image

image

image

Juni 1940 in Paris: Die Menschen der Hauptstadt flüchten vor der deutschen Besatzung, auch die Irrenhäuser werden evakuiert und ihre Insassen wandern im allgemeinen Exodus nach Süden, während eine üble Fauna von Räubern, Nazis und Kollaborateuren in Paris Einzug hält. Nestor hat den Auftrag, einen depressiven Psychiater zu überwachen, doch dieser begeht Selbstmord. Besteht eine Verbindung zwischen ihm und einem geheimnisvollen Unbekannten, der Nestor um Hilfe bittet? Wer sind die falschen Polizisten, die ihn nicht aus dem Auge lassen? Und wer oder was versteckt sich wirklich hinter den hohen Mauern der Psychiatrie?

Patrick Pécherot, 1953 in Courbevoie geboren, Journalist. 2002 erhielt er den »Grand Prix de Littérature Policière« für Nebel am Montmartre (Nautilus 2010), den ersten Band einer Trilogie über das »populäre« Paris der zwanziger und dreißiger Jahre. 2003 folgte als zweiter Band Belleville – Barcelona (Nautilus 2011). Außer Krimis schreibt Patrick Pécherot Jugendbücher und Comics.

www.pecherot.com

PATRICK PÉCHEROT

BOULEVARD
DER IRREN

KRIMINALROMAN

AUS DEM FRANZÖSISCHEN
ÜBERSETZT VON KATJA MEINTEL

image

Dieses Werk wurde mit Unterstützung

Die Zitate von Alexis Carrel folgen der Übersetzung

Das Glossar auf den Seiten 251-256

Die Originalausgabe des vorliegenden Buches

Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg

»Es war eine unvernünftige Zeit …«

LOUIS ARAGON

I

Heute Morgen hat mich die Stille geweckt. Eine leere Stille. Ohne all die winzigen Geräusche, die man so gut kennt, dass man sie gar nicht mehr beachtet. Keine fern rauschende Klospülung, kein knarzendes Parkett, keine trällernde Frauenstimme beim Kaffeemahlen. Übrigens auch kein Kaffeeduft. Es war eine Stille ohne Gerüche. Merkwürdig bis in den Schlaf hinein. Leicht beklemmend. Und zuletzt erstickend. Es schlägt aufs Gemüt, wenn da nichts mehr ist. Es drückt einem den Atem ab. Wie eine Last auf der Brust. Eine solche Stille ist schlimmer als zu ertrinken. Ich erinnere mich, wie ich nach Luft schnappte. Mein Herz setzte aus, und ich öffnete die Augen.

Meine Pumpe schlug jetzt hart gegen die Rippen. Mein Blutdruck machte jedem Zapfhahn Konkurrenz. Und mein Puls zuckte wie eine epileptische Eidechse. Aber die Stille blieb intakt. Massiv, durch nichts zu erschüttern.

Ich dachte, ich hätte es vielleicht mit den Ohren. Seit es hier in der Gegend brenzlig wurde, wäre das ja eine verständliche Reaktion gewesen. Und in zwei Wochen Tohuwabohu hatte ich so einiges an Reaktionen gesehen. Gewöhnliche und krakeelende, eigenartige und sogar ungehörige. Wenn meine Lauscher das Zeitliche gesegnet hatten, würde ich es ihnen jedenfalls nicht verübeln. Sie wären nicht die Ersten, die das Weite suchen. Tagelang war Paris ein einziger anschwellender Strom gewesen. Ein über die Ufer tretender Fluss. Die Deiche waren geborsten und nun ergoss sich die Flut hinaus. Wie eine Waschschüssel, die man ausschüttet, wie ein platzender Abszess.

»Heda!«, rief ich, um aus meinem wattigen Dämmer aufzutauchen.

Meine Stimme hallte nach. Wie bei einem Schauspieler in einem leeren Theater. So was hatte ich schon mal gehört. Bei einem Avantgarde-Stück mit pointierten Ideen, aber ohne einen, der zugehört hätte. Das Publikum folgt lieber der Herde. Aufklärer bringen kein volles Haus. Dieses Mal war es anders. Die Vorhut hatten die Offiziellen gebildet. Sie waren als Erste getürmt. Geräumte Ministerien, ausgeflogene Amtsträger, auseinanderstiebende Behörden. Ein strategischer Rückzug, auf die vornehme Art. Man würde die Regierung doch nicht dem Feind in die Hände fallen lassen. Die große Flucht war couragiert. Patriotisch. »Sind die Kartons im Auto, Firmin? Ja, Herr Minister. Dann mal los. Auf nach Bordeaux! Bordeaux, Charles? Im Hotel ›Zu den zwei Fasanen‹ konnte man vor dem Krieg so gut essen. Nach Bordeaux, Irène, und Gott schütze Frankreich.«

Nach der ersten Reisewelle kam das Fußvolk. In seinem tresorartig bepackten Citroën dachte der Notar wehmütig, dass seine Panamaaktien in diesem Chaos bald keinen Sou mehr wert sein würden. An der Porte d’Orléans zitterte die Apothekerin um ihren Schmuck. Bei diesen Hungerleidern, die die Landstraßen verstopften … Dabei war es schon gut, wenn man es überhaupt bis dahin geschafft hatte. Paris war ein einziger Trichter. War man erst mal im Strom drin, ging fast nichts mehr. Die Menge drückte und schob, was das Zeug hielt, und zog sich ewig hin. In endlosen Kolonnen. Mit Fahrrädern, Pferde- und Handkarren und Kinderwagen. Hemdsärmelige Männer, barhäuptige Frauen, schmutzige Kinder. Und ein unglaublicher Haufen an Kram, der sich auf den Dächern der Autos, den Ladeflächen der Lastwagen, den Lenkern der Tandems türmte. Eine erschöpfte Kohorte, bereit, sich in Bewegung zu setzen. Gespickt mit Näh- und Kaffeemaschinen, mit Stühlen und Vogelbauern. Den kleinen Dingen, die aus wenigem ein Leben machen. Wie man es manchmal in eingestürzten Häusern sieht. Aber Lebensgeschichten, trotz allem. Mit Bündeln, Bettwäsche, zusammengerollten Matratzen. Und dann und wann ein Alter, den man obenauf gesetzt hatte und der nur noch mit dem Kopf wackelte, mit einem Blick, dass es einem das Herz zerriss. Dahinter, davor, überall das Getrampel. Das Geräusch einer eingedämmten Flut, stundenlang. Und dann hatte es sich zuletzt doch gelöst wie ein Pfropfen, der von der Flasche springt. In den wie Festungen gestürmten Bahnhöfen waren schließlich die letzten Züge abgefahren. Rauch speiend und dicht beladen mit der immer gleichen, schicksalsergebenen Masse. Mit einem Schlag hatte das große Menschenknäuel die Segel gesetzt.

Ich dagegen blieb am Kai. Ich konnte es noch nie leiden, wenn man mich zur Eile drängt. Außerdem, Dienst ist Dienst. Erster Detektiv der Agentur Bohman, Ermittlungen, Recherchen und Überwachung – das verlangt Haltung und Pflichtgefühl gegenüber dem Auftrag. Vor allem, wenn dieser nicht nur dröge Routinearbeit ist. Schutzengel. Seit drei Wochen war ich Leibwächter. Hatte sozusagen den Bund fürs Überleben geschlossen mit einem führenden Mediziner, der den Durchbruch der Teutonen seelisch nicht verkraftet hatte. Antoine Griffart, seines Zeichens Professor der Neuropsychiatrie, hatte beim Einzug der deutschen Truppen nach Frankreich Symptome einer ausgewachsenen blau-weiß-roten Nervenschwäche entwickelt. Obwohl sich sein Zustand mit dem Vorrücken der Panzerdivisionen verschlechterte, hatte er sich hartnäckig geweigert, einen seiner Kollegen zu konsultieren. »Unsere Wissenschaft ist gegen ein solches Übel leider nicht gewappnet. Denn nicht der Geist ist betroffen, sondern das Herz.« Aber da die Kardiologie mit seinen metaphysischen Extrasystolen genauso überfordert war wie die Psychiatrie, hatte sich Griffarts Familie an die Agentur Bohman gewandt. Wenn es gegen die Depression des Gelehrten schon kein Heilmittel gab, so würde eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung zumindest eine verhängnisvolle Tat verhindern. Für den Betroffenen selbst, dessen verschlechterter geistiger Zustand sein Urteilsvermögen in Mitleidenschaft gezogen hatte, war ich der Mann, dessen ständige Anwesenheit die fünfte Kolonne und ihre Agenten fernhalten würde, die allzeit bereit standen, sich bedeutender wissenschaftlicher Arbeiten zu bemächtigen.

Seit meiner Ernennung zum Schutzengel hatte ich eines festgestellt: Ein Kilo Federn wiegt zwar genauso viel wie ein Kilo Blei, aber das Metall macht auf die, die es schützen soll, doch größeren Eindruck. Das Schießeisen unter meiner Achsel hatte jedenfalls eine beruhigende Wirkung auf den Professor. Die Früchte seiner Forschung würden nicht den Teutonen in die Hände fallen. Ansonsten brauchte ich mir keine grauen Haare wachsen zu lassen. Mein Job bescherte mir eine Unterkunft in seinem Palais, Verpflegung und sogar einen vortrefflich bestückten Weinkeller.

Er bedeutete auch, sich an gewisse Arbeitszeiten zu halten. Antoine Griffart gehörte zu den Frühaufstehern. Als ich an jenem Morgen auf meine Zwiebel sah, dämmerte mir, dass etwas faul war. Zehn Uhr. Die Stille hatte mich bis in die Puppen schlafen lassen, bevor sie mich schließlich weckte. In diesen aus dem Takt geratenen Zeiten hatte sie ihre Zeiger auf das Chaos eingestellt. Es war wirklich eine seltsame Stille. Ich bemerkte die Pulle, die mir gestern Gesellschaft geleistet hatte, und machte das Fenster auf. Das Auto des Professors stand mutterseelenallein auf der verlassenen Straße wie eine Nussschale auf spiegelglatter See. Ich zog mich hurtig an und trat in den Flur. Kein Geräusch außer meinen Schritten auf dem Parkett. Man hätte fast meinen können, das Haus sei unbewohnt. Der Chauffeur und die Dienstboten hatten sich dem Massenauszug angeschlossen. Auf nach Saumur, wohin Félicie Griffart ihrem Bruder vorausgefahren war, auf das Anwesen, das als Wartesaal dienen würde, bis wieder bessere Tage kamen. In diesem Augenblick ging es in der Familienresidenz wohl etwas lebhafter zu als in Griffarts Pariser Domizil. Mit seinen Schonbezügen über den Sesseln und den weggeschafften Gemälden konnte das Palais so hochherrschaftlich sein, wie es wollte, es hatte etwas von einem Spukhaus.

Griffarts Geist jedoch schien sich nicht gestört zu fühlen, als ich die Tür zu seinem Schlafzimmer aufstieß. Trotz des milden Juniwetters war er so kalt, wie es eigentlich nur mitten im Winter möglich ist. Sein Herz würde ihm jedenfalls keine Scherereien mehr machen. Der Professor würde eine hübsche Kreidezeichnung abgeben, farblich passend zum Laken, auf dem er ruhte. Nur ein Tröpfchen Blut stach aus dem Bild hervor. Es war auf seinem linken Arm geronnen. Genau dort, wo die Nadel die Vene getroffen hatte. Die Spritze lag ordentlich in ihrer Metalldose auf dem Nachttisch. Antoine Griffart war ein Mann der Ordnung gewesen. Und er hatte Wert darauf gelegt, ein ordentlicher Toter zu sein. Sein Abschiedsbrief steckte sorgsam gefaltet in einem Kuvert, das deutlich sichtbar auf dem Schreibtisch platziert war. In exakt demselben Abstand zu Tintenfass und Löschwiege. Es fehlte nicht viel, und er hätte der Freundlichkeit halber den Weg dorthin mit Pfeilen markiert. Nicht mal ein zurückgebliebener Schutzengel konnte ihn übersehen.

II

In Anbetracht der unabwendbar kommenden Schande habe ich beschlossen, meinem Leben am heutigen 14. Juni 1940 ein Ende zu bereiten. Noch im Sterben bete ich, unser Land möge die schreckliche Prüfung, die es gegenwärtig erleidet, eines Tages hinter sich lassen.

»Hallo, Mademoiselle! Bitte trennen Sie nicht! Clermont-de-l’Oise, bitte. Ja, das Krankenhaus. Was? Da ist niemand? Hallo? Hallo!«

Mit Griffarts Brief in der einen und dem Telefon in der anderen Hand verhöhnte mich mein Ebenbild im Spiegel des Salons. So also sah ein Schutzengel aus? Wohl eine besondere Spezies. Eine, die aus allen Wolken gefallen war.

Noch bei seinem Übertritt ins Jenseits hatte der Professor seine Gewissenhaftigkeit unter Beweis gestellt und sein Adressbuch offen liegen lassen. In Saumur hatte sich niemand gemeldet. Ich versuchte es in Clermont-de-l’Oise. Griffart hatte dort Forschungsarbeiten durchgeführt. Ich rief Doktor Delettram an, Griffarts psychiatrisches Alter Ego im Krankenhaus. Glück im Unglück, das Telefon hatte die wilde Flucht überlebt. Die Postangestellten waren in der Telefonzentrale geblieben. Anweisung von oben. Das offene Paris sollte nicht von der Welt abgeschnitten werden. Die Telegrafenleitungen übermittelten noch immer Nachrichten. Und die, die mir das Fräulein vom Amt eben weitergegeben hatte, war mit Ebonit nicht aufzuwiegen. Das Krankenhaus von Clermont hatte seine Patienten per Sondertransport evakuiert. Zweitausend Verrückte auf der Eisenbahn. Das war bestimmt den Strom wert. Ein Schnellzug, vollgestopft mit Napoleons im Pyjama und sabbernden Spinnern in Zwangsjacke, dagegen konnte die Geisterbahn einpacken. Zuerst fand ich das witzig, so nach dem Motto Dick und Doof bei den Bekloppten. Als ich auflegte, kam mir der Irrenexpress weniger spaßig vor. Mit all seinem bloßliegenden Leiden, all den Stirnen, die an Fensterscheiben schlugen. Rattatam, rattatam, im Rhythmus der Räder auf den Schienen. Der durch den Rauch jagende Zug hatte nichts Komisches mehr. Aber ich hatte einen Klienten am Hals, der steifer war als ein Brett. Eine neue Seite im Goldenen Buch der Agentur Bohman. Oder was davon übrig war. Die Agentur war so leer wie alles Übrige. Octave Bohman hatte dem Feldgrau das Grün des Landlebens vorgezogen. Er hatte gespürt, dass hinter den Panzern, die den Rhein überquerten, der große Albtraum heraufzog.

»Es steht alles in Mein Kampf, Nestor, alles. Hitler wird tun, was er geschrieben hat.«

»Regen Sie sich nicht auf, Chef, ich schmeiß hier den Laden und geb Ihnen Bescheid, sobald sich die Lage entspannt.«

»Sie verstehen nicht. Das Grauen war geplant.«

In Sachen Durchblick hatte der gute Bohman, glaube ich, eine Metro Vorsprung. Wohl die, die seinen Cousin Samuel in Berlin erwischt hatte. In einer Kristallnacht, als junge Leute mit himmelfarbenem Blick ihn lachend unter den Triebwagen gestoßen hatten.

Die Abfahrt des Chefs hatte bei mir einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Zu normalen Zeiten hätte ich auf den Tischen getanzt wie die Mäuse, sobald die Katze aus dem Haus ist. Aber die normalen Zeiten würden wir so schnell nicht wiedersehen. Ich hatte gedacht, den Laden am Laufen zu halten, wäre eine Art, nicht ganz verloren zu gehen. Vielleicht aber machte ich es auch wegen Bohmans Traurigkeit, als er die Tür hinter sich zuzog. Oder wegen Cousin Samuel. Griffart lag auf seinem Bett und pfiff auf die Nöte meiner Seele. Die seine hatte sich auf und davon gemacht, das war gerade groß in Mode. Bald würde der Professor in das Pantheon der Weißkittel und vergessenen Helden eingehen. In Examensnächten würden abgekämpfte Studenten über seinen unverständlichen Arbeiten einnicken. Und an Sommerabenden Vorstadtverliebte eine nach ihm benannte Allee entlangschlendern, ohne sich darum zu scheren, ob er das Wunderpulver erfunden hatte oder den Draht zum Butterschneiden.

Ich überließ den Professor seinen postumen Ehren und nahm das Zimmer in Augenschein.

Ich war schon in einigen Sterbezimmern gewesen, in lausigen Bruchbuden und in Nobelgemächern. Sie alle gaben einem dasselbe Gefühl. Im Gefolge des Todes bekommen die Gegenstände einen feierlichen Ernst. Sogar die dämlichsten. Normalerweise würde niemand bei einer Lampe oder einem Zahnputzbecher stehen bleiben. Sobald aber eine Leiche auftaucht, meint man, sie besäßen Würde. Trübsinnig stehen sie da. Als spürten sie, dass sie bald in alle Himmelsrichtungen zerstreut werden und der Tote dann wirklich tot ist. Solange sie aber in seiner Nähe versammelt sind, hauchen sie ihm ein bisschen vergangenes Leben ein. Ein Dubonnet-Aschenbecher in einem Sterbezimmer, und schon ist da der Stuhl im Bistro, die Partie Belote und der Aperitif am Sonntag. Der Glimmstängel im Bett, bevor der Schlaf nach einem harten Arbeitstag die Vorhänge zuzieht, oder auch die Kippe danach, die man zu zweit zwischen zerknitterten Laken raucht. Orangenblüten unter einem Glassturz beschwören konserviertes Glück, und getrocknete Freude duftet im hintersten Winkel des Kleiderschranks mit den Lavendelsäckchen unter dem Kleid der Braut. Schön war die Hochzeit gewesen. Piekfein die Jungvermählten, stolz die Gäste auf dem Foto und zum Dessert gab’s die Witze von Onkel Pierre. Die Brautjungfern erröteten darüber hinter erdbeerverschmierten Servietten.

Sind die Verblichenen erst mal kalt, kommen sie unters Messer. Man weiß, dass der kleine Dicke mit dem Brieföffner umgebracht wurde. Dass der Erhängte von halb elf noch Blutwurst verputzt hat. Ja, und? Sagt das etwas darüber aus, wer sie waren, bevor sie zu totem Fleisch wurden? Die Flics trampeln mit dicken Stiefeln darüber, und alles, was das Lebendige ausmachte, sieht plötzlich aus wie ein ramponiertes Buch. Man muss es selber erlebt haben, um es zu begreifen. Man könnte fast meinen, das Gesetz zu vertreten, verbiete es, vor irgendetwas Respekt zu zeigen.

Griffart würde Besuch von den Bullen bekommen. Vielleicht würden sie ihre genagelten Schuhe auf der Fußmatte stehen lassen, man hat ja Manieren, wenn man bei feinen Leuten verkehrt. Bis dahin aber hatte er ein wenig Mitleid verdient. Ich öffnete seine Schubladen, wie man ein Familienalbum aufschlägt. Ich fand nicht viele Erinnerungsstücke. Der Nachttisch glich einem vollständig bestückten Rauchernecessaire: das Zigarettenetui, mit reinem Gold überzogen, das dazu passende Feuerzeug, der Taschenascher mit Perlmuttdeckel und Pastillen von Lajaunie – und Ihr Atem ist frisch wie nie. Ich fragte mich, ob die kleinen Bonbons auch für den letzten Atemzug funktionierten. Meiner Nase nach zu urteilen, hatte der Professor den seinen jedenfalls nicht mit Fichtennadel aus den Vogesen beduftet.

Im Schrank warteten zwei graue Anzüge, geduldig wie vergessene Hunde, auf ihren Herrn. Gefaltete Hemden, gewichste Schuhe … Ich verließ die Kleiderabteilung und wandte mich den Papierwaren zu. Auch hier hatte das meiste den Weg nach Saumur genommen. Dass einer seine Sachen wegschickte, bevor er sich ins Jenseits beförderte … Wenn Griffart seine Tat geplant hatte, dann war er sehr darauf bedacht gewesen, seine Schwester hinters Licht zu führen. Der doppelte Boden der Kommode, unter dem er seine Wertpapiere versteckte, enthielt nur ein paar lose Notizen zu seinem letzten Steckenpferd: Die segmentäre Aphasie. Ich steckte sie ein und rief die Polente.

III

»Untauglich. Ich habe Plattfüße, Inspektor.«

»Für einen so aufgeblasenen Gockel eher ungewöhnlich.«

Bailly stand auf dem Treppenabsatz und machte sich über mich lustig. Er machte sich über alles lustig. Er hatte sich nicht verändert. Außer, was das Viertel betraf. Vor sechs Monaten hatte er die Höhen von Belleville gegen den Quai des Orfèvres eingetauscht. Ein Abstieg, der ihm einen Aufstieg in der Polizeihierarchie beschert hatte. Dieser Flic war der Widerspruch in Person.

»Sie sollten Ihre Witze schleunigst ins Deutsche übersetzen«, konterte ich und ließ ihn herein, »die lieben seichten Humor. Und in der Beziehung scheint die Polizei nicht mobilisierter zu sein als ich.«

Sein Mundwinkel verzog sich in so etwas wie einer leichten Aufwärtsbewegung, die man für alles Mögliche hätte halten können, nur nicht für ein Lächeln.

»Ist sie aber, Nestor, hier vor Ort. Krieg hin oder her, wir haben Anweisung, die Ordnung aufrechtzuerhalten.«

»Bei allem Respekt, Inspektor, da dürften Sie bald ausschauen wie die Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt.«

»Wohl kaum bekloppter als ein Privater mit Plattfüßen. Was ist jetzt mit der Leiche?«

»In dem Zimmer ganz hinten. Sofern sie noch nicht verwest ist. Sie haben sich ja Zeit gelassen.«

»Ach, wissen Sie, die Leichen heutzutage … Die haben auch nicht mehr denselben Reiz wie früher.«

Er kam endlich rein, einen schwitzenden Untergebenen im Schlepptau.

»Was sie nicht daran hindert, für ein voll besetztes Haus zu sorgen«, sagte ich, nachdem zwei Bullen in Pelerine, der Gerichtsmediziner und der diensthabende Fotograf über die Schwelle getreten waren. »Sind Sie sicher, dass bei euch in der guten Stube noch jemand übrig ist, um die Stellung zu halten?«

Er begleitete den Dok ins Schlafzimmer, während die Schupos die Bahre aufklappten.

»Nobel hier«, bemerkte der Dickere. »Außerdem ist die Treppe breit.«

Durch die Mitesser im Gesicht hatte er was von einer Trüffelpastete. Sein Kumpel nahm mich zum Zeugen.

»Es gibt in der Stadt Ecken, da sind die Hütten so eng, dass man Akrobaten als Möbelpacker bräuchte, um die Trage runterzubekommen.«

»Klar, bei euch packen sie eher aus als an …«

»Ah, wem sagen Sie das! He, Marcel, erzähl dem Herrn mal von dem Typen aus der Rue Maxime-Lisbonne. Auch ein Kollege von Ihrem verstorbenen Freund.«

»Ein Psychiater?«

»Nein, ein Selbstmörder. Hatte sich allerdings fürs Kunstfliegen entschieden. Er ist im vierten Stock aus dem Fenster gesprungen. Patsch! Direkt der Concierge vor die Füße. Eine Überraschung aus heiterem Himmel, kann ich Ihnen sagen. Trotz der vier Stockwerke war der Typ nicht tot. Ein Wunder, da gibt’s kein anderes Wort für. Oder aber ein Mordsglück. Ermordet hätte er wohl auch gern einen – nämlich den Typen, der mit seiner Frau … Kurzum, nach zwei Monaten im Krankenhaus bringt man ihn wieder heim. Bandagiert wie eine Mumie, aber lebend. Und er weiß, was er will. Kaum ist eine Woche um, hängt er sich an seinen Verbänden auf. Als er dann runtergetragen wird, kippt die Bahre. Eine Kehre zu knapp genommen und wusch! Der Junge nimmt die vier Stockwerke im Gleitflug. Ich höre noch das Gepolter von seinem Aufprall. Aber das Beste war die Concierge. Kaum dass der Kerl runtergeknallt ist, hat man sie schreien hören: ›Geht das noch lange hier?‹«

»Versucht, den hier nicht zu werfen«, riet Bailly, der gerade aus dem Schlafzimmer kam. »Hier in der Gegend haben die Concierges einen langen Arm.«

Die beiden Flics sahen ihn an und versuchten herauszubekommen, ob das ein Witz sein sollte. Sie legten respektvoll den Zeigefinger ans Käppi und zogen ab, um Griffart zu verpacken.

»Da muss sich die Fünfte Kolonne ja auf was gefasst machen«, sagte ich.

»Auch Sie beziehungsweise die Agentur Bohman könnten einen Angestellten verlieren.«

»Moment mal! An der Geschichte hier ist nichts faul. Es war Selbstmord …«

Der Doktor trat zu uns und putzte seine Brille. Ohne die Gläser sahen seine Augen aus wie zwei benutzte Gummiflicken.

»Besser kann man es nicht vertuschen.«

»Was soll das heißen?«

Er setzte sein Gestell auf und seine Augen nahmen wieder ihre normale Größe an.

»Dass es sich auf den ersten Blick um einen Selbstmord handelt.«

»Sind Sie denn nicht mit von der Partie? Ich dachte, die Gerichtsmediziner sind alle an der Front? Ich pfeif auf den ersten Blick, wenn es einen zweiten gibt.«

Der Arzt sah Bailly an.

»Ich frage mich, ob ich ihn nicht auch untersuchen sollte. Für einen Kerl mit platten Füßen geht ihm, wie ich finde, ziemlich schnell der Hut hoch.«

»Warten Sie, bis er das Zeitliche gesegnet hat. Bei seiner Begabung, sich in die Scheiße zu reiten, bringt er es bald so weit.«

»He, ho!«, sagte ich. »Was denn für eine Scheiße? Griffart hat sich selber umgebracht, oder etwa nicht?«

»Dok?«, fragte Bailly.

»So werde ich es in meinem Bericht schreiben. Freitod durch Selbstinjektion. Und die Autopsie wird uns sagen, womit.«

Mein Uff hatte die Größe eines Zeppelins.

»Sie haben mir vielleicht Angst gemacht …«

Bailly zog seinen Tabak heraus und fing an, sich eine zu drehen.

»Verstehe. Seinen Schützling abkratzen zu lassen, ist schon nicht besonders glorreich, aber wenn er umgelegt wurde, während Sie geschlafen haben … Da findet man so schnell keine neuen Klienten mehr.«

»Bald ist sowieso niemand mehr in Paris.«

»Wenn Sie sich da mal nicht täuschen, vor den Toren werden ganze Regimenter von Touristen gemeldet.«

»Ich habe kein Talent für Sprachen.«

»Das lernen Sie noch. Alle werden es lernen, Sie werden schon sehen.«

Wir unterbrachen uns, um Griffart durchzulassen, der den Flur in der Waagerechten durchquerte, mit einem Beamten vorne und einem hinten. Unter der Decke, die ihn vor Blicken schützte, zeichneten sich seine sterblichen Überreste ab wie eine Statue vor ihrer Einweihung. Auf dem Treppenabsatz angelangt, betrachteten die beiden Flics die Stufen mit bedrückten Gesichtern.

»Bist du so weit?«, fragte der Dicke, der vorne ging.

»Klaro«, antwortete der andere ohne Überzeugung.

Sie nahmen den Abstieg in Angriff, als gingen sie auf rohen Eiern. Als ich sie unten mit wehender Pelerine davonrauschen sah, sagte ich mir, dass es das Normalste von der Welt war, den Himmel zwischen zwei Schwalben zu erreichen.

Der Fotograf räumte seinen Krempel zusammen. Der Arzt verabschiedete sich. Er schüttelte Bailly lange die Hand. So, als hätten sie eben ein gutes Geschäft abgewickelt: »Der Leichnam ist in ausgezeichnetem Zustand, Sie werden zufrieden sein. – Ich werde es Ihnen bei Gelegenheit bestätigen, Inspektor.«

»Ich schicke Ihnen dann meinen Bericht«, sagte der Dok einfach.

Daraufhin warf er einen fachmännischen Blick auf meine Füße und ging kopfschüttelnd seines Weges.

Der Sommer draußen lachte Krieg und Menschen aus. Die Avenue gab sich mit ihren geschlossenen Fensterläden einen Anschein von südlichem Mittagsschlaf. Mit der Sonne, die auf dem Trottoir die Zeit vertrödelte, und der Bank, die auf ihre strohhutbewehrten Alten wartete. In der leichten Brise lag ein Duft von Lindenblüten. Einen Kanonenschuss entfernt dünstete die Erde den Gestank von verfaultem Fleisch aus, hier aber sättigten sich die großen schwarzen Fliegen, von der Hitze schwer geworden, noch nicht an Kadavern.

Bailly bewunderte die Fassade des Palais.

»Ich hätte nicht Flic, sondern Psychiater werden sollen … Die Krankenhausverwaltung scheint bei den Behandlungshonoraren nicht zu knausern.«

»Vertun Sie sich mal nicht, Griffart hat zwar in Clermont Sprechstunde gehalten, aber seine eigentliche Arbeit war seine Praxis. Die gut betuchten Irren haben seine Forschung finanziert.«

»Wissen Sie, ob man noch jemanden benachrichtigen muss, abgesehen von der Schwester und Delettram?«

»Nein. Für eine Koryphäe ist er nicht viel unter Leute gegangen. Na ja, seine Bekannten sind wie alle anderen auch. Haben wahrscheinlich eher daran gedacht, ihre Koffer zu packen, als lockere Partys zu schmeißen … Apropos Koffer, was ist mit diesem Zug der Irren? Clermont wurde evakuiert?«

»Zum Teil. In der Ecke hat’s geknallt. Als die nicht mobilisierten Ärzte die Scharen von Flüchtlingen gesehen haben, die mit den Panzern im Nacken angerückt sind, haben sie mit dem Evakuieren angefangen. Was hätten sie sonst auch tun können? Ohne Wasser, ohne Strom … In der Zwischenzeit haben die Deutschen Clermont eingenommen. Seit einer Woche halten sie das Krankenhaus besetzt.«

»Und die Verrückten?«

»Diejenigen, die keine Zeit mehr hatten wegzugehen, sind mit dem dagebliebenen Teil der Belegschaft noch immer im Krankenhaus. Die anderen sind Gott weiß wo verstreut.«

Ich konnte sie mir lebhaft vorstellen. Zitternd vor Angst in einem bombardierten Bahnhof, ohne etwas von diesem Wahn zu verstehen, der schlimmer war als ihr eigener. Abgesetzt am Eingang irgendeines Kaffs, das dichtmachte wie eine Auster. »Wir haben nichts mehr, haut ab!« Entflohene, die die Freiheit nicht verstanden. Und die Pfleger, die nicht abgehauen waren und nun über eine hilflose Herde wachten. Ein Trupp verstörter armer Teufel, die Füße zerschunden von den Steinen auf dem Weg.

Wir standen da, ohne zu wissen, was wir uns in der zurück gekehrten Stille noch sagen sollten. Ein Paris ohne Geräusche macht trübsinnig. Wie ein großes Tier, das verstummt ist. Ein Pferd, das nicht mehr wiehern dürfte, wäre nicht mitleiderregender.

»Also dann, bis zur nächsten Leiche«, sagte er und reichte mir die Hand.

»Ich werde mir Mühe geben, Ihnen keine Zeit zu stehlen«, antwortete ich, indem ich sie schüttelte.

Er wollte eben in seine Karre steigen, drehte sich aber noch mal um, als hätte er etwas vergessen.

»Natürlich verlassen Sie Paris nicht, bevor der Fall abgeschlossen ist.«

Paris nicht verlassen, das war lustig, wo drei Viertel der Stadt abgehauen waren. Ich suchte nach einer flapsigen Antwort, aber Bailly hatte seine Schlangenmiene aufgesetzt. Die für die Verhöre, hinter der er seine Fragen ausbrütete wie die gestiefelte Unschuld vom Lande. Eine Klapperschlange war offenherziger.

»Welcher Fall?«, fragte ich. »Griffart hat sich umgebracht, haben Sie den Gerichtsarzt nicht gehört?«

»Sein Bericht wird das sicher bestätigen. In der Zwischenzeit kennen Sie das Spiel, Sie halten sich für die Polizei zur Verfügung.«

»Verflixt, und ich hatte gedacht, Ihre Zeit sei kostbar … Dabei bleibt Ihnen noch genug zum Verplempern. Haben Sie nicht alle Hände voll zu tun, die Kommunisten zu überwachen?«

Ich hatte das so dahingesagt, ohne böse Absicht. Leere Worte. Seit Stalin sich so blendend mit Hitler verstand, waren die Kommunisten ins Visier der Polizei geraten. Das waren sie zwar gewöhnt, aber jetzt wurde es ernst. Die Partei war verboten. Und da war ihr nichts Besseres eingefallen, als dem deutsch-sowjetischen Pakt zu applaudieren. Und gleich darauf dem Einmarsch der UdSSR in Polen. Wenn die Chefs der Arbeiterheimat zusammen mit den Führern Nazideutschlands Champagnerflaschen aufsäbelten, war es kein Wunder, dass so mancher mit seinem Kyrillisch am Ende war. Aber nein, im Zentralkomitee fand man das très chic. Und mit einem Male waren auch Frankreich und England die Kriegstreiber, so was Niederträchtiges aber auch. Sie waren um nichts besser als das Reich. Bürgerliche Regierungen, ein Haufen Imperialisten. Das war’s, der Krieg war imperialistisch. Also schrie man den Krieg nieder. Man sollte meinen, dass es mit dem Glauben wie mit dem Fahrradfahren ist, das vergisst man nicht. Trotzdem, alles in allem sah das Ganze nach Unordnung aus. Und die Polizei war dazu da, der Unordnung vorzubeugen …

Aber Bailly war ein besonderer Flic.

»Sollen die Roten doch in ihren Tipis bleiben. Ich bevorzuge die Selbstmörder. Das ist lustiger als Denunziantenbriefe.«

»Was für Briefe?«

»Die Schriebe, die jeden Morgen bei uns eingehen: ›Mein Nachbar redet defätistisches Zeug‹, ›Der Tabakverkäufer aus der Rue Popincourt liest heimlich L’Humanité‹, ›Mein Installateur hat behauptet, der Siphon von meinem Bidet sei so haltbar wie sowjetischer Stahl‹ … Was da fleißig gekrickelt und gekrakelt wird! Sie sind doch ein ganz Schlauer, Sie werden sehen, das ist erst der Anfang. Da kommt noch gehörig was nach. Früher oder später flattert mir vielleicht ein Wisch über Sie und Ihre Plattfüße rein.«

Es schien ihm ernst damit zu sein. Ich ließ das Gewitter vorüberziehen.

»Machen Sie sich keinen Kopf, Inspektor, ich rühre mich nicht aus Paris weg. Was soll ich auch woanders?«

Er stieg in sein Auto, und ich sah, wie er auf der verlassenen Avenue davonfuhr.

IV

Ich machte mich auf den Weg zur Agentur. Während ich also wieder nach Belleville hochmarschierte, hakte sich eine Idee bei mir unter. Eine, die ich nicht mochte. Es gibt so welche. Sie raunte mir zu, dass Baillys Hartnäckigkeit nicht normal war. Als hätte ihn ein Detail stutzig gemacht. Ein Detail, das ich übersehen hatte. Der Schutzengel mit den Plattfüßen konnte es ja ebenso gut auch an den Augen haben.

Eine Katze bummelte übers Trottoir. Sie war allein. Auf den Straßen gab es rein gar nichts. Kein Auto, keinen Fußgänger. Nichts und niemanden. Eine tote Stadt. Heruntergelassene Rollläden vor den Geschäften, Vorhängeschlösser an den Eisengittern, zugeklappte Faltläden … Diejenigen, die nicht abgehauen waren, hockten hinter ihren verrammelten Fenstern und vermieden es, auch nur die Nasenspitze zu zeigen. Die Schlauberger aber, die auf die deutschen Feldwebel warteten wie andere auf den Frühling, zählten die Stunden.

Bei den Buttes-Chaumont zerriss ein Taubenschwarm mit lautem Flügelschlag die Luft. Einen Augenblick kreisten die Vögel im hellen Himmel, dann landeten sie mitten auf der Fahrbahn. Die Pferde hatten dort auf ihrem Weg eine dampfende Markierung hinterlassen. Die Tauben begutachteten die Pferdeäpfel mit Kennerblick und fingen an, darin herumzupicken und sich die besten Stücke streitig zu machen. Ich dachte an die Raben auf den Massengräbern und ging einen Schritt schneller.

An der Metrostation Bolivar sah ich ihn. Wie er da auf seiner Bank beim geschlossenen Zeitungskiosk saß, hätte man ihn beinahe für eine Versteinerung halten können. Als ich vorbeiging, lüpfte er seinen Hut.

»Monsieur«, sagte er ein wenig steif wie die alten Männer in den Straßencafés, die vage bekannte Gestalten grüßen.

Ich tippte an meinen Hut, um seine Höflichkeit zu erwidern. Na ja, so was macht man halt. Dann sah ich sein Gesicht. Von schmierigem Ruß geschwärzt, mit einer ausgesparten weißen Stelle um die Augen, als hätte er eine Maske auf. Vor ein paar Tagen hatten einige von uns die gleiche getragen. Als die brennenden Benzinlager in Rouen es schmutzigen Schnee auf Paris regnen ließen. Wir hatten die Wolke jenseits der Vorstädte beobachtet. Das mit verbranntem Kautschuk vermischte Erdöl war, vom Wind weitergetragen, in dreckigen Flocken niedergegangen. Eine Stunde später war das Viertel von Bergarbeitern bevölkert. Von der Tippse übers Milchmädchen bis zum Gasmann. Überall schwarze Gesichter, denen das Augenreiben eine helle Karnevalsbinde verpasst hatte. Man kam sich fast vor wie beim Maskenball, mit dem Feuerwerk draußen bei den Fabriken. Aber so ein freudloses Fest zerriss einem das Herz.

Der Typ auf der Bank hatte sich offenbar seither nicht gewaschen. Als ich genauer hinsah, erkannte ich den alten Herrn, den ich vor dem Krieg immer gesehen hatte, wenn er, wie aus dem Ei gepellt, an den Buttes spazieren ging. Mit dem Eierpellen war’s jetzt Essig. Von seinem geschniegelten Anzug war nicht mehr als eine zerknitterte Erinnerung übrig.

»Hören Sie sie kommen?«, fragte er mich.

»Wen?«, fragte ich etwas blöde.

»Die Deutschen, Monsieur, die Deutschen.«

»Sie können sie … hören?«

»Scht! Horchen Sie!«

Um uns herum war nur das Rauschen des Windes, der durch die Bäume blies.

»Und jetzt, hören Sie sie jetzt?«, beharrte er. »Sie werden bald da sein, es ist nur noch eine Frage von Stunden. Wir werden nicht viele sein, um sie zu begrüßen.«

»Sie zu begrüßen?«

»Sie sind die Sieger und Siegern hat man die Ehre zu erweisen, nicht wahr? Ich erwarte sie.«

Ich sagte nichts. Der alte Herr starrte mich durch seine Rußmaske hindurch an.

»Allein in der Erniedrigung liegt das Heil.«

Er setzte seinen Hut wieder auf und ich begriff, dass ich durchsichtig geworden war.

Als ich bei der Agentur ankam, klingelte das Telefon.

»Hallo …«

»Ich bin’s, Yvette.«

»Yvette?«

»Nestor, sind Sie am Apparat?«

»Ja, sicher, Nestor, Agentur Bohman, das ist da, wo Sie arbeiten … Sie haben mich doch angerufen, oder nicht?«

»Kein Zweifel, Sie sind es. Aber Ihre Stimme klingt so seltsam. Alles in Ordnung?«

»Ich bin gerade einem lebenden Toten begegnet.«

»Hä?«

»Egal. Wo sind Sie?«

»In Chartres. Ich hab gestern versucht, Sie zu erreichen, aber die Leitungen waren unterbrochen … Es ist furchtbar.«

»Na ja, so schlimm ist das nun auch wieder nicht.«

»Wie bitte?«

»Das kommt wieder in Ordnung, man kann es ja hören.«

»Wovon reden Sie eigentlich?«

»Von den unterbrochenen Leitungen …«

»Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist, Nestor?«

»Es ginge mir besser, wenn Sie da wären.«

»Wie überaus freundlich. Also, ich muss mich kurzfassen, die Telefonzelle wird bald gestürmt. Ich meinte nicht die Telefonleitungen, sondern den ganzen Rest.«

»Den Rest?«

»Es ist Krieg, Nes, erinnern Sie sich? Seit vier Tagen marschieren wir hier in einer unbeschreiblichen Menschenmenge im Gleichschritt. All die armen Leute mit ihren Habseligkeiten. Der Flugzeugbeschuss, die Toten, die fliehenden Soldaten, die verloren gegangenen Kinder … Ja, Madame, ich fasse mich kurz, eine Sekunde noch und Sie sind dran … Nes, Sie müssen kommen.«

»Hä?«

»Es ist hier was Seltsames passiert. Wir haben heute Nacht im Bahnhof geschlafen. Gegen ein Uhr ist ein Zug angekommen. Als ich aufwachte, tauchte er aus dem Dampf auf. Ich habe es deutlich gesehen, wie in einem Traum fuhr er am Bahnsteig ein. Und dann, nichts mehr.«

»Wie, nichts mehr?«

»Der Zug stand mit der fauchenden Lok einfach da. Der Mechaniker hat durch seinen Wagenschlag die Waggons beobachtet, so als warte er darauf, dass die Reisenden aussteigen. Aber niemand ist ausgestiegen … Ich bin gleich fertig, Madame. Ja, ich weiß, es gibt nur drei Kabinen für alle … Nes, sind Sie noch dran?«

»Ja, ja, und was war jetzt mit Ihrem Zug?«

»Man hätte meinen können, er wäre leer. Haben Sie momentan viele leere Züge gesehen? Also, der Mechaniker bläst in seine Pfeife. Nichts. Der Heizer steigt ab. Der Bahnhofschef geht mit seiner Laterne in der Hand zu ihm, und sie machen die erste Waggontür auf. Sie scheinen mit jemandem drinnen zu reden, dann geht der Heizer. Plötzlich sieht man einen Mann aussteigen, das Gesicht von Zuckungen verzerrt. Dann einen zweiten und Frauen, zuletzt eine ganze Gruppe. Sie wirkten völlig verängstigt. Wir haben ihnen gegeben, was wir dahatten, Wasser und Brot. Na, und einen Hunger hatten die, vor allem aber Angst. Unter ihnen war ein großer Kerl, so die Art Jahrmarktringer. Er hat sich das Brot sofort in die Manteltasche geschoben. ›Wollen Sie nicht essen?‹, frage ich ihn. Aber er bleibt stumm, als spräche er kein Französisch. Ich zeige auf seine Tasche. ›Keinen Hunger?‹, frage ich und mache die entsprechende Geste. Daraufhin sieht er mich mit solchen Augen an … zum Gotterbarmen. Er gibt mir das Brot zurück. Er dachte, dass ich ihn beschuldige, er hätte es gestohlen. In dem Moment ist ihm der Zettel aus der Jacke gefallen … Madame, seien Sie doch so gut, ich lege ja schon auf. Nestor, Sie müssen kommen.«

»Kommen? Hallo, hallo, bitte trennen Sie nicht …«

»Ich muss auflegen, Nes. Kommen Sie. Auf dem Zettel steht Ihr Name …«

»Mein Name? Hallo, warten Sie, woher kam der Zug?«

»Aus der Oise.«

»Ich höre nichts, hallo! Woher kam der Zug?«

»Aus Clermont …«

»Hallo! Hallo!«

V

»Guter Mann, es gibt doch jetzt keine Züge mehr! Den nach Chartres nicht und auch sonst keinen. Der letzte ist gestern abgefahren. Ich kann Ihnen nicht mal sagen, bis wohin er es geschafft hat.«

Der Bahnhof sah aus wie ein aufgelaufenes Schiff. Der Mann, unrasiert und die Mütze schief auf dem Kopf, saugte an einer eingespeichelten gelben Kippe. Hin und wieder löste er sie von seinen Lippen und sah sie an. Überrascht, dass sie sich nicht in einen Schwamm verwandelt hatte.

»Wann der Betrieb wieder aufgenommen wird, kann ich Ihnen auch nicht sagen.«

Über seinem Kopf prangte wie ein schlechter Witz das Schild Auskunft.

»Ich weiß, ich weiß«, seufzte er. »Das sieht komisch aus. Na ja, komisch ist nicht das richtige Wort … Wenn ich Ihnen erzählen würde, was ich gesehen habe.«

»Also …«

»Keine Sorge, ich hab keine Lust dazu. Die habe ich nur noch auf eines: schlafen. Ich hab drei Tage am Stück bei der Abfahrt ausgeholfen. Nicht mal die Deutschen könnten mich jetzt daran hindern, schlafen zu gehen.«

Seine Kippe taugte nicht mehr viel. Er warf sie weg, in seinen Augen lag Bedauern. Auch Müdigkeit und ein Haufen anderer Sachen, die ich mir vorstellen konnte.

»Ich fürchte, die haben Wichtigeres zu tun«, sagte ich.

Er gähnte. Ein Drei-Tage-ohne-Schlaf-Gähnen. Sein Kiefer musste bombenfest sitzen. Die Klappe weiter aufzubekommen, wäre nur noch dem Nilpferd aus dem Zoo von Vincennes gelungen. Man sah seine Backen- und Weisheitszähne und sogar seine Mandeln. Um noch tiefer reinzuschauen, reichte das Licht nicht.

Ich sah ihn davonschlurfen. Als er unter dem Glasdach durchging, fiel Tageslicht auf ihn. Er machte eine Handbewegung, um es zu vertreiben.

Ich zündete meine Pfeife an und machte mich auf zum Ausgang. Ein einsamer Bettler suchte in dem auf dem Boden herumliegenden Zeug sein Glück. Im Wartesaal las er einen Frauenschuh auf, und sein Gesicht erhellte sich, als hätte er einen Stern vom Himmel gepflückt.

Mein guter Stern wartete in der Rue de Rome auf mich. Ein herrenloses Fahrrad. Für mich allein. Ein hübscher, noch ganz passabler Drahtesel, der neben einem Toreingang für mich bereitstand. Als ich mich daraufschwang, rechnete ich mir aus, dass ich es zur Vesper bis nach Chartres schaffen konnte, wenn ich ordentlich in die Pedale trat. Ich war noch keine zehn Meter gekommen, als sich ein Kauz in Briefträgertracht an mein Rücklicht heftete.

»Haltet den Dieb!«, brüllte er, als ob das noch irgendjemanden interessierte.

Ich ließ meine Wadenmuskeln spielen, und einen Moment lang flogen wir nur so hintereinander her. Ich, über meinen Lenker gebeugt, vorneweg, er wie ein Marathonläufer hinterdrein. Ich hörte, wie ihm die Puste ausging. Er fiel zurück. Noch einmal schrie er:

»Dieb!«

Dann blieb er stehen. Als ich mich umdrehte, stand er gebückt an einem Laternenpfahl und rang nach Atem. Seine Tasche lag neben ihm.

»Mein Fahrrad …«, jammerte er niedergeschlagen.

Es tat mir leid, dass es ausgerechnet ihn traf.

»Ich lasse es in Chartres«, rief ich. »Um schlechte Nachrichten auszutragen, kannst du genauso gut zu Fuß gehen.«

»Sie verlassen Paris nicht«, hatte Bailly gesagt. Um fünf Uhr nahm ich das Departement Seine-et-Oise im Wiegetritt. Nicht gerade ein einzelgängerischer Ausreißversuch. Das Peloton der großen Flucht war weit voraus, aber es gab noch die Nachzügler. Sie erstreckten sich über Kilometer, unterbrochen von liegen gebliebenen Autos und kaputten Wagen. Ich zog an denen vorbei, die vom Glück ganz verlassen waren und sich selbst vor den Karren gespannt hatten, nachdem ihnen unterwegs das Pferd weggestorben war. Und an den Hilflosen: »Haben Sie nicht meinen Mann gesehen? Er sollte nach Mantes nachkommen.« Und an den Ältesten, die sich fragten, wer von ihnen als Erster abkratzen würde. Sie hatten die Ulanen 1870 und den Letzten Krieg 1914 miterlebt. Sie sprachen von den Preußen, und alles geriet durcheinander. Ab und an lag eine Leiche im Straßengraben. Eine Frau, die hineingesprungen war, in der Hoffnung, den Sturzbombern zu entkommen. Oder ein Sterbender, dessen Weg zu Ende war.

Ich fand meine Radtour unerquicklich. Das hatte nichts mehr mit den Tandems von ’36, den lustigen Ausflügen und den Liedern unterm nächtlichen Sternenhimmel gemein.

Gegen Abend kamen die Krämpfe. Ich stieg ab und stopfte meine Pfeife, um meine Lunge zu entspannen. Es muss der Tabakgeruch gewesen sein, der ihn anlockte. Streunenden Hunden fehlen die Menschen so sehr, dass sie ihm nicht widerstehen können. Er war ein Schäferhund. Ausgemergelt. Er näherte sich mit misstrauisch gerundetem Buckel und angelegten Ohren. Um sich Mut zu machen, fletschte er die Zähne. Aber er konnte nicht anders, er musste kommen. Als er ganz nah war, holte ich den Rest Apfel heraus, den ich noch in der Tasche hatte. Ein schöner rotbackiger Apfel, am Straßenrand aufgelesen. Ich hatte eine Hälfte für später, wenn ich gar nicht mehr konnte, aufgehoben. Gefressen hat ihn der Köter. Ich legte den Apfel vorsichtig auf die Fahrbahn und trat zurück. Der Hund knurrte mit hochgezogenen Lefzen und stürzte sich darauf, als hätte er seit Tagen nicht mehr gefressen. Ich dachte an die Leichen in den Straßengräben und sagte mir, dass er ein anständiger Kerl war. Daraufhin schwang ich mich wieder auf den Sattel. Zwanzig Kilometer später lief er immer noch hinter mir her.

Als Chartres in Sichtweite kam, hatte es schon vor einer Ewigkeit zur Vesper geläutet. Sie war von der Totenglocke abgelöst worden. Ich hatte nicht die Muße, ihr lange zu lauschen. Der Lärm der im Sturzflug heranbrausenden Flugzeuge warf mich zu Boden. Ich presste mich auf die Erde und schützte den Kopf mit den Armen. Ich spürte, wie sie vorüberflogen. In der hereingebrochenen Finsternis sah ich nicht die Hand vor Augen, aber ich zählte vier Flieger. Wie viele Bomben, keine Ahnung. Ihr Pfeifen brachte mein Trommelfell fast zum Platzen. Noch bevor ich die Detonationen hörte, wusste ich, dass sie eingeschlagen hatten. Die Schockwelle setzte sich unterhalb der Straße fort. Und der rote Schein des Feuers steckte den Himmel in Brand. Im Weiß der Blitze, die die Nacht zerrissen, zeichnete sich die Silhouette des Hundes ab. Er suchte heulend das Weite. Ich schloss die Augen. Die Flugzeuge kehrten zum zweiten Angriff zurück.

Im Morgengrauen erreichte ich Chartres. Die Stadt war mittlerweile ein einziges Menschengewühl. Eine Weltuntergangsmelange. Die Bewohner waren geflohen, vertrieben von der Masse an Flüchtlingen, die aus Belgien, dem Norden und jetzt auch Paris kamen. Zusammengepfercht warteten sie darauf weiterzuziehen. Und überall Rauch und Asche.

Ich bahnte mir einen Weg zum Bahnhof. Ein großer Typ kämpfte sich gegen den Strom durch.

»Es brennt! Die Feuerwehr! Wo ist die Feuerwehr?«

»Abgehauen!«

»Dann holt die Gendarmen zum Pumpen!«

»Die haben sich verdrückt.«

»Wer hat den Befehl dazu gegeben?«

»…«

»Gütiger Himmel! Dann lenkt wenigstens die Flüchtlinge um, die behindern die Truppen beim Manövrieren.«

»Welche Truppen denn, Herr Präfekt? Außer den Kolonialtruppen sind keine mehr da.«

»Seht einfach zu, dass ihr klarkommt. Und beschlagnahmt das Mehl, damit Brot gebacken wird und die Leute zu essen bekommen. Versammlung in zwei Stunden im Rathaus.«