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Akteurzentrierte Unterstützung bei Gefahrensituationen in der U-Bahn

Ein ganzheitliches Konzept

zur Erlangung des akademischen Grades

DOKTOR DER INGENIEURWISSENSCHAFTEN (Dr.-Ing.)

der Fakultät für Maschinenbau

der Universität Paderborn

genehmigte

DISSERTATION

von

Dipl.-Ing. Marco Plaß

aus Bad Salzuflen

Tag des Kolloquiums: 23. Juni 2017

Referent:        Prof. Dr.-Ing. Rainer Koch

Korreferent:    Prof. Dr. Stefan Strohschneider

Marco Plaß

Akteurzentrierte Unterstützung bei Gefahrensituationen in der U-Bahn

© 2017 Marco Plaß

Umschlag M. Plaß
Umschlagfotos Vasajna (Adobe Stock #71041699)
  Halfpoint (Adobe Stock #100412457)
Illustrationen M. Plaß
Verlag Tredition GmbH, Hamburg
ISBN  
Paperback 978-3-7439-3208-1
Hardcover 978-3-7439-3209-8
e-Book 978-3-7439-3210-4

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit trägt zum Verständnis bei, wie Erkenntnisse aus der Informationsbereitstellung und deren individueller Verwendung beim Entscheiden in U-Bahn-Gefahrensituationen eingesetzt werden können, um Akteure zum effektiveren Handeln zu befähigen. Das derzeitige Vorgehen in der Gefahrenabwehr und die zur Anwendung kommenden Maßnahmen werden dahingehend untersucht, welche Rolle Informationen zukommt. Darüber hinaus werden Informationsverfügbarkeit und Informationsbedarf für den betrachteten Anwendungsfall analysiert. Erkenntnisse aus der Informationsbereitstellung und der individuellen Informationsverarbeitung werden gegenübergestellt.

Auf der erarbeiteten Basis wird ein Konzept zur ganzheitlichen Informationsnutzung in U-Bahn-Gefahrensituationen entwickelt, prototypisch für die Kernzielgruppen Fahrgast und professionell trainierte Akteure umgesetzt und hinsichtlich des Nutzens evaluiert. Ergebnisse dieser Arbeit zeigen, dass eine effiziente Informationsnutzung einen wichtigen Einfluss auf den Erfolg im Umgang mit U-Bahn-Gefahrensituationen besitzt.

Abstract

This thesis contributes to the understanding of how findings from information provision and information usage in decision-making and action-taking can be used to enhance the effectiveness of emergency response work in underground railway systems.

The role of information in currently used procedures and measures are analysed. Available and needed information in the application area are inspected with findings from information management and individual information processing.

Based on that work, a concept for integral information use in underground railway emergencies has been developed and implemented for core groups passenger and professionally trained personnel. Subsequent its usefulness was evaluated.

Results show an important influence of efficient information usage for the success of emergency response work.

Teile dieser Arbeit sind in folgenden Dokumenten vorveröffentlicht

Koch, Rainer; Plaß, Marco (2014): Gefahrenabwehr in U-Bahnen. Nutzung von Informationen und Methoden der Prävention zur Optimierung der Selbst- und Fremdrettung. In: S2 - Safety and Security 1 (1), S. 44–50.

Koch, Rainer; Plaß, Marco; Schäfer, Christina; Becker, Tobias (2014): OrGaMIR PLUS - Teilprojekt Verfahren und Aktorik zur Lenkung - Schlussbericht. Technische Informationsbibliothek u. Universitätsbibliothek Hannover.

Koch, Rainer; Plaß, Marco; Friberg, Therese (2012): OrGaMIR - Teilprojekt Anforderungsanalyse, Informationsverdichtung und Evaluation - Schlussbericht. Technische Informationsbibliothek u. Universitätsbibliothek Hannover.

Plaß, Marco; Koch, Rainer (2010): Providing dynamic escape routes to support self rescue in subway systems. In: Future Security. 5th Security Research Conference Berlin. Fraunhofer-Verbund Verteidigungs- und Sicherheitsforschung VVS. Stuttgart: Fraunhofer Verlag, S. 298–302.

Plaß, Marco; Schäfer, Christina (2010): Rahmenbedingungen für Informationssysteme im Kontext der nicht-polizeilichen Gefahrenabwehr. In: Gregor Engels, Markus Luckey, Alexander Pretschner und Ralf Reussner (Hg.): Proceedings 160 Software Engineering 2010 - Workshopband (inkl. Doktorandensymposium). Zur Tagung 22.-26. Februar 2010 Paderborn. 1., Auflage. Bonn: Köllen, S. 387–395.

Koch, Rainer; Plaß, Marco (2010): Risikofaktor Informationsmanagement? In: Peter Zoche, Stefan Kaufmann und Rita Haverkamp (Hg.): Zivile Sicherheit. Gesellschaftliche Dimensionen gegenwärtiger Sicherheitspolitiken: Transcript, S. 179–192.

Koch, Rainer; Plaß, Marco (2009): Optimising Rescue Operations in Subways: the OrGaMIR Project. In: Peter Elsner (Hg.): Future Security. 4th Security Research Conference Karlsruhe. Fraunhofer-Verbund Verteidigungs- und Sicherheitsforschung VVS. Stuttgart: Fraunhofer Verlag, S. 11–16.

Inhaltsverzeichnis

1 Einführung

1.1 Motivation

1.2 Ziel

1.3 Vorgehen

2 Grundlagen

2.1 Massentransportmittel U-Bahn in Deutschland

2.2 Sichere U-Bahn-Systeme

2.2.1 Gefahrensituationen in U-Bahn-Systemen

2.2.2 Regulatorischer Rahmen

2.2.3 Zeitlicher Verlauf

2.2.4 Ausbreitung und Entfluchtung

2.2.5 Gefahrenmanagement

2.2.6 Maßnahmen

2.2.7 Verantwortung für die Finanzierung von Maßnahmen

2.3 Komplexe Situationen

2.4 Verhalten und Handeln in komplexen Situationen

2.4.1 Perspektiven und Modelle

2.4.2 Perspektive: Komplexes Problemlösen

2.4.3 Perspektive: Entscheidungen

2.4.4 Perspektive: Verhalten in Fluchtsituationen

2.4.5 Informationen zur Vorbereitung von Handlungen/Verhalten

2.4.6 Wahrnehmung

2.5 Konzepte des Informationsmanagements

2.5.1 Informationswirtschaft

2.5.2 Geschäftsprozessmodellierung

2.5.3 Informationsqualität

3 Handlungsbedarf

4 Konzept für die akteurzentrierte Unterstützung

4.1 Vorgehen

4.2 Bedarf von Fahrgästen

4.2.1 Schritt 1 des Vorgehens – Ziele und Tätigkeiten

4.2.2 Schritt 2 des Vorgehens – Anforderungen

4.3 Bedarf von professionell trainierten Akteuren

4.3.1 Schritt 1 des Vorgehens – Ziele und Tätigkeiten

4.3.2 Schritt 2 des Vorgehens – Anforderungen

4.4 Zerlegung in Teilfunktionen

5 Teillösungen

5.1 Fluchtwegbestimmung

5.1.1 Teilkonzept

5.1.2 Umsetzung

5.1.3 Bewertung

5.2 Standortbezogene Vermittlung

5.2.1 Teilkonzept

5.2.2 Mobile Geräte in aktiver Benutzung

5.2.3 Intuitive Verständlichkeit

5.2.4 Umsetzung

5.2.5 Bewertung

5.3 Informationsverdichtung

5.3.1 Anforderungsdetaillierung

5.3.2 Teilkonzept

5.3.3 Umsetzung

5.3.4 Evaluation

6 Gesamtlösung

6.1 Gesamtkonzept

6.2 Bewertung

7 Fazit

7.1 Zusammenfassung

7.2 Ausblick

8 Literaturverzeichnis

A. Planung des Evaluationskonzepts

B. Dokumentation der APP-Entwicklung

C. R-Quellcode zur Auswertung der Personenzählung (Auszug)

D. Fragebogen der Evaluation von Aktoren (Auszug)

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Betrachtungsbereiche bei der Konzeption von Unterstützungsmaßnahmen

Abbildung 2: Aufbau der Arbeit

Abbildung 3: Kausale Zusammenhänge am Beispiel eines Brandereignisses

Abbildung 4: Deutscher Rechtsrahmen für die Gefahrenabwehr in U-Bahn-Systemen

Abbildung 5: Zeitlicher Verlauf eines Gefahrenereignisses in der Selbstrettungsphase

Abbildung 6: Parameter und Variablen der CFD-Ausbreitungsprognose

Abbildung 7: Brandverlaufskurve für einen Bemessungsbrand

Abbildung 8: Parameter und Variablen der Entfluchtungsberechnung

Abbildung 9: Kreisschema des Führungsvorgangs (Feuerwehr)

Abbildung 10: Gefahrenmanagement in Eisenbahntunneln

Abbildung 11: Maßnahmen in der Phase Vorbeugung

Abbildung 12: Maßnahmen in der Phase Ausmaßminderung

Abbildung 13: Maßnahmen zur Verhinderung der Gefahrenausbreitung

Abbildung 14: Maßnahmen zur frühzeitigen Entdeckung

Abbildung 15: Maßnahmen zur Unterstützung der Flucht

Abbildung 16: Maßnahmen der Planung

Abbildung 17: Maßnahmen des Kompetenzerwerbs

Abbildung 18: Maßnahmen in der Phase Selbstrettung

Abbildung 19: Maßnahmen in der Phase Fremdrettung

Abbildung 20: Finanzierung des ÖPNV in Deutschland mit zukünftiger Tendenz

Abbildung 21: Bewertung der Komplexität einer Gefahrensituation für Akteure

Abbildung 22: Einflussfaktoren auf komplexes Problemlösen

Abbildung 23: Eigenschaften verschiedener Handlungs- und Entscheidungsstrategien

Abbildung 24: Zyklus der individuellen Informationssammlung und -verarbeitung

Abbildung 25: Muster von Handlungs- und Entscheidungsstrategien der Akteure

Abbildung 26: Modularisierung der menschlichen Wahrnehmung

Abbildung 27: Struktur des Informationsmanagements

Abbildung 28: Lebenszyklusmodell der Informationswirtschaft

Abbildung 29: Zusammenhang von individuellem Umgang und betrieblichem IM

Abbildung 30: Vorgehen, Umsetzung und Bewertung

Abbildung 31: Vorhandene und nachgefragte Informationen (Selbstrettung)

Abbildung 32: Vorhandene und nachgefragte Informationen (Fremdrettung)

Abbildung 33: Volumenstrombilanz eines U-Bahnhofs

Abbildung 34: Beispielartige Topologie eines U-Bahn-Netzes mit Berechnungsergebnis

Abbildung 35: Gesamtfunktionsstruktur

Abbildung 36: Forschungskonzept

Abbildung 37: Einbettung und Vorgehen zur Verifikation von H1

Abbildung 38: Änderung von Eingangsgrößen und der Phase der Verwendung

Abbildung 39: Teilkonzept zur Fluchtwegbestimmung im Anwendungskontext

Abbildung 40: Umsetzung der Fluchtwegbestimmung

Abbildung 41: Detaillierung des Forschungskonzepts zu Hypothese H2

Abbildung 42: Erfüllungsgrade einzelner Aktoren

Abbildung 43: Teilkonzept zur standortbezogenen Vermittlung im Anwendungskontext

Abbildung 44: Untersuchungsaufbau

Abbildung 45: Nutzung von mobilen Geräten nach Wahrnehmungssinn (zeitgemittelt)

Abbildung 46: Analysierte Einflussfaktoren Uhrzeit, Linie, wartend/fahrend

Abbildung 47: Nutzung von mobilen Geräten nach Wahrnehmungssinn

Abbildung 48: Anforderungen an die standortbezogene Vermittlung

Abbildung 49: Erfüllungsgrad von Anforderungen

Abbildung 50: Funktionsweise der drei Alternativen visuell, akustisch, taktil

Abbildung 51: Prototypisch umgesetzte Konzeptalternativen visuell, akustisch und taktil

Abbildung 52: Subjektiver Eindruck der drei Prototypen (N=11)

Abbildung 53: Intuitive Verständlichkeit des akustischen Aktors (N=33)

Abbildung 54: Parcours des Feldtests mit Positionen von Richtungsänderungen

Abbildung 55: Histogramm für die Dauer des Parcours (N=25)

Abbildung 56: Detaillierung des Forschungskonzepts zu Hypothese H3

Abbildung 57: Planung von bereitzustellenden Informationen (Bsp. Fluchtwege)

Abbildung 58: Identifikation der derzeitigen Aufgabe einer Rolle

Abbildung 59: Aktivitäten zur Bereitstellung von Informationen hoher Relevanz

Abbildung 60: Teilkonzept der Informationsverdichtung im Anwendungskontext

Abbildung 61: Gesamtansicht mit U-Bahn-Netz und markiertem Gefahrenbereich

Abbildung 62: Zuordnung von Aufgaben und ortsbezogene Informationen

Abbildung 63: Ausbreitung im U-Bahn-Netz Berlin

Abbildung 64: Ausbreitung eines Gefahrstoffs

Abbildung 65: Sinnvolle Fluchtwege und benutzbare Aus- und Zugänge

Abbildung 66: Bewertung des Erfolgs gestellter Aufgaben (N=8)

Abbildung 67: Bewertung von Konzeptaspekten aus Antworten von Probanden (N=8)

Abbildung 68: Einbettung und Vorgehen zur Verifikation von H4

Abbildung 69: Gesamtlösungsstruktur

Abbildung 70: Gesamtkonzept im Anwendungskontext

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Begriffsabgrenzung für In-Sicherheit-Bringen

Tabellen 2: Bewertung des umgesetzten Teilkonzepts „Fluchtwegbestimmung“

Tabelle 3: Bewertung von Alternativen zur Übermittlung

Tabelle 4: Leitstellen des betrachteten Betreibers

Tabelle 5: Kategorisierung von Rückmeldungen

Tabelle 6: Geplanter Evaluationsdurchlauf

Verwendete Bezeichnungen und Abkürzungen

Akteure sind Personen, die bei Eintritt eines Gefahrenereignisses unmittelbar handeln. Dazu gehören neben professionell trainierten Mitarbeitern des U-Bahn Betreibers und der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben auch Fahrgäste und in Bahnhöfen tätige Personen.

API ist eine eindeutig definierte Softwareschnittstelle (engl. Application Programming Interface).

APP ist eine Anwendungssoftware für mobile Geräte (engl. Application).

ASET ist die zur Entfluchtung verfügbare Zeitspanne (engl. Available Safe Egress Time).

BOS sind Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben.

eEPK ist eine Modellierung von erweiterten ereignisgesteuerten Prozessketten.

ELA ist das gebräuchliche Akronym für elektroakustische Anlagen, die der Durchführung von Lautsprecherdurchsagen dienen.

Entfluchtung ist das schnelle In-Sicherheit-Bringen von Menschen aus einem akut gefährdeten Bereich, wobei der Initiator unerheblich ist (vgl. Räumung und Selbstrettung)

Räumung ist das schnelle In-Sicherheit-Bringen von Menschen aus einem akut gefährdeten Bereich initiiert durch professionell trainierte Akteure (vgl. [DIN14011, S.14]).

Gefahrenereignis ist ein Ereignis, welches durch das Auftreten einer Gefahr eintritt.

Konstrukt ist ein abgelegtes Ergebnis vorheriger Wahrnehmungsprozesse.

IM ist die Abkürzung für Informations management.

IQ ist die Abkürzung für Informations qualität.

Modul ist eine Software-seitige Repräsentanz von Eingangs-, Zwischen-, und Ausgangsinformationen im Teilkonzept der Informationsverdichtung

Nutzerist ein Verwender eines Teilkonzepts oder des Gesamtkonzepts der Arbeit aus den betrachteten Akteurgruppen

Perzept ist das Resultat des Wahrnehmungsprozesses eines Menschen.

Phasensind Zeitabschnitte, in die das Risikomanagement Aktivitäten aufteilt. In der Arbeit werden die Phasen Vorbeugung, Ausmaßminderung, Selbstrettung und Fremdrettung in aufsteigender zeitlicher Reihenfolge verwendet.

RCT ist eine normative Theorie für das Treffen von Entscheidungen (engl. Rational Choice Theory).

RPD ist ein Modell der intuitiven Entscheidungsfindung (engl. Recognition Primed Decision).

Rolle ist die von einer Person auszufüllende Ansammlung von zu bearbeitenden Aufgaben in einer hierarchischen Arbeitsteilung.

RSET ist die zur Entfluchtung benötigte Zeitspanne (engl. Required Safe Egress Time).

Selbstrettung ist das eigene, schnelle In-Sicherheit-Bringen aus einem akut gefährdeten Bereich initiiert durch den Gefährdeten (der Unterschied zur Räumung besteht wegen des anderen Initiators)

SOP ist ein standardisierter Vorgehensplan (engl. Standard Operating Procedure).

U-Bahn-System umfasst alle vorhandenen Teil-Komponenten, die zum Verkehrsbetrieb benötigt werden. Dazu gehören Strukturen, Gebäude und Komponenten im unterirdischen Bereich (z. B. Bahnhöfe, Tunnel, Züge) als auch unterstützende Infrastruktur wie Leitstellen im oberirdischen Bereich.

1 Einführung

U-Bahnen in Großstädten ermöglichen einem großen Teil der Bevölkerung, schnell und bequem an ihr jeweiliges Ziel zu gelangen. Das Transportmedium U-Bahn ist unter anderem wegen des im Verhältnis zu anderen Verkehrsmitteln hohen Sicherheitsniveaus so erfolgreich. Trotz umfangreicher Maßnahmen zur Verhinderung fanden in der Vergangenheit allerdings immer wieder Ereignisse in U-Bahn-Systemen statt, die Menschenleben bedrohten oder kosteten. Diverse Beispiele von großen Bränden in unterirdischen Verkehrsanlagen zeigen, wie groß die Gefahr für Menschen ist (London 1987: 31 Tote, Baku 1995: 289 Tote, Kaprun 2000: 155 Tote, Daegu 2003: 192 Tote [Duck08, S. 395]).

Die große Anzahl von Personen in geschlossenem Raum [Blen05, S. 338 und S. 458] mit wenigen Zu- und Ausgängen sowie die bei Brand durch Feuer und Rauch zu erwartende Ausdehnung des Gefahrenbereichs schränken die Fluchtmöglichkeiten ein. Daher sind Menschenleben in unterirdischen Bahnhöfen oder Zügen gegenüber Ereignissen an der Oberfläche in besonderem Maße gefährdet.

Mehrere Studien vergangener Ereignisse in U-Bahn-Systemen identifizieren aus allen möglichen Ereignissen Brandereignisse als größte Gefahr, da sie mit erheblichen Personenschäden verbunden sind (z. B. [Blen05, S. 40], [Schr10, S. 10ff.]). Ereignisse mit terroristischem Hintergrund sind nach den Anschlägen in Tokyo (1995), London (2005) oder Brüssel (2016) zu den großen Gefahren für Menschenleben in U-Bahn-Systemen hinzugetreten.

Gefahrenereignisse – seien sie spontan aufgetreten oder beabsichtigt herbeigeführt worden – lassen sich nicht verhindern (vgl. u. a. [UpSa11, S. 35]). Es ist zu erwarten, dass sie in Zukunft erneut auftreten werden.

Um die Eintrittswahrscheinlichkeit zu verringern und die Auswirkungen zu mindern, empfiehlt der Verband deutscher Verkehrsunternehmen den Betreibern die Erarbeitung ganzheitlicher Sicherheitskonzepte (vgl. [VDV7018, S. 9]). Neben umfangreichen präventiven Maßnahmen beinhalten sie Handlungsempfehlungen für Gefahrenfälle. In einem konkreten Gefahrenfall obliegt es allen Beteiligten, diese zu berücksichtigen und schnell sinnvoll zu handeln.

Direkt beteiligt sind alle Personen, die sich zum Zeitpunkt eines Ereignisses in Bahnhöfen und Zügen aufhalten. Dazu gehören Fahrgäste in Zügen, Wartende am Bahnsteig und Fahrer sowie in Bahnhöfen tätige Personen. Darüber hinaus beteiligt sind Mitarbeiter des Betreibers in den Leitstellen und die in das Schadensgebiet beorderten Mitarbeiter sowie Feuerwehr, Rettungskräfte und Polizei.

Die aus der Situation gegebene Forderung nach schnellem, sinnvollem Handeln stellt für die Beteiligten eine besondere Herausforderung dar (z. B. [KoPl10, S. 180f]).

Technische und organisatorische Maßnahmen unterstützen derzeit bei der Informationssammlung im Gefahrenfall. Fahrgäste finden sowohl im Bahnhof als auch in Tunneln und Zügen Notausgangsschilder vor. Sie weisen zum nächstgelegenen Ausgang und unterstützen beim Verlassen der U-Bahnhöfe und Züge. Darüber hinaus erhalten Fahrgäste über Lautsprecherdurchsagen Hinweise auf eine drohende Gefahr.

In anderen Ländern (z. B. Singapur1) wird mit Fahrgästen das Verhalten im Gefahrenfall geübt. In Deutschland finden keine Übungen – weder angekündigt noch unangekündigt – statt. Annähernd vollständig fehlt eine personelle Unterstützung für Fahrgäste während der Selbstrettungsphase, da U-Bahnhöfe nicht mehr personell besetzt sind. Lediglich der im Schadensgebiet befindliche Fahrer nimmt diese unterstützende Aufgabe als eine unter vielen wahr.

Feuerwehr und Betreiber planen für jeden Bahnhof einzeln Abläufe und Maßnahmen zur Gefahrenabwehr und üben diese – teilweise gemeinsam [Blen05, S. 426]. Umfangreiche Informationssammlungen, die unabhängig von einer jeweiligen Situation Gültigkeit besitzen, werden angelegt (z. B. Alarm- und Gefahrenabwehrpläne [Blen05, S. 404-410], Feuerwehrpläne [DIN14095, S. 5], Feuerwehreinsatzpläne [FwDV100, S. 43f.], etc.). Sie müssen nicht erst im jeweiligen Fall gesammelt oder abgestimmt werden.

Die Beteiligten sammeln daher nur situationsspezifische Informationen, weil ein umfangreicher Teil statischer Informationen bereits verfügbar ist. Die gesparte Zeit steht für die Entscheidungsfindung und für Handlungen zur Verfügung. Zudem wirken die genannten qualitätsbestimmenden Faktoren der Informationssammlung wie Zeitdruck, Stress, etc. hauptsächlich für den situationsspezifischen Teil der Informationen und nicht für statische Informationen.

1.1 Motivation

In der Vergangenheit stellte der ingenieurwissenschaftlich geprägte Bereich der Gefahrenabwehr in U-Bahn-Systemen hauptsächlich zu ergreifende Maßnahmen des Brandschutzes [Schr10, S. 8f] in das Zentrum der Betrachtung. Neuerdings ist ein Wechsel hin zur Analyse bestehender Risiken und danach auszuwählender technischer sowie organisatorischer Maßnahmen zu beobachten [BMVI14, S. 5]. Ein definiertes und als angemessen erachtetes Sicherheitsniveau wird erreicht. Zu verhindern ist der Eintritt von Gefahrenereignissen damit allerdings nicht.

Für das Ausmaß von Auswirkungen hauptbestimmend sind Handlungen und Entscheidungen von Akteuren. Die Ergebnisqualität von Handlungen und den zugrunde liegenden Entscheidungen hängen in besonderem Maße von zwei Aspekten ab: Von verfügbaren und verarbeiteten Informationen sowie von Fähigkeiten und Einflüssen auf handelnde Akteure. Zu letzterem gehören zum Beispiel Stress, Verlässlichkeit von Informationen, Human Factors und typische Fehler in komplexen Situationen (z. B. [Hofi07, S. 115ff]).

Für die Ergebnisqualität von Aktivitäten in Unternehmen ist die Bedeutung von Informationen seit geraumer Zeit bekannt (u. A. [Krcm15b, S. 5f], [StHa05, S. 437], [Stic14, S. 4]). Informationen wird mittlerweile der Stellenwert eines Produktionsfaktors beigemessen. Die große Bedeutung führte zur Entwicklung umfangreicher Strukturierungshilfen, Modelle und Methoden. Sie ermöglichen, den Faktor Information für Unternehmen ganzheitlich zu erschließen und sein Potenzial für Effektivitäts- und Effizienzsteigerungen auszunutzen. Die entwickelten Konzepte werden unter dem Begriff des Informationsmanagements (IM) zusammengefasst.

Da Rahmenbedingungen von Tätigkeiten in Unternehmen deutliche Unterschiede zu Aktivitäten bei Gefahrensituationen aufweisen, ist anzunehmen, dass die Übertragung unternehmerischer Konzepte der Effektivitätssteigerung nicht ohne Weiteres möglich ist. Rahmenbedingungen, unter denen Akteure in Gefahrensituationen handeln, sind Untersuchungsgegenstand der sozialwissenschaftlichen Bereiche des komplexen Problemlösens und der Human Factors Forschung. Für maßgebliche Aktivitäten des Entscheidens und Handelns von Menschen im Allgemeinen (z. B. [Funk03]) und unter physischem und psychischem Druck, wenig verfügbarer Zeit und großen Auswirkungen eigenen Handelns im Speziellen (z. B. [Hofi13, S.6ff]) sind Theorien und Modelle entwickelt worden. Darin wird die Rolle von Informationen analysiert und ihre Bedeutung für den Umgang mit Gefahren hervorgehoben.

Werden sozialwissenschaftliche Erkenntnisse bei der Verwendung von Konzepten des Informationsmanagements auf das U-Bahn-Gefahrenmanagement berücksichtigt, besteht Aussicht auf eine Übertragbarkeit. Eine Effektivitätssteigerung von Akteuren bei Handlungen und Entscheidungen wäre die mögliche Folge. Jedoch wurde dieser Ansatz bisher nicht verfolgt.

1.2 Ziel

Daher ist das Ziel dieser Arbeit, Potenziale auszuschöpfen, die aus der Berücksichtigung von sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen bei der Übertragung von Konzepten des Informationsmanagements auf das U-Bahn-Gefahrenmanagement entstehen. Im Gegensatz zum derzeitigen U-Bahn-Gefahrenmanagement wird der Akteur als Handelnder in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt. Auf Basis der wissenschaftlichen Bereiche des Handelns und Verhaltens in komplexen Situationen ist ein Konzept zu erstellen, welches die individuelle Informationssammlung und -verarbeitung durch Verwendung von Konzepten des Informationsmanagements unterstützt.

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Quelle: Verfasser

Abbildung 1: Betrachtungsbereiche bei der Konzeption von Unterstützungsmaßnahmen

Den Zusammenhang von Betrachtungsbereichen bei der Erarbeitung eines Konzepts zur Unterstützung von Akteuren zeigt Abbildung 1.

1.3 Vorgehen

Um die Arbeit in den aktuellen Stand von Forschung und Anwendung einzuordnen, werden in Kapitel 2 zunächst Grundlagen der Betrachtungsbereiche U-Bahn-Gefahrenmanagement, Verhalten und Handeln in komplexen Situationen und relevante Konzepte des Informationsmanagements beschrieben. Es folgt eine Erläuterung von angewendeten Maßnahmen, die das derzeitige Niveau an Sicherheit in U-Bahn-Systemen ermöglichen. Zudem wird zusammengefasst, welche Handlungs- und Entscheidungsstrategien Akteure in komplexen Situationen verfolgen und wie dabei Informationen gesammelt, strukturiert und bewertet werden. Das Kapitel schließt mit einer Gegenüberstellung von ausgewählten Konzepten des Informationsmanagements, die eine Ausschöpfung der Ressource Information in Unternehmen ermöglichen.

Im Anschluss ist das Vorgehen auf die Identifikation von Schwachstellen (Kapitel 3) ausgerichtet, deren Eliminierung oder Minderung durch eine Verwendung von Strukturierungshilfen, Modellen und Methoden des Informationsmanagements zu erwarten ist. Vorhandenes, aber ungenutztes Potenzial zur Verbesserung wird angenommen und zur Formulierung der Forschungshypothese der Arbeit (H) verwendet.

Kapitel 4 behandelt die Erarbeitung eines Vorgehens aus der Zusammenführung des Modells individueller Informationssammlung und -verarbeitung mit dem Modell der Informationswirtschaft. Das Vorgehen führt zu Anforderungen an eine Unterstützung und zu einer Zerlegung von Teilfunktionen. Über diese Struktur wird die Forschungshypothese in vier Teilhypothesen (H1-H4) operationalisiert.

Die Erarbeitung, Umsetzung und Bewertung der erforderlichen Teilfunktionen mit Detaillierung und Verifikation von Teilhypothesen stehen im Mittelpunkt des Kapitels 5.

Daran schließt sich im Kapitel 6 die Zusammenführung von Teilkonzepten zu einer Gesamtlösung an. Sie wird bewertet und aufgestellte Hypothesen werden verifiziert. In Kapitel 7 folgen ein abschließendes Fazit und eine Zusammenfassung der Arbeit sowie ein Ausblick.

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Quelle: Verfasser

Abbildung 2: Aufbau der Arbeit Die Abbildung 2 fasst den Aufbau und das Vorgehen in dieser Arbeit stichpunktartig zusammen.

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1 Nach BVG-interner Videoquelle

2 Grundlagen

Um das Ziel der Arbeit zu erreichen, ist zuvor eine Basis von bereits bekannten Erkenntnissen zu schaffen. Dieses Kapitel fasst relevante Erkenntnisse aus den Bereichen sicheres Massentransportmittel U-Bahn, Entscheiden und Handeln in komplexen Situationen, Bedeutung von Informationen sowie Wahrnehmung und Konzepte des Informationsmanagements zusammen. Deren Analyse ermöglicht die Ableitung eines Handlungsbedarfs.

2.1 Massentransportmittel U-Bahn in Deutschland

Deutsche U-Bahnen erbrachten im Jahr 2012 annähernd 6 Mrd. Personenkilometer (das Produkt aus beförderten Personen und zurückgelegter Entfernung). Von dieser Transportleistung entfallen 78% auf Großstädte mit mehr als 0,5 Mio. Einwohnern. Die durchschnittliche Auslastung von Zügen betrug ca. 18%. Bei 8 Mio. U-Bahn-Fahrten pro Tag, einer mittleren Fahrentfernung von 4,32 km und unter getroffenen Annahmen2 befinden sich in den Hauptzeiten ca. 440.000 Personen gleichzeitig im unterirdischen Bereich von deutschen Großstadt-U-Bahn-Systemen. [VDVS12, S.36f.]

Trotz des Bevölkerungsrückgangs der letzten zehn Jahre [StBu09, S.13] stiegen die Fahrgastzahlen im ÖPNV in einer Größenordnung von ca. 1% pro Jahr [VDVS12, S.21] kontinuierlich an. Mit Fortschreibung dieser Entwicklung wird der potenziell verursachte Schaden von Gefahrensituationen zukünftig größer. Umso wichtiger wird das Ausschöpfen von Potential zur Verbesserung der Sicherheit.

2.2 Sichere U-Bahn-Systeme

U-Bahn-Systeme gelten nach Kriterien der Europäischen Union (Anzahl Opfer, wirtschaftlicher Verlust und Auswirkungen auf die Öffentlichkeit) als kritische Infrastruktur [2008114EG, Artikel 3 Abs. 2]. Die Aufrechterhaltung und der Ausbau des derzeitigen Schutzniveaus erfordern großen Aufwand. Im Folgenden wird der derzeitige Stand der Gefahrenabwehr in deutschen U-Bahn-Systemen erläutert. Auf eine Zusammenfassung von Ursachen für Gefahrensituationen und den regulatorische Rahmen folgt die Darstellung des zeitlichen Verlaufs eines Gefahrenereignisses mit Hilfsmitteln zu dessen Analyse. Dann werden das Vorgehen im Gefahrenmanagement und die darin möglichen Maßnahmen erläutert. Der Abschnitt schließt mit einer Analyse der heutigen und zukünftigen Finanzierungssituation für Sicherheitsmaßnahmen.

2.2.1 Gefahrensituationen in U-Bahn-Systemen

Die Ursachen für Gefahrensituationen in U-Bahn-Systemen sind vielfältig. Der Verband deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) ordnet sie ohne eine Priorisierung in die Kategorien

Unfall/Unglück,

Brand/Explosion/giftige Stoffe,

Terrorismus/Extremismus,

Kriminalität/Naturereignisse,

Ereignisse in der Umgebung des Betriebs und

Pandemie [VDV7018, S.8].

Davon verursachen Brandereignisse und terroristische Angriffe maßgeblichen Personenschaden und sind daher besonders zu betrachten [BlGi05, S.40]. Dem schließt sich das Referat 6 der Vereinigung zur Förderung des Deutschen Brandschutzes e.V. (vfdb) an, erweitert um die zwei für U-Bahn-Systeme weniger wichtigen Gefahren Hochwasser und Extremwetterlagen (vgl. [LaGe09, S.44]).

In der Vergangenheit waren Brandereignisse bezogen auf die Auftrittshäufigkeit und den verursachten Schaden die bestimmenden Ereignisse in U-Bahn-Systemen. Schadenverursachend war bisher weniger das Feuer als der Rauch (vgl. [BBDR+78, S.22]). Sie treten 6,56*10-8 Mal pro gefahrenen Zugkilometer auf. Die Rate wurde aus Ereignissen der vergangenen 10 Jahre bei deutschen Betreibern ermittelt [Schr10, S.53]. Unter Berücksichtigung dieser Auftrittshäufigkeit sind bei 48 Mio. zurückgelegten Zugkilometern [VDVS12, S.36] im unterirdischen Bereich deutschlandweit annähernd 3 Brandereignisse – überwiegend ohne ernsthafte Gefahr für Verletzungen – pro Jahr zu erwarten.

Für Brandereignisse zeigt das Beispiel in Daegu exemplarisch die Herausforderung bei der Flucht von Personen auf. Da drei Atemzüge von Kohlenmonoxyd-haltigem Rauch zur Bewusstlosigkeit führen, musste einer horizontalen Rauchausbreitungsgeschwindigkeit von 3 bis 5 m/s (vgl. [TKO11, S.573]) mit einer deutlich höheren Gehgeschwindigkeit als den üblichen ca. 1,1 m/s unter Stress, Enge und Sichteinschränkung begegnet werden.

Terroristische Angriffe auf Bahninfrastrukturen werden seit 2000 immer mehr mit dem Ziel durchgeführt, Menschen zu töten anstatt Vermögenswerte zu schädigen. Nach einer Analyse von 541 kriminellen Ereignissen der vergangenen 45 Jahre werden nun große, hoch frequentierte Bahnhöfe für derartige Angriffe ausgewählt. In der Mehrzahl der Fälle wurden unkonventionelle Sprengvorrichtungen verwendet; die größte Zahl an Betroffenen wurde durch Giftgas verursacht. [CMPS13, S. 475]

Eine Eintrittswahrscheinlichkeit terroristischer Angriffe ist schwer bestimmbar. Der für die Bundespolizei verantwortliche Innenminister stuft sie für Deutschland Anfang 2016 als „so hoch wie nie“ ein [Vett16].