PERFECTION:

Das Ranking

Band 1

Katharina Groth

K starrte in Richtung der Blondine, die am Ende des Flurs stand. Sie erwiderte den Blick nicht minder erschrocken: die Augen weit aufgerissen, das Gesicht blass. Dennoch war sie so schön, wie es diese Menschen nun einmal waren. Hochrangige. Man merkte ihr den Status nicht nur an der weißen Kleidung an, sondern auch an ihrem restlichen Aussehen. Die perfekten Gesichtszüge, die selbst die Angst nicht zu entstellen vermochte. Goldene Strähnen, die sich durch ihr blondes Haar zogen. Einen Moment war K gefangen zwischen Faszination und Schreck. Was machte sie hier draußen? Diese Menschen verließen nie ihr Apartment.

In diesem Moment setzte sich B in Bewegung und lief mit weiten Schritten in die Richtung der jungen Frau. Es dauerte einen Moment, bis K sich aus seiner eigenen Starre befreien und seinem Bruder folgen konnte. Die Frau stieß einen erschrockenen Laut aus und flüchtete. Doch sie würde nicht weit kommen, denn dieser Weg endete in einer Sackgasse. Das hatten sie vor wenigen Minuten selbst festgestellt.

Als er B einholte, packte er seinen Bruder an der Schulter und brachte ihn zum Stehen. »Was glaubst du eigentlich, was du hier machst?«, fuhr K ihn an.

»Na, ihr hinterher! Sie hat uns gesehen und du hast mir doch gerade recht deutlich erklärt, was geschieht, wenn man uns erwischt.« Er riss sich von K los und rannte weiter.

Diese ganze Situation geriet außer Kontrolle. Eigentlich war er nur mitgekommen, damit er zumindest dafür sorgen konnte, dass seinem Bruder nichts geschah. Denn ihn davon abzubringen, war ein schier aussichtsloses Unterfangen.

»Tut mir bitte nichts!«

Wie erwartet, waren sie am Ende des Flurs angelangt und hatten die junge Frau so in die Enge getrieben. Ihrem Äußeren nach zu urteilen, schätzte K sie etwa so alt wie sich selbst, vielleicht auch etwas jünger. B stieß neben ihm einen japsendes Husten aus und stützte sich auf den Knien ab. Der Blick, den die junge Frau seinem Bruder daraufhin zuwarf, traf K mitten ins Mark. So voller Abneigung, Ekel und vielleicht auch Furcht, dass sein Mitleid für sie augenblicklich verrauchte. Und B hatte recht. Selbst wenn sie es aus dem Gebäude schafften, bevor die Sicherheitseinheiten sie erwischten ... Das Mädchen hatte ihre Gesichter gesehen. Und wenn sie sie verriet, würde man K und B früher oder später finden. Von der Wut geleitet, trat er einen Schritt vor und packte ihren Oberarm. Sie stieß einen wimmernden Laut aus und starrte ihn aus schreckgeweiteten Augen an.

»B? Geht’s wieder?«, fragte er, versuchte die Panik des Mädchens zu ignorieren und umfasste ihren Arm fest. B hustete noch einmal und richtete sich auf. Dann nickte er, griff in seine Hosentasche und holte ein scharfes Metallstück hervor, das am Ende mit einem Tuch umwickelt war. Verwirrt blickte K ihn an, als er näherkam.

»Was hast du vor?«

»Ich beseitige das Problem«, sagte B, packte das Mädchen am Handgelenk und entriss sie Ks Händen. Sein Bruder war nicht besonders stark, aber K war einfach zu überrascht, um rechtzeitig zu reagieren. Sie schrie laut auf. Im nächsten Moment presste B die Klinge gegen den Hals der jungen Frau.

»B, was soll der Scheiß?«

»Ich beseitige das Problem, das willst du doch, oder?« Bs Gesicht war von Hass verzerrt.

»Lass den Mist! Willst du exekutiert werden oder was?« Kalte Panik floss durch seine Adern und er hob beschwichtigend beide Hände.

»Nein, das will ich eben nicht. Deswegen muss sie weg, sie hat uns gesehen.« Die junge Frau wimmerte, als er leicht zudrückte.

»B. Ernsthaft. Lass sie los.« K sagte es ernst und möglichst ruhig.

»Bitte …«, flüsterte die junge Frau und eine Träne lief über ihre Wange.

Sein Bruder zitterte und hustete unterdrückt. Nein, er wollte das nicht. B war kein Mörder. Zumindest nicht der B, den K so gut kannte. »B«, sagte er noch einmal und tat einen Schritt in seine Richtung. Schweiß stand K auf der Stirn. »Lass das. Ich werde nicht zulassen, dass sie uns kriegen.«

»Und wie willst du das machen?«, fauchte B ungehalten. Er zögerte noch immer, doch die Klinge hatte sich keinen Millimeter von ihrem Hals entfernt.

»Wir nehmen sie mit.«

»Was?« B starrte ihn fassungslos an.

»Wenn sie mitkommt, kann sie uns nicht verraten. Aber sie muss nicht sterben.« Den letzten Satz sprach er überdeutlich aus.

»Bitte …«, wimmerte sie wieder. Inzwischen hatte sie leise zu weinen begonnen.

B zögerte noch immer, aber man sah ihm seine innere Zerrissenheit deutlich an. In ihm ging ein Kampf vor, den K nicht nachvollziehen konnte. Was war nur mit seinem Bruder los? Konnte er tatsächlich so von Hass auf die Hochrangigen zerfressen sein? Kalter Schweiß lief Ks Nacken hinab, während er seinen Bruder nicht eine Sekunde aus den Augen ließ. »Mach das nicht, B.«

Es dauerte noch einen Moment, doch dann ließ B tatsächlich die Waffe sinken. Sein Gesicht glänzte verschwitzt. K nutzte den Moment, packte wieder den Arm des Mädchens und zog sie zu sich herüber. B brauchte einen Augenblick, schien dann aber zu begreifen, dass er verloren hatte. Seine Stimme hatte einen scharfen Unterton, als er fragte: »Aber was willst du da draußen mit ihr machen?«

»Ich bringe sie zu Zet. Immerhin hat der uns den Scheiß eingebrockt, dann kann er sich auch drum kümmern«, knurrte K. »Aber ich bin dir für Vorschläge dankbar. Du bist doch der mit dem ausgeklügelten Plan, oder nicht?«

B presste die Lippen aufeinander und sagte nichts, stattdessen setzte er sich in Bewegung. Das Ziel war das Treppenhaus auf der anderen Seite des Flurs. K hoffte bloß, dass das Treppensteigen nicht einen weiteren Hustenanfall bei B heraufbeschwor, der bedeuten würde, dass sie nicht vorankamen. Die Blondine wehrte sich nur mäßig gegen seinen festen Griff, viel schlimmer waren die Schreie, die sie dabei ausstieß. Schrill und laut dröhnten sie durch seine Ohren. Er fürchtete nicht, dass sich eine der Türen öffnen würde, denn keiner dieser Menschen hier würde es riskieren, seinem Coints-Konto ein Minus einzubringen. Seine Sorge galt auch nicht diesen Leuten, sondern eher den Sicherheitskräften, die auf dem Weg hier her waren. Das Geschrei würde sie direkt zu ihnen locken. Gereizt folgte er B hinaus ins Treppenhaus und erst als die Tür hinter ihnen zufiel, fuhr er zu der Blondine herum und schüttelte sie einmal kräftig, bis sie schließlich verstummte. Ihre Augen waren so weit aufgerissen, dass sie leicht aus den Höhlen traten, das Gesicht war blass. Es faszinierte K, dass sie selbst in diesem entrückten Zustand nichts von ihrer Schönheit verlor. Eilig schob er den Gedanken beiseite und starrte sie wuterfüllt an. »Willst du lieber doch sterben? Denn wenn du noch einen einzigen Mucks machst, schlage ich dir den Schädel ein.« Er hoffte, dass diese Drohung nicht so leer klang, wie sie sich in seinen Ohren anhörte. K würde niemals Hand an sie anlegen und sie schwer verletzen, doch das musste sie ja nicht wissen. Für den Moment galt es, dieses Geschrei zu unterbinden.

Statt zu antworten, schüttelte sie so hastig den Kopf, dass die blonden Haare wild um ihren Kopf wippten. Sie war wesentlich kleiner als er und ihr Oberarm so dünn, dass er ihn mit seiner Hand komplett umfassen konnte. Ihre blauen Augen glänzten ängstlich zu ihm hinauf. Sie wirkte so … zerbrechlich. Das erkannte er nicht nur an ihrer Statur, sondern auch an den feinen Gesichtszügen. Irgendwie weckte sie in ihm eher das Bedürfnis sie zu beschützen, statt zu verachten.

»K?«, fragte B unruhig.

Er riss sich von ihrem Anblick los. »Ja. Weiter.«

Dieses Mal zerrte er sie nicht so grob mit sich und sie lief folgsam neben ihm her. Etage um Etage stiegen sie hinab. Da hier ohnehin niemand die Treppen benutzte, war das Treppenhaus denkbar schlicht gehalten; weiß angestrichen, schmucklose Stufen aus Beton. Es ähnelte dem, was K kannte. Nur, dass es hier nicht nach Urin und Menschen stank. Und Müll suchte man auch vergebens.

»Bitte … ich werde euch nicht verraten … ich verspreche es …« Erst als sie Stockwerk 5 erreichten, fand sie ihre Stimme wieder und stammelte vor sich hin.

B stieß ein Schnauben aus. »Na sicher, Süße. Und ich zieh morgen in die Zentralstadt.«

»Nein, wirklich … bitte …«

K spürte, wie er sich innerlich verkrampfte, als er die Tränen in ihrer Stimme wahrnahm. Er hatte Mühe, seiner Miene weiterhin diesen strengen Ausdruck zu verleihen und alles in ihm sperrte sich dagegen, sie weiterhin mitzunehmen. Doch selbst wenn er Mitleid mit ihr empfand, sein Wille weiterzuleben und vor allem das Leben seines Bruders zu beschützen war größer, als dieses andere Gefühl. Und immerhin hatte er sie vor dem Tod bewahrt, oder? Nein. Eigentlich hatte er seinen Bruder davor bewahrt, zum Mörder zu werden.

Er vernahm Bs rasselnden Atem neben sich, doch noch hustete er nicht. Sie hatten inzwischen das vierte Stockwerk erreicht. Ab hier nahm man langsam wieder den leicht fauligen Geruch von unten war. Der verdorbene, der ihn daran erinnerte wer er war und wo er hingehörte. Ob das Mädchen jemals so weit unten gewesen war? Er konnte es sich nicht vorstellen. Die Gedanken reizten ihn und verdrängten jegliches Mitleid in die hinterste Ecke seines Bewusstseins.

»Ich kann da nicht raus … ich werde krank …«, wimmerte sie.

»Wenn wir nicht krank werden, wirst du das auch nicht«, knurrte K.

Immer weiter. Immer tiefer tauchten sie in den Gestank ab. Er sickerte aus den Minus-Stockwerken heraus, kroch durch jeden schmalen Spalt und erfüllte wie selbstverständlich die Luft. Erst jetzt wurde K klar, wie lange es her war, dass er zuletzt wirklich klare und geruchsneutrale Luft eingeatmet hatte. Man gewöhnte sich sehr schnell an den Gestank, aber anscheinend noch schneller an die Luft dort oben, denn ihm wurde leicht übel und es brannte in seiner Nase.

Neben ihm hatte sich die junge Frau die freie Hand auf den Mund gepresst, ihre Augen tränten. Ob sie weinte, oder ob es von dem beißenden Gestank herrührte, ließ sich nicht genau sagen. Um sich nicht in einen weiteren Gewissenskonflikt zu stürzen, beschloss er, es auf das Zweite zu schieben.

»Da seid ihr ja endlich!« Zet warf ihm einen scharfen Blick zu, den K jedoch ungerührt an sich abprallen ließ. Bei B sah es hingegen anders aus, denn er zog leicht die Schultern an und senkte den Blick. Die kleine Gruppe Männer war voll beladen; prall gefüllte Beutel und einer von ihnen trug sogar eine Stehlampe über der Schulter. »Ich wollte euch gerade fragen, was ihr erbeutet habt, aber ich sehe schon …« Zet verzog das Gesicht.

»Sie stand auf einmal im Flur vor uns«, erwiderte K, bevor sein Bruder eine unterwürfige Entschuldigung vorbringen konnte. Denn das würde er tun, sein Blick sprach Bände. Gerade wurde er von einem Husten geschüttelt, der K einen Schauer über den Rücken jagte.

»Und deshalb hast du sie mitgenommen? Bist du bescheuert?«

»Sie hätte uns sonst verraten«, knurrte K. »Das mag dir scheißegal sein, aber mir nicht.« Er baute sich vor Zet auf, das wimmernde Mädchen noch immer fest im Griff. Der glatzköpfige Mann überragte ihn um einige Zentimeter, war wesentlich massiver gebaut und eine dicke schwulstige Narbe verlief von der Stelle, wo einst sein Haaransatz gewesen sein musste, bis herunter zum Kinn.

»Ich habe gleich gewusst, dass es ein Fehler war, dich mitzunehmen«, knurrte Zet.

K wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als neben ihm ein Würgen erklang. Die Blondine krümmte sich leicht zusammen, beugte sich nach vorn und einen Moment später ergoss sich ihr Mageninhalt platschend auf dem Betonboden. Angewidert ließ K ihren Arm los und beobachtete stirnrunzelnd wie ihr Körper immer wieder krampfte und eine halbverdaute Mahlzeit auf dem Boden landete.

»Scheiße«, fluchte B, der sich gerade von seinem Hustenanfall erholt hatte, und musterte angewidert den Fleck am Boden. »Anscheinend gab es heute Mittag Kartoffeln und Fleisch. Ich würde für so eine Portion töten.«

»Alter …«, knurrte K und schüttelte angewidert den Kopf.

»Zet, sie kommen!« Einer der Männer, K glaubte sein Name wäre Het, schob die manipulierte Karte in den Schlitz und die Tür zur Schleuse öffnete sich.

»Masken auf und dann geht’s los«, zischte Zet, die wütenden Augen auf K gerichtet. »Dann hoffen wir mal, dass deine Kleine den Kulturschock verkraftet.«

K warf ihm einen gereizten Blick zu und riss sich dann die Atemmaske vom Kopf, die eben noch unnütz um seinen Hals gebaumelt hatte. B und K blieben zurück, als die Männer das Gebäude verließen. Das Mädchen hatte sich gerade aufgerichtet und wischte sich sichtlich benommen über den Mund. »Hier.« Er reichte ihr seine Atemschutzmaske. »Setz das auf.«

Sie starrte ihn einen Moment an, als würde er eine fremde Sprache sprechen und verharrte still in ihrer Position. »Aufsetzen!«, donnerte er und schon kam Leben in das Mädchen. Sie griff nach der Maske und streifte sie sich etwas ungelenk über, sodass sie sich teilweise in den Haaren verfing. Doch das war egal.

»Du brauchst auch eine Maske, so kannst du da nicht raus!« Bs Stimme klang dumpf, da er sich ebenfalls schon den Schutz übergezogen hatte.

K entgegnete nichts, packte das Mädchen wieder am Arm und riss im Vorbeigehen eine der Standartmasken aus dem Halter an der Tür. Sie hielt beileibe nicht so viel ab wie die, die Zet besorgt hatte, aber es würde reichen müssen. »Los jetzt!«, rief er und dann rannten sie. Er kam nicht so schnell voran, weil er das Mädchen mit sich schleifen musste, aber es würde reichen. Nein, es musste reichen.

Crystal, für widerrechtliches Verlassen des Gebäudes werden dir erneut 67 B-Coints abgezogen. Bitte kehre augenblicklich in deine Wohneinheit zurück, damit über deinen Umzug in die Zentralstadt neu verhandelt werden kann.

Crystal sah alles verschwommen und die zahlreichen Eindrücke wogten in ihrem Bewusstsein durcheinander. Immer wieder hallte Sixx‘ Stimme durch ihren Kopf und verkündete einen weiteren Abzug von Coints. Für das Verlassen des Stockwerks, für die fehlende Reaktion auf die Anweisung zurückzukehren. Für die Schadstoffe, denen sie sich aussetzte. Für ihren körperlichen Zustand. Es war wie eine Endlosliste, die ihr die Stimme immer und immer wieder vorbetete, damit sie ja nicht vergaß, was hier gerade geschah. Mit einem entscheidenden Unterschied; Sixx schien ihr die Schuld an all dem zu geben. Als wäre sie nicht entführt worden, sondern geflohen.

Alles verloren. Ihr Leben schien innerhalb der letzten halben Stunde vollständig an Wert verloren zu haben. Wussten diese Kerle nicht, was sie ihr damit antaten? Was sie gerade zerstörten?

Crystal würde alles tun, um den Moment wieder rückgängig zu machen, als die beiden sie in dem Flur gesehen hatten. Jetzt atmete sie durch ein Atemgerät die verdorbene Luft ein und kämpfte dauerhaft damit, sich nicht erneut übergeben zu müssen. Niemals hatte sie etwas Vergleichbares gerochen, ein derartiges Brennen in ihrer Lunge verspürt. Und niemals etwas Vergleichbares gesehen. Die Hochhäuser standen so dicht nebeneinander und ragten so weit in die Höhe, dass kaum Sonnenstrahlen zwischen ihnen hindurchdrangen. Die schmalen Straßen waren aus Beton, der jedoch an den meisten Stellen aufgerissen war und allerlei gräulichen Gewächsen einen Weg an die Oberfläche bot. Als hätten sich die Pflanzen gewaltsam durch den Stein gebohrt. Unkraut brauchte nicht viel Licht, um zu gedeihen, sondern nur Platz. Und somit glich es auf seine eigene Art und Weise den Menschen der unteren Rankings.

Zwischenzeitlich war der gelbe Nebel dicht und undurchsichtig, sodass er ihr das Gefühl gab, sie würden durch eine breiige Masse waten. Doch das war nicht unbedingt schlimm, denn so verbarg er immerhin die Abfälle die sich am Rand der Gassen auftürmten; alte Nahrungsmittelschalen, in denen die Grundeinheiten geliefert wurden, Möbelstücke, leere Wasserflaschen und hier und da ein verstorbenes Tier. Die Hochhäuser sahen alle gleich aus, denn sie waren aus diesem grauen glatten Material beschaffen. Das kannte sie bereits. Nur, dass die Gebäude hier unten schmuddelig waren und unheimlich wirkten wie Bäume in einem eng stehenden Wald, deren Kronen man aufgrund der Höhe nur schemenhaft erkennen konnte. Außerdem war hier niemand. Es war so still, dass der Klang ihrer Schritte von jedem der Häuser zurückgeworfen wurde und zu einem unendlichen Echo in den Himmel stieg. Crystal fühlte sich, als wäre sie in einer anderen Welt. Auf einem fremden Planeten. An einem Ort, der vor kurzer Zeit noch so unendlich weit entfernt gewesen war und doch die ganze Zeit so nah.

Crystal ließ sich durch dieses unheimliche Labyrinth zerren. Der feste Griff an ihrem rechten Arm war nicht nur die erste Berührung seit Jahren, sondern auch die gröbste, die sie je erfahren hatte.

Dein Gesundheitszustand ist in einem kritischen Bereich, bitte suche schnellstmöglich einen Raum mit Luftfiltereinheit auf, Crystal. Deinem Konto werden erneut 150 B-Coints abgezogen.

Tränen verschleierten ihr erneut die Sicht.

»Sixx, ich brauche Hilfe«, wimmerte sie und hoffte, dass die körperlose Stimme sie mit dem Schutz auf dem Mund überhaupt wahrnahm. »Bitte …«

»Hältst du jetzt die Klappe«, zischte der Kerl, der sie noch immer am Arm festhielt. K hatte der andere ihn genannt. Ein Namenloser. Jemand, der einen so niedrigen Rang bekleidete, dass er nicht einmal das Wert war. Er war eine Nummer, ein Nichts. Und doch war er seit kurzer Zeit alles; der Zerstörer ihres sorgsam aufgebauten Lebens. Doch er hatte ihr Leben gerettet. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre sie nun tot. Kurz fragte sie sich, ob das nicht tatsächlich besser gewesen wäre. Sie starrte ihm gebannt in die braunen Augen, die jetzt glasig wirkten und das Weiße leicht gerötet. Die saure Luft, die sicherlich in dem gelben Nebel ihren Ursprung hatte, schien auch an ihm nicht spurlos vorbeizugehen.

»Sie soll bloß still sein«, brachte der Schmächtige der beiden hervor. Der Gefährliche. Der, der sie beinahe umgebracht hatte. Dass er erneut hustete, war ein deutliches Zeichen dafür, dass er an der Seuche erkrankt war.

»Wieso lasst ihr mich nicht einfach gehen?«, fragte sie und erkannte ihre eigene, von Panik gezeichnete Stimme kaum wieder. Als Antwort erntete sie genervtes Schnauben. Sie gingen immer weiter, bogen in eine Gasse rechts ab, dann links, dann wieder rechts. Crystal hatte längst die Orientierung verloren. Eigentlich waren ihre Sinne was das anging sehr gut ausgeprägt, doch sie war einfach zu geschockt, um sich zu konzentrieren. Ihr Leben zerbrach gerade und sie wagte nicht einmal daran zu denken, wie weit sie im Ranking bereits gefallen war. Ob man im Netzwerk bereits über sie sprach?

»So, Prinzessin, rein mit dir!« Die Stimme des Schmächtigen klang höhnisch verzerrt. Anscheinend waren sie am Ziel ihrer Reise angelangt. Die Tür zu dem Hochhaus wurde durch seine Karte geöffnet und sie traten ein. In der verschmutzten Lobby erwartete sie bereits der glatzköpfige Anführer, der nun nicht mehr wütend wirkte, sondern mit einem fiesen Grinsen zu ihnen herunterstarrte. »Sie ist noch da und sie lebt. Gut. Ich bin nämlich gerade auf eine ausgezeichnete Idee gekommen, wie wir euer Dilemma für uns nutzen können.«

Kalte Schauer liefen Crystal über den Rücken. K löste die Maske von ihrem Gesicht, nicht grob, sondern so vorsichtig, dass es nur leicht ziepte, als er ihre wirren Haare befreite. Dabei schaute er ausdruckslos an ihr vorbei. Sie suchte seinen Blick, doch er schien alles daran zu setzen, um sie aus seiner Welt auszuschließen. Obwohl er sie mitgenommen hatte, erschien es ihr eher eine reine Verzweiflungstat gewesen zu sein. Crystal sah nicht den Hass, mit dem die anderen sie anschauten.

»Bringt sie runter. Ich will ein ernstes Wort mit unserem neuen Hausgast reden.«

Crystals Handgelenke schmerzten. Sie waren mit einem schwarzen Kabel hinter ihrem Rücken aneinandergebunden worden. Genau wie ihre Beine, die an den Stuhl gefesselt worden waren. Ein säuerlich schmeckender Knebel verbat ihr, auch nur einen Ton von sich zu geben. Sie befand sich so tief unter der Erde, wie noch nie in ihrem bisherigen Leben. Es roch nach Schweiß, Menschen und Krankheit. Ihr Stuhl stand inmitten einer größeren Gruppe der Namenlosen, die sie von allen Seiten finster anstarrten. Ihre schwarze Kleidung war zerschlissen, teilweise mit undefinierbaren Flecken versehen. Ein röchelndes Husten erfüllte die Stille und erinnerte an die Krankheit, die hier unten wütete.

Crystal, du hältst dich in einem Bereich auf, der für dein Ranking nicht vorgesehen ist. Es werden weitere 700 B-Coints deinem Konto abgezogen. Bitte begib dich schnellstmöglich auf Etage fünfzehn, damit dir ein neues Apartment zugewiesen werden kann.

Tränen ließen sie blinzeln. Etage fünfzehn. Alles verloren. Eindeutig ein Zeichen dafür, wie weit ihr Ranking abgefallen war. Innerhalb weniger Stunden war sie so tief abgesackt, als hätte es ihr bisheriges Leben gar nicht gegeben.

»So meine Süße, dann wollen wir mal ein wenig Spaß haben, oder?« Der Mann mit der Glatze trat mit einem schmierigen Grinsen vor sie. Boshaftigkeit sprach aus seiner Mimik, doch Crystal konnte nur auf die Waffe starren, die er in seiner Hand hielt. Es war ein scharfkantig wirkendes Stück Metall, das an der Stelle, wo er es umfasste, mit einem schwarzen Stück Stoff umwickelt war. Ähnlich dem, das sie heute bereits zu spüren bekommen hatte.

Als er sich ihr näherte, wollte sie schreien, doch der Laut drang nur dumpf durch das schwarze Stück Stoff in ihrem Mund.

Eine Weile stand er einfach nur da und starrte sie an, doch dann machte er einen schnellen Schritt in ihre Richtung. Crystal wollte zurückweichen, doch die Fesseln ermöglichten ihr gerade mal ein leichtes Zucken. Sie wimmerte, als Zet grob ihre Haare packte und ihren Kopf zur Seite riss. Schmerz jagte über ihre Kopfhaut und Panik explodierte in ihrem Körper. Sie versuchte sich zu wehren, ihm den Kopf zu entziehen, doch das brachte nur noch mehr Schmerz und ein heiseres Lachen seinerseits. Crystal atmete seinen sauren Geruch nach Schweiß und Schmutz ein, spürte seine körperliche Nähe warm und abstoßend. Doch das wurde alles nichtig, als sie die Klinge an ihrer Kehle fühlte. Schon zum zweiten Mal heute war sie dem Tod so nah, wie sie es nie sein wollte.

»Vielleicht sollte ich dich erst skalpieren … dir deine Hübschen goldenen Löckchen vom Kopf schneiden. Was meinst du?«, knurrte er dicht bei ihr und blies ihr seinen stinkenden Atem ins Gesicht.

»Muss das wirklich sein, Zet?«

Eine Stimme, die für einen kurzen Moment Rettung bedeutete. K, ihr Entführer, war aus der Menge getreten und starrte finster in ihre Richtung. Nicht nur Entführer, sondern auch Retter und das anscheinend schon zum zweiten Mal.

K wusste selbst nicht genau, warum er das tat. Eigentlich versuchte er sich immer so gut es eben ging aus allem rauszuhalten, doch irgendwie verspürte er Mitleid mit der jungen Frau. Denn immerhin war sie erst wegen ihm in diese Situation geraten. Es lag also irgendwie in seiner Verantwortung, dass sie nicht übermäßig gequält wurde. Irgendwie …

»Halt dich da raus, K«, knurrte Zet, das Haar des Mädchens noch immer fest umklammert. »Immerhin hast du uns den Scheiß eingebracht.«

»Und was hast du nun vor?« K versuchte gelangweilt zu klingen, als würde die Situation ihn nicht persönlich betreffen. Er spürte die feindseligen Blicke der anderen auf sich. Als sie eingetroffen waren, hatte er mit Schrecken festgestellt, wie sehr die Rebellenbewegung inzwischen angewachsen war. Ganz Minus 5 schien voll zu sein mit Menschen der unteren Ränge, die Aggression verströmten.

»Ein Exempel statuieren. Wir werden die kleine Puppe hier schön zurechtmachen und dann der Zentralstadt vor die Tür setzen.« Er fuhr mit der Schneide des Messers demonstrativ über die Wange der jungen Frau. Die Haut schien so zart zu sein, dass sie unter dem geschliffenen Metall sofort nachgab. Ein blutiger Striemen blieb zurück und bildete einen auffälligen Kontrast zu ihrem hellen Gesicht, als Zet das Messer wegzog. Gegröle erklang und er hob grinsend seine Waffe in die Höhe. K wurde schlecht, als er sah, dass auch B jubelte. Sie verhielten sich wie verdammte Tiere.

»Und was soll das bringen? Was willst du damit erreichen? Du machst sie mit so einer Aktion nur wütend und bewirkst rein gar nichts. Wenn du ihnen schon eins auswischen willst, dann mach es wenigstens richtig«, rief K gegen die Schreie der Zustimmung an.

Zets Blick war hasserfüllt und sein Grinsen zu einem Zähnefletschen erstarrt. »Wenn du so einen schlauen Plan hast, dann willst du ihn doch sicher mit uns allen teilen, nicht wahr, K?«

»Habt ihr schon mal geschaut, wie sie im Ranking dasteht? Sie scheint mir nicht eine der Mittleren zu sein.« K machte noch ein paar Schritte in den Kreis und vernahm hinter sich, wie B leise zischte, dass er das bleiben lassen sollte, doch er ignorierte es.

»Ihr habt sie in Stockwerk 11 aufgegabelt, oder nicht?« Zet warf einen gereizten Blick in Richtung B, der klein in sich zusammengefallen war und nun neben K stand. »Zumindest war das die Anweisung, die ich deinem Bruder gegeben habe.«

»Ja, das stimmt auch. Aber schau sie dir doch an. Diese verdammten goldenen Strähnen und die grellweißen Klamotten. Allgemein ist sie viel zu …« Zart, hatte er sagen wollen, doch das Wort kam ihm einfach nicht über die Lippen. Es war zu nett, passte nicht zu dem, was er eigentlich empfinden sollte. »Ich glaube, sie ist mindestens eine aus den Top 100.« Ein anerkennendes Raunen ging durch die Gemeinschaft, einzig Zets Miene blieb ungerührt. K wusste, dass er grausam sein konnte. Seine Feinde fürchteten ihn nicht grundlos, auch wenn er ein Idiot war.

Eine Weile starrten sie sich an und K ließ den Blick über sich ergehen. Auch wenn er angespannt war und das Risiko einging, direkt neben dem Mädchen auf einem Stuhl zu landen, versuchte er sich das nicht anmerken zu lassen.

Schließlich wandte Zet sich wieder dem Mädchen zu. Langsam steckte er sein Messer in den Bund der Hose, griff nach ihrem Knebel und zog ihn leicht zurück. »Ich schwöre dir, ein scheiß Mucks von dir und die Zentralstadt bekommt dich in kleinen Streifen zurück.«

K sah die blanke Panik in dem blassen Gesicht, aber dennoch nickte sie hastig.

»Sag mir deinen Namen«, forderte Zet sie auf.

Das Mädchen schwieg, sodass er einen gereizten Laut ausstieß. »Sag deinen scheiß Namen!«, brüllte er und zerrte noch einmal fest an ihren Haaren.

»Crystal …«, flüsterte sie, kaum zu verstehen.

Ruckartig ließ Zet ihren Haarschopf los. Einige der goldenen Haarsträhnen segelten zu Boden und blieben dort liegen. Sie wirkten genauso falsch an diesem schmutzigen Ort wie das Mädchen mit dem weißen Zweiteiler.

»Schaut jemand vielleicht mal in seinem Watchboard nach dem Profil dieser Schlampe?«

Es dauerte eine Weile, bis jemand hervortrat. Ein Zugriff auf die kompletten Profile und nicht nur die Videoansicht kostete für Menschen wie sie einige Coints und die wenigsten von ihnen besaßen genug, um sich das leisten zu können.

»Ich hab sie.« Der Junge war kaum älter als B. K kannte ihn nicht. Vermutlich einer von denen, die dieses Stockwerk so gut wie nie verließen. Er war schmutzig und sehr schmächtig, außerdem hatte seine Haut jenen leichten Blaustich, der auf die Krankheit hindeutete. »Sie ist auf Rang zweihundertdreißig im Stadtranking.«

Zet warf K einen triumphierenden Blick zu, doch der sagte mit ruhiger Stimme: »Schau wo sie heute Morgen stand.« Er hatte das Zucken des Mädchens bemerkt, als ihr Rang vorgelesen wurde. Es wirkte nicht, als hätte sie mit solch einer Zahl gerechnet.

Bevor der Junge wieder etwas sagte, weiteten sich seine Augen und er starrte den Rebellenführer verdattert an. »Sie war auf zehn.«

»Zehn?« Selbst Zet wirkte einen Moment perplex.

K lachte auf, als Erleichterung seinen Körper flutete. Er hatte sie weitaus höher eingeschätzt, aber eine 10 war noch besser als erhofft. Die Top 10 im Stadtranking waren jene, die in die Zentralstadt ziehen durften und zusätzlich in das Weltranking aufgenommen wurden. Es geschah äußerst selten, dass jemand in solche Höhen aufstieg. Die Top 10 blieben meist unverändert, wenn sie nicht gerade etwas taten, das ihre Follower dazu bewegte, ihr Abo zu beenden. »Was hab ich gesagt? Vermutlich war sie gerade auf dem Weg in die Zentralstadt, als wir sie erwischt haben.«

Zet stieß ein Schnauben aus und beugte sich wieder weit zu Crystal herunter. »Hast du dich dafür entschieden, ja? Hattest wohl keine Lust mehr in deinem Apartment zu hocken, was?«

Das Mädchen antworte nicht, sondern stieß stattdessen ein Schluchzen aus.

»Sie ist etwas wert. Wenn du sie verstümmelst und bei ihnen vor der Tür absetzt, wird sie das nicht mehr sein. Dann machst du sie zu einer von uns und für die Zentralstadt uninteressant.«

»Aber jetzt ist ihr Rang schlechter«, murmelte Zet.

»Natürlich. Wir haben sie ja auch aus dem Gebäude geschleift und damit vermutlich gegen alle Regeln verstoßen, an die sich diese Hochrangigen halten müssen.« K zuckte mit den Schultern. »Glaub mir, sobald die erfahren, wie es zu dem Ganzen gekommen ist, ist sie schneller wieder oben, als du Zentralstadt sagen kannst.«

»Und woher sollten sie das erfahren?«

K setzte ein Grinsen auf, das sich falsch anfühlte. »Wir werden ihnen ein Video schicken. Und dann stellst du Forderungen. Im Austausch gegen deine erfüllten Bedingungen, bekommen sie Crys… das Mädchen zurück.«

»Nein.«

K fuhr überrascht herum, als er die Stimme von B erkannte. Sein Gesicht war gerötet und er atmete röchelnd aus. »Warum bringen wir sie nicht einfach um und beseitigen das Problem? Sie kann uns immer noch alle verraten.«

Er starrte B fassungslos an. Wann war sein Bruder so blutrünstig geworden? Hatte er den Moment versäumt oder einfach nur übersehen, wie sehr sein Hass auf die Hochrangigen sich bisher gesteigert hatte?

»Mir gefällt die Idee von deinem Bruder, B. So sehr ich deine Abneigung gegen sie auch verstehen kann …« Er runzelte die Stirn und musterte das Mädchen.

B schnaubte und ballte die Hände zu Fäusten. Man sah ihm eindeutig an, wie sehr er das hier wollte und in diesem Moment entfernte sich Ks kleiner Bruder noch ein Stück weiter von ihm.

Zet wandte sich wieder zu ihnen um, zog sein Messer aus dem Bund und deutete mit der Spitze in Ks Richtung. Er begann laut zu lachen. Einen Moment erfüllte dieser unpassende Laut die kleine Freifläche hinter den Wohneinheiten. Dann stimmten einige der Männer verhalten ein. K presste die Lippen fest aufeinander und wartete.

»Du bist gar nicht so dumm, K. Mir gefällt deine Art zu denken«, sagte Zet grinsend, dann wandte er sich wieder dem Mädchen zu. »Aber vorher muss ich trotzdem noch etwas erledigen.« Er hob das Messer.

Das Zittern wollte einfach nicht aufhören, genauso wenig wie die Tränen, die sich unerbittlich den Weg aus ihren Augen bahnten. Feucht liefen sie über ihre Wangen und wurden von einem heiseren Schluchzen unterstützt, das ihrem Mund entwich. Crystal saß in einem kleinen Verschlag, der ein schmales Bett mit einer kratzigen Decke, einen schäbigen Tisch aus hellblauem Kunststoff und einen dazu passenden Hocker enthielt. In der Ecke stapelten sich leere Nahrungsmittelschalen und verströmten einen verdorbenen Geruch. Sie hatten Crystal von dem Stuhl losgemacht und hier hergebracht. Die Tür gesichert mit einem Code. Alles nachdem er … Sie fühlte immer noch ihr warmes Blut, wenn sie die Hand auf die Stelle hinter ihrem Ohr presste. Dorthin, wo einst ihr Implantat gewesen war. Ihre Verbindung zur Zentralstadt, zu ihrem Ranking, zu allen anderen, zu ihrem Leben. Der Schmerz, den sie beim Rausschneiden verspürt hatte, konkurrierte noch jetzt mit ihren inneren Qualen. Es war nicht bloß, als hätten sie ihr einen Chip genommen, sondern auch ihre Identität aus ihr herausgeschnitten. Denn wer war sie ohne das Implantat, ohne einen Rankingplatz? Niemand. Eine von den Namenlosen. Zu keiner Zeit war es in Crystals Kopf so still gewesen. Keine Stimme, die sie anleitete, was sie als nächstes zu tun hatte. Kein Kontakt zu der Welt, die sie so sehr liebte.

Ihr Blick fuhr hoch, als die Tür zu ihrem Verschlag sich öffnete. Es war K. Der Mann, der sie erst an diesen furchtbaren Ort gebracht und dennoch davor bewahrt hatte, dass noch schlimmeres geschehen war. Seine dunklen Haare waren durcheinander, als wäre er mit den Händen mehrmals hindurchgefahren. Das markante Gesicht hatte einen ernsten Ausdruck angenommen: mit schmalen Lippen, hervortretender Kiefermuskulatur und einem angespannten Funken in den Augen. Leicht schwankend kam Crystal auf die Beine. »Du musst mich hier rauslassen … bitte … ich …«

»Halt den Mund«, knurrte er und setzt sich auf den Hocker, der ihr gegenüber an dem Tisch stand. Er legte ein altertümlich wirkendes Kameraset und ein Watchboard auf dem Tisch ab. »Hinsetzen«, forderte er knapp.

Verunsichert ließ sie sich wieder auf die Kante des Bettes sinken. In seinem Gesicht standen weder Mitleid noch Freundlichkeit. Crystal wrang die Finger in ihrem Schoß ineinander. Vielleicht würde er sie ein weiteres Mal retten, wenn sie nett zu ihm war? Er schien ein guter Mensch zu sein, zumindest besser als die übrigen in diesem stinkenden Loch. Vielleicht könnte sie noch ein letztes Mal an sein Mitleid appellieren. Das bedeutete, dass sie ihre Wut auf ihn herunterschlucken musste. Denn er mochte sie zwar gerettet haben – und das gleich zwei Mal – aber er war dennoch derjenige, der ihr das hier eingebracht hatte. Er und sein Begleiter hatten ihr alles genommen, wofür es sich bisher zu leben gelohnt hatte. Sie ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten, um ihre Wut zu kompensieren.

»Denk bloß nicht, dass ich dein Freund bin«, sagte er mit einem Tonfall, der keinen Zweifel an seinen Worten ließ. »Ich habe nur keine Lust, dass dein Blut an meinen oder Bs Händen klebt, so einfach ist das. Ich bin kein Wohltäter und ich habe dich auch nicht gerettet.«

Obwohl dieser K wesentlich massiver gebaut war und auch etwas größer, bestand eine deutliche Ähnlichkeit zwischen den beiden, woraus Crystal eine Verwandtschaft schloss. Vielleicht war B sein Bruder oder ein Cousin?

»Was … willst du dann hier?«, fragte sie und versuchte das Beben in ihrer Stimme zu unterdrücken.

Er atmete hörbar aus und fuhr sich durch das dunkle Haar. Dann schaute er sie an. Es war seltsam, dass diese braunen Augen sie so anzogen. Sie sahen aus wie Schokolade mit kleinen hellen Sprenkeln darin und passten irgendwie nicht zu den sonst so harten Gesichtszügen. »Ich muss jetzt dafür sorgen, dass du eine Botschaft für die Zentralstadt absetzt. Eine, auf die wir uns vorher geeinigt haben.«

»Aber, ich habe keinen Kontakt mehr zum Netzwerk«, sagte sie und versuchte ihrer Stimme einen festeren Klang zu geben. Sie wollte nicht das wimmernde Mädchen sein, in das sie sich hier zunehmend verwandelte. Innerhalb des Rankings hatte sie sich von Hatern nie einschüchtern lassen. Natürlich war das hier noch etwas anderes, aber zeitgleich brachte es sie in eine ähnliche Situation. Wenn sie den Leuten nicht die Stirn bot, würde sie untergehen und niemand würde je wieder von einem Mädchen namens Crystal hören.

»Deshalb werden wir das offene Netzwerk nutzen und den Beitrag auf dein Profil laden«, erklärte K und hob eine Augenbraue. Dann griff er nach der Kamera und begann sie über eine Halterung an den Rand des Tisches zu schrauben. Dieses Ding war wirklich aus dem letzten Jahrtausend. Es wunderte sie, dass es so etwas überhaupt noch gab.

»Aber … das offene Netzwerk hat keine Reichweite und es wird in den täglichen Fanvideos untergehen, die auf meiner Seite landen. Niemand wird es sehen …« Niemand wird mich sehen, wollte sie hinzufügen, schwieg jedoch. Wenn keiner sie sah, würde auch keiner sie retten kommen.

»Wir können es uns leider nicht leisten, fünfhundert Coints auszugeben, um selbst das Video auf unsere Kanäle zu laden«, sagte K und seine Stimme hatte einen beißenden Klang angenommen. »Daher geht es nur so.«

Sie biss sich fest auf die Unterlippe. Tatsächlich stimmte es, dass für Niederrangige der einzig kostenlose Dienst des Uploads die Fanplattform war. Dabei konnte man kurze Videosequenzen auf das Profil des jeweiligen Hochrangigen laden und sich kurz zu den Videos äußern oder Grüße dalassen. Doch niemand schaute in das Fanprofil. Natürlich wurde es nach außen hin anders kommuniziert, aber auch Crystal hatte sich nie dafür interessiert, was in diesem Bereich ihres Profils passierte. Denn immerhin gab es dort auch nicht nur freundliche Nachrichten, sondern auch viele Hassbotschaften. Wer tat sich das freiwillig an?

»Das wird niemand sehen«, wiederholte sie daher mit Nachdruck.

K warf ihr einen feurigen Blick zu, den sie mit der gleichen Intensität zu erwidern versuchte. Was recht aussichtslos war, da in seinen Augen viel zu deutlich die tiefliegende Abneigung schlummerte. Sie hatte sich tatsächlich getäuscht, als sie glaubte, er hätte sie aus reiner Nächstenliebe vor dem Tod bewahrt. Dafür stand zu viel Missachtung in seinem Gesicht. Es ging ihm nicht um sie, er wollte tatsächlich nur seine eigene Haut retten.

Als er wieder sprach, hatte seine Stimme einen leisen und bedrohlichen Tonfall angenommen. »Wir haben Zeit, Goldlocke. Irgendwann wird jemand das Video sehen.«

Aber sie hatte keine Zeit. Wenn ihr Ranking noch weiter fiel, würde sie genau dort enden, wo sie sich in diesem Moment bereits befand. Für immer. Abgeschnitten von der Außenwelt und auf Dauer zum Tode verurteilt. Ein Teil der Gesellschaft, den sie eigentlich nicht mehr tragen konnte und es auch nicht wollte.

»Man wird es nachverfolgen können, wenn ihr es hochladet«, versuchte sie es abermals.

»Lass das unsere Sorge sein«, knurrte K und richtete die Kamera auf sie aus.

»Und wenn ich mich weigere?«

Ks Mundwinkel zuckten leicht, was im harten Kontrast zu der Ernsthaftigkeit in seinen Augen stand. »Dann ist dir auch nicht mehr zu helfen.«

»Ich dachte, du hilfst nur dir selbst und diesem … B.« Wut schwang in ihren Worten mit und verdrängte die Angst.

Er schüttelte den Kopf. »Sagen wir, im Moment decken sich unsere Interessen.«

Crystal schnaubte. Doch das beeindruckte ihn anscheinend nicht, denn er tippte stattdessen auf dem Watchboard herum, hob es hoch und drehte es ihr so zu, dass sie den Text lesen konnte, der in grüner Schrift darauf erschien. Sie presste die Lippen aufeinander, suchte nach einem Ausweg, doch genau genommen gab es keinen.

»Es geht los. Denk dran, du hast nur dreißig Sekunden«, sagte K und drückte auf einen Knopf, der auf der Oberseite der Kamera war. Sofort begann ein rotes Licht darauf zu blinken.

Crystal räusperte sich und kämpfte abermals mit den Tränen. Die hatten ihren Ursprung allerdings vielmehr in Trotz und Wut über diese aussichtlose Situation als in Angst und Trauer. Und dann las sie ab, was das Textsystem ihr vorgab: »Mein Name ist Crystal und ich wurde von einer Untergrundorganisation entführt und verschleppt. Wenn die Zentralstadt die Forderungen dieser Gruppierung nicht erfüllt, dann werde ich …« Sie stockte kurz und K warf ihr einen scharfen Blick zu. »… getötet. Sie fordern das Abschaffen der Ränge, ausreichend Medikamente für die Erkrankten und ein gerechtes System mit genug Nahrung, Lebensraum und einem nachvollziehbaren Strafsystem. Werden diese Dinge innerhalb der nächsten zwei Wochen nicht erfüllt, werde ich … sterben … und ich werde nicht die Letzte sein.«

K drückte auf den Knopf der Kamera und das Blinken hörte auf. Er nickte und legte das Watchboard auf dem Tisch ab.

»Das sind vollkommen dumme Forderungen. Selbst wenn sie das wollen, wird sich das niemals innerhalb weniger Wochen erfüllen lassen«, zischte sie. Wie konnte er nur so ignorant sein? Abneigung in einer Form, wie sie sie noch nie verspürt hatte, brodelte in ihr hoch und schürte ihre Wut.

K zuckte mit den Schultern. »Es wäre zumindest ein Schritt in die richtige Richtung, wenn sie es versuchen.« Er löste die Schraube, mit der die Halterung der Kamera an dem Tisch befestigt war und stand auf.

»Was passiert jetzt?«, fragte Crystal hastig, weil es ihr unterschwellig neben der Wut auch Angst bereitete, dass er sie gleich wieder allein lassen würde. So wenig Sympathie sie auch füreinander empfanden, war da immerhin jemand gewesen. Die Einsamkeit und die Stille in ihrem Kopf drohten sie zu erdrücken.

»Wir laden das Video hoch und warten«, entgegnete er in einem Ton, als wäre sie geistig zurückgeblieben.

»Aber … ich …«

K schüttelte den Kopf und stöhnte. Dann verließ er den Raum und ließ nichts als Stille zurück.

Sein Vorschlag, wie mit Crystal verfahren werden sollte, hatte ihm einige Follower beschert und Ks Konto aufgestockt. Selbst wenn diese Sache der reine Albtraum zu sein schien, waren einige der Rebellen anscheinend begeistert von seinem Vorschlag gewesen und zollten ihm so ihren Tribut. Das war mehr als absurd, da sie damit ein System unterstützten, das sie selbst abgrundtief hassten. Doch vermutlich waren sie alle Gefangene dieses Rankings und Crystal hatte recht. Es wäre nicht möglich, das System einfach abzuschaffen und einen neuen Weg zu gehen. Dafür war es zu sehr in den Köpfen der Menschen verankert. Selbst in denen, die darunter litten.

»Ich hab‘s«, sagte er, als er die Freifläche betrat, an der sich der Großteil der Rebellen scharte, als wäre Zet ihr verdammter Messias. Sie hockten am Boden auf alten Matratzen, Kleidung oder einfach nur so auf dem blanken Beton. Auch B saß in unmittelbarer Nähe zu dem mächtigen Glatzkopf und starrte bewundernd zu ihm auf. Sein Husten war seit ihrem kleinen Ausflug schlimmer geworden. Er klang verschleimt und kurzatmig. Es war Zeit für eine Tablette, die er eigentlich erst nächste Woche hätte nehmen sollen.

»Hat die Kleine das gesagt, was sie sollte?«, fragte Zet und zahlreiche Augen ruhten auf K, als er ihm das Watchboard überreichte.

K nickte nur.

»Gut, ich wusste, dass du das hinbekommst.« Zet grinste und B senkte den Blick. K fluteten merkwürdige Gefühle. Anscheinend war sein Bruder immer noch nicht mit der Entscheidung einverstanden, das Mädchen am Leben zu lassen. Dieser Umstand schockte ihn erneut und stellte alles, was er über B zu wissen geglaubt hatte in Frage.

»Wie willst du es jetzt hochladen?«, hakte K nach. Natürlich gab es die Plattform, doch anonym waren auch dort keine Postings möglich. Nichts in Neutropolis war anonym. Und wenn es jemand von hier tat, wäre nicht nur die Person zum Tode verurteilt, sondern sie alle drohten aufzufliegen.

»Ich habe in Hochhaus 6685 einen Heimatlosen aufgetrieben, der gerade unter Strippophelie im letzten Stadium leidet. Er wird ohnehin bald draufgehen und sein genauer Ursprung ist nicht auszumachen.«

Ks Magen verkrampfte sich. »Gut«, sagte er dennoch, auch wenn es sich nicht so anfühlte.

»Jetzt müssen wir nur noch auf eine Reaktion warten.« Zet grinste in die Runde. Er erntete zustimmendes Gemurmel.

»Was passiert mit dem Mädchen?«, fragte K und wusste nicht einmal warum. Vermutlich, weil er es nicht ertrug, sie noch länger in seiner Nähe zu haben. Sie erinnerte ihn an den Fehler, den er begangen hatte. Sie hier herzuschaffen, hatte etwas ausgelöst, dessen Ausmaß ihm erst nach und nach bewusst wurde. Als er sie da hatte sitzen sehen; in sich zusammengesunken, mit dem blutigen Striemen auf der Wange. Und der Wunde an ihrem Hals, aus der immer noch ein leichter Blutfaden sickerte und sich zu der roten Verfärbung gesellte, die ihr weißes Oberteil infiltriert hatte. Sicherlich hatte das System der Zentralstadt bereits Meldung darüber bekommen, dass ihr Implantat entfernt worden war. Eine Straftat, die mit sofortiger Exekution verurteilt wurde. Und zudem bedeutete, dass Crystal sämtliche Ansprüche an das System verloren hatte.

»Ich schätze, wir haben nur die eine Woche, bis es zur nächsten Kontrolle kommt, dann müssen wir sie woanders unterbringen«, sagte K.

Zet nickte. »Ich habe Beziehungen zu einigen anderen Hochhäusern. Sie wird umziehen müssen. In 9988 finden die Kontrollen entgegen unserem Rhythmus statt.«

K ließ sich ebenfalls auf der Kante einer alten Matratze nieder. Zu gern würde er einfach in sein Apartment zurückgehen und diese Geschichte wenigstens für einige Stunden hinter sich lassen. Doch er wagte es nicht, Zet mit dem Mädchen allein zu lassen. Der schaute sich gerade die aufgenommene Botschaft an und lachte schallend.

»Perfekt. Wenn das nicht ziemlich mitleiderregend ist, dann weiß ich es auch nicht.«

Einige der Anwesenden stimmten in das Gelächter ein, ausgenommen B, dessen Blick noch immer starr auf den Boden gerichtet war. Dann reichte Zet das Watchboard an einen seiner Untergebenen. »Mach es so, wie ich es dir gesagt habe.« Der Junge nickte hastig und lief davon. Es fiel auf, dass es hauptsächlich die Jüngeren waren, die Zet um sich scharte. Vermutlich waren sie leichter für sich zu gewinnen und waren dankbar für einen Anführer, der ihnen zumindest in seinen großspurigen Reden eine bessere Zukunft versprach.