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Werner J. Egli,

wurde 1943 in Luzern, Schweiz, geboren und lebt heute als freier Schriftsteller in Tucson (USA), in Freudenstadt (D) und in Egg bei Zürich. Seine erfolgreichen und in viele Sprachen übersetzten Jugendbücher wurden unter anderem mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, mit dem Preis der Leseratten (ZDF) und mit dem Jugendbuchpreis der Ausländerbeauftragten des Senats Berlin ausgezeichnet. 2002 wurde er für den Hans-Christian-Andersen-Preis nominiert, die international höchste Auszeichnung für Jugendliteratur.

Unter www.egli-online.com ist der Autor auch im Internet zu finden.

Von Werner J. Egli bei ARAVAIPA:

Der letzte Kampf des Tigers

Black Shark

Aus den Augen, voll im Sinn

Der erste Schuss

Tunnel Kids (Deutsch und Englisch)

Heul doch den Mond an

Bis ans Ende der Fährte

Der Fremde im Sturm

Tarantino

Das Geheimnis der Krötenechse

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Roman

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eISBN 978-3-03864-211-4

Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung,
Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form,
einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien,
der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung
und der Aufnahme in Datenbanken, ausdrücklich vorbehalten.

Lektorat: Horst u. Fritz Eibl (A)
Umschlaggestaltung: Agentur flin, unter Verwendung
einer Illustration von Bert Silberstein (A)
Copyright © 2018 by ARAVAIPA–Verlag,
Egg bei Zürich, Freudenstadt, Tucson

ARAVAIPA im Internet: www.aravaipa.ch

Inhalt

1. Die Geburt

2. Das Regenpferd

3. Skalpjäger

4. Fremde Pfade

5. Zuflucht

6. Carrie

7. Tucson

8. Cielito

9. Der erste Ritt

10. Frei sein

11. Wildes Land

12. Apachen

13. Sommerstürme

14. Die Falle

15. Neues Leben

Das Jahr: 1869

Der Ort: Arizona

Das Regenpferd: Cielito

Der Alte: Nanahe

Der Junge: Paco

Das Mädchen: Carrie Harrison

Der Offizier: Leutnant Timothy S. Finley

Der Skalpjäger: Mackenzie

1. Die Geburt

»An einen Sommer wie diesen kann ich mich nicht erinnern«, sagte der alte Mann, und er hob eine Hand voll Erde vom Boden auf, und die Erde rieselte durch seine Finger und zerfiel zu Staub. Und als seine Hand leer war, öffnete er sie und zeigte sie dem Jungen, der dem Pferd Wasser gebracht hatte. Der Staub, der an seiner Hand kleben geblieben war, zeichnete die Faltenlinien hell, und der alte Mann hob seine Hand und berührte sie mit seiner Zunge, und dort, wo er sie berührt hatte, wurde ein Fleck seiner Haut sichtbar, umgeben von Staub. »Die Erde ist gut«, sagte er zu dem Jungen, der das Pferd beim Trinken beobachtete, »aber wenn es nicht bald regnet, werden wir alle sterben.«

»Es wird regnen, Nanahe«, sagte der Junge. »Es geschah noch nie, dass es nicht geregnet hat.«

»Nicht eine einzige Wolke ist am Himmel zu sehen«, zweifelte der alte Mann, ohne zum Himmel aufzublicken. »Oder hast du vielleicht während der vergangenen Tage auch nur eine kleine Wolke gesehen, Paco?«

Der Junge suchte den Himmel ab. Leer und weiß wölbte er sich über dem knöchernen Antlitz des Landes, das seine Heimat war. Blass breitete es sich vor ihm aus, ein weites, zerfurchtes Wüstental, durch das sich das ausgetrocknete Bett des großen Flusses wand. Nur an seinen Ufern war ein Hauch von Grün zu erkennen, dort in der Niederung, wo die mächtigen Bäume aufragten, einige von ihnen schon beinahe kahl, andere, ihre Wurzeln tiefer im Boden, wo die Erde noch feucht war, mit weit ausladenden Kronen grüner Blätter. Die Luft flimmerte in der Hitze. Die fernen Berge, eine Kette dunkler Buckel am Horizont, bewegten sich wie Inseln in einem Meer, in dem sich Himmel und Erde vereinten.

In der Schleife des Flusses, wo sich zwei Hügel aus der Ebene hoben, befanden sich die San-Angelo-Mission und das Dorf. Er konnte von hier aus die Kirche sehen, den kleinen Glockenturm, der das rote Ziegeldach überragte und die Umfassungsmauer mit dem Torbogen, von dem der Weg zwischen Äckern und Feldern hindurch zum Dorf führte.

Kaum ein Schatten lag über dem weiten Land. Es war Mittag. Die Sonne glühte weiß vom Himmel. Selbst im Schatten der Felsen, in dem sich der Junge und der alte Mann niedergelassen hatten, hoch in den Hügeln über dem Tal, war die Hitze kaum zu ertragen. Das Pferd lag im Schatten, und sein Bauch hob und senkte sich bei jedem Atemzug, und sein Kopf ruhte auf dem blanken Fels, mit halb geschlossenen Augen, und manchmal, wenn es den Schmerz in seinem Leib verspürte, bewegten sich seine Nüstern, und es ließ ein leises Schnauben vernehmen.

Irgendwo in der Nähe, in einer der tiefen Rinnen, die von den Felsklippen über die steilen Hänge hinunter ins Tal führten, blökte ein Schaf. Der alte Mann hob den Kopf. Er lauschte der Stimme des Schafes, und in seinem zerfurchten Gesicht zeigte sich die Sorge um seine Schafe und Ziegen, die er hierher gebracht hatte, weil die Quelle hier oben noch nicht versiegt war.

Und hier hatte er das Pferd vorgefunden, eine Stute, die weder schön noch hässlich war, mit einem rostbraunen Fell voller Narben. Der alte Mann konnte sich nicht vorstellen, woher das Pferd gekommen war und wem es gehört hatte. Vergeblich suchte er in seinem Fell nach Spuren, wie sie von einem Sattel oder einem Zaumzeug hätten hinterlassen werden können. Das Pferd war nicht beschlagen, und es trug kein Brandzeichen wie die Pferde der Mission. Der alte Mann wusste nicht, was er mit dem Pferd anfangen sollte, und so holte er den Jungen her, und der Junge kümmerte sich um das Pferd, brachte ihm Wasser von einem Quelltümpel und gab ihm zu trinken. Der Quelltümpel befand sich in einer Felsnische, hoch über dem Abhang, unerreichbar für ein Pferd, das nicht klettern konnte. Selbst die Schafe und Ziegen des alten Mannes hatten Mühe, am steilen Fels Fuß zu fassen, aber der Durst trieb sie immer wieder aus den Arroyos, diesen tief ausgewaschenen Rinnen heraus, in denen sie tagsüber vor der Hitze Schutz suchten.

Hier oben wehte ein leichter Wind, der kaum Kühlung brachte. Hier oben, hoch über dem Tal, flog manchmal ein Adler im Wind, der noch höher in den Felsen auf einem schmalen Vorsprung, wo eine einzelne, vom Wetter verkrüppelte Zeder aus einer tiefen Spalte wuchs, seinen Horst gebaut hatte. Das Pferd wurde jedes Mal unruhig, wenn es den Adler sah oder seinen Schrei vernahm, trotzdem, obwohl es hätte weglaufen können, zurück dorthin, woher es gekommen war, blieb es in der Nähe der Quelle. Und in der Nacht, wenn der alte Mann seine Schafe und Ziegen ins Tal hinuntertrieb, um sie in einer Koppel unterzubringen, suchte das Pferd Schutz im Mondschatten der Felswände, fraß vom spärlich dürren Gras, das an den Steilhängen wuchs, und wartete auf die Rückkehr des Jungen, der ihm Wasser und eine Hand voll Maisschrot bringen würde.

Jeden Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, kehrten der alte Mann mit seinen Schafen und Ziegen und der Junge aus der Mission zurück, und der Junge nahm sofort den leeren Eimer, den er am Abend zuvor jeweils voll zurückließ, kletterte mit ihm zum Quelltümpel hoch und füllte ihn erneut mit dem klaren kühlen Wasser, das glitzernd aus einer Spalte sickerte, über den Fels herunterlief und sich in einer kleinen Felsmulde sammelte.

»Warum führst du das Pferd nicht hinunter zur Mission, Paco, wo du ihm vom Wasser in der Zisterne zu trinken geben könntest?«, fragte der alte Mann den Jungen einmal.

»Es will nicht«, antwortete ihm der Junge. »Es will hier oben bleiben.

»Und wie willst du das wissen, dass es hier oben bleiben will?«, fragte der alte Mann beharrlich weiter.

»Es würde am Abend mit uns gehen, wenn es nicht hier oben bleiben wollte«, antwortete ihm der Junge.

Und der alte Mann musste ihm Recht geben. Aus irgendeinem Grund, den weder er noch der Junge kannte, wollte das Pferd hier oben bleiben, und der alte Mann überlegte, warum das so war, aber er fand keine befriedigende Antwort auf seine Frage.

Es war so, wie der Junge sagte.

Und einmal würde es regnen. Möglich, dass es dann für viele Leute im Tal zu spät war. Möglich, dass die Quelle versiegte und der kleine Tümpel austrocknete und seine Schafe und Ziegen alle verdursteten. Möglich, dass der Mais auf den Feldern dann verdorrt war und die Vorratskammern leer blieben. Möglich, dass es dort, woher die Wolken kamen, keine Wolken mehr gab und dass der Wind vergeblich blies. Möglich, dass die Erde verbrannte und die Leute das Tal verlassen mussten, um eine neue Heimat zu finden.

War das nicht schon einmal geschehen? Irgendwann in einer Vergangenheit, in die nicht einmal die Erinnerung des alten Mannes zurückreichte. Gab es nicht Ruinendörfer jenseits des Flusses, die langsam zu Staub zerfielen und von denen niemand wusste, wer sie einmal bewohnt hatte?

»Nanahe!«

Der alte Mann fuhr aus seinen Gedanken hoch. Da stand der Junge und zeigte nach Südosten. »Nanahe«, rief er, »schau, dort ist eine Wolke!«

Der alte Mann kniff die Augen etwas zusammen und spähte in die Leere hinaus, und tatsächlich sah er, wie sich, nicht weit entfernt, über dem Tal, scheinbar aus dem Nichts, eine Wolke gebildet hatte, die weiß im Licht der Sonne leuchtete.

Im Laufe des Nachmittags wurde aus der kleinen weißen Wolke eine große dunkle Gewitterwolke, die einen mächtigen Schatten über das Tal warf. Der alte Mann und der Junge sahen den Schatten größer und größer werden, und schließlich, gegen Abend, als die Sonne blutrot über dem Horizont stand, zuckten in der Wolke die ersten Blitze auf, und die Luft wurde bleiern schwer, und ein leises Grollen war zu hören, das irgendwo in der Unendlichkeit des Weltalls zu entstehen schien.

Das Pferd hatte sich erhoben. Im letzten Licht der Sonne stand es auf einem Felsvorsprung. Sein Fell begann zu leuchten, und der Junge ging zu ihm und legte seinen Kopf gegen seinen Hals, während er es unter dem zottig herunterhängenden Mähnenhaar streichelte.

»Dein Pferd ist ein merkwürdiges Pferd«, sagte der alte Mann. »Fast scheint es mir, als wäre es dein Pferd, welches diese Wolken hierher gebracht hat.«

Der Junge lächelte, während er das Pferd streichelte, aber der alte Mann konnte es von dort, wo er stand, nicht sehen.

Viele Leute aus dem Dorf kamen an diesem Abend zur Kirche, um zu beten. Eine lange Prozession bewegte sich über die staubige Straße, die vom Dorf zur Mission führte, unter dem Torbogen hindurch zur Kirche. Dort, im flackernden Licht der Kerzen, knieten sie in Reihen auf dem harten Lehmboden, dem Altar zugewandt und die Hände vor der Brust gefaltet. Mit gebeugten Köpfen beteten sie und baten um Regen, jedoch auch um Schutz vor dem herannahenden Gewitter. Paco befand sich in der Sakristei, und er knöpfte das Gewand, das sich Vater Ignacio übergeworfen hatte, auf dessen Rücken zu. Paco selbst trug ein knöchellanges Gewand, und er hatte das Haar in der Mitte sorgfältig gescheitelt, und seine Fingernägel waren sauber. Barfuß folgte er Vater Ignacio aus der Sakristei in die Kirche, in der er zuvor alle Kerzen angezündet hatte. Es war dunkel draußen, und leiser Donner grollte durch das Tal, und die Luft in der Kirche roch betäubend nach Weihrauch.

Der alte Mann befand sich nicht unter denen, die sich in der Kirche versammelt hatten. Paco hatte ihn überhaupt noch nie in der Kirche gesehen, nicht einmal in ihrer Nähe. Während er Vater Ignacio bei der Messe assistierte, dachte er an den alten Mann, und er betete im Stillen für ihn, in der Hoffnung, dass ihm der Allmächtige sein heidnisches Leben verzeihen und ihm alle seine Sünden nachsehen würde. Aber Paco dachte auch an das Pferd, das er dort oben unter den Felsklippen zurückgelassen hatte, und er betete für das Pferd, in der Hoffnung, dass der Allmächtige es in dieser Nacht beschützen würde, auch wenn es vielleicht tatsächlich nur ein Biest ohne Seele war.

»Dominus vobiscum«, sagte Vater Ignacio, den Kelch mit dem Wein hochhaltend.

»Et cum spiritu tuo«, wollte Paco antworten, aber ein berstendes Krachen, das die dicken Lehmmauern der Missionskirche erbeben ließ, riss ihm die Worte von den Lippen. Das Gewitter war nahe. In den kleinen bemalten Fenstern der Kirche leuchteten Blitze auf.

Sobald die Messe vorbei war, verließen die Leute hastig die Kirche und eilten in das Dorf zurück, wo sie sich in ihren kleinen Hütten sicher glaubten. Paco half Vater Ignacio, das Gewand auszuziehen, entledigte sich selbst seines Umhanges und trat durch die Seitentür hinaus in den kleinen Friedhof. Ein starker Wind fegte Staub von den Grabhügeln. Es war so dunkel, dass Paco kaum bis zur Umfassungsmauer sehen konnte. Er blickte zum Himmel hinauf. Nicht ein einziger Stern leuchtete dort oben. Von einem Blitz geblendet, wandte sich Paco ab. Er ging in die Sakristei zurück. Dort kniete Vater Ignacio vor dem kleinen Schrein der heiligen Mutter Gottes und betete den Rosenkranz. Paco ging durch die Kirche, löschte die Kerzen in den Wandhaltern und auf dem Altar. Nur diejenigen, die vor dem Seitenaltar brannten, wo die liegende Statue des heiligen Franziskus aufgebahrt war, ließ er brennen. Er verließ die Kirche durch den Hauptausgang und lief die Straße hinunter bis zur Hütte des alten Mannes. Dort klopfte er an die Tür.

Der alte Mann machte ihm auf. Er war bis auf sein Lendentuch nackt. Das grausträhnige Haar hing ihm ungekämmt vom Kopf, und er hatte einen Zigarettenstummel im Mund, der nicht mehr brannte.

»Ich habe dich erwartet, Paco«, sagte der alte Mann. »Du warst in der Kirche, und du hast gebetet, dass uns das Gewitter nur Regen bringt und nicht ein Unglück, stimmt‘s?«

»Ja. Das stimmt. Beim letzten Unglück ist einer im Fluss ertrunken.«

»Und jetzt willst du nach deinem Pferd sehen?«

»Ja.«

»Ich soll dich begleiten, weil ich die Pfade dorthinauf kenne?«

»Es ist stockdunkel.«

»Die Geister sind unterwegs.«

»Vor ihnen fürchte ich mich nicht. Ich bin ein Christ.«

»Gut für dich, Paco. Aber was soll ich tun, wenn sie uns auflauern? Wenn ich in meinem Alter noch zu beten anfangen würde, wäre das ein Frevel, für den ich todsicher in die Hölle käme.«

»Es ist nie zu spät, ein Christ zu werden, Nanahe.«

»Das behauptet dein Priester.« Der alte Mann schlurfte durch die kleine Hütte zu seinem Lager, auf dem seine Kleider lagen. Er zog ein Hemd an, ein Paar Hosen, die an den Knien aufgerissen waren, und seine Mokassins. »Dein Priester hat keine Ahnung von nichts, Paco«, sagte er, zurrte den Ledergürtel zusammen, sodass es ihm in der Taille eng war, während die Hemdstöße über seine Hose herunterhingen. »Weißt du, warum ich deinen Priester trotzdem bewundere? Ich bewundere ihn, weil er trotz seines Unwissens so viele von uns dazu gebracht hat, an seinen Gott zu glauben. Ich glaube aber, dass man ihn eines Tages für irgendein Übel, das uns widerfährt, verantwortlich macht, und dann möchte ich nicht in seinen Schuhen stecken, mein Junge.«

»Er besitzt keine Schuhe, Nanahe«, wandte Paco ein. »Er geht barfuß oder in Sandalen.«

Der alte Mann nahm eine Kerosinlaterne von einem Regalbrett, das an der Wand angebracht war, vergewisserte sich, dass genug Kerosin drin war, und schraubte den Docht höher, bevor er ihn anzündete.

»Komm, Paco, dann wollen wir nach deinem Pferd sehen«, sagte er.

Paco, der bei der Tür stand, öffnete sie. Der Wind riss sie ihm beinahe aus der Hand. Er zog den Kopf ein und kniff die Augen etwas zusammen. Der alte Mann trat hinter ihm aus dem Haus. Er machte die Tür zu und hob die Laterne. In ihrem Licht sahen sie, wie Wolken von Staub über den Dorfplatz wirbelten. Nirgendwo brannte ein Licht. Ein Hund lag im Schutz einer Lehmhütte und blickte ängstlich herüber. Der Wind heulte. Der alte Mann hob den Arm, um sein Gesicht zu schützen. Die Lampe in der anderen Hand hochhaltend, ging er Paco voran.

Es begann zu regnen. Schwere Tropfen prasselten auf den alten Mann und auf Paco nieder. Der alte Mann blieb am steilen Hang stehen, lehnte sich in den Wind und in den Regen. Über seine Schulter blickte er zurück zu Paco, der sich einige Schritte hinter ihm befand.

»Was mir an deinem Christentum nicht gefällt, Paco, ist, dass immer wir Heiden an einem Unglück schuld sind. So wird es wohl auch dieses Mal sein.«

Paco blieb stehen. Der Anstieg hatte ihn außer Atem gebracht. Seine Beine waren ihm so schwer geworden, dass er sich am liebsten hingeworfen hätte, um sich auszuruhen.

»Was ist mit dir, Paco?«, fragte der alte Mann spöttisch, während er Paco mit der Laterne in das Gesicht leuchtete. »Dein Leben in der Mission hat dich schlapp gemacht.«

»Deine Eltern müssen Bergziegen gewesen sein, Nanahe«, keuchte Paco, nicht ohne Bewunderung für die Kraft und Ausdauer, mit denen der hagere Körper des alten Mannes ausgestattet war. Fast achtzig Sommer zählte er, aber im Dorf gab es nur wenige, die mit ihm im Bergland lange Schritt halten konnten, und man sagte von ihm, dass er früher, als Junge, mit Pferden um die Wette gelaufen sei.

Sie gingen weiter. Der Gewittersturm hatte sich nun über das ganze Tal ausgebreitet, von einem Bergzug zum anderen. Er kam schnell und mit Gewalt. Seine Donnerschläge ließen die Erde erbeben. Ohne Unterlass zuckten Blitze auf, manchmal drei oder vier zur gleichen Zeit. Das berstende Krachen, mit dem sie in der Nähe einschlugen, betäubte Pacos Ohren. Er wagte es nicht mehr, zurückzusehen. Dichtauf folgte er Nanahe auf einem schmalen Pfad, der kaum zu erkennen war. Nur im Licht der Blitze leuchtete er auf, als wäre es Silber, das von den Felsen zu Tale floss.

Als Paco einmal aufblickte, sah er schwarz die Umrisse der Felsenklippen vor sich aufragen. Bedrohlich sahen sie aus, wie das Bild einer Ruinenfestung aus dem Buch, aus dem ihm Vater Ignacio die Geschichte der Zivilisation lehrte, die Geschichte der Welt und ihrer Menschen.

Es regnete nun stärker, und dann prasselte Hagel auf sie nieder, und sie suchten zwischen einigen Felsen Schutz, kauerten dicht beisammen nieder und machten sich klein. Paco betete im Stillen, während der Gewittersturm um ihren Unterschlupf herumtobte, als wollte er die Welt verschlingen.

Das Pferd lag am Abhang. Es war tot. Der Blitz hatte es erschlagen. Es lag dort, mit dem Kopf hangabwärts, am Boden, der von Hagelkörnern bedeckt war. Der alte Mann leuchtete dem Pferd ins Auge, und das Auge war milchig blass, und am Kopf, vom linken Ohr ein Stück weit den Hals entlang, war das Fell verbrannt.

Paco, der neben dem alten Mann am Abhang kniete, erhob sich. Geduckt stemmte er sich gegen den Sturmwind. Im Licht aufzuckender Blitze erspähte er das Fohlen. Es stand auf dünnen Beinen oben am Fuß der Felsklippen unter einem Überhang.

»Dort oben ist es!«, rief Paco Nanahe zu, der sich nun hingesetzt hatte und mit dem Rücken am Leib des Pferdes lehnte. Er sah wild aus, der alte Mann mit seinem zerfurchten Gesicht, in dem dünne Haarsträhnen klebten. Paco zeigte in die Richtung, in der er das Fohlen gesehen hatte. Der alte Mann hob die Laterne. Ein Windstoß riss sie ihm beinahe aus der Hand. Die kleine Flamme verlöschte. Paco ließ sich auf alle viere nieder und kroch im Dunkeln den steilen Hang hinauf. Die Erde rutschte unter ihm weg, Steine kollerten den Abhang hinunter. In jedem Graben, in jeder noch so kleinen Rinne floss Wasser in die Tiefe. Pacos Hände und Füße fanden kaum mehr einen Halt, der nicht sofort nachgab. Büsche, an denen er sich festhalten wollte, lösten sich, als hätten sie keine Wurzeln. Paco spürte nicht, wie ihm die Dornen der Äste in die Hände drangen. Er blieb mit dem Hemd hängen und riss sich los. Kakteen bohrten sich mit ihren nadelspitzen Stacheln durch seine Kleider in seine Haut. Schließlich erreichte er den Fuß der Felsklippen. Blitze fuhren so dicht hinter ihm in den Hang, dass er sie zu spüren glaubte, bevor sie einschlugen. Das Fohlen lag jetzt am Boden und im Wasser, das von einem Felsvorsprung stürzte. Paco kauerte bei ihm nieder, zog sein Hemd aus und warf es über den mageren kleinen Körper, dessen Fell klitschnass war. Obwohl er selbst kaum mehr die Kraft hatte aufzustehen, hob er das Fohlen auf, drückte es an sich und hastete mit ihm unter den Felsvorsprung. Dort ließ er sich nieder. Er legte seinen Kopf gegen den Leib des Fohlens und vernahm ganz leise den Herzschlag. Seine Hand tastete sich den dünnen Hals entlang zum Kopf, den er in der Finsternis nicht sehen konnte. Seine Finger berührten die weichen Nüstern des Fohlens, und das Fohlen öffnete das Maul, und Paco schob ihm zwei Finger in das Maul, an denen es zu lutschen begann.

Am Boden sitzend, das Fohlen über seinen Knien im Schoß haltend wie ein Kind, wartete er auf den alten Mann. Aber der alte Mann kam nicht und der Sturm verging. Der Mond ging auf und Sterne glitzerten am Himmel. Die Luft war klar und kühl. Im Tal glänzte der Fluss mit vielen silbernen Adern. Im Dorf brannten einige Lichter. Die kleine Glocke in der Missionskirche begann zu bimmeln.

Paco erhob sich mit dem Fohlen in den Armen. Ganz langsam suchte er sich seinen Weg den Abhang hinunter. Er kam am toten Pferd vorbei. Der alte Mann war nicht dort. Er rief nach ihm, aber er erhielt keine Antwort. Paco nahm an, dass der alte Mann irgendwo Schutz gefunden hatte. Er kannte dieses Land wie kein anderer. Er wusste von Höhlen, die nie ein Mann betreten hatte. Und er hätte dem Pfad zu ihnen blind folgen können.

Paco ging nicht in die Mission zurück. Er ging ins Dorf. Dort schlief niemand. Die Leute standen am Flussufer und schauten dem wilden Wasser zu, das sich zwischen den Uferböschungen dahinwälzte, voll mit Buschwerk und Bäumen, die der Fluss mit sich gerissen hatte.

Das Gewitter war vorbei.

Kinder warfen sich in den Morast und bewarfen sich mit nasser Erde. Einige Männer und Frauen machten sich auf den Weg zur Kirche. Der Mond spiegelte sich in den Pfützen auf der Straße, auf der Paco zum Dorf kam.

Ein Hund bellte ihn an.

Die Leute sahen ihn mit dem Fohlen auf den Armen und sie kamen herbei.

Sie fragten ihn nach der Herkunft des Fohlens.

»Seine Mutter ist vom Blitz erschlagen worden«, erklärte ihnen Paco. Er zeigte zu den Felskuppen hoch, über denen der Mond stand. »Dort oben ist es zur Welt gekommen.«

Die Leute murmelten und redeten hinter ihm, während er über den Platz ging. Er ging zur Hütte des alten Mannes und klopfte an die Tür. Der alte Mann öffnete ihm. Er war bis auf sein Lendentuch nackt, so wie er es schon zuvor gewesen war. In seinem Mundwinkel hing eine brennende Zigarette.

»Du bist zurück«, staunte er und ließ Paco eintreten.

»Du auch«, sagte Paco. Er war erleichtert, den alten Mann unverletzt wiederzusehen.

Nanahe verzog sein Gesicht zu einem Grinsen. »Ich bin schon lange zurück«, sagte er.

»Morgen gehe ich in die Kirche und zünde für dich eine Kerze an«, sagte Paco.

»Hm«, sagte Nanahe und hob die mageren Schultern. »Wenn du das tun willst.« Er ging zu seinem Lager und warf die nassen Kleider, die dort lagen, auf den Boden.

»Setz dich, Paco«, sagte er.

Paco ließ sich auf dem Lager des alten Mannes nieder, und im Licht der Laterne sah er zum ersten Mal, wie klein und mager das Fohlen wirklich war.

Der alte Mann verließ die Hütte. Einige Zeit später kam er mit einem Balg voll Ziegenmilch zurück.

»Vielleicht gelingt es dir, das Fohlen am Leben zu erhalten«, sagte er.

»Ich danke dir, Nanahe«, sagte Paco. »Ich danke dir dafür, dass du mein Freund bist.«

Der alte Mann nickte nur.

2. Das Regenpferd

Paco zog das Fohlen auf. Jeden Tag viermal molk er eine von Nanahes Ziegen und gab die Milch dem Fohlen zu trinken. Zuerst ließ er das Fohlen an einem Balg saugen, dann brachte er ihm bei, aus einem Eimer zu trinken. Das Fohlen gedieh und wich nicht mehr von seiner Seite. Die Leute im Dorf schmunzelten. »Diesem Fohlen bist du die Mutter«, sagten sie. Und so war es. Er schlief mit ihm im Korral der Mission, legte sich irgendwo am Flussufer in die Büsche und das Fohlen legte sich neben ihn. Er streichelte es, und es schnaubte und er ahmte das leise Schnauben nach. Die Leute sahen die beiden durchs Dorf gehen, das Fohlen dicht bei ihm, alles neugierig betrachtend, was auf den staubigen Straßen und dem großen Platz vor sich ging. Es scheute vor den Hunden, die nach seinen dünnen langen Beinen schnappten und zu ihm hochbellten. Es hatte Angst vor einem der großen Wagenpferde, die einem Mann namens Eduardo gehörten, und es erschrak sogar, wenn es nicht aufpasste und plötzlich ein Mann in der Nähe den Hut vom Kopf nahm, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.

Das Fohlen wurde größer, und allmählich begann es, wie ein kleines Pferd auszusehen. Doch es bewegte sich noch immer wie ein Fohlen. Die Leute sahen den Jungen und das Fohlen mitten im Fluss stehen. Und sie sahen ihn im Schatten der Missionskirche stehen, gegen das Fohlen gelehnt, und das Fohlen rieb seinen Kopf sachte an der Schulter des Jungen, und es schien, als ob sie zusammengehörten wie Geschwister.

»Das Fohlen liebt diesen Jungen«, sagten die Leute im Dorf. »Und der Junge liebt das Fohlen«, sagten sie auch.

Und der alte Mann wunderte sich über den Jungen, den er nie mehr alleine sah.

Der Sommer verging. Eine Zeit lang nach der Geburt des Fohlens regnete es an jedem Tag einmal, meistens am Nachmittag, wenn sich über dem Horizont plötzlich dunkle Gewitterwolken ballten, die sich schnell über dem Himmel ausbreiteten, bis sie sich schließlich über dem Tal entluden. Die grauen Büsche und Bäume begannen aufs Neue zu grünen, und an den langen Ranken des Occotillos bildeten sich zwischen den Dornen kleine grüne Blätter, und die alten Bäume am Fluss erholten sich von der Dürre. Der Fluss führte Wasser, braun-rot wie die Felsklippen auf den Hügeln, und manchmal, wenn sich in der Ferne alle Schleusen des Himmels öffneten, trat der Fluss über seine Ufer und überschwemmte die Niederung bis fast zum Dorfrand, und einige Leute mussten ihre Häuser verlassen und zu Verwandten oder Bekannten ziehen.

Es war ein guter Sommer. Die trockene Erde nahm den Regen auf, und der Mais und der Kürbis wuchsen üppig im Unkraut, das die Felder überwucherte.

Die Leute tanzten an Sonntagen auf dem Dorfplatz und bedankten sich bei den Göttern für den Regen, und diejenigen, die Christen waren, gingen in die Kirche und bedankten sich beim allmächtigen Herrn und bei seinem Sohn Jesus Christus.

Der Junge bedankte sich bei seinem Fohlen, denn er war mehr und mehr davon überzeugt, dass es kein gewöhnliches Fohlen war.

Das Fell des Fohlens, das zuerst von bräunlichem Grau gewesen war, wurde im Lauf der Monate fleckig, und die Flecken waren hell und dunkel, sodass es aussah, als ob sich Wolkenschatten über das Fohlen gelegt hätten. Die dunklen Flecken verloren ihre bräunliche Farbe und wurden blaugrau und die hellen Flecken wurden heller, einige davon fast weiß. Die Leute im Dorf bewunderten die Schönheit des Fohlens, seine zierliche Gestalt und seine anmutigen Bewegungen, und sie begannen, es »das Regenpferd« zu nennen.

Paco wusste nicht, wer dem Fohlen den Namen gegeben hatte. Vielleicht der alte Mann. Er fragte ihn einmal danach, aber Nanahe lächelte und sagte, dass es ein guter Name sei für ein junges Pferd, das in einer Gewitternacht geboren worden war, in der die Erde nach Wasser dürstete und viele Menschen verzweifelt auf den Regen warteten.

Paco besuchte mit anderen Kindern des Dorfes die Missionsschule. Er war einer der besten Schüler, und deshalb sah ihm Vater Ignacio nach, wenn er hin und wieder zu spät kam. Er wusste, dass der Junge und das Fohlen unzertrennlich geworden waren.

»Wenn dieses Fohlen ein schönes Mädchen wäre, würden die Leute das gut verstehen«, sagte der alte Mann einmal zu Paco.

»Ich kenne kein Mädchen, mit dem ich lieber zusammen wäre als mit dem Fohlen«, erwiderte Paco ernsthaft und entlockte seinem Freund damit ein Lachen. Sie saßen vor der Hütte des alten Mannes, und es war ein kalter Wintertag, und es schneite seit den frühen Morgenstunden, und der Schnee lag wie eine Decke über dem Dorfplatz und auf den Stoppelfeldern und in der Flussniederung. Die mächtigen Säulenkakteen und ihre hochragenden Armen trugen weiße Kappen. Der Schnee blieb im kahlen Geäst der Bäume und Büsche hängen, und er wirbelte über die kleinen Lehmhäuser hinweg, tanzte im Rauch, der von den flachen Dächern aufstieg, und legte sich dick und schwer auf die roten Ziegeldächer der Mission.

Das Fohlen rannte auf die brachliegenden Felder hinaus, und Paco rannte mit ihm, hielt sich an seinem Schweif fest, an seinem langen Mähnenhaar, und es machte dem Fohlen Spaß, ihn durch eine schnelle Richtungsänderung von sich zu werfen. Es wieherte und schnaubte, und er lachte und rannte ihm nach, über Stock und Stein und in die Wüste hinaus, tanzte mit ihm und fing Schneeflocken mit dem Mund, und er schrie vor Freude seinen Namen.

Dann kauerte er in einer Höhle, hoch oben in den Hügeln, und er machte ein Feuer, an dem er sich wärmen konnte, und das Fohlen legte sich zu ihm, und er umarmte es und küsste es, und sie schliefen ein, und sie schliefen noch, als das Feuer niedergebrannt war.

Es war dunkel, als sie erwachten, und das Fohlen lag still im blassen Mondlicht, das durch den Höhleneingang auf den Felsboden fiel. Sterne funkelten am Himmel und sie hörten Wölfe heulen. Im Dorf unten bellten Hunde.

Der Junge und das Fohlen blieben in der Höhle, bis der Morgen graute.

»Es ist Sonntag«, sagte der Junge zu dem Fohlen. »Ich muss für Vater Ignacio bei der Frühmesse ministrieren.«

Sie gingen über die steilen Hänge hinunter ins Tal und hinterließen dabei dunkle Spuren im Schnee. Es war ein schöner Tag. Der Schnee schmolz alsbald in der Sonne.

An einem Tag im Winter kamen Reiter nach San Angelo. Sie trieben zwei Rinder vor sich her auf der Straße, die von der Mission nach Tucson führte. Die Reiter waren von der Santa Cruz Ranch. Sie trieben die beiden Rinder bis zum Torbogen. Dort hielten sie an und einer von ihnen stieg vom Pferd. Er rief nach Vater Ignacio. Der Priester kam aus seinem Wohnquartier, und er gab dem Mann, der vom Pferd gestiegen war, die Hand. Der Mann nahm seinen Hut vom Kopf, und er zeigte auf die beiden Rinder und dann auf die drei Reiter, und sie nahmen alle die Hüte vom Kopf, und da bemerkte Paco, das einer der Reiter ein Mädchen war.

Paco saß auf dem Stangenzaun der Koppel, die er für das Fohlen gebaut hatte, und blickte über den Platz zu den Reitern hinüber.

»Siehst du, das ist ein Mädchen«, sagte er zu seinem Fohlen, das die Ohren steil aufgerichtet hatte und neugierig zu den Pferden hinüberblickte, die dort vor dem Torbogen standen.

Das Mädchen hatte langes blondes Haar, das ihm über den Rücken herunterfiel wie der Schweif eines Pferdes. Vater Ignacio sagte etwas zu den Reitern, und er deutete mit der Hand zur Koppel hinüber, wo der Junge auf dem Zaun saß. Der Mann, der abgestiegen war, stieg wieder auf, und sie ritten alle zur Koppel hin, und das Fohlen schnaubte ihnen entgegen, und Paco, der ihm die Hand auf den Hals legte, spürte, wie es vor Aufregung zitterte.

Die Reiter zügelten ihre Pferde. Einer von ihnen war ein Mexikaner, der die Kleidung eines Cowboys trug, und Paco sah den Griff des Revolvers, der in einem Futteral an seiner Hüfte steckte.

»Paco, ich habe Mr. Harrison von deinem Fohlen erzählt«, sagte Vater Ignacio.

Der Junge blickte das Mädchen an und das Mädchen lächelte. »Ist das nicht ein wunderschönes Fohlen, Vater?«, wollte das Mädchen von seinem Vater hören.

Der Mann, der beim Torbogen abgestiegen und wieder aufgestiegen war, nickte.

»Ein merkwürdig geflecktes Pferd«, sagte er. »Es sieht kräftig aus. Du kannst stolz auf dich sein, Junge.«

»Como es su nombre?«, fragte der Mexikaner.

»El no tiene un nombre«, antwortete ihm Paco. »Aber die Leute im Dorf nennen es das Regenpferd.«

Der Mexikaner nickte und er trieb sein Pferd dicht an den Koppelzaun heran. Das Fohlen hob den Kopf. Mit aufgeblähten Nüstern und leise schnaubend wich es auf staksigen Beinen zurück.

»Wenn du dir dieses Fohlen zu Weihnachten wünschst, werde ich es für dich kaufen«, sagte der Mann auf dem Schimmel.

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Nein, Vater, ich glaube nicht, dass ich es haben möchte.

»Es ist wohl kaum zu verkaufen, nicht wahr, Paco?«, sagte Vater Ignacio.

Paco schwang sich vom Zaun. Er ging zu seinem Fohlen und legte ihm sachte die Hand auf die Nüstern.

»Es ist mein Fohlen«, sagte er. Er blickte dabei nicht Vater Ignacio an und auch nicht die beiden Männer, die auf den Pferden saßen. Er blickte das Mädchen an, und das Mädchen schlug die Augen nieder, hob die Zügel und zog sein Pferd herum.

Paco sah den Reitern nach. Sie ritten an der Mission vorbei und folgten der Straße nach Osten. Die beiden Rinder standen vor dem Tor.

»Das war Mr. Harrison«, sagte Vater Ignacio zu Paco. »Und seine Tochter Carrie. Sie haben uns und den Leuten im Dorf zu Weihnachten zwei Rinder gebracht.«

Weihnachten war in einer Woche.

Die beiden Rinder wurden im Dorf geschlachtet. Einige der Leute sagten, dass Mr. Harrison ein guter Mensch sei. Ein Mann der Nächstenliebe. Ein Christ.

Paco dachte an das Mädchen.

In der Nacht lag er wach. Einmal hörte er sich leise den Namen sagen.

Carrie.

Weihnachten. Ein Fest der Christen. Sie gingen zur Kirche hinauf. Dort beschenkten sie einander. Und auf dem Platz vor der Mission brannten Kochfeuer. Von den beiden Rindern, die Mr. Harrison zur Mission gebracht hatte, konnten alle Leute vom Dorf satt werden. Alle Leute vom Dorf waren eingeladen. Einige aßen nichts von dem Fleisch. Einige sagten, dass Mr. Harrison nur sein schlechtes Gewissen beruhigen wollte, weil seine Rinder überall weideten und es für die Schafe und Ziegen der Pima kein Weideland mehr gab. Nanahe war einer von denen, die das sagten. »Es ist nicht gut, wenn man nur an einem Tag im Jahr an seinen Nächsten denkt«, sagte er zu Paco. Paco stimmte ihm zu. Aber Weihnachten war nicht deswegen ein Fest. Weihnachten war das Fest der Geburt Christi und ein Tag der Freude für alle.

»Für mich ist jeder Tag ein Tag der Freude«, antwortete der alte Mann, und Paco glaubte zu wissen, was er damit meinte. Er kannte ihn lange genug. Nanahe freute sich jeden Tag aufs Neue aufzuwachen. Damit begann sein Leben. Nicht mit dem Aufwachen. Mit der Freude daran. Die Augen zu öffnen. Das Gesumme einer Fliege zu hören. Hundegebell. Kinderstimmen. Staub in einem Sonnenstrahl, der golden durch das einzige Fenster in seiner Hütte fiel. Die Kälte, die in den Schatten nistete.

Ein Ruf Pacos.

»Wohin gehst du heute mit deinen Ziegen und Schafen, Nanahe?«

»Irgendwohin, mein Junge.«

»Dann steh auf. Ich geh mit dir.«

So war das mit der Freude, am Leben zu sein. Weihnachten oder nicht. »Einmal«, sagte der alte Mann eines Tages zu Paco, »einmal werde ich nicht aufwachen, und es wird aussehen, als wäre ich tot.«

Was genau er damit meinte, wusste Paco zwar nicht und er mochte auch nicht daran denken, dass Nanahe eines Tages sterben würde.

Kurz vor Weihnachten kaufte er von einem fahrenden Händler drei Stück Kandiszucker für eine Münze, die ihm Vater Ignacio geschenkt hatte. Am Weihnachtstag gab er ein Stück davon dem alten Mann, eines dem Fohlen, und das letzte Stück lutschte er selbst, bis nichts mehr davon übrig war. Auf dem Platz vor der Mission sangen die Leute, tanzten im Feuerschein und aßen Mais und Kürbis und Fleisch von den Rindern. Sie aßen aus einem Topf, und alle wurden satt, und schließlich gingen die meisten nach Hause, zurück in ihr Dorf.

Es war eine kalte Nacht, und Paco legte zwei Decken über sich und das Fohlen, und so lag er da und blickte zum Sternenhimmel auf, und am Morgen, als er aufwachte, lag Raureif auf der Decke und auf dem Boden der Koppel.

Der Frühling kam. Die Tage wurden länger. Der Fluss brachte Wasser von den Bergen, auf denen der letzte Schnee schmolz. Frisches Gras wuchs in den Niederungen, und die mächtigen Cottonwoodbäume am Fluss schlugen aus.

Die Leute vom Dorf sahen den Jungen und sein Fohlen unten am Fluss, sahen die beiden durch das Wasser laufen, von einer sandigen Bank zur anderen, und sie sahen, wie das Fohlen tanzte und den Jungen von den Beinen stieß, und dann sahen sie das Fohlen im Schatten der Cottonwoodbäume stehen, und der Junge kämmte ihm das lange Mähnenhaar und trocknete sein Fell mit einem Tuch und bürstete es, bis das Licht der Sonne, das durch die Baumkronen fiel, glitzernd von seinem prachtvollen Körper floss.