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Anton Schulenburg

Gib dich nie auf

Überlebensstrategien für ein langes, gutes und beschwerdefreies Leben mit Diabetes Typ 1

© 2017 Anton Schulenburg

Lektorat, Korrektorat: Ilka Schulenburg

Weitere Mitwirkende: Marita Eckert, Jonathan Schulenburg, Amjad Subhya

Verlag&Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN Paperback 978-3-7439-3931-8

ISBN e Book 978-3-7439-3933-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis

1. Der Blitz schlägt ein - die Diagnose: Juveniler Diabetes

2. Eine Kindheit in der Nachkriegszeit

3. Gib dich nie auf!!! - Grundfertigkeiten im Umgang mit Diabetes

4. Warum ausgerechnet ich?

5. Kraft für Neues

6. Notwendiges Übel: Krankenhausaufenthalte

7. Es geht voran auf dem zweiten Bildungsweg

8. Die Rettung oder: Lauf Anton lauf!

9. Neue Horizonte

10. Hat die Krankheit auch ihre guten Seiten?

11. Partnerschaft, Familie, beruflicher Aufstieg trotz Diabetes?

12. Tabuthema: Depression

13. Veränderungen

14. Sein oder Nichtsein – Essentielles zur Ernährung als Diabetiker

15. Überlebensphilosophie

16. Essentielles über den Umgang mit Gott und der Welt

17. „Lustig ist das Lehrerleben“ – ein kurzer Blick zurück

18. „Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt“

19. Hypoglykämien – Ein unausweichliches Schicksal?

20. Raus aus der Medikamentenlüge oder der „Mythos vom Humaninsulin“

Vorwort

Jetzt sind es über 56 Jahre her, dass bei mir Diabetes Typ 1 festgestellt wurde und ich mein Leben radikal ändern musste. Glücklicherweise plagen mich bis jetzt keine Spätkomplikationen des Diabetes. Seit Jahren motiviert mich ein guter Freund, der selbst Arzt ist und im Operationssaal oft die diabetesbedingten Folgeoperationen bei Zuckerkranken erlebt. Ich solle doch mein Leben mit dem Diabetes für jedermann nachvollziehbar in einem Buch darlegen. Ich willige ein, und je mehr ich mich mit diesem Vorhaben beschäftige, merke ich, dass es nicht nur um eine äußere objektive Darstellung meines vom Diabetes gezeichneten Lebens geht. Nein, ich bin schicksalhaft betroffen und das fordert mich heraus und meine Worte sind letztlich ein Bericht der Entwicklung meiner Persönlichkeit unter dieser von mir nicht gewählten und überhaupt nicht erwünschten Konstellation.

Ich empfinde den Quasi-Schicksalsschlag April 1961 – die Diagnose Diabetes Typ 1 – eigentlich im Rückblick betrachtet nicht als etwas Negatives, sondern als die Eröffnung neuer Horizonte, ungeahnter Möglichkeiten für mich. Alle folgenden Stufen meines Lebens: Erwerb der mittleren Reife, Lehre und Berufstätigkeit beim Steuerberater, das Nachholen des Abiturs im zweiten Bildungsweg, das sich anschließende Studium und die Berufstätigkeit als Gymnasiallehrer hätte ich ohne dieses umwälzende Ereignis nicht betreten. Seit Frühjahr 1961 gehe ich meinen Weg unter der erweiterten Problemstellung: Leben mit einer Mangelkrankheit – Fehlen des lebenswichtigen Hormons Insulin. Mein Leben gewinnt eine andere Richtung und immer wieder neue Herausforderungen warten auf mich. Wenn ich das bewältigen will, was mir als Schwierigkeit vor die Füße fällt – die Krankheit, meine Krankheit – kann dies nur gelingen, wenn ich sie mit Haut und Haaren als erweiterte Lebensaufgabe annehme. Wenn ich mich dagegen wehre und sie ablehne, gelingt mein Leben nicht oder ich erleide Schiffbruch trotz allen Einsatzes.

 

Zur Ergänzung des Vorwortes

Bitte

Wir werden eingetaucht
und mit dem Wasser der Sintflut gewaschen,
wir werden durchnäßt
bis auf die Herzhaut.

Der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze
taugt nicht,
der Wunsch, den Blütenfrühling zu halten,
der Wunsch, verschont zu bleiben,
taugt nicht.
Es taugt die Bitte,
daß bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe.
Daß die Frucht so bunt wie die Blüte sei,
daß noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden
Und daß wir aus der Flut,
daß wir aus der Löwengrube und dem feurigen
Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst
entlassen werden.
(Hilde Domin, Gesammelte Gedichte, S. Fischer Verlag, 1995 S. 117)

1. Der Blitz schlägt ein - die Diagnose: Juveniler Diabetes

Ich bin 14 Jahre alt (Frühjahr 1961), lebe in Hannover und lerne Konditor. Ein Jahr wohne und arbeite ich jetzt hier und erlerne die Einzelheiten der Kuchen- und Tortenherstellung und erlebe die Zusammenarbeit in einem Café mit eigener Konditorei. Es macht mir Spaß hier zu Hause zu sein. Als Lehrling bin ich bei meinem Lehrherrn, Arno Waldstein, Hannover-Herrenhausen, untergebracht. Lehrverhältnis mit Familienanschluss ist zu dieser Zeit üblich. Ich bin gern hier, und jetzt erfahre ich auf einmal durch eine ärztliche Reihenuntersuchung in der Berufsschule, dass ich zuckerkrank bin, hochgradig. Ich muss von heute auf morgen ins Krankenhaus. Ich komme ins heimatliche Kreiskrankenhaus Sulingen. Für mich und meine Eltern bricht eine Welt zusammen. Schon wieder bin ich betroffen als das dritte von fünf Kindern. Ich bin das anfälligste aller Kinder und habe schon als Kleinkind Typhus und Diphtherie durchlitten und bin später noch an Scharlach und Mumps erkrankt. Jetzt harre ich der Dinge, die auf mich zukommen. Im Krankenhaus wird die Diagnose gestellt: Juveniler Diabetes. Man entfernt mir die Mandeln und versucht mich einzustellen, was ein schwieriges Unterfangen wird. Dies zieht sich sechs bis sieben Wochen hin, weil bekanntlich der jugendliche Diabetes schwer einzustellen ist.

Es beginnt eine Zeit der Umstellung für mich. Wie gerne habe ich Eis und verschiedenste Kuchensorten, die ich ja schließlich selber hergestellt habe, gegessen - am liebsten „Coup Dänemark“ (Vanilleeis mit heißer Schokolade und Schlagsahne). Die behandelnden Ärzte raten davon ab, den Beruf weiter zu lernen. Ich solle die Ausbildung abbrechen. Aber ich bin gerne Konditor!

Ich lerne das Insulinspritzen - morgens und abends bestimmte Dosen Depot-Insulin in den Oberschenkel oder Oberbauch zu injizieren. Darüber hinaus gewöhne ich mich daran, über den Tag verteilt einen bestimmten Essensplan einzuhalten. Es gilt 19 BE (Broteinheiten) möglichst in kleinen Portionen über den Tag verteilt zu essen. Ich beginne Nahrungsmittel in Kalorien und BE umzurechnen und zu taxieren, um unabhängig von der ständigen Wiegerei zu werden. Die Fettanteile müssen beachtet werden. Nach Wochen wollen die Werte einfach nicht stimmen. Zur Stabilisierung der Zuckerwerte sollte ich mich körperlich betätigen. Aber wie das im Krankenhaus anstellen? Der Oberarzt hat eine glänzende Idee: Ich solle das Bohnern der Flure übernehmen. Nun gut, ich bohnere täglich stundenlang die Flure und Treppen mit dem damals üblichen Bohnerklotz und es geht mir eigentlich ganz gut, wenn nur nicht die Werte wären, die nicht stimmen wollen. Die Heimtücke der Krankheit zeigt sich mir: Es geht mir recht gut, aber die Werte stimmen partout nicht. Welch Widerspruch zwischen äußerem Schein und objektiver Wirklichkeit, zwischen gefühltem Befinden und gemessenem Befund. Es werden wiederholt Tagesprofile der Blutzuckerwerte aufgestellt. Endlich nach sechs Wochen sind die Werte zufriedenstellend und ich werde mit der Einstellung, morgens 24 Einheiten und abends 16 Einheiten Depot-Insulin von Hoechst zu spritzen und 19 Broteinheiten verteilt auf den Tag in sechs Mahlzeiten zu essen, entlassen.

2. Eine Kindheit in der Nachkriegszeit

Ich wachse auf in einem Bäckerhaushalt. Daher muss ich schon als Zehnjähriger morgens vor der Schule beim Brötchen-Austragen helfen. Ich stehe um 6 Uhr auf, fahre wenig später mit meinem Fahrrad und einem riesigen Korb auf dem Gepäckträger los. Darin befinden sich 20 unterschiedlich gefüllte Brötchentüten, die ich bei verschiedenen Kunden vor die Tür lege oder werfe. Die Tüten sind mit Namen gekennzeichnet und bei jedem Wurf der Brötchentüte denke ich mir: „Frische Brötchen-direkt vor die Tür.“ Dies ist der Service der 1950er Jahre – Kinderarbeit? Ach, was! Engagement und Einsatzvermögen werden so Grund gelegt. Und natürlich versteht es mein Vater, die Ausrichtung und Energie der Kinder an den eigenen Betrieb zu binden – eine zwar praktische, aber keineswegs kindgerechte Art zu denken, wie sie in vielen Familienbetrieben der Nachkriegszeit gang und gäbe ist. Der gefühlsmäßig absolut dominante Vater schafft es, große Anforderungen im Weltbild seiner fünf Kinder entstehen zu lassen, denen niemand gerecht werden kann. Mein ältester Bruder, auf dem die größten Hoffnungen ruhen, lernt Bäcker und soll später den väterlichen Betrieb übernehmen. Doch es kommt anders als geplant. Die Freundin, die mein Bruder nach Hause mitbringt, gefällt dem Vater nicht. Deshalb geht mein ältester Bruder von zu Hause weg und enttäuscht die Erwartungen seines Vaters.

Der nächste Bruder vollzieht den Bruch mit dem Vater noch früher. Nach dem Besuch der Volksschule wird er kaum noch zu Hause gesehen. Er wird Metzger in einer fremden Stadt.

Nun konzentrieren sich alle Erwartungen auf mich – den drittgeborenen Sohn. Und tatsächlich trete ich 1960 meine Lehrstelle zum Konditor erwartungsgemäß an. Zwar spricht der Vater nie etwas offen aus, doch scheine ich seiner Erwartung nicht entkommen zu können. Wie kann ich diesen Anforderungen nur entrinnen? Da kommt mir das Schicksal zu Hilfe: Im Jahr 1961 erhalte ich eine Diagnose, die eine völlige Änderung der Lebensplanung d.h. in meinem Falle die sofortige Beendigung meiner Ausbildung, erforderlich macht: juveniler Diabetes, Typ 1.Natürlich scheint die schicksalhafte Deutung einer so schweren Erkrankung an den Haaren herbeigezogen und objektiv kann ich wenig dafür anführen. Objektiv lautet die Diagnose lediglich: juveniler Diabetes oder Diabetes Typ 1.