Tove Jansson

Die ZUHÖRERIN

ERZÄHLUNGEN

Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer

Urachhaus

INHALT

Die Zuhörerin

Sand löschen

Kindergeburtstag

Der schlafende Mann

Schwarz-weiß

Brief an ein Idol

Eine Liebesgeschichte

Der Andere

Im Frühling

Das stille Zimmer

Der Sturm

Graue Duchesse

Vorschlag für eine Einleitung

Der Wolf

Der Regen

Die Sprengung

Lucios Freunde

Das Eichhörnchen

Impressum

DIE ZUHÖRERIN

Tante Gerda war fünfundfünfzig, als es anfing. Die ersten Hinweise darauf, dass sich etwas veränderte, fanden sich in ihren Briefen. Die Briefe wurden unpersönlich.

Tante Gerda war eine ruhige, gut situierte Person von durchschnittlichem Äußeren, nichts an ihr war aufregend, störend oder peinlich. Aber sie war eine gute Briefschreiberin. Nicht brillant, natürlich nicht, auch nicht amüsant, aber jedes Detail, das man Tante Gerda mitteilte, wurde einer Prüfung unterzogen und nie irgendwelchen betulichen Ratschlägen ausgesetzt. Man hatte sich daran gewöhnt, dass sie sofort antwortete, vielleicht nicht unbedingt eifrig, aber umsichtig und mit ernsthaftem Interesse. Ihre Briefe endeten oft mit Wünschen für einen guten Arbeitsherbst oder für ein angenehmes Frühjahr, diese großzügig bemessene Zeitspanne schien dem Empfänger volle Freiheit zu gewähren, sich mit seinem nächsten Brief etwas Zeit zu lassen.

Tante Gerdas Briefe zu lesen war, als dürfe man die eigenen Erlebnisse noch einmal voller Spannung durchleben, aber diesmal auf einer größeren Bühne, dramatisiert und geklärt, und vom Chor aufmerksam beobachtet und interpretiert. Und gleichzeitig in der ruhigen Gewissheit, dass sie das Vertrauen, mit dem sie so oft belohnt wurde, noch nie missbraucht hatte.

Inzwischen ließ Tante Gerda seit einiger Zeit Wochen und Monate verstreichen, bevor sie antwortete, und wenn sie endlich schrieb, war der Brief von würdelosen Entschuldigungen entstellt, die Schrift war groß und ausladend und der Briefbogen nur noch auf einer Seite beschriftet. Und der Kommentar, das meisterhaft detaillierte Mitgefühl, hatte nichts mehr von seiner ursprünglichen Wärme.

Wenn ein Mensch das verliert, was man als seine Essenz bezeichnen könnte, den Ausdruck seiner schönsten Eigenschaft, ist es manchmal, als würde sich die Veränderung erweitern und mit erschreckender Geschwindigkeit die gesamte Persönlichkeit überwältigen. Genau das geschah mit Tante Gerda. Sehr schnell vergaß sie Geburtstage. Ihr entfielen Namen, Gesichter, Versprechen. Sie kam zu spät, sie, die sonst immer wartend im Treppenhaus saß und dennoch die Erste war. Ihre verspäteten Geschenke waren zu teuer, zu groß und unpersönlich und von peinlichen Entschuldigungen begleitet. Nie mehr liebevoll ausgedachte Gaben, die sie selbst angefertigt hatte. Nie mehr schöne, rührende Weihnachtskarten, diese Collagen aus gepressten Blumen, Engeln und, ganz selten, Pailletten. Mittlerweile kaufte sie teure Glitzerkarten mit aufgedruckten Wünschen für Glück und Freude.

Die Boten, die Tante Gerda demnach jetzt aussandte, waren traurige Zeugen ihrer Veränderung, eines gewaltigen, bedrückenden Mangels an Aufmerksamkeit.

Man trägt ja all jene, die man liebt, mit sich, sie sind ständig anwesend, und die Welt ist voller Möglichkeiten, ihnen Zuneigung zu zeigen, das kostet so wenig und bewirkt so viel. Tante Gerdas Geschwister, ihre Nichten und Neffen und Freunde, alle sagten sich, Gerda habe ihren Stil verloren. Sie trage zu wenig Verantwortung und das Alleinleben habe sie egoistisch gemacht, oder vielleicht sei es auch die unvermeidliche Vergesslichkeit, die das Alter mit sich bringe. Aber eigentlich wussten sie, dass die Veränderung tiefer ging, sie war unerklärlich und fundamental und berührte Verschiebungen jener geheimnisvollen Schichten, welche Wesen und Würde einer Person formen.

Tante Gerda wusste, was mit ihr geschah, aber sie verstand es nicht. Alles, was sie früher freiwillig und als Folge ihrer eigenen Sanftmut getan hatte, verwandelte sich mit rasender Geschwindigkeit in eine überwältigende Anstrengung. Sie wurde von Selbstvorwürfen geplagt. Die größten Schwierigkeiten schien es ihr zu bereiten, eine bestimmte Uhrzeit einzuhalten, pünktlich zu sein. Tage, die von einer Einladung unterbrochen oder beendet wurden, erhielten eine eigene Zeitrechnung, bereits am Morgen waren sie unberechenbar und voller Ängste. Man könnte vielleicht sagen, sie waren auf eigenartige Weise zweigeteilt. Auf der einen Seite standen Tante Gerdas aufrichtige Vorfreude und all die Dinge, die sie vorbereitet und dabeihaben wollte, wenn sie ihr Haus verließ, auf der anderen Seite stand eine große Unsicherheit, die sich auf Namen, Gesichter und Worte bezog und auch auf das Gefühl für Zusammenhänge und Details, die eigentlich noch liebevoll hätten ergänzt werden müssen.

Und vor allem war da die feindselige Zeit. Die Zeit, die sich ununterbrochen einer bestimmten festgelegten Sekunde nähert, und in dieser Sekunde beginnt jemand hinter einer Tür zu warten. Eine Sekunde ist weniger als ein Atemzug, und alles, was darauf folgt, ist zu spät, mehr und mehr zu spät.

Wenn Tante Gerda sich dem berechneten Zeitpunkt des Aufbruchs näherte, wuchs ihre Unruhe ins Unerträgliche. Sie beging seltsame Verwechslungen, irrte sich, als sie auf die Uhr sah, begann kleine unwesentliche Dinge in Angriff zu nehmen, wurde von Müdigkeit übermannt und schlief im Sitzen ein, und falls sie den Wecker gestellt hatte, kam es vor, dass sie genau dann grundlos ins Treppenhaus ging oder den Dachboden aufsuchte, als er läutete. War es der bedauernswerten Frau dann endlich gelungen, zu spät zu kommen, konnte sie es nicht lassen, ihre Gastgeber mit diversen allzu umständlichen, verzweifelten Entschuldigungen zu quälen.

Die Zeit verging, und es wurde nicht besser. Wenn jemand, den man schätzt, sich danebenbenimmt, und zwar so total, dass niemand rechtzeitig hilfreich eingreifen kann – dann ist das ein Problem. Zum Beispiel hatte Tante Gerda mitten in einem Satz vergessen, ob das Kind eines ihrer Geschwister ein Junge oder ein Mädchen war. Voller Panik verstummte sie, danach sagte sie, sehr leise: »Ich meine, wie geht es deinem lieben Kind …?« Wenn sie Personen traf, die sie schon lange kannte, stellte sie sich ihnen mit Namen vor, und ihre Ängste waren so deutlich spürbar, dass sie allgemein für Verstimmung sorgten.

All dies muss beschrieben werden, um Tante Gerdas Verhalten im zeitigen Frühjahr neunzehnhundertsiebzig besser verstehen zu können.

Kann sein, dass man all das nicht genügend beachtet, was ununterbrochen mit jenen passiert, die man liebt, ein ständiges, kompaktes Geschehen, das in seiner ganzen Tragweite vielleicht nur von Personen wie zum Beispiel Tante Gerda erfasst werden kann, das heißt, vor ihrer Veränderung. Die geliebten Menschen legen Prüfungen ab und werden befördert oder auch nicht, sie bekommen mehr Gehalt und Stipendien oder sie bekommen überhaupt nichts oder Kinder oder Geschwüre oder Komplexe, sie haben Probleme mit den Dienstboten, mit dem Beischlaf und dem Trotzalter, mit ihren Wahnvorstellungen und mit dem Geld, vielleicht auch mit dem Magen oder den Zähnen, sie verlieren die Person, mit der sie zusammenleben wollten, oder ihren Glauben oder ihren Beruf oder ihr Selbstvertrauen und verirren sich in Politik und Selbstbetrug, Enttäuschung und Ehrgeiz, sie erleben Verrat und Beerdigungen und alle Arten von Horror, direkt und unverblümt, und mit der Zeit kriegen sie Falten und tausend andere Dinge, die sie so nicht erwartet haben – und all das trug ich in mir, dachte Tante Gerda betrübt, gestochen scharf und deutlich, mir unterliefen keine Verwechslungen! Ich irrte mich nie. Was ist da nur passiert?

Nachts wachte sie oft auf und konnte nicht wieder einschlafen. Manchmal fragte sie sich, wo die ruhigen und glücklichen Menschen wohl waren und ob solche überhaupt existierten, und ob sie es wagen würde, sich auf diese Art von Personen einzulassen, falls sie ihnen je begegnen sollte. Nein, dachte Tante Gerda. Trotz allem tragen sie insgeheim doch etwas mit sich herum, verbergen eine Last, die sie dann teilen wollen.

Briefe und Geschenke und die bunten Albumbildchen der Zuneigung sind wichtig. Aber noch wichtiger ist es, von Angesicht zu Angesicht zuhören zu können, das ist eine große, seltene Kunst. Tante Gerda war immer eine gute Zuhörerin gewesen, vielleicht unterstützt durch die Tatsache, dass es ihr Schwierigkeiten bereitete, selbst etwas zu formulieren, und auch durch ihren eigenen Mangel an Neugier. Seit ihrer Jugend hatte sie ihnen zugehört, hatte ihnen ihr Ohr geliehen, während sie über sich selbst und die anderen redeten, sie hatte sie in einer immensen, ausgeklügelten Übersicht aus Lebensläufen in sich getragen, lauter Lebenslinien, die sich überschnitten und nebeneinander herliefen. Sie lauschte mit dem ganzen großen, flachen Gesicht, regungslos, leicht vorgeneigt und mit gesenktem Blick, manchmal sah sie auf, rasch und offensichtlich schmerzlich betroffen. Sie rührte ihren Kaffee nicht an und ließ die Zigarette herunterbrennen. Nur in den kurzen Pausen, die selbst ein größeres Drama für triviale, aber notwendige Erklärungen zulässt, gestattete sie sich einen heftigen Zug an der Zigarette, kippte den Kaffee in sich hinein und stellte die Tasse behutsam und ohne zu klirren ab. Tante Gerda war, eigentlich, nichts als Stille. Hinterher ließ sich unmöglich rekonstruieren, was sie gesagt hatte, vielleicht nur ein atemloses Fragen: »Ja? Ja …?«, oder ein kurzer Ausruf des Mitgefühls.

Während die Jahre vergingen und die Last der Einsicht in Tante Gerdas Innerem wuchs, fühlte sich niemand beim Gedanken daran, wie viel Gerda über sie alle wusste, beunruhigt. Sie verließen sich auf die Fähigkeit der Tante, etwas bewahren zu können, sie ließen sich von dem seltsamen Ausdruck von Unschuld und Neutralität, der ihr anhaftete, verleiten. Es war, als würde man einem Baum oder vielleicht einem anhänglichen Tier etwas erzählen. Und immer wurde einem die leichte Übelkeit erspart, die sonst darauf folgt, wenn man sich ausgeliefert hat.

Inzwischen war es, als hätte Tante Gerda ihre Unschuld verloren. Ihr großes Gesicht lauschte genau wie bisher, halb geöffnet und geglättet, ihre kurzen Ausrufe waren die gleichen, hatten aber etwas von der früheren Scheu verloren, sie sprachen nicht mehr von der schlichten Freude, etwas erfahren zu dürfen, um es verstehen und dadurch lieben zu können. In Tante Gerdas Augen lag nicht mehr der gleiche Schmerz, und sie hatte sich eine irritierende, hilflose Handbewegung zugelegt, die, vielleicht, um Entschuldigung bat.

In jenem Winter und Frühling gab es nicht viele, die Tante Gerda anriefen, ihre Wohnung wurde still und sehr friedlich. Inzwischen hörte sie nur noch dem Aufzug zu und gelegentlich dem Regen. Oft saß sie am Fenster und beobachtete die Veränderungen der Jahreszeit. Die Wohnung hatte einen Erker, halbkreisförmig und recht kühl, jetzt im März war das Fenster von einem schönen Gitter aus Eis verziert. Die dicken Eiszapfen, fein ziseliert vom herabrinnenden Wasser, färbten sich gegen Abend blau. Niemand rief an und niemand kam. Tante Gerda erschien das Fenster wie ein großes Auge, das über die Stadt, den Hafen und den zugefrorenen Meeresstreifen hinausblickte. Die neue Stille und Leere empfand sie nicht nur als Verlust, sondern auch als eine kleine Erleichterung. Tante Gerda fühlte sich wie ein Ballon, losgelassen und in eine eigene Richtung strebend. Aber, sagte sie sich dann, bei ernsthafter Überlegung ist das ein Ballon, der an die Decke prallt und nicht weiterkommt. So kann man nicht leben, das war ihr klar, der Mensch ist nicht dafür geschaffen, frei zu schweben, er braucht einen festen irdischen Punkt aus Sinn und Sorgen, um sich nicht in Verwirrung zu verlieren.

An einem Tag, als das Tauwasser draußen vom Dach tropfte, beschloss Tante Gerda, ihr Gedächtnis zu trainieren, um auf das einfache Niveau zurückzufinden, auf dem sie sich früher so selbstverständlich bewegt hatte. Sie stellte eine kleine Liste über all die lieben Menschen zusammen, an die sie sich erinnern konnte, und über deren Kinder und Enkelkinder und weitere Verwandte, und versuchte sich ernsthaft ins Gedächtnis zu rufen, wann sie alle geboren waren. Das Blatt Papier war viel zu klein. Tante Gerda rollte Schrankpapier über den Esstisch aus und befestigte es mit Reißnägeln. Dann malte sie für jeden Einzelnen einen schwarzen Punkt, einen runden schwarzen Kopf; Name, Geburtsdatum und Berufsbezeichnung oder Titel erhielten ihren Platz in einem hübschen kleinen Oval. Die dazugehörigen Kinder wurden ganz in die Nähe platziert und durch rote Linien mit den Eltern verbunden, alle Liebesbeziehungen mit rosa Kreide markiert und abweichende oder verbotene Liaisons mit Doppellinien. Tante Gerdas Interesse war geweckt. Es gab belastete Häupter, von großen rosafarbenen Strahlenbündeln umgeben wie galaktische Sonnen, beeindruckend und vermutlich bedauernswert.

Zum ersten Mal erlebte Tante Gerda ihren eigenen geheimen Kommentar, und der war nicht ausschließlich freundlich. Sie kaufte Kreiden in neuen Farben. Gewissenhaft malte sie weiter, Scheidungen wurden violett, Linien der Treue himmelblau, der Hass leuchtete krapplackrot. Die Toten waren grau.

Sie räumte den vielen Fakten und Daten, die ein Leben ausfüllen und umgeben, in ihrem Gedächtnis genügend Platz ein. Jetzt hatte sie Zeit, um sich zu erinnern. Die Zeit war nicht mehr gefährlich, die Zeit lief parallel neben ihr her, nach und nach würde sie die Zeit in einem adretten kleinen Oval festnageln. Tante Gerda notierte Diebstahl: Diebstahl von Geld, von Kindern, von Arbeit, Liebe und Vertrauen. Sie erinnerte sich an jene, die einander mit schlechtem Gewissen erstickten, sich anschwiegen oder sich gegenseitig in Kälte erstarren ließen, sie zog die entsprechenden Linien, radierte und präzisierte, die Zeit war nicht mehr zweigeteilt. Jetzt lauschte sie nur noch nach innen. Aus der Tiefe des Vergessens stiegen Tonfälle und verschiedene Arten des Schweigens auf, Gesichter, die sich verschlossen, wieder öffneten und erneut zusammenzogen, und die vielen Münder, die redeten und redeten, Tante Gerda sammelte sie alle, hob alles auf. Was in ein Oval kam, verlor an Gewicht und Schmerz, behielt aber seine Bedeutung. Tante Gerdas Erinnerung öffnete sich wie ein großes Schneckenhaus, jede einzelne Windung war klar und deutlich und hatte das eigene Echo bewahrt, allmählich kamen auch sehr ferne Echos näher, wie Geflüster.

Im Laufe des Frühjahrs übertrug Tante Gerda ihre große Lebenskarte auf Pergament. Ein wenig störte sie sich daran, dass Wiederholungen vorkamen, die banal erscheinen mochten, aber schließlich folgt alles menschliche Verhalten ja ziemlich primären Regeln. Einen einzigen einmaligen Vorfall hatte sie jedenfalls, einen Mordversuch, den malte sie purpurrot und erfuhr dabei einen kurzen, kalten Schauder, vielleicht dem nicht unähnlich, den ein Briefmarkensammler empfindet, wenn er den unschätzbaren Fehldruck am dafür vorgesehenen Platz befestigt.

Manchmal saß Tante Gerda still da, ohne sich um Erinnerung zu bemühen, nur in ihr eigenes Sonnensystem aus vergangenem und entstehendem Leben versunken. Sie ahnte die zukünftige Veränderung der Linien und Ovale, die gemäß klarer Ursache und Wirkung unvermeidlich schien. Sie bekam Lust, dem, was geschehen musste, vorzugreifen und eigene Linien zu ziehen, vielleicht in Silber und Gold, da alle Farben schon belegt waren. Übermütig spielte sie mit dem Gedanken, die Punkte und Ovale beweglich zu machen, wie Spielsteine, die neue Konstellationen und Verwicklungen bilden konnten.

Ein paarmal läutete das Telefon, aber Tante Gerda erklärte, sie sei erkältet und könne keinen Besuch empfangen.

Gegen Ende April begann Tante Gerda einen Rahmen um die Karte zu zeichnen, einen Rahmen aus kleinen, seltsamen Ornamenten, an die Figuren erinnernd, die man zerstreut auf ein Telefonbuch kritzelt, während man lauscht. Sie lauschte nach innen, auf Worte, die in kurzen Sätzen das zusammenfassten, was sie wusste.

Ihr Neffe rief an und fragte, ob er sie besuchen dürfe, aber Tante Gerda antwortete, sie habe keine Zeit. Die Kartierung näherte sich ihrem endgültigen Sinn, befand sich in einem wichtigen Stadium und duldete keine Einmischung.

Die großen Planeten halten die kleinen in festem Griff, die Trabanten ziehen ihre vorherbestimmte Bahn und die kräftigen Linien der Toten kreuzen sämtliche übrigen, die doppelten, die gestrichelten und die Girlanden. Berechnung, Enttäuschung und Verlust.

Tante Gerda hatte die positiven Beziehungen mit so hellen Kreiden gemalt, dass sie von den stärkeren Farben verdeckt wurden, vielleicht waren sie auch im Lauf der Arbeit verwischt worden. Inzwischen formte sie nur noch Worte, in kurzen, intensiven Sätzen, von denen jeder einzelne eine Einsicht zusammenfasste. Jeder einzelne war für jemanden bestimmt, der sehr aufmerksam zuhörte. Hast du gewusst, dass du an seinem Tod schuld bist? War dir klar, dass du nicht der Vater deiner Tochter bist? Dass dein Freund dich nicht leiden kann? Unmittelbar darauf würde die Karte sich verändern, und Tante Gerda hätte ihre erste Linie aus Gold gezogen. Das war ein entsetzliches und unwiderstehliches Gedankenspiel, es hieß: Die tötenden Worte. Gespielt werden konnte es nur abends, am Fenster. Ihr war klar, dass solche Worte in großen Abständen fallen mussten, das heißt, wenn sie jemals tatsächlich ausgesprochen werden sollten. Acht oder neun Worte konnten genügen, um auf dem großen Plan auf dem Esszimmertisch weitreichende, lang anhaltende Verschiebungen zu verursachen. Und später, zum richtigen Zeitpunkt, neue Worte für einen neuen Zuhörer, und wieder würde sich das Bild verändern. Die Wirkungen ließen sich auf die gleiche Art voraussehen und berechnen, wie wenn man gegen sich selbst Schach spielt. Tante Gerda erinnerte sich an ein paar Zeilen eines Gedichts, das sie in ihrer Jugend gelesen hatte: »… Frithiof saß mit Björn dem Schlauen an dem Schachbrett, schön zu schauen, denn die Felder, eins ums andre, silbern waren und aus Gold …«

Ja, sie würde ihre Linien in Silber und Gold ziehen und abwarten, vielleicht lange warten, und dann wieder eine Linie ziehen. Sie hatte Zeit, und das Material war unerschöpflich.

Das war Anfang Mai. Bis tief in die hellen Nächte hinein saß sie an ihrem Fenster und spielte das große, gefährliche Spiel. Sie machte kein Licht, die Nacht war leuchtend blau, diese durchsichtige, zögernde Farbe, die das Frühjahr mit sich bringt. Die Karte brauchte sie nicht anzuschauen, die konnte sie auswendig. Während die Worte geformt und ausgesprochen wurden, wechselten Linien und Ovale die Plätze, und die Farben veränderten sich ständig. Zum ersten Mal im Leben erfuhr Tante Gerda das süße und bittere Gefühl der Macht.

Als das Wetter wärmer wurde, öffnete sie das Fenster, zog ihren Mantel an, legte sich eine Decke über die Beine und saß im Erker und sah die Stadt und den Meeresstreifen an. Jetzt konnte sie Schritte und Stimmen unten auf der Straße hören, jedes Geräusch war ganz klar und deutlich. Alle, die vorbeigingen, schienen zum Hafen unterwegs zu sein. Da überkam Tante Gerda das Gefühl, als würden die Zimmer, in denen sie wohnte, sie nicht mehr umschließen, sondern sich nach außen öffnen und von ihr abwenden. Die allzu helle Nacht war plötzlich beunruhigend und stimmte sie traurig. Sie musste an all das denken, was sich jetzt gerade dort draußen abspielte und wovon sie nichts wusste. Lange blieb Tante Gerda ganz still sitzen, dann warf sie die Decke beiseite, ging in den Flur und rief ihren Neffen an. Sie fragte, ob er Lust habe, vorbeizuschauen und sich ein wenig über seine Malerei zu unterhalten, er hatte jedoch zu tun und konnte nicht kommen. »Malerei«, sagte er. »Das ist lange her, Tante Gerda. Inzwischen habe ich einen Job bei Papa.«

Sie legte den Hörer auf und ging ins Esszimmer. In dem dämmrigen Licht war die Karte nur undeutlich zu erkennen und erinnerte an eine sehr alte Darstellung der Erde, vom Himmel aus betrachtet, zu einer Zeit angefertigt, als die erforschten Inseln riesengroß waren, unbekannte Kontinente dagegen verschwindend klein.

Tante Gerda war eine Perfektionistin, möglicherweise war ihr das nicht bewusst, vielleicht kannte sie dieses schöne Wort voller Schärfe nicht einmal, sie war einfach der Ansicht, etwas Halbfertiges habe keinen Sinn. Die Zeit hatte sie reingelegt, diese entsetzliche Zeit, der sie wieder einmal nicht genügend Beachtung geschenkt hatte. Ihre Karte war ungültig. Langsam rollte Tante Gerda die Karte zusammen, streifte drei Gummibänder über die Rolle und schrieb: Nach meinem Tod ungelesen zu verbrennen. Es war ein schönes Werk, dachte sie. Eigentlich wäre es schade, wenn keiner von ihnen nicht trotzdem nachschauen würde. Sie legte die Karte auf das oberste Regal im Flurschrank und schloss das Fenster. Die Schritte und Stimmen auf der Straße verschwanden. Dann machte sie die Lampe über dem Esstisch an, holte die Schachtel mit den Albumbildchen und den gepressten Blumen hervor und breitete die Sachen nach und nach auf dem Tisch aus, während ihr wieder einfiel, wie sie aussahen. Dann streckte Tante Gerda ihre große, geschickte Hand aus und ließ den ganzen Tand mit einer einzigen Bewegung wieder in die Schachtel hinuntergleiten. Ein paar Pailletten waren auf den Teppich gefallen, da lagen sie und leuchteten, blau wie die Nacht dort draußen.

SAND LÖSCHEN

Der Sandfrachter hatte am Berg angelegt, die Zementsäcke waren entladen worden. Jetzt hatte man angefangen, den Sand zu löschen. Sie hatten einen starken Mann aufgetrieben, der für den Schubkarren zuständig war. Immer wieder schob er den Karren hinüber, anfangs langsam, doch dann mit langen, federnden Schritten, die den Plankensteg in Schwingung versetzten. Am Berg schwenkte er mit einem Ruck das Karrenrad auf die nächste Planke hinauf, rannte in flottem Tempo nach oben und kippte die Ladung aus. Während der Sand hinabfloss, wandte der Mann sich dem Wasser zu und kratzte sich am Kopf, als würde ihn das alles nicht das Geringste angehen und er mache das nur spaßeshalber. Sein Rücken und die Arme glänzten im Sonnenschein. Seine Hosen saßen sehr straff, auf dem Kopf hatte er eine kleine, speckige Mütze, kaum mehr als ein Blatt, das zufällig auf seine Haare herabgeschwebt war.

Schließlich streckte er den Arm aus, schüttelte den letzten Rest Sand aus dem Karren und wippte ihn mit einem einzigen Schwung herum, schepperte den Berg hinab und hinüber aufs Schiff. Als der Schubkarren über die Planke lief, waren nur die leichten Schritte des Mannes zu hören. Dann spuckte er über die Reling, als gehöre ihm die ganze Welt und das sei ihm total egal. Er ließ die anderen das Sandfass hochwinden und entleeren. Er war wunderbar.

Sie stand bei den Zementsäcken herum und sah zu. Seit sie den Kopfsprung mit Salto gelernt hatte, war nichts Wesentliches passiert. Jetzt kam alles auf einmal, sowohl das Sandlöschen als auch die Unterwassersprengung.

Sie konnte nicht an zwei Orten gleichzeitig sein, das war unmöglich. Erst passiert nichts, dann wieder nichts, und dann muss man wählen. Das ist hart.