...« Der Chef räusperte sich und legte eine Denkpause ein. »Vielleicht so viel: Es geht um einen jungen Informatiker, der eine brisante Software für Sicherheitssysteme in Banken entwickelt hat. Er hat sie verschiedenen Banken hier in Manhattan angeboten. Die >Transatlantic Traffic Bank< hat uns den Tipp gegeben. Der Mann läuft mit seiner Software in der Tasche herum, und die Bankleute glauben, man sollte ein Auge auf ihn haben. Norman und ich sehen das genauso.«

»Verstehe«, sagte ich, »und ich soll ihn observieren.«

»So ungefähr. Wenn die Software in falsche Hände gerät, wäre das fatal. Die Sache ist übrigens schon bis nach Washington vorgedrungen. Ich habe heute Morgen mit Director Sessions gesprochen. Es geht also um eine Chefsache, wenn ich das mal so formulieren darf.«

»Verstehe«, brummte ich. Obwohl ich nicht allzu viel verstand. »Wann soll ich zurückkommen?«

»Die >Transatlantic Traffic Bank< hat am Mittwochvormittag einen Termin mit dem Mann vereinbart. Wir sind gerade dabei, seinen Aufenthaltsort herauszufinden. Morgen werden wir sicher wissen, in welchem Hotel er abgestiegen ist. Ruther will dann vorübergehend ein paar Kollegen von der New York City Police in seiner Nähe postieren. Wenn Sie ihn spätestens ab Dienstag unter ihre Fittiche nehmen könnten, wären wir alle sehr beruhigt, Jesse.«

»Das heißt, ich sollte spätestens morgen Nachmittag an der Federal Plaza sein.«

»Wenn sich das machen ließe, wäre es wirklich fein, Jesse.«

»Okay, Sir, bis morgen.«

Fast alles lässt sich machen. Es ließ sich ja auch machen, mich in einen ungeplanten Urlaub zu schicken. Warum sollte ich ihn nicht ungeplant beenden, wenn die Firma rief.

Sicher - ich wäre gern noch einen Tag geblieben. Schon, um den räuberischen Waschbären aufzustöbern und ein wenig zu ärgern. Aber der Gedanke, in weniger als vierundzwanzig Stunden wieder zu Hause in Manhattan zu sein, hatte auch etwas für sich.

Ich griff mir nun doch die Zeitung und vertiefte mich in den Bericht über den Hurrikan. Im Laufe des nächsten Tages würde George die Dominikanische Republik erreichen. Weit über tausend Meilen entfernt von Woodstock. Die Menschen auf den Inseln dort hatten keine Möglichkeit, vor ihm zu fliehen.

Der Sturm, der sich über mir zusammenbraute, war noch knapp hundertfünfzig Meilen entfernt. Und statt zu fliehen, würde ich ihm morgen entgegenfahren.

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Moskau, 21. September 1998

Die Schulglocke schrillte, die Gesichter der Kinder hellten sich auf. Doch keiner der Schüler wagte es, seine Sachen zusammenzuräumen. Die Blicke der Jungen und Mädchen hingen erwartungsvoll an dem strengen Gesicht der hochgewachsenen jungen Frau vor der Tafel.

Saskia Borodin wandte sich um. »Notiert euch die Hausaufgaben.« Mit Kreide schrieb sie eine Seitenzahl an die Tafel und die Nummern der Aufgaben, die die Schüler bis zum nächsten Tag bearbeiten sollten. »Ich werde jedes Heft kontrollieren. Also - gebt euch Mühe! Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen!«, erklang es im Chor. Und gleich darauf schwirrten an die dreißig Kinderstimmen durch das muffige Klassenzimmer. Lachen, Rufen, Stühlerücken, Klappern von Stiften, Mäppchen und Taschenschlössern. Innerhalb weniger Minuten leerte sich das Klassenzimmer.

Saskia setzte sich an das Pult und nahm die große Hornbrille ab.

Sofort milderte sich der herbe Zug in ihrem schmalen, schönen Gesicht. Mit einer müden Handbewegung strich sie sich eine Strähne ihres blondierten Haares aus der Stirn und steckte sie zurück in den Nackenknoten. Dunkle Ringe lagen unter ihren großen grünen Augen.

Sie zog das Kassenbuch heran, um die Unterrichtsstunde zu protokollieren.

Aus den Augenwinkeln nahm sie die schmächtige Gestalt eines Mädchens wahr. Schweigend wartete die Zwölfjährige, bis Saskia das Buch zuklappte.

»Was gibt es, Jelena?«, fragte die Lehrerin.

»Was ist, wenn ich die Hausaufgaben nicht machen kann?« Das Mädchen sprach mit dünner Stimme.

»Warum solltest du sie denn nicht machen können?« Saskia runzelte die Stirn und musterte aufmerksam das blasse Gesicht der Kleinen.

»Ich ... ich muss arbeiten gehen ...«

Saskia hob den Kopf und sah der Kleinen in ihre schmalen braunen Augen. Eine Mischung aus Ängstlichkeit und Trauer flackerte darin.

Ich muss arbeiten gehen ... Saskia wich dem Blick des Mädchens aus. Sie wusste, was das für sie selbst bedeutete - arbeiten gehen. Was es für Jelena hieß, konnte sie nur ahnen. Mit der Mutter auf dem Markt Eier aus eigener Produktion verkaufen. Mit dem Bruder vor dem Hauptbahnhof die Schuhe von Regierungsfunktionären und skandinavischen Touristen putzen. Mit dem Vater in irgendein ominöses Fotostudio gehen und sich ausziehen. Oder Schlimmeres.

Saskia strich sich fahrig mit den Fingerspitzen über die Stirn. Als wollte sie die bedrückenden Vorstellungen aus ihrem Kopf vertreiben. »Versuch, wenigstens die Hälfte der Aufgaben zu erledigen«, seufzte sie schließlich.

Das Mädchen verstand. Sie deutete ein Nicken an, wandte sich ab und huschte aus der offen stehenden Tür des Klassenzimmers.

»Scheiße«, murmelte Saskia. Jelena unterschied sich von der Hälfte ihrer Schüler nur dadurch, dass sie halbwegs ehrlich war. Die anderen sprachen nicht über die Dinge, die sie davon abhielten, die Schule für wichtig zu halten. Nur Jelena.

Und eigentlich war es auch nicht Ehrlichkeit, das dieses leicht unterernährte, scheue Mädchen nach dem Unterricht immer wieder an den Pult ihrer Lehrerin trieb. Es war ein Hilferuf. Schlicht und ergreifend ein Hilferuf und weiter nichts. Saskia hatte Antennen für so etwas. Sie spürte es genau. Aber sie wollte es nicht wissen.

Morgen würde sie einen flüchtigen Blick in das Mathematikheft des Mädchens werfen und die fehlenden Hausaufgaben einfach übersehen. Sie selbst schätzte es auch nicht, wenn man ihr allzu genau auf die Finger sah. Niemand in Moskau schätzte das.

Zu Fuß lief sie durch die Innenstadt zur Metro-Station. Während sie die breite Treppe zu den Bahnsteigen hinabging, fummelte sie den ständig klemmenden Reißverschluss ihrer Umhängetasche aus abgewetztem Kunstleder auf. Sie zog ihren Fahrschein heraus und tastete nach dem kühlen Metall ihrer kleinen Walther-Pistole. Seit sie die Waffe bei sich trug, betrat sie die Metro-Stationen wesentlich unbefangener als früher.

Sie hatte die Pistole vor einem halben Jahr einem britischen Diplomaten abgenommen. Keine schöne Erinnerung. Der Mann hatte sie angezeigt. Das taten viele, die das Pech hatten, an sie zu geraten - der Brite aber war so weit gegangen, dass er sich an die Zeitung gewandt hatte. Unter falschem Namen natürlich und als angeblicher Geschäftsmann. Trotzdem musste Saskia ein paar Tage nach dem Raub in der >Prawda< ihre Personenbeschreibung lesen.

Das war ihr zuvor noch nie passiert. Die Wochen danach war sie nachts brav im Haus geblieben, und die Nachtclubs an der Twerskaja hatte sie sogar vier Monate lang gemieden. Obwohl man dort, an der Prachtstraße Moskaus, die meisten bargeldschweren Fremden treffen konnte.

Glücklicherweise konnte eine Personenbeschreibung Saskia Borodins immer nur eines ihrer vielen Gesichter schildern. Und glücklicherweise wuchs in Moskau das Gras schneller über solche Dinge als anderswo. Man konnte nicht sämtliche Raubüberfälle, Diebstahlsdelikte und Morde im Gedächtnis behalten, die hier Tag für Tag den Weg in die Zeitungen fanden. Am allerwenigsten die Polizei konnte und wollte das.

Wie meistens stieg Saskia in den letzten Wagen der U-Bahn. In einer der hinteren Sitzreihen fand sie einen freien Platz. Von hier aus konnte man die zusteigenden Fahrgäste im Auge behalten. Und Leute, von denen Gefahr ausgehen könnte, frühzeitig erkennen. Kahlköpfige Jugendliche in schwarzen Lederjacken, Straßenräuber, Sittenstrolche, Polizisten in Zivil.

Nicht, dass Saskia übermäßig viele schlechte Erfahrungen in der U-Bahn gemacht hatte. In den drei Jahren, in denen sie in Moskau arbeitete, war sie erst zweimal im Zug überfallen worden. Beide Male allerdings nachts. Einmal hatte ihr eine dreiköpfige Gang mit gezückten Messern ihre Brieftasche abgenommen, und das andere Mal war sie haarscharf an einer Vergewaltigung vorbeigeschrammt.

Misstrauen und Vorsicht waren Saskia einfach in Fleisch und Blut übergegangen. So, wie anderen Leuten das Schalten beim Autofahren. Ihre Kindheit und Jugend auf den Straßen St. Petersburgs waren für sie eine Art Ausbildung gewesen.

Sie holte einen Stapel Schülerhefte aus ihrer Tasche und begann, das Diktat zu korrigieren, das sie heute hatte schreiben lassen. Rasch flog ihr roter Stift über die hingekritzelten Zeilen, strich an, verbesserte, strich durch. Wie immer arbeitete Saskia schnell und ziemlich flüchtig.

Ihre Stelle als Lehrerin war für sie nicht mehr als ein Nebenjob, für den sie nicht mehr Zeit aufzuwenden pflegte als unbedingt nötig. Die paar Rubel, die er abwarf, konnte man vergessen.

Immerhin bot er eine bürgerliche Fassade. Hinter ihr verborgen konnte die Siebenundzwanzigjährige ihrem eigentlichen Job nachgehen. Und der lag heute noch vor ihr.

Nach fünf Stationen stieg sie aus. Erschöpft nahm sie Stufe für Stufe der Treppe, die sie von dem Bahnsteig hinauf in die Stadtrandsiedlung führte - trostlose Betonfassaden sechsstöckiger Mietblocks, einer neben dem anderen.

Nach fünf Fußminuten erreichte sie den, in dem ihre Zweizimmerwohnung lag. Nach dem galoppierenden Verfall des Rubels hätte sie mit ihrem Lehrergehalt gerade noch die Kaltmiete bezahlen können. Wenn der Staat das Geld einigermaßen regelmäßig überwiesen hätte.

Sie stieg in den dritten Stock hinauf, betrat ihre kleine Wohnung und warf die Tasche auf die Bettcouch. Decke und Kissen noch zerwühlt von den drei Stunden unruhigen Schlafs heute Morgen, das schwarze Nachthemd über der Klinke der offen stehenden Badezimmertür, auf dem niedrigen Tisch vor der Bettcouch: ein Porzellanbecher, halb voll mit kaltem Kaffee, butterverschmiertes Besteck, ein Teller mit Eierschalen und einem halben Stück Brot.

Auf der Wand hinter der Couch eine Fototapete: die nächtliche Skyline Manhattans - Saskias Traumstadt. Sobald sie genug Dollars zusammengespart hatte, wollte sie dort hinfliegen. Am liebsten zu Silvester 2000.

Saskia schaltete das Fernsehgerät in dem Wandregal am Fußende der Couch ein und holte sich zwei Äpfel aus der Küche. Während sie das Obst schälte, behielt sie die in dunkle Anzüge gehüllten Männer auf der Mattscheibe im Auge. Der neue Ministerpräsident stellte seine Regierungsmannschaft vor. Und sein Krisenprogramm.

Saskia winkte verächtlich ab und konzentrierte sich auf ihre Äpfel. Nur noch mit halbem Ohr hörte sie den Nachrichten zu. Irgendwo in Nordafrika war ein Flugzeug abgestürzt, die NATO rasselte Richtung Belgrad mit den Säbeln, und seit gestern musste man zwölf Rubel für den Dollar hinlegen.

Das allerdings ließ sie hellhörig werden.

Also bekomm' ich auf dem Schwarzmarkt mindestens fünfzehn Rubel pro Dollar, dachte Saskia. Vielleicht sogar achtzehn.

Sie ließ die Jalousie herunter, um die Nachmittagssonne auszusperren. Bis auf das Höschen ausgezogen, verkroch sie sich unter die Decke.

Der Fernseher lief weiter. Wie meistens, wenn sie zu Bett ging. Dann brauchte sie keine Schlafmittel. Sie stellte den Wecker auf halb neun Uhr abends.

Irgendein Hurrikan tobte in der Karibik auf irgendwelche Inseln zu. Der Name drang in ihr schon schläfriges Bewusstsein. Was für Namen die Amis den Stürmen in ihrer Gegend der Welt verleihen ... George - wie ihr erster Präsident ... Mit diesem Gedanken schlief sie ein.

*

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DAS KLAPPERN IHRER roten Pumps hallte von den Wänden der menschenleeren U-Bahn-Station, während sich das Rauschen des Zuges entfernte. Leichtfüßig sprang sie die Treppe hinauf. Wie immer wartete das Taxi schon vor der hell erleuchteten Fassade des Gagarin Krankenhauses.

Saskia ließ den Wagen nie vor ihrer Haustür warten. In den anonymen Mietblocks ihrer Wohnsiedlung kümmerte sich zwar kaum jemand um seinen Nachbarn - man grüßte sich ja nicht mal im Treppenhaus -, aber Saskia hielt es für besser, eine Station mit der Metro zu fahren, bevor sie ins Taxi stieg. Sie wollte vermeiden, dass sich am Ende doch noch jemand fragte, wie es sich eine Lehrerin leisten konnte, an zwei bis drei Abenden in der Woche mit dem Taxi zu fahren.

Der Taxifahrer stieg aus, ging um den Wagen herum und hielt ihr mit einer charmanten Geste die Beifahrertür auf. Bosiak, ein Jurastudent, der sich sein Studium mit Nachtdiensten hinterm Steuer verdiente.

Seine Augen glitten bewundernd über Saskias elegante Gestalt: Das weit über Schultern und Rücken wallende Blondhaar, kirschrot geschminkte Lippen in dem etwas trotzig wirkenden, ebenmäßigen Gesicht, schwarze Spitzenbluse, weit aufgeknöpft unter bordeauxrotem, kurzem Blazer, und enger Minirock in gleicher Farbe, der ihre unglaublich langen Beine enthüllte. Der Nachmittagsschlaf und geschickt aufgetragenes Make-up hatten die dunklen Schatten unter den Augen vertrieben, Kontaktlinsen die Hornbrille abgelöst - die Frau, die sich an Bosiak vorbei in den Volvo schwang, hatte kaum noch Ähnlichkeit mit der braven Lehrerin Saskia Borodin.

»Wie geht's, Bosiak?«

»Bestens, Saskia. Und selbst?«

Der etwas untersetzte, schwarzhaarige Mann startete den Wagen und steuerte die Innenstadt an. »Kann nicht klagen.«

Sie hielt ihm einen Hundert-Rubel-Schein hin, den er wortlos entgegennahm.

Die Fahrt verlief weitgehend schweigend. Die Bedingungen zwischen Bosiak und Saskia waren klar: Hundert Rubel für die Anfahrt und zehn Prozent der Beute am Ende der Nacht. Kein schlechtes Geschäft für den Studenten, zumal Saskia nicht die Einzige war, mit der er zusammenarbeitete.

Eine halbe Stunde später betrat Saskia das >Night Fever<. Gedämpftes Licht umfing sie. Die kehligen Klänge eines Saxophons schwirrten durch den Raum wie ein unsichtbarer Vogel. Auf der Tanzfläche drehten sich einige Paare. Blicke von der Theke, von den Tischen trafen Saskia, Gemurmel, Gläserklirren, vereinzeltes Gelächter hier und dort.

Der Nobelnachtclub an der Twerskaja-Straße war nur etwas mehr als halb voll. Völlig normal für diese Zeit, fast zwei Stunden vor Mitternacht. Erst nach zwölf würde sich hier Körper an Körper drängen.

Mit wiegenden Hüften schritt Saskia zur Theke, schaute dabei lächelnd nach rechts und links, taxierte die Männer, registrierte, wer Ausländer war und wer nicht, wer allein saß oder stand und wer sich schon im Bannkreis einer Frau aufhielt.

Ihr Rock gab das letzte Geheimnis ihrer Oberschenkel frei, als sie sich auf den Barhocker schwang. Jede Bewegung tausendfach geübt und ihre Wirkung unzählige Male erprobt Saskia musste sich nicht umschauen, um die Blicke zu bemerken, die gierig über ihre Beine, ihre Brüste, ihr Haar strichen. Saskia spürte solche Blicke.

Sie bestellte ein Glas trockenen Rotwein und eine Flasche Soda. Links und rechts und an den Tischen hinter ihr andere Frauen, ähnlich kostümiert, Studentinnen, Hausfrauen, Büroangestellte - man musste schon mit der Szene vertraut sein wie Saskia, um die Huren von denen zu unterscheiden, die zu ihrem Vergnügen hier waren. Äußerlich standen sich beide Gruppen in nichts nach.

Sie saß nicht lange allein. Links von ihr schob sich ein schwarzer Lockenkopf auf einen Barhocker, bestellte Wodka und musterte sie mit glühenden Augen.

Eiskalt der Blick, mit dem Saskia ihn abblitzen ließ - der junge Kerl war Kaukasier, Aserbaidschaner wahrscheinlich, niemand jedenfalls, der dumm und schwächlich genug war, in ihre Falle zu tappen. Und wenn Leute seines Schlages es doch taten, gaben sie keine Ruhe, bis sie einen gefunden hatten und sich rächen konnten.

Der Glatzkopf aber, der sich rechts von ihr aufpflanzte und mit linkischer Geste dem Barkeeper bedeutete, dass Saskias Getränke auf seine Rechnung gingen, der schien verheißungsvoll zu sein.

Sein Vollmondgesicht begann zu strahlen, als sie sein Lächeln erwiderte. Er gab sich sichtlich Mühe, den eingezogenen Bauch nicht wieder über den Hosenbund rollen zu lassen, und rückte näher. So nahe, dass sie seinen säuerlichen Schweiß und den Alkohol in seinem Atem riechen konnte.

Er trug einen braunen Allerweltsanzug, war gut zwanzig Jahre älter als Saskia und sah nach Bargeld aus.

»Jan«, stellte er sich vor und stammelte ein paar Brocken in Russisch, aus denen Saskia sich keinen Reim machen konnte. Immerhin verriet er sich durch seinen Akzent als Skandinavier, vermutlich ein Finne, vielleicht ein Holzhändler oder Ähnliches.

»Verena«, hauchte Saskia und sprach ihn auf Englisch an. Das funktionierte leidlich, und der Mann freute sich wie ein kleiner Junge, als sich Saskia von ihm die Hand küssen ließ.

Er bestellte eine Flasche Sekt.

Danach lief es wie immer - kleine Scherze, Näherrücken, grapschende Finger auf Rücken und Schenkel, viel Sekt und Schnaps, Küsschen auf die Wange, gierig tastende Zungen schließlich und noch mehr Sekt und noch mehr Schnaps. Jeder Job hat seine Routine.

Saskia überließ den Wodka Jan und nippte nur am Sektglas.

Später schob sie den einen halben Kopf kleineren Mann über die Tanzfläche, drückte ihre Hüften und Brüste an seinen schwitzenden Körper und signalisierte mit jedem Blick, mit jeder Geste: Ich bin zu kaufen.

Gegen ein Uhr konnte der gute Jan kaum noch stehen vor Schnaps, Sekt und Geilheit. Er war erntereif, wie Saskia das zu nennen pflegte. Während er mit zwei Hundert-Dollar-Noten bezahlte, tippte Saskia die Nummer des Studenten in ihr Handy.

Fünf Minuten später schob sie den torkelnden Mann in den Fond von Bosiaks Taxi. Sie ließ sich neben ihn fallen und versuchte, seine fordernden Umarmungen abzuwehren. »Nicht hier, mein kleiner dicker Jan!«, kicherte sie. »Warte noch ein paar Minuten, gleich sind wir in meinem Schlafzimmer.«

Der Mann war viel zu betrunken, um zu bemerken, dass der Taxifahrer zielstrebig durch die Gassen der Altstadt kurvte, ohne eine Adresse von Saskia gehört zu haben.

In einer spärlich beleuchteten Gasse hielt der Volvo. Saskia half dem Mann aus dem Taxi, zog ihn durch ein Hinterhoflabyrinth hinter sich her und schloss endlich die niedrige Tür einer Parterrewohnung auf.

Zusammen mit zwei Kolleginnen hatte sie die Einzimmerwohnung gemietet. Nur das nötigste Mobiliar befand sich darin: ein französisches Bett, zwei Stühle, ein Tisch, Sessel und Schrank und natürlich ein Bad. In der kahlen Küche gab es nicht mal einen Herd.

Saskia drückte den kichernden Mann aufs Bett und zog ihre Kostümjacke aus. »Das Bad ist dort drüben«, sagte sie mit rauchiger Stimme.

Er stand auf und wankte auf die Tür zu, auf die Saskia mit einer Kopfbewegung gedeutet hatte. Sie wartete, bis sie das Plätschern seines Urins hörte. Dann streifte sie ihre Pumps von den Füßen, und verschwand mit zielstrebigen Schritten in der Küche.

Zwei Wassergläser und eine Flasche Wodka in den Händen haltend, kehrte sie zurück. Sie füllte die Gläser mit dem Schnaps, das eine kaum fingerbreit, das andere halb.

Im Bad rauschte die Wasserspülung.

Saskias flinke Finger zogen ein Medizinfläschchen aus braunem Glas aus ihrer kleinen Handtasche. Sie schraubte es auf und träufelte zwanzig Tropfen einer farblosen Flüssigkeit in das halb volle Wodka-Glas.

Die Badezimmertür knarrte, erwartungsvoll grinsend wankte Jan zum Bett zurück. Mit offenem Hosenschlitz.

Saskia hielt ihm das Glas mit dem Wodka entgegen. »Erst noch ein Liebestrank, Süßer«, säuselte sie, »und dann ...«

»Und dann ...?« Sie begann, ihre schwarze Bluse aufzuknöpfen. Er ließ sich neben sie aufs Bett plumpsen. Ohne seine Augen von ihren sich langsam entblößenden Brüsten zu wenden, trank er den Wodka.

Saskia ließ die Bluse an sich heruntergleiten und griff nach ihrem Glas. »Auf dein Wohl, Jan.« Sie berührte den Schnaps nicht einmal mit den Lippen.

Mit zitternder Hand leerte er sein Glas, knallte es auf den Nachttisch, griff nach den Trägern ihres BHs.

Sie entzog sich ihm und stand auf. »Ich muss noch mal schnell für kleine Mädchen.«

Kichernd huschte sie ins Bad.

Sie drückte die Tür hinter sich zu, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und lauschte.

Es vergingen keine drei Minuten, bis sie ihn schnarchen hörte.

Zurück bei dem tief schlafenden Mann, durchsuchte sie systematisch die Taschen seiner Hosen und seines Jacketts. Neben einigen Scheinen in finnischer Währung trug er sage und schreibe sechshundert Dollar mit sich herum.

Saskia lachte laut auf. Gerade so viel ließ sie in seiner Brieftasche, dass er noch das Taxi würde bezahlen können. Auch seine Uhr nahm sie ihm ab und seine silbernen Manschettenknöpfe.

Sie kippte den Wodka aus, spülte die Gläser und rauchte eine Zigarette.

Nach einer halben Stunde etwa begann sich ihre Beute zu räkeln. Die Wirkung des Betäubungsmittels ließ langsam nach.

Saskia tippte Bosiaks Nummer ins Handy. Danach beugte sie sich über den Mann und schüttelte ihn.

»Jan!«, zischte sie. »Aufwachen, Jan! Wach endlich auf, verdammt!«

Er riss die Augen auf und sah in ihr angstverzerrtes Gesicht.

»Schnell, Jan - du musst verschwinden!« Sie zog ihn hoch und drückte ihm seine Jacke gegen die Brust. »Mein Mann kommt jeden Augenblick zurück! Der schlägt uns tot!«

Sie schob ihn vor sich her durch die Wohnungstür hinaus auf die Straße. Dort stand schon Bosiaks Taxi am Straßenrand.

Saskia stieß den Mann auf den Beifahrersitz und schlug die Tür zu.

Sie sah den Rücklichtern des Volvos hinterher, bis sie sich im dunklen Labyrinth der Gassen verloren ...

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Manhattan, 21. September 1998

Seine Rechte tastete nach dem schwarzen Lederrucksack neben dem Bett. Er hob ihn ein wenig an und ließ ihn auf den Teppichboden fallen.

Kunststoffhüllen schlugen aneinander. Das Geräusch beruhigte ihn.

Sein Notebook hatte Wolf Amann im Tresor an der Rezeption seines Hotels deponiert. Sich von den zwanzig CDs mit seiner Software zu trennen, hatte er nicht über sich gebracht. Niemand trennt sich freiwillig von seiner Zukunft.

Auf jede Toilette, in jedes Bad hatte er die CDs mitgenommen. Sogar in die Betten der Huren, mit denen er sich die Stunden zwischen den Bankbesuchen versüßt hatte.

Aus der Außentasche des Rucksacks angelte er eine Schachtel Chesterfield. Er stopfte sich das Kissen unter seinen stoppelhaarigen Quadratschädel. Seine für einen Mann ungewöhnlich vollen Lippen schlossen sich um eine Filterlose und zogen sie aus der Schachtel.

Das kleine Feuerzeug rutschte aus der Zigarettenpackung und fiel in das dunkle Gestrüpp seiner Brustbehaarung.

Er zündete sich die Zigarette an. Genüsslich inhalierte er den Rauch.

Seine Gedanken kehrten zu der Entscheidung zurück, die er nun schon den vierten Tag vor sich herschob.

Zurückfliegen und Dennis persönlich die schlechte Nachricht bringen? Oder hier in New York City bleiben, bis die Verhandlungen mit den Banken abgeschlossen waren?

Die Kosten für die Flüge an die Westküste und übermorgen, am Mittwoch, wieder zurück an die Ostküste waren nicht der Grund dafür, dass sich Wolf Amann noch immer in Manhattan aufhielt. Er war kein allzu guter Geschäftsmann. Wenn es darum ging, einem alten Freund und Weggefährten eine sehr persönliche Botschaft angemessen zu servieren - noch dazu eine für ihn sehr schmerzliche Botschaft -, dann durfte man nach Wolf Amanns Überzeugung weder Kosten noch Mühen scheuen.

Der Grund der ungeplanten Verlängerung seines New-York-Aufenthaltes hieß Sandy Miller, hatte kurzes schwarzes Haar und hübsche Grübchen in den Wangen. Sandy lachte nämlich meistens. Und der Weg von der Bethesda Fountain im Central Park, wo sie sich am Freitag kennen gelernt hatten, bis in das Bett ihres Apartments in der Westside, wo Sandy wohnte, war herrlich unkompliziert gewesen. Genau wie der Sex mit ihr.

Kurz und gut: Wolf und Sandy waren das ganze Wochenende nicht mehr aus dem Bett gekommen. Heiße Tage, ganz nach dem Geschmack des frauenhungrigen Österreichers.

Als er jetzt, am Montagnachmittag, mit schlechtem Gewissen an seinen Freund Dennis Tolby im Silicon Valley an der Westküste dachte, befand er, dass es sich nun doch nicht mehr lohnte, nach San Francisco zu fliegen.

Immerhin trennten ihn kaum noch sechsunddreißig Stunden von dem lang ersehnten Termin bei der >Transatlantic Traffic Bank<. Und damit, wie der Siebenundzwanzigjährige hoffte, von dem ersten Tag einer langen Reihe von fetten Jahren.

Wolf Amann blies den Rauch seiner Zigarette der Decke entgegen. Durch die offene Badezimmertür Wasserrauschen und der laute Gesang einer Frauenstimme: >Stand by me< - Sandy konnte nicht nur herrlich lachen, sondern auch herrlich singen.

Wolf drückte seine Zigarette aus und rieb sich mit seinen großen, kräftigen Händen die Wangen und das Kinn. Sein schwarzer Dreitagebart fühlte sich an wie die Oberfläche einer Drahtbürste.

Er kroch aus dem Bett. »Kann ich mal von deinem Apparat aus telefonieren?«, rief er durch die offene Badezimmertür. Sandy stand unter der Dusche.

»Klar!«

»Aber ich muss San Francisco anrufen!« Er ging ins Bad.

Sie stellte das Wasser ab und zog den Duschvorhang beiseite. »Kannst mich ja dafür morgen Abend zum Essen einladen. Gib mir mal das Handtuch!«

Er zog sie an sich und küsste ihr die Wassertropfen von den kleinen Brüsten.

»Das Handtuch!«

Sandy hatte es eilig - in zwei Stunden würde ihr Nachtdienst im Roosevelt Hospital Center beginnen. Die quirlige Frau arbeitete dort als Ärztin.

Wolf warf ihr das Handtuch zu und ging zurück zum Bett. Auf Sandys Nachttisch stand ihr Telefon. Daneben lag seine randlose Brille.

Er setzte sie auf und blickte auf die Uhr - halb fünf. Dann war es an der Westküste halb eins. Dennis müsste eigentlich noch im Büro sein. Vor eins ging er nie zum Mittagessen. Wolf Amann wählte eine Nummer in Palo Alto. Während das Freizeichen ertönte, räusperte er sich. Er hasste solche Gespräche.

»Tolby Watch Company.« Eine helle, geziert klingende Männerstimme meldete sich - Dennis Tolbys Stimme.

»Hi, Dennis. Ich bin's - Wolf.«

»Wo steckst du, zum Teufel?«

»Immer noch in New York City.«

Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dennis Tolby schien genau zu wissen, was jetzt kam. Aber Wolf wartete vergeblich darauf, dass sein Freund und Chef ihm irgendeine Brücke bauen würde.

Wieder räusperte er sich. »Ich wollte es dir eigentlich persönlich sagen ... aber ... mir ist etwas dazwischengekommen ... ich konnte nicht weg hier ...«

Sandy verließ das Badezimmer - splitternackt und mit wippenden Brüsten stolzierte sie zu ihrem Kleiderschrank am Fußende des Betts.