Geheimnisvolle fremde Seele

Anthologie

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www.net-verlag.de

Erste Auflage 2016

© Coverbild: Jenny Schneider

Covergestaltung, Korrektorat

und Layout: net-Verlag

Auswahl der Geschichten:

Lysann Rößler & Leserteam

© Illustrationen:

Detlef Klewer (S. 41)

Melanie Bottke (S. 94)

Christine Prinz (S. 98)

Michael Mauch (S. 182)

Sandra Braun (S. 205)

Anika Kazojc (S. 258)

© net-Verlag, Tangerhütte

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

ISBN 978-3-95720-166-9

Geheimnisvolle fremde Seele

Eine fremde Seele, die jemandem in Form von anderen Personen, Zeichen oder eine Art von Spuk erscheint, kann ganz schön Verwirrung in den Betroffenen auslösen. Aber auch die Seele einer anderen, noch lebenden Person kann einfach nur interessant oder geheimnisvoll sein, um es wert zu sein, darüber zu schreiben.

Lesen und genießen Sie, was unsere Autoren dazu zu sagen haben!

Wir wünschen allen Lesern

einige unterhaltsame Stunden!

Ihr net-Verlag-Team

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Zum Buch

Simone Funk

Das Haus mit der schwarzen Seele

Detlef Klewer

Die dunkle Seite der Seele

Mark Christjani

Der leere Thron der Götter

Lars Heintel

Im Totengrund

Susanne Zetzl

Sarah

Johanna Wohlgemuth

Der andere

Elisabeth Ehrenreich

Begegnung mit Sirene

Melanie Bottke

Meer wollen und Garnelenblues

Christine Prinz

Die Zeit

Barbara Kühnlenz

Abschied

Markus Herrmann

Vom Brückenbauen und Heimischwerden

Brit Gögel

Stockholm – Heimweg ins Ich

Andreas Stürmer

Alles nur geträumt?

Ronny Gempe

Wer hat das bloß angerichtet?

Grażyna Werner

Die alte Straßenbahn

Michael Mauch

Feuertanz

Susanne Rübner

Der teuflische Narr

Nora Schinnerl

Der Dämon mit den schwarzen Augen

Aikaterini Maria Schlösser

Fremdes Blut

Susanne Schulzke-Riha

Hinter dem Horizont

Kerstin Gramelsberger

Ballnacht

Sabine Siebert

Todesangst

Stefan Junghanns

Ein geteiltes Leben

Rebi

Vom Körper losgelöst

Jacqueline V. Droullier

Der Fremde in mir

Alexander Gail

Heimsuchung

Anna Kassaras

Das verlassene Dorf

Susi Laubach

Von Beinah-Mördern und senilen Nervensägen

Julia Lalena Stöcken

Frei von Schuld

Kim S. Talejoy

Mein zweites Ich

Karen Wright

Wer spricht denn da?

Tony Sebastian

Teezeit

Autorenbiografien

Illustratorenbiografien

Buchempfehlungen

Simone Funk

Das Haus mit der schwarzen Seele

Jetzt bin ich hier auf dem Waldfriedhof mit meiner Familie. Wenn ich es auch nur annähernd geahnt hätte, dass so ein Albtraum Wirklichkeit werden kann – ich hätte anders gehandelt. Ich kann Ihnen nur einen Rat geben: Wenn Sie jemals gewarnt werden, eindringlich, etwas nicht zu tun, von einem oder mehreren Menschen, die es wissen müssen, die Erfahrungen gemacht haben – hören Sie auf diese Menschen! Schlagen Sie ihre Warnungen nicht in den Wind. Denken Sie das Undenkbare, halten Sie das Unmögliche für möglich. Für mich ist es zu spät. Ebenso für meinen Mann und meine beiden Kinder.

Ich weiß immer noch nicht alles, und ich werde es nicht mehr erfahren. Das Meiste, was passiert ist, ergibt keinen Sinn. Nichts daran ist logisch, nichts erklärbar. Ich weiß nicht, warum es gerade jetzt und was genau passiert ist, ich habe keine Erinnerungen. Aber so wie ich mich und meine Familie heute sehe, weiß ich, dass es grausam und erbarmungslos war.

Dies soll eine Warnung sein. Eine Warnung an alle, die vielleicht noch den Jensenhof, hoch oben im Norden, oder einen ähnlich düsteren Ort aufsuchen wollen, aus welchen Gründen auch immer.

Bis Anfang dieses Jahres war alles noch normal. Wir waren eine glückliche kleine Familie. Mein Mann und ich lebten mit unseren Kindern Annabell, siebzehn, und Felix, fünfzehn Jahre, in einem kleinen Ort in Nordrhein-Westfalen. Dreißigtausend Einwohner, ein hübsches Haus an einem Bach, vierhundert Quadratmeter Grundstück. Carsten und ich arbeiteten beide, zu viert fuhren wir regelmäßig in den Urlaub. Mit den meisten Nachbarn kamen wir gut aus. Hatten Freunde und gute Bekannte sogar noch aus Kindertagen.

Annabell und Felix waren gut in der Schule. Sie machten Sport, gingen gern mit Freunden aus. Abgesehen von den üblichen Streitigkeiten wie: Zimmer aufräumen, Geschirr in die Spülmaschine stellen, überhaupt die Haushaltspflichten erfüllen, die wohl viele Eltern mit ihren fast erwachsenen Kindern haben, war ich sehr zufrieden mit meinem Leben.

Vor einem Jahr hatten wir noch einmal überlegt, in ein kleines Gutshaus mit der dreifachen Grundstücksgröße zu ziehen. Aber die Kinder weigerten sich. Sie sind in unserem Haus groß geworden, auch wenn ihnen das Dorf, wie sie es nannten, manchmal zu klein war, jetzt wo sie älter wurden. Sie hatten hier ihr Leben, ihre Schule, ihre Freunde, alles. Wir waren glücklich. Nicht das Haus und Grundstück, von dem Carsten und ich einmal geträumt hatten, aber nach der Geschichte mit dem Jensenhof vor dreizehn Jahren war es das Paradies. Nur einmal in unserem Leben waren wir am falschen Ort. Einmal.

Im Januar 2015 sollte sich alles ändern. Zu keinem Zeitpunkt hätte ich gedacht, dass uns dieses dunkle Kapitel noch einmal einholen würde. Vergessen, verdrängt, vergraben hatte ich alles, was damit zu tun hatte. Jetzt schien es so, als seien wir verflucht, weil wir nur einen Fuß auf dieses Grundstück damals gesetzt, nur einen Blick in dieses Haus geworfen hatten.

An einem Abend im Januar also kam meine Tochter nach der Schule zu mir in die Küche. Kurz vor dem Abendbrot. Annabell sah mich mit dieser für sie zu diesem Zeitpunkt typischen Art an. Eine Mischung aus genervt und gelangweilt, eine Augenbraue hochgezogen, die Lippen zusammengekniffen. Sie kam sofort zur Sache: »Was ist das? Was soll das? Ist das so eine Art Witz? Ich will nicht umziehen, Mama. Meine ganzen Freunde sind hier. Ihr habt es versprochen, schon vergessen? Mann, ihr seid echt ätzend!« Sie schmiss das Stück Papier auf den Küchentisch, drehte sich um und ließ die Tür ins Schloss knallen, als sie hinauslief, und auch die zweite Tür zu ihrem Zimmer.

Ich nahm das Stück Papier, weil ich keine Ahnung hatte, womit ich jetzt wieder ihren Zorn auf mich gezogen hatte. Es war eine ausgedruckte E-Mail. Meine Augen wurden mit jedem Wort größer, Gänsehaut lief mir über den ganzen Körper, in einer Welle von den Beinen, den Rücken hinauf, bis über die Kopfhaut. Mein Mund wurde trocken und meine Hände feucht. Ich konnte meinen Herzschlag in den Ohren hören. Da stand: Ihr hattet doch mal Interesse am Jensenhof. Immer noch? Er ist noch frei. Frag mal deine Mutter nach ein paar schönen Geschichten. Und wenn ihr Zeit habt, trinken wir einen Kaffee, und ich zeige euch das Haus.

Jetzt wiederum stürmte ich in das Zimmer von Annabell. »Wo hast du das her? Wer hat dir das geschickt? Was weißt du darüber?«

»Ja, sehr witzig. Als ob das nicht von euch kommt.«

»Es ist nicht von uns!« Ich betonte jedes Wort übertrieben und zu laut. »Ja, wir haben uns dieses Haus angesehen, aber das ist dreizehn Jahre her. Noch mal: Von wem hast du das?« Meine Stimme kam mir selbst fremd vor, hysterisch schrill.

Daran merkte wohl auch meine Tochter, dass es mir ernst war. »Ich …«, begann sie zögernd, »keine Ahnung. Ehrlich. Ich kenn’ den Absender nicht. Die Nachricht ist gerade gekommen. Was ist das denn? Kapier ich nicht.«

Ich stand dort in ihrem Zimmer, sah sie minutenlang nur an. Überlegte, was ich sagen sollte und was nicht. Dachte an die Jahre, als sie noch klein war, den Kindergarten, wie gerne sie die dunklen Haare zu Zöpfen gebunden trug, an fröhliche Geburtstage, Rollerblades fahren, Pflaster aufkleben, Kinderlachen, die Einschulung, ihren roten Anorak, den sie trug, bis er auseinanderfiel, die erste Liebe. Es war, als liefe das Leben bereits an mir vorbei. Ich weiß nicht warum, aber instinktiv begriff ich, dass für Schweigen keine Zeit mehr blieb. Ich musste ihr jetzt die Geschichte erzählen.

»Du warst damals ungefähr vier Jahre alt, dein Bruder zwei. Dein Vater und ich waren auf der Suche nach einem größeren Haus, vielleicht ein kleiner Bauernhof auf dem Land. Wir wollten raus aus der Stadt. Haben an eigene Hühner, angebautes Gemüse gedacht, vielleicht Ziegen, wenn das Grundstück groß genug wäre. Eines Tages im März 2002 haben wir im Internet den Jensenhof entdeckt. Lange haben wir uns immer nur die Bilder angeschaut und gelesen, was dort stand. Sechshundert Kilometer waren weit. Wir waren nicht sicher, ob wir so weit wegziehen sollten.

Nach ungefähr einem halben Jahr entschlossen wir uns, mit euch dort oben im Norden zwei Wochen Urlaub zu machen, nebenbei könnten wir uns das Haus ansehen. Weil Adresse und Telefonnummer schon im Internet standen, sind wir einfach hochgefahren. Haben die Daten mitgenommen und dachten, wir könnten den Besitzer ja auch später noch kontaktieren. Wir wollten nicht zu viel Wirbel machen, weil wir selbst zu unsicher waren.

Es hieß in der Anzeige, der Besitzer würde direkt nebenan wohnen und man sollte einfach klingeln. Vielleicht wollten wir uns das Ganze auch erst mal alleine aus einer gewissen Entfernung ansehen. Ich weiß es heute nicht mehr. Ich weiß auch nicht, ob es geholfen hätte, vorher anzurufen. Denn von den Fotos her hatten dein Vater und ich uns schon in das alte Bauernhaus verliebt.«

Einen Moment zögerte ich. Ich hatte nicht wirklich geplant, meinen Kindern jemals von diesem schrecklichen Ort zu erzählen. Wieder stieg es heiß in mir auf, und mein Herz begann zu rasen, meine Hände zitterten.

Aber jetzt ließ meine Tochter natürlich nicht mehr nach: »Und dann, was ist dann passiert?«

»Wir fuhren hoch, nach Dithmarschen, genauer gesagt Albersdorf. Bezogen erst mal die Ferienwohnung machten uns dann mit euch auf den Weg zu dem Hof. Als wir dort ankamen, war schon einiges merkwürdig. Der Hof und die Gegend drum herum waren verlassen; man konnte sehen, dass dort niemand mehr wohnte. Schon lange nicht. Gräser und Sträucher waren meterhoch. Kurz kamen uns Zweifel. Aber dein Vater und ich, wir sahen uns an und wussten beide, was der andere sieht, was wir unbedingt sehen wollten: die Linden, die den kurzen Weg zum Haus säumten. Sie mussten im Sommer, wenn sie blühten, wunderbar aussehen. Und die Säulen am Hauseingang waren einladend und gut erhalten. Nicht protzig, es war ja ein Bauernhaus, aber schmale, hübsche Säulen. Es war wirklich das alte Bauernhaus wie im Internet beschrieben. Es sollte im Jahre 1782 zum ersten Mal urkundlich erwähnt worden sein. Mit einer großen Scheune, die zwar verfallen aussah, das Dach halb eingestürzt. Aber wir wussten ja, dass es renovierungsbedürftig war.

Links vom Haus war eine Wiese von bestimmt fünfhundert Quadratkilometern. Ich konnte schon den Teich sehen, den ich anlegen wollte. Und es gab eine Koppel für ein paar Ponys, die bestimmt noch mal doppelt so groß war.

Das Haus war mal ganz weiß gewesen, an den Seiten hatte es braune Fensterläden. Teilweise hingen sie aus den Angeln. Aber wir konnten uns vorstellen, wie es restauriert aussehen würde. Vielleicht wieder so, wie es wohl in den Nachkriegsjahren ausgesehen haben muss. Ein prächtiges Haus und Grundstück für damalige Zeiten. Mit einigen Kühen, Schweinen, Hühnern. Traktoren und ein Strohlager in der Scheune. Im Sommer, der Duft der Linden, die Katze auf den Pflastersteinen vor dem Seiteneingang. Bienen summen. Ich konnte den Sonntagsbraten riechen, den eine Frau in Schürze zubereitet, während die Kinder draußen herumtoben. Ich konnte Mädchen und Jungen auf Fahrrädern die Schotterwege um das Grundstück entlang fahren sehen, mit Milchkannen am Lenker. Verstehst du, was ich meine, Annabell?«

Meine Tochter nickte und lächelte, schwieg aber. Sie war total gebannt. Wahrscheinlich sah sie das Haus in diesem Moment so, wie ich und Carsten es gesehen haben damals. Wie wir es sehen wollten. Von außen war nicht zu erkennen, was sich drinnen über die Jahrzehnte und Jahrhunderte abgespielt haben muss.

»Ich weiß nicht, was wir erwartet haben, aber trotz des Verfalls zog uns das Haus an. Obwohl auch dein Vater immer wieder kurz zögerte. Aber es war nicht in Worte zu fassen. Wenn man es neutral betrachtete, war die ganze Umgebung düster und unheimlich. Uns war klar, dass wir jetzt nicht näher an den Hof heranwollten. Nicht mit euch. Als wir dann später, zurück in unserer Ferienwohnung, unsere Gastgeber nach dem Hof fragten, erzählten sie uns Schauergeschichten. Immer wieder soll es in dem Haus zu Morden, Selbstmorden, Familiendramen gekommen sein. Gegenseitig sollen sie sich umgebracht haben, das Haus soll im Laufe der Zeit mehrmals gebrannt haben. Immer wieder habe man Menschen entdeckt, auch Fremde, die sich in der Scheune erhängten oder sich selbst erschossen, häufig in der alten Diele. Die Fremden sind Besucher der Familien gewesen, Handlungsreisende, die etwas verkaufen wollten, Angestellte des Hofes, Gäste der Besitzer. Einige sollen durch mysteriöse Unfälle ums Leben gekommen sein, also auch außerhalb des Hauses. Andere, die aus dem Haus kamen, haben danach nie wieder ein Wort gesprochen. Das Ehepaar Petersen, unsere Gastgeber, meinte, dort wohne niemand mehr, und es gab auch keine Verwandten und keine Besitzer. Es müsse wohl ein Scherz gewesen sein, dass wir davon im Internet gelesen haben. So was sei immer mal wieder vorgekommen. Wir sollten uns bloß hüten und nicht dorthin gehen. Jedem, der dieses Haus meide, ginge es gut.

Dein Vater und ich erzählten danach natürlich nicht mehr, dass wir den Hof und das Grundstück eigentlich kaufen wollten. Die Petersens dachten, wir hätten das Haus zufällig beim Spazierengehen entdeckt. Wir sahen uns an, und dein Vater sprach als Erster aus, was wir beide dachten: ›Wie schlimm kann es sein? Das sind doch bloß Schauergeschichten, wie es sie vermutlich in jedem Dorf gibt. Das kann unmöglich alles wahr sein! So etwas gibt es nicht. Es hört sich ja an, als wäre das Haus verflucht. An so was glaube ich nicht. Und du doch auch nicht.‹

Ich war unsicher, aber im Grunde ging es mir wie eurem Vater. Ich konnte mir das alles nicht vorstellen. Vermutlich ist wirklich mal jemand auf dem Hof umgekommen, und Familiendramen gibt es heute auch noch. Wir beschlossen, doch mal die Telefonnummer auszuprobieren. Aber es gab keinen Anschluss. Die Nummer existierte nicht. Vielleicht hatten wir sie falsch notiert? Wir waren enttäuscht, und uns wurde bewusst, wie sehr wir uns schon vor unserer Reise in den Norden für dieses Haus entschieden hatten. Je weniger es möglich schien, umso mehr wollten wir es.

Ich kann es dir heute nicht anders erklären. Es war merkwürdig. Und wir kamen uns auch etwas dumm vor, nicht vorher schon einmal angerufen zu haben.

Was sollten wir jetzt also glauben, was tun? Vielleicht hatten unsere Gastgeber auch selbst Interesse an dem Haus, dass sie es so schlecht machten. Waren sie mit dem Besitzer zerstritten und wollten sich rächen? Oder war wirklich alles ein Irrtum, ein Scherz?

Dein Vater und ich redeten und redeten und kamen zu dem Entschluss, dass wir diese ganzen Schauermärchen wohl niemals aus dem Haus bekommen würden. Wie sollten wir dort leben, einen kleinen Bauernhof haben, vielleicht Feriengäste, wenn solche Geschichten erzählt würden? Wir haben nie mit den damaligen Besitzern gesprochen, wenn es noch welche gab.

Nach den zwei Wochen sind wir einfach wieder nach Hause gefahren. Das ist die Geschichte.«

»Woher haben die dann meine E-Mail-Adresse?«, fragte meine Tochter mich leise, und ich sah Angst in ihren Augen.

Genau das hatte ich vermeiden wollen, all die Jahre. Und auf ihre Frage hatte ich keine Antwort.

Als Carsten etwas später nach Hause kam, erzählte ich ihm von der Nachricht, ließ ihn sie lesen. Ich sehe ihn noch vor mir, blass, zitternd und unendlich müde sah er aus, als er die E-Mail wortlos zurück auf den Küchentisch legte. Er sprach lange nicht, sah mich nur an. Ich wusste genau, was er dachte, wusste genau, was er für Bilder im Kopf hatte. Was ich meiner Tochter nicht erzählte. Dass wir noch mal alleine, ohne die Kinder, dort waren. Und dass wir verrückt genug waren, um in das Haus zu gehen.

Damals gingen mein Mann und ich am frühen Abend noch mal los. Den Petersens sagten wir, dass wir im Dorf essen gehen wollten. Sie hatten angeboten, auf unsere schlafenden Kinder aufzupassen, und wir haben dankend angenommen.

Am Grundstück angekommen, gingen wir also die kleine Lindenallee hinunter und standen schon auf der Wiese. Es war wirklich vieles zugewuchert. Zum Glück trugen wir trotz der Wärme lange Hosen und Shirts, sonst hätten wir uns überhaupt nicht bewegen können, ohne Schrammen und Insektenstiche zu bekommen.

Vom Anfang des Grundstücks konnte man große Steine hinter der Scheune erkennen, in einem angrenzenden Waldstück. Es war klar, dass hier niemand wohnte, und es gab auch kein Haus in der Nähe, wie im Internet beschrieben. Aber etwas zog uns weiter.

Wir beschlossen später, einen Blick in die Fenster zu werfen, erst mal gingen wir das Grundstück ab. Ich weiß nicht mehr, wie viel freier Wille noch vorhanden war, alles zog uns an, wir mussten es uns ansehen. Als ob der Hof uns brauchte. Er lockte und schob uns immer weiter.

Zuerst gingen wir auf den Wald zu. Die großen Steine zwischen den hohen Laub- und Tannenbäumen hinter der Scheune entpuppten sich als Grabsteine! Ich war überrascht und erschrocken, dass es hier einen kleinen Friedhof gab. Die Gräber standen nicht in Reih und Glied, auch nicht im Kreis, sie waren eher zufällig angeordnet, kreuz und quer, einige standen mit der Rückseite zum Hof. Es schien kein öffentlicher Friedhof zu sein. Denn es gab, soweit wir es erkennen konnten, keinen anderen Eingang als den über die Zufahrt zum Jensenhof. Ich weiß noch, dass ich ungläubig auf die Steine schaute und Carsten fragte, ob denn so etwas erlaubt sei. Dass man einen eigenen Friedhof haben konnte. Wir haben über dreißig Gräber gezählt. Es waren Findlinge, in die Namen und Jahreszahlen eingraviert waren. Einige Nachnamen waren gleich, es waren also Verwandte, andere einzeln und sehr unterschiedlich. Die Alterspannen gingen von wenigen Monaten bis weit über neunzig Jahre. Die Steine waren teilweise verwittert, grün vom Moos; Algen und Flechten hatten sich angesiedelt. Die Jahreszeiten hatten ihre Spuren hinterlassen.

Was war das für ein »privater« Friedhof? Das letzte Sterbedatum war über zwanzig Jahre her. Damals schon. Es war unheimlich. Merkwürdig war auch, dass der Waldrand direkt an das völlig zugewucherte Grundstück grenzte und irgendwie ordentlich aussah. Sicher, auf dem Waldboden lagen Äste und Laub, aber es war nicht verwildert. Jemand schien die Steine freizuhalten. Es wirkte nicht natürlich hier.

Später fiel uns auf, dass man keinen Vogel hörte, keine Maus lief durch das Unterholz. Aber mein Mann und ich setzten unseren Weg fort, gingen unbeirrt auf das Haus zu. Wie an Fäden gezogen.

Beim Haus angekommen, blieb es nicht dabei, durch die Fenster zu sehen. Ich musste die Türklinke anfassen, drückte sie langsam herunter, und die Tür ließ sich öffnen. Die Scharniere quietschten, und das Holz knarrte. Sofort war da eine Kühle, ich bekam Gänsehaut, zog meine dünne Strickjacke fester um meinen Körper.

Carsten war direkt hinter mir. Wir gingen durch die große Diele. Hier fiel es einem schon schwerer, schöne Bilder von vergangenen Tagen heraufzubeschwören. Überall standen noch Möbel, aber alles war kaputt. Tischbeine fehlten, Stühle waren umgekippt, Polster aufgeschlitzt. Gerahmte Fotografien hingen schief an den Wänden. Spinnweben waren an den Decken, in den Ecken. Ungeziefer und Insekten, wohin man nur schaute. Die Natur hatte sich offenbar Teile des Hauses zurückgeholt. Es roch feucht und muffig. Mehr noch: In jeder Faser dieses Hauses klammerte sich der Geruch von Tod und Verwesung, von Gewalt und Verwahrlosung. Ich kann es nicht anders beschreiben. In der Küche standen Teller auf dem Tisch und Tassen, aber es lag auch zerbrochenes Geschirr auf dem Boden. Die große Uhr über der Tür hatte ein zersprungenes Glas. Sie war eines Tages um 7 : 35 Uhr stehengeblieben. Überall lag Kleidung, alles war zerrissen und verlottert. Es wuchsen Sträucher durch kaputte Fenster. Es gab Matratzen, Betten, eine Wiege, Kinderspielzeug aus Holz und auch Plastik, doch nichts davon war heil.

Und überall waren Flecken. An Wänden, auf Fußböden und Fliesen. Rötlich-braun bis dunkelgrau verklebtes Zeug.

Ich habe mich damals nicht getraut, es auszusprechen, zu fragen, ob es Blut sei. Heute weiß ich, es war überall Blut. Messer lagen herum, große, mit ähnlichen Flecken darauf. Wir fanden in einem Zimmer eine abgesägte Schrotflinte.

An einem Balken im Schlafzimmer hing ein Strick. Während des ganzen Rundgangs sprachen mein Mann und ich kein Wort. Nicht ein einziges. Wir gingen einfach wortlos immer weiter. Von einem Zimmer ins andere. Manchmal blickten wir uns an. Suchten die Augen des anderen nach Antworten ab. Aber es gab keine. Manchmal deutete der eine mit dem Kopf auf etwas, wenn er etwas entdeckt hatte. Hinter jeder Ecke, Tür, in jedem Flur erwartete ich, einen toten Körper zu finden. Aber da war nichts. Und mit einem Mal waren wir wieder an der Seitentür angelangt. Auf einmal war etwas wie abgeschnitten. Wir konnten gar nicht schnell genug hinauskommen. Die Hitze draußen schlug mir wie eine Wand entgegen. Wie konnte es dort drinnen so kalt sein, wenn es draußen über dreißig Grad waren? Wir rannten und stolperten fast den kleinen Weg hinauf zur Straße. Carsten sah blass aus. Ich fühlte mich zittrig. Schweigend gingen wir in Richtung Ferienwohnung. Niemand musste etwas sagen. Es gab keine Möglichkeit, in dieses Haus zu ziehen.

Auf einmal war der Hof, das Grundstück – alles kalt und hässlich, dunkel und grau. Leblos. Das hatte uns das Haus klargemacht. Es hatte uns gezwungen, sich alles anzusehen und uns dann hinausgeworfen. Es hatte uns wieder ausgespuckt. Wir waren dankbar und erleichtert, dass wir dem Ganzen entkommen waren. Die Petersens sahen uns, als wir vom Hof zurückkamen. Sie sagten zuerst wenig. Baten uns noch auf einen Tee herein. Was wir dankbar annahmen. Jetzt sahen sie uns eindringlich an, und dann fragte Frau Petersen: »Geht es Ihnen nicht gut? Sie sehen ja aus, als hätten Sie Gespenster gesehen. Sie waren doch nicht in dem Haus, oder? Glauben Sie mir, ich sage das nicht gerne, aber es gibt nichts Gutes von diesem Haus zu erzählen. Es ist verflucht. Jeder, der diese Geschichten kennt oder noch entfernt Menschen kennt, die dort gestorben sind, macht um den Hof einen großen Bogen.

Früher haben die Leute manchmal gesagt, das Haus brauche Opfer, sonst würde es zu Staub zerfallen. Andere sagen, es gäbe noch Geister dort, die es nicht ins Totenreich geschafft haben. Ich weiß nicht, ob etwas davon wahr ist oder nicht, ich weiß nur, dass mich nichts und niemand dazu kriegt, auch nur einen Fuß auf dieses Grundstück zu setzen.

Man sagt sogar, es hätte schon zweimal jemanden gegeben, der es verbrennen wollte. Wenn es so war, ist es ihnen nicht gelungen. Und es hat schon einige mysteriöse Unfälle auf dem Grundstück gegeben und auf den Straßen um den Hof.

Es gibt nur noch eine Person, die einiges über dieses Haus sagen könnte: Herr Paulsen. Er ist inzwischen über achtzig Jahre alt. Wohnt im Nachbardorf im Pflegeheim. Seit dreißig Jahren lebt er dort. Oder wartet auf den Tod. Ich weiß es nicht. Er hat seit dreißig Jahren nicht gesprochen. Nachdem er ebenfalls im Haus war. Wollte es mit seiner Firma herrichten zum Verkauf. Die Gemeinde wollte es verkaufen. Das war der letzte Versuch.«

Wir hatten matt den Kopf geschüttelt, als Frau Petersen uns fragte, ob wir auch ja nicht in dem Haus gewesen seien. Wir bedankten uns für den Tee und gingen nach oben in unsere Wohnung. Als Erstes sahen wir nach den Kindern. Sie schliefen tief und fest und sahen friedlich aus. An Schlaf war bei uns überhaupt nicht zu denken. Wir lagen im Bett und wälzten uns hin und her. Wenn ich kurz einschlief, dann träumte ich schlecht. Jemand war hinter mir her. Hielt mich fest, ließ mich nicht los. Aber ich konnte sein Gesicht nicht erkennen. Ich rannte und rannte, aber er ließ sich nicht abschütteln.

Am nächsten Tag reisten wir ab. Das ist jetzt dreizehn Jahre her. Und nun war diese E-Mail gekommen.

Nachdem Carsten und ich Felix alles erzählt hatten, was auch seine Schwester wusste, blieb uns nicht mehr viel Zeit. Aber das wussten wir nicht. Wieder wartete auf uns eine Nacht ohne Schlaf. Es war eine seltsame Stimmung bei uns allen. Viel Schweigen. Ungläubig. Fassungslos. Als ob wir wussten, dass hier etwas zu Ende geht. Nur war uns nicht klar, was alles.

Ständig lief einer von uns den Flur auf und ab. Ins Bad, in die Küche, Türen schlossen und öffneten sich leise. Carsten und ich sprachen, überlegten, was wir tun könnten oder sollten. Sollten wir dem Absender der E-Mail antworten? Ihn bitten, uns in Ruhe zu lassen? Ihm drohen? Sollten wir zur Polizei gehen? Aber womit eigentlich genau? Damit, dass wir vor dreizehn Jahren ein Haus angesehen hatten, zu dem es keinen Besitzer zu geben schien? Und die E-Mail? Sie war ja sogar freundlich formuliert. Nur wenn man das Haus kannte, wusste man, dass der Text grauenhaft und zynisch war.

Sollten wir unser Haus jetzt sofort verlassen? Verkaufen? Wegziehen? Wenn der Absender der E-Mail uns hier gefunden hat, wird er uns auch woanders finden. Ich befand mich zwischen Panik und Resignation. Mal schoss mir wieder die Hitze in den Kopf, mein Herz klopfte, und panisch dachte ich, wir müssten doch irgendetwas tun. Unsere Familie beschützen, in Sicherheit bringen. Dann sank ich wieder in mich zusammen, meine Arme hingen schlaff herunter, und ich dachte, es hat doch alles keinen Sinn mehr.

Ich glaube, Carsten ging es ähnlich. Wir überlegten und wendeten alles hin und her. Aber wir fanden keinen Ausweg. Mein Mann hatte auch Angst und war nachdenklich. Er sah müde aus, und ihm schienen auch keine Worte mehr einzufallen.

Einmal sah er so aus, als wollte er gleich etwas sagen, und schien es dann wieder zu verwerfen. Es war makaber. Denn wir hatten Angst und wussten gar nicht richtig wovor. Aber wir waren uns sicher, dass sie angebracht war.

Was dann geschah, vermutlich im Morgengrauen, weiß ich nicht. Ich habe keine Erinnerungen daran. Das ist ehrlich gesagt tröstlich.

Drei Tage nach der E-Mail sehe ich, wie die Polizei bei uns an der Tür klingelt. Ich will öffnen, aber ich kann nicht. Ich bin nicht in der Wohnung. Ich sehe alles von außerhalb. Niemand öffnet. Nachbarn werden befragt, ob sie wüssten, wo wir sind. Carsten und ich sind nicht zur Arbeit erschienen, die Kinder nicht zur Schule gekommen. Wir gelten als vermisst. Die Polizei lässt unsere Haustür von der Feuerwehr öffnen, ich sehe Polizisten im Haus, Menschen in weißen Overalls, Briefe werden geöffnet, Schubladen, Schränke, Kleider herausgenommen, Taschen durchsucht. Aber sie können keine Anhaltspunkte finden.

Unsere Computer und Laptops werden hochgefahren. Annabells Computer wird hochgefahren. Ihr Mailfach geöffnet. Es gibt Mails von Freundinnen, von ihrem Freund, Laurenz, von Schulkameraden, aber keine E-Mail von dem Unbekannten über das Haus. Sie ist einfach nicht da. Nichts deutet auf ein Verbrechen hin. Und doch ist es geschehen.

Ich drehe mich um, verlasse mein Haus. Meinen Mann sehe ich nicht, auch nicht meine Kinder. Ich scheine durch Raum und Zeit zu schweben. Mir tut nichts weh, ich bin nicht müde. Ich fühle … was fühle ich? Einen Hauch Hoffnung, der schwindet, eine leichte Traurigkeit. Wie durch Nebel. Die Gefühle, wenn es denn welche waren, entfernen sich. Ich kann sie nicht halten.

Jetzt schwebe ich über dem Waldfriedhof in Albersdorf, über dem Bauernhof. Ich sehe aufgeworfene Erdhügel. Und neue Steine. Vier neue Findlinge. Die Namen dort sind Carsten, Susanne, Annabell und Felix. Gestorben 2015.

Detlef Klewer

Die dunkle Seite der Seele

Das Gebäude erweckte in keiner Weise den Verdacht, eine Brutstätte des Bösen zu sein. Ein neobarocker Altbau mit Wohnraum für drei Mietparteien. Abblätternder Putz verlieh ihm ein zwar ungepflegtes, aber keinesfalls unheimliches Erscheinungsbild.

Nun, der erste Eindruck kann durchaus täuschen, nicht wahr? Man sollte ja auch niemals den Inhalt eines Buches aufgrund seines Covers beurteilen. Denn Peter Kürten, bekannt als Vampir von Düsseldorf, bewohnte seinerzeit eine Mietwohnung in einem ebenso unscheinbaren, fünfstöckigen Vorstadthaus …

Die Umgebung hier wirkte geradezu pittoresk. Lauter Patrizierhäuser, vom Krieg verschont, mit frisch getünchten Fassaden. Eine kleine Bäckerei, die neben zwei Dutzend Brotsorten, Bienenstich, Käsesahne und Apfelkuchen, sogar kandierte Früchte anbot. Eine Metzgerei, deren umfangreiches Angebot verschiedener Fleischprodukte unmissverständlich signalisierte: Vegetarier unerwünscht.

Ob Candelari hier zu seiner Zeit wohl »Oberschenkelrollbraten« und »saure Nierchen im Glas« als Kommissionsware angeboten hatte?

Lediglich das unbewohnte Anwesen gegenüber, mit seinem hoffnungslos verwilderten Grundstück, trübte die Spießer-Idylle ein wenig.

»Das ehemalige Kreiswehrersatzamt«, erklärte Graszikowski. »Mit Ende der Wehrpflicht geschlossen und in die Stadtverwaltung integriert. Der Park da unten ist das Eldorado für Schwule. Die bücken sich immer noch, um was reingeschoben zu bekommen, nur, dass das jetzt nicht mehr der Finger vom Stabsarzt ist.« Er grinste anzüglich und zwinkerte mir zu, als rede er mit einem Gleichgesinnten.

Ich hielt den Mund. Der Typ verkörperte zwar das Paradebeispiel eines Kotzbrockens, aber gleichzeitig war er mein Vermieter, und ich wollte nicht schon am ersten Tag Streit mit ihm riskieren. Er schloss die Haustür auf, und wir betraten den Flur.

»Sie reisen mit leichtem Gepäck«, bemerkte er mit Blick auf meinen abgestellten Koffer und die Notebooktasche. Diesen berechnenden Blick kennt man aus schlechten Krimis – von zwielichtigen Informanten, die auf einen Packen Dollarscheine Belohnung spekulieren. Er kam auch gleich zur Sache: »Auf dem Dachboden lagern noch einige Möbel in tadellosem Zustand. Ich könnte sie Ihnen für einen kleinen Obolus überlassen. Einen Kleiderschrank etwa, oder ein Bett …?«

Augenblicklich schoss mir die Frage nach dem Verbleib von Candelaris Bett durch den Kopf. Landete es seinerzeit wohl auf dem Sperrmüll, oder zahlte irgendein Perverser während einer E-Bay-Auktion eine horrende Summe für die nächtliche Lagerstätte eines Massenmörders?

Dann erinnerte ich mich wieder an das Angebot des erwartungsvoll wartenden Graszikowski und schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, aber in meinem Auto befinden sich ein Campingtisch und zwei Stühle. Zusammen mit der Matratze reicht das für den Anfang. Später … sehen wir dann weiter«, erklärte ich ausweichend.

»In Ordnung. Ihre Entscheidung«, kommentierte er knapp in leicht beleidigtem Tonfall, der Ärger über meine Ablehnung signalisierte.

Wir stiegen die Treppe zu meiner neuen Behausung im zweiten Stockwerk empor.

»Und Sie wollen wirklich über diesen … Kanneloni schreiben?«

»Äh, Candelari«, korrigierte ich.

Er winkte ab. »Wie auch immer. Ein Mörder eben, aber was soll man von einem Ausländer auch anderes erwarten …«

Graszikowski – sein Name, die geringe Körpergröße und schwarze Bartstoppeln legten die Vermutung nahe, dass er sich auch nicht unbedingt einer Verwandtschaft mit Siegfried von Xanten rühmen konnte. Na ja, blinder Hass und Vorurteile haben sich noch nie um Logik geschert.

»Egal. Ich hab’ diesen Schuppen damals für’n Appel und ’n Ei gekauft, weil keiner das Haus eines Serienkillers wollte.« Er zuckte die Achseln. »Teppichboden und frische Wandfarbe wirken Wunder. Die Leute erinnern sich sowieso nicht besonders lange. Wie mit diesen Wahlversprechen: Die vergisst man auch schnell.« Er rieb sich die Hände. »Inzwischen leben nur noch ein paar alte Säcke in der Nachbarschaft, die sich an die Geschichte des Hauses erinnern, na, und auf die hört sowieso keiner mehr.« Er lachte. »Na ja, Sie wissen schon: Alzheimer lässt grüßen.« Dann wies er auf den Boden. »Eines dieser Exemplare wohnt übrigens unter Ihnen. Hat wahrscheinlich schon zu Kaiser Wilhelms Zeiten eine Pickelhaube getragen. Sieht aus wie Ramses der Schrumplige, den Carter in diesem ägyptischen Königsgrab entdeckt hat. Na, und Brüderchen Wodka hat unserem Ramses auch nicht gutgetan.«

Wieder dieses gehässige Lachen.

»Jedenfalls ist das jetzt ein ganz normales Haus.« Seine Miene wurde verschwörerisch. »Obwohl … die meisten Mieter bleiben nicht lange. Nur ein paar Wochen … Monate, wenn’s hochkommt. Frauen oft nur ein paar Tage, ehe sie bei Freunden Unterschlupf suchen und die dann bitten, ihre Habe abzuholen. Keine Ahnung warum.«

Ich argwöhnte als Grund der überstürzten Abschiede meinen sympathischen Vermieter, sprach aber diesen Verdacht natürlich nicht aus.

Graszikowski erwärmte sich für sein »Ehemalige-Mieter-Thema«, während er meine Wohnungstür aufschloss und mir den Schlüssel reichte. »Eins von diesen hysterischen Weibern ist sogar verschwunden … abgehauen, um nie wieder aufzutauchen. Die Polizei stellte vom Keller bis zum Dachboden alles auf den Kopf, fand aber keine Spur von ihr. Die verdächtigten sogar mich!« Die letzten Worte klangen empört. »Hähä, vielleicht mochte Kanneloni diese Tusse einfach nicht und hat ein bisschen gespukt.«

Nun musterte er mich aufmerksam. »Na, wenn Sie sogar über diesen Mörder schreiben wollen, wird Ihnen sein Gespenst ja wohl kaum Angst einjagen. Ich könnte Ihnen da noch so einiges erzählen …«

Nach dem missglückten Versuch, mir seinen Sperrmüll anzudrehen, hoffte er nun wohl auf ein Honorar für seine Geistergeschichten. Als ich jedoch kein Interesse zeigte, zuckte er die Achseln. »Dann eben nicht. Fakt ist jedenfalls: Wohnraum ist knapp, die Nachfrage groß, also kann ich mich nicht beschweren. Hauptsache, Sie zahlen.«

Ich dachte an die drei Monatsmieten Vorkasse, die mein ohnehin knappes Budget komplett auffraß, und biss die Zähne zusammen.

Dann traf er Anstalten zu gehen. »Wissen Sie, die Kellerräume zeige ich Ihnen später, wenn Sie sich … eingerichtet haben.« Sein Groll über den verweigerten Zusatzverdienst schien noch nicht verflogen.

Ich nickte.

Endlich zog er die Tür hinter sich zu und ließ mich in meinem neuen Domizil allein. Ich horchte den verklingenden Schritten nach, bis mir schließlich das Schlagen einer Tür den Rückzug in sein eigenes Reich bestätigte.

Die Sonne stand tief und warf bizarre Schatten durch das Blattwerk einer Eiche, die wohl schon seit Hunderten von Jahren auf dem gegenüberliegenden Grundstück wuchs. Vielleicht diente der knorrige Baum im Mittelalter als Femeiche, an deren Ästen glücklose Delinquenten als Rabenfutter im Wind pendelten.

Zunächst galt es, mich mit den Räumlichkeiten vertraut zu machen. Ohne große Erwartungen Wände und Fußboden abklopfend, empfand ich dennoch eine gewisse Enttäuschung, als nichts darauf hindeutete, dass sich irgendwo verborgene Tagebücher oder ähnliche Aufzeichnungen befanden.

In den nächsten Tagen wollte ich mir das Stadtarchiv vornehmen und die Redaktion der hiesigen Lokalzeitung aufsuchen. Mit ein wenig Glück begegnete ich in der Nachbarschaft vielleicht sogar noch dem einen oder anderen Zeitzeugen für ein Interview über Candelari.

Auf meinem Notebook begann ich, erste Ergebnisse meiner Recherchen im Vorfeld aufzulisten: Mario Candelari, geboren 1956 in Neapel; Sohn eines Wanderarbeiters, der in den 70er Jahren sein Glück als Gastarbeiter in der BRD versuchte. Fünf Jahre später Tod des Vaters bei einem Baustellenunfall. Die Mutter kehrte daraufhin nach Italien zurück. Candelari blieb, absolvierte eine Tischlerausbildung und lebte unauffällig in verschiedenen Städten. Unverheiratet. Keine Kinder. Eine ganz normale Lebensgeschichte, keine Konflikte mit dem Gesetz, keine Streitereien mit Nachbarn. Ein unbescholtener Bürger, dem niemand zugetraut hätte, dass er in seiner Freizeit Frauen in Filetstücke zerlegte. Erhängte sich mit seinem Gürtel. Seine Tatmotive lagen bislang weitgehend im Dunkeln …

Nachts plagte mich ein seltsamer Traum. Aber Träume sind nun einmal häufig surreal wie begehbare Bilder von Dali oder Giger. Ich beobachtete Candelari, der mit blutrotem Grubenhelm eine Lore durch einen Minenstollen schob. Lächelnd und großzügig verteilte er »Zartes-Frauenfleisch-in-Aspik«-Weckgläser an kohlenstaubgeschwärzte Arbeiter. Keine Ahnung, weshalb mein Unterbewusstsein Candelari in ein Bergwerk versetzte, obwohl er vermutlich zeitlebens einem Förderturm nicht einmal nahe kam. Sollte es ein Wink sein, den Keller dieses Hauses nach versteckten Aufzeichnungen zu durchsuchen?

Schlaftrunken schreckte ich hoch, als ein heftiger Schlag das Haus erbeben ließ. In meinem Kopf triumphierte der Primal Fear-Leadsänger »This is Armageddon!«, während die Gitarren der Metalband zustimmend jaulten. Dann durchzuckte grelles Licht den Raum. Also doch kein Weltuntergang, sondern nur ein heftig tobendes Unwetter.

Ungewöhnliche Kälte ließ mich frösteln. Es schien mir in diesen Räumen jetzt unverhältnismäßig kühl zu werden, obwohl die Außentemperatur immer noch mehr als 10 °C betrug.

Ich kannte diesen parapsychologischen Unsinn über potenzierte »negative Energien« an bestimmten Orten, die angeblich Phänomene wie den kalten Hauch auslösten und für ruhelose Seelen gehalten wurden. Für diesen Quatsch konnte ich mich allerdings nicht erwärmen. Frierend erhob ich mich, schlurfte gähnend zum Fenster und spähte durch regenblinde Scheiben im Toben des Unwetters nach den apokalyptischen Reitern. Und da … erblickte ich ihn!

Er stand unten, neben der Eiche, mit einem Spaten in der Hand, sah zu meinem Fenster herauf und wirkte wie eine dreidimensionale Schwarzweißfotografie. Candelari!

Es existierte nur ein einziges Foto von ihm, das einen gut aussehenden, schwarz gelockten Italiener zeigte – die Gesichtszüge eine seltsame Mischung zwischen Priester und Gigolo. Völlig unmöglich, aber dort stand eindeutig Candelari!

Ungläubig hielt ich den Atem an, schloss die Augen, öffnete sie und … die Gestalt war verschwunden!

Natürlich reine Einbildung! Der grelle Blitz musste mich geblendet und meiner Netzhaut ein Trugbild eingegeben haben. Und doch … er sah so erschreckend real aus, da im Halbdunkel neben der Eiche!

Mein Herz trommelte wild, und mir war übel – als hätte ich eine doppelte Portion dieses schwer verdaulichen Asia-Fraßes verschlungen, für dessen Werbecampagnen ich damals zwei Jahre meiner Lebenszeit opferte.

In dieser Nacht dauerte es lange, bis es mir endlich gelang, wieder einzuschlafen.

Mein erster Besucher im neuen Heim erschien in Gestalt meiner Ex Annette. Ihre Visiten begannen üblicherweise mit den Worten »Hallo, ich war gerade in der Nähe«, obwohl wir beide wussten, dass es sich bei dieser Erklärung um blanken Bullshit handelte, denn sie wohnte am sprichwörtlichen »Arsch der Welt«.

Sie suchte den Kontakt zu mir nur, um sich gelegentlich davon zu überzeugen, wie schlecht es mir nach unserer Trennung selbstverständlich immer noch erging. Das steigerte offenbar ihr Wohlbefinden. Ihre Heimsuchungen verdankte ich meiner unüberlegten Einwilligung in die Plattitüde »lass uns Freunde bleiben«. Dabei verband uns schon längst keine Freundschaft mehr. Jetzt steckte ich durch eigene Dummheit in der Twilight-Zone fest: gezwungen, weiterhin diese schnippischen Kommentare zu ertragen, die mich schon zu besseren Zeiten in Rage brachten. Ja, doch, es gab durchaus einmal bessere Zeiten. Zuneigung. Leidenschaft.

Die klassische Geschichte: Verliebte verhüllt komplett in rosarote Wolken. Erst später, wenn die süßlichen Schwaden langsam verwehen, gewinnt das Gegenüber jene unangenehm scharfen Konturen, Ecken und Kanten, die der Nebel vorher so lieblich weich zeichnete.

»So, hier hat also mal ein Massenmörder gewohnt?« Misstrauisch schaute sie sich in meinen neuen vier Wänden um und fuhr sich durch ihr rot gefärbtes Haar. »Also weißt du, irgendwie bereitet mir der Gedanke Gänsehaut. Genau genommen finde ich es ziemlich krank, dass du ausgerechnet hier eingezogen bist. Mich würden hier keine zehn Pferde halten«, sagte sie, strafte ihre Worte jedoch Lügen, indem sie neugierig jedes Zimmer inspizierte. Vielleicht hoffte sie insgeheim, eingetrocknete Blutflecke an den Wänden zu entdecken, auf die sie anklagend deuten konnte, um ihrer Abscheu gebührend Ausdruck zu verleihen. Da sie zu ihrer Enttäuschung nur makellos weiße Wände zu sehen bekam, wandte sie sich einem ergiebigeren Dauerthema zu: meiner Erfolglosigkeit als Schriftsteller. »Jetzt willst du wirklich widerliche Horrorgeschichten schreiben?«, fragte sie lauernd.

»Die Dokumentation tatsächlicher Verbrechen kann man wohl kaum als Horrorgeschichte bezeichnen«, widersprach ich.

»Na, auf die ausführliche Schilderung blutiger Details wirst du wohl kaum verzichten, oder?« Sie zog eine Zigarettenschachtel hervor. »Ich darf doch?«, erkundigte sie sich rhetorisch, nur um ihre Frage gleich selbst zu beantworten. »Nach all dem hier schon verspritzten Blut wird ein wenig Zigarettenrauch wohl nicht schaden.«

»Ich habe keinen Aschenbecher«, erklärte mein Restwiderstand, während mich gleichzeitig die Vorstellung peinigte, sie werde für dieses Versäumnis meine hohle Hand einfordern.

Sie warf einen Blick in die Schachtel und erwiderte: »Ach, kein Problem, ist sowieso die letzte. Ich nehme einfach die Packung.« Die Zigarette zwischen spitzen Fingern wartete sie, entsann sich dann, dass ich nicht mehr rauchte, und kramte in ihrer Tasche nach einem Feuerzeug.

»Außerdem: True Crime findet reißenden Absatz«, setzte ich tapfer meine Verteidigung fort. Das entsprach der Wahrheit. Eine Vielzahl von Lesern gierte danach, die Abgründe eines perversen Hirns auszuloten. Abscheu und Faszination hielten sich dabei in etwa die Waage. Oft überwog allerdings die Faszination.

Annette ließ sich damit nicht beeindrucken. Sie zuckte die Achseln. »Na ja, was soll’s, schlimmer als dein armseliger Job für diese asiatische Fastfood-Kette kann es ja kaum werden«, streute sie Salz in eine offene Wunde.

Zwei Jahre lang mein Talent für Glückskekssprüche im Stile Lao-Tses zu verschwenden bereitete mir heute noch fast körperliche Schmerzen. Meine Ex nutzte genüsslich jede Gelegenheit, mich daran zu erinnern.

Ich verkniff mir mühsam eine scharfe Erwiderung. Jede Reaktion auf ihre Sticheleien zöge – wie immer – heftige Diskussionen nach sich, die ihren Aufenthalt nur unnötig verlängerten. Schade, dass Candelari nicht mehr lebte. Ich hätte die beiden gerne einander vorgestellt …

Ehe das Schweigen peinlich werden konnte, beschloss Annette: »Na gut, ich muss jetzt gehen …« Sie zögerte kurz und fügte dann zuckersüß hinzu: »Ich hoffe, dass deine Wünsche mal in Erfüllung gehen.« Dann winkte sie mir zu und verschwand.

Sie ahnte ja nicht, dass ich sie vor einem Moment noch mit einem Serienkiller verkuppeln wollte, andernfalls wäre sie mit ihrem Wunsch wahrscheinlich vorsichtiger gewesen …

Am folgenden Tag erwies sich mein Besuch im Stadtarchiv als wenig ergiebig. Mithilfe einer Studentin in pinkfarbenen Jeans und »Verdirb mir meine schlechte Laune nicht« bedrucktem T-Shirt klaubte ich einige dürftige Informationen über meinen derzeitigen Wohnsitz zusammen.

1870 von einem nicht ortsansässigen Architektenduo namens Heckler & Wilhelmsen im Auftrag des Unternehmers Franz Brunswinkel erbaut. Das einzig interessante Detail bestand darin, dass auch dieses verfallende Anwesen gegenüber in Zusammenarbeit des Bauherrn mit den beiden Architekten entstand. Dort residierte seinerzeit der Firmenbesitzer mit seiner Familie, während das andere Gebäude verdienten Mitarbeitern kostenfreien Wohnraum bot.

Meine blond gelockte Helferin vertröstete mich Kaugummi kauend mit der Aussicht, dass der Archivar in genau siebzehn Tagen aus seinem Jahresurlaub zurückkehre und mir dann vielleicht noch weitere Informationen beschaffen könne. Bis dahin, so teilte mir ihr gelangweilter Blick mit, solle ich sie nicht weiter belästigen.

Die Sonne brannte auf meinem ungeschützten Nacken. Missmutig über die magere Informationsausbeute stand ich vor den rostigen Eisengittern in bröckelndem Stein, die die ehemalige Brunswinkel-Residenz vor Eindringlingen schützen sollten. Ob es wohl aufschlussreich wäre, dem Grundstück im Schutze der Dunkelheit einen Besuch abzustatten?

Wahrscheinlich nicht: Candelari verbuddelte die Reste seiner Opfer ja nicht hier, sondern im Keller seines Wohnhauses.

Noch in Überlegungen versunken, beschlich mich dieses unerklärliche Gefühl, beobachtet zu werden. Ich wandte mich um, blickte zu den leeren Fenstern meiner Wohnung auf, in denen sich die Sonne gleißend spiegelte und mich blendete. Dennoch meinte ich, dort eine plötzliche Bewegung wahrzunehmen. Ein Beobachter, der sich ertappt fühlte und zurückzuckte? Candelari! Der Gedanke durchfuhr mich wie ein Schock, dann wich er einer rationaleren Betrachtungsweise. Mein liebenswerter Vermieter nutzte möglicherweise die Gunst der Stunde, um ein bisschen zu spionieren und in meinen Sachen zu wühlen!

Wütend sprintete ich über die Straße, öffnete hastig die Eingangstür und wollte gerade die Treppe hinaufstürmen, als sich hinter mir die Wohnungstür öffnete.

Graszikowski stand im Türrahmen, ein mit braunem Packpapier umwickeltes Päckchen in der Hand. Er trat in den Flur, wedelte mit dem Päckchen und sagte: »Passte nicht in den Briefkastenschlitz. Also hat der Postbote es bei mir abgegeben. Ich hoffe, das wird nicht zur Gewohnheit.« Dann drückte er mir das Ärgernis in die Hand und verschwand grußlos in seiner Wohnung.