Mami – 1914 – Kinderglück am Meeresstrand

Mami
– 1914–

Kinderglück am Meeresstrand

Eine aufregende Zeit für Luisa und Fabian

Anna Sonngarten

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-609-0

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Hätte Bernhard Sachser an diesem Morgen, als um kurz nach sieben Uhr der Wecker klingelte, gewußt, wie der Tag enden würde, wäre er wahrscheinlich liegen geblieben. Aber so stand er wie jeden Morgen auf, um seine Tochter Luisa zu wecken und um für sie beide das Frühstück zuzubereiten.

»Luisa, Schatz, es ist Zeit aufzustehen«, sagte er halblaut ins Kinderzimmer hinein und öffnete die Vorhänge. Es dämmerte bereits, und hinter einem Band tiefhängender Wolken konnte man die Sonne erahnen. Bernhard Sachser blickte kurz in den Garten. Es hatte in der Nacht geregnet.

»Oh, der Rasen muß auch wieder einmal gemäht werden«, sprach er mehr zu sich selbst, denn Luisa war um diese Uhrzeit noch nicht ansprechbar. Er konnte frühestens nach der ersten Portion Cornflakes mit ihrer Aufmerksamkeit rechnen. Gerade drehte sie sich noch einmal auf die Seite und murmelte einige unverständliche Worte in sich hinein.

»Wenn ich fertig mit Duschen bin, wird es allerhöchste Zeit. Hast du mir nicht gestern abend etwas von einer Mathearbeit erzählt, die heute dran ist?«

Luisa setzte sich ruckartig in ihrem Bett auf. Ihr blonder Lockenkopf wirkte noch zerzauster als sonst.

»Oje, richtig. Du mußt mir noch etwas erklären… gleich beim Frühstück!« Luisa schien schlagartig hellwach zu sein und sprang aus dem Bett. Bernhard verdrehte die Augen. Das war einmal wieder typisch für seine achtjährige Tochter. Auf den letzten Drücker noch etwas erklärt haben zu wollen. Er hatte sich auf eine Viertelstunde Ruhe beim Frühstück gefreut, bevor er zur Baustelle mußte. Als Bauingenieur hatte er die Leitung für ein großes Bauvorhaben übernommen, was zur Zeit seine gesamte Aufmerksamkeit forderte. Daß seine Tochter dabei nicht zu kurz kam, dafür sorgte Luisa schon selbst. Während Bernhard unter die Dusche stieg, kramte Luisa in ihrem Schulranzen herum. Zweifellos suchte sie ihr Rechenbuch. Sie schlug es auf und zog sich dabei an. Sie achtete nicht darauf, daß ihre Socken nicht zusammenpaßten und ihre Jeans eigentlich in die Waschmaschine gehörte. Sie war für ihr Alter auffallend uneitel. Vielleicht lag das daran, daß ihr das weibliche Vorbild in der Person einer Mutter fehlte. Bernhard war alleinerziehender Vater. Isabel Sachser hatte ihre Familie vor fünf Jahren aus Karrieregründen verlassen. Sie war ein gefragtes Model und konnte in ihrem unsteten Berufsleben kein Kind gebrauchen. Luisa war auch kein Wunschkind gewesen, und für Isabel hatte immer festgestanden, daß sie ihren Beruf wegen des Kindes niemals aufgeben würde. Mittlerweile war sie als Managerin in der Modebranche tätig, nicht mehr als Model. Doch sie fuhr weiterhin noch von einer Modemesse zur nächsten. Luisa hatte ihre Mutter seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Ab und zu telefonierten sie miteinander, und Isabel schickte Luisa regelmäßig Pakete mit der neuesten Teeniemode. Doch diese Pakete verschwanden meist in der hintersten Ecke von Luisas Kleiderschrank. Bernhard konnte seine Tochter nur selten dazu überreden, etwas von diesen extravaganten und teuren Kleidungsstücken zu tragen. Bis heute wußte Bernhard nicht, ob Luisa die Sachen aus Protest nicht anzog, oder ob sie ihr wirklich nicht gefielen. Als Bernhard in die Küche kam, saß Luisa bereits am Tisch und schob ihm das Rechenbuch hin.

»Hier, sieh einmal. Verstehst du das?«

Bernhard warf einen Blick auf das aufgeschlagene Buch und goß sich dabei einen Kaffee ein.

»Hm, gleich, Luisa. Ich muß erst einmal eine Tasse Kaffee trinken. Vorher versteh ich gar nichts.« Er schob Luisa eine Schale hin und stellte ihr mechanisch Milch und Cornflakes bereit. Während er den heißen Kaffee schlürfte, nahm er sich des Problems aus dem Rechenbuch an. Luisa war eine gute Schülerin. Manchmal fand Bernhard seine Tochter jedoch zu ehrgeizig. Wenn sie einmal eine Arbeit schlechter als zwei schrieb, war sie sehr unglücklich. Bernhard sah das viel lockerer. »Hauptsache, die Schule macht dir Spaß«, sagte er immer wieder, aber Luisa wollte nun einmal gute Noten schreiben und bekam mittlerweile immer häufiger vor Klassenarbeiten Bauchschmerzen und behauptete, irgend etwas nicht verstanden zu haben. Bernhard war inzwischen so wach, daß er Luisa das »Problem« erläutern konnte, und erst als sie es verstanden hatte, goß sie sich die Milch über ihre Cornflakes und begann, die Schüssel auszulöffeln.

»Ich werde heute abend sicher pünktlich nach Hause kommen. Silke braucht nicht zu kochen. Wir gehen heute Pizza essen, wenn du magst«, sagte Bernhard und schaute seine Tochter erwartungsvoll an.

»Toll«, antwortete Luisa mit halbvollem Mund. Bernhard verzichtete jedoch auf einen Kommentar zu ihren Tischmanieren und überflog noch schnell die Schlagzeilen in der Tageszeitung. Silke Jordans war Studentin und seit fast zwei Jahren Kindermädchen bei Familie Sachser. Daß sie mit ihrem Kunststudium nicht so recht voran kam, konnte Bernhard nicht bedauern, denn so würde sie ihnen bestimmt noch länger erhalten bleiben, und darüber war Bernhard mehr als froh.

Silke Jordans malte sehr gut, aber nur, wenn sie auch Lust dazu hatte. Dann kam es vor, daß sie sich das ganze Wochenende über einschloß und nicht mehr von der Staffelei loskam, außer um hin und wieder einmal etwas zu essen. Silke und Luisa kamen blendend miteinander aus. Sie holte Luisa mittags von der Schule ab, kochte eine Kleinigkeit für sie beide und half Luisa, wenn nötig, bei den Hausaufgaben.

Manchmal fand Bernhard sie abends noch gemeinsam am Küchentisch sitzend vor. Silke zeichnete oder malte und warf gelegentlich einen Blick auf Luisas Hausaufgaben. Das war allerdings selten. Häufiger kam es vor, daß sie vor dem Fernseher saßen und schnell ausmachten, wenn sie Bernhards Schlüssel in der Tür hörten, denn Luisa durfte nur eine Stunde am Tag fernsehen, und Silke war für die Einhaltung der Regel verantwortlich.

Nachdem Bernhard Luisa bei der Schule abgesetzt hatte, fuhr er weiter zur Baustelle. In Gedanken plante er die Arbeitsabläufe für den heutigen Tag. Sie waren noch ganz am Anfang. Die Baugrube war ausgehoben und das Fundament gegossen. Ein viergeschossiges Wohn- und Bürogebäude mit Geschäftsräumen im Erdgeschoß sollte entstehen, und das einmal wieder so schnell wie möglich. Denn jeder Tag kostete Geld. Bernhards Laune war bis zum jetzigen Zeitpunkt ganz passabel. Das änderte sich jedoch schlagartig, als er seinen Wagen abstellte und der Polier ihm aufgeregt mit der Nachricht entgegenlief:

»Chef, die Baugrube ist über Nacht vollgelaufen. Mindestens zwanzig Zentimeter Schlamm liegen auf dem Fundament.«

»Wieso vollgelaufen?« Bernhard Sachser wollte nicht glauben, was er da hörte.

»Es hat die ganze Nacht wie aus Kannen geregnet, deshalb.« Der Polier nahm seinen Schutzhelm ab und kratzte sich am Kopf.

»Verdammter Mist«, entfuhr es Bernhard.

»Da sagen Sie etwas, Chef. Das kostet uns mindestens einen halben Tag, bis wir die Grube wieder leergepumpt haben… aber das ist noch nicht alles.«

»Noch nicht alles? Was denn noch?«

»Lieferschwierigkeiten. Humbold bringt das angeforderte Material erst Mitte nächster Woche, und Schwindt hat uns die falschen Steine geschickt, und den Zement habe ich auch nicht annehmen können.«

»Was war mit dem Zement?«

»Zu flüssig«, antwortete der Polier.

Bernhard antwortete nicht, sondern setzte seinen Helm auf und schritt Richtung Baugrube, um sich selbst ein Bild zu machen. Es war so, wie ihm der Polier gesagt hatte, und Bernhard fiel nichts weiter ein als zu fluchen. Da das aber an dem Sachverhalt rein gar nichts änderte, überlegte er gemeinsam mit seinen Leuten, wie man unter den gegebenen Bedingungen am besten weiter vorging

Gegen Mittag hatte sich Bernhards Laune erheblich gebessert. Für einige Probleme konnten Lösungen gefunden werden, und so glaubte Bernhard, daß der Tag doch nicht so katastrophal enden würde, wie er begonnen hatte. Doch als sein Handy zum wiederholten Mal klingelte und diesmal Silke in der Leitung war, sah er ein wirklich vollkommen unerwartetes Problem auf sich zukommen.

»Hallo, Bernhard, Silke hier«, erklang eine ungewohnt matte Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Silke! Was gibt’s? Ist irgend etwas mit Luisa?«

»Nein, nicht direkt…«

»Kannst du dich bitte etwas deutlicher ausdrücken?«

»Ich kann Luisa heute nicht vor der Schule abholen.«

»Was, wieso das nicht?«

»Mir ist fürchterlich übel. Ich kann gar nicht aufstehen, dann muß ich mich sofort wieder übergeben.«

»Oje. Du bist krank!«

»Nein, ich bin nicht krank.«

»Du bist nicht krank? Was soll das heißen? Natürlich bis du krank.«

»Nein, ich bin schwanger.«

»Nein, das kann doch nicht sein!«

»Das wirst du wohl kaum beurteilen können…« Erst jetzt wurde sich Bernhard bewußt, was er soeben gesagt hatte.

»Entschuldige, Silke… ich wollte sagen, ich wußte gar nicht, daß du einen festen Freund hast…«

»Ich kenn ihn noch nicht sehr lange…« Ein plötzliches Schweigen am Telefon ließ Bernhard wissen, daß Silke mit den Tränen kämpfte. Er stöhnte innerlich auf.

»Hör zu, Silke. Wir können das jetzt nicht hier am Telefon besprechen. Fest steht, daß du Luisa nicht abholen kannst. Ich werde sie selbst abholen, mach dir darüber keine Sorgen. Aber melde dich im Laufe des Wochenendes einmal bei uns, damit wir wissen, woran wir sind.«

»Okay«, klang es leise und zaghaft am anderen Ende der Leitung. Dann machte es Klick. Bernhard atmete tief durch. Dann suchte er seinen Polier auf und besprach mit ihm das weitere Vorgehen. Er würde mit Luisa zusammen später noch einmal an der Baustelle vorbeikommen. Luisa müßte dann halt im Wagen auf ihn warten. Hoffentlich hatte wenigstens die Mathearbeit gut geklappt. Er stieg ins Auto und fuhr los. Bernhard Sachser hatte einen sportlichen Fahrstil, aber heute fuhr er äußerst unkonzentriert. Daß Silke Jordans ein Baby erwartete, haute ihn regelrecht um. Er hatte sich so an den Zustand gewöhnt, sie als Kindermädchen für seine Tochter zu haben, daß er ganz vergessen hatte, daß sie eine junge Frau war, die zu Recht ein Privatleben genoß. Wenn Silke als Kindermädchen ausfallen würde, hätte er ein gewaltiges Problem… Plötzlich merkte er zu seinem Entsetzen, daß er unweigerlich einem vorausfahrenden Fahrzeug auffahren würde, und in dem Sekundenbruchteil dieser Erkenntnis krachte es auch schon. Das vorausfahrende Fahrzeug war für Bernhard unerwartet, aber korrekt, nicht in den Kreisverkehr eingebogen, sondern hatte abgebremst, um einem weiteren Fahrzeug die Vorfahrt zu lassen. Die Situation war eindeutig. Bernhard schlug mit beiden Fäusten auf sein Lenkrad ein. Dann stieg er aus dem Wagen. In dem Unfallwagen rührte sich nichts. Bernhard kam es komisch vor, und als er durch das vordere Seitenfenster blickte, sah er eine junge Frau, die mit geschlossenen Augen, den Kopf in die Nackenstütze gelehnt, dasaß und tief durchatmete. Bernhard klopfte gegen die Scheibe. Die Frau drehte langsam den Kopf zur Seite und blickte Bernhard unverwandt an. Dann öffnete sie die Fahrertür und stieg aus.

»Tolle Leistung! Ich habe mich zu Tode erschreckt«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Dafür sehen Sie aber noch ganz lebendig aus«, antwortete ihr Bernhard und wußte sogleich, daß er einen Fehler gemacht hatte. Die junge Frau stemmte ihre Hände in die Hüften und bedachte Bernhard mit einem langen abschätzigen Blick. Dann ging sie um ihren Wagen herum, um den Schaden zu begutachten. Sie war sehr attraktiv, aber Bernhard war augenblicklich nicht fähig diese Tatsache überhaupt nur zu bemerken.