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Sabine Bitter | Nathalie Nad-Abonji

Tibetische Kinder für Schweizer Familien

Die Aktion Aeschimann

Unter Mitarbeit von Sabine Braunschweig

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Der Verlag dankt folgenden Institutionen für die finanzielle Unterstützung:

Ernst Göhner Stiftung

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem

Die Autorinnen danken folgenden Stiftungen und Institutionen für die finanzielle Unterstützung des Buchprojekts:

Dr. H. A. Vögelin-Bienz-Stiftung

Im gedruckten Buch finden sich zusätzlich zahlreiche historische Bilder und Dokumente.

© 2018 Rotpunktverlag, Zürich

Umschlagbild: Tibetische Kinder auf dem Flug nach Zürich Kloten

eISBN 978-3-85869-786-8

1. Auflage 2018

Inhalt

Einleitung

Die Pflegekinderaktion von Charles Aeschimann | Flucht ins Exil | Internationale Flüchtlingslage | Heikle Fragen | Bewegende Geschichten | Erhellende Quellen

Helfen wollen – wie die Aktion entstand

Der Initiant | Heinrich Harrer als prominenter Vermittler | Tibeter-Haus für das Kinderdorf Pestalozzi | Erstes Pflegekind für Charles Aeschimann | Aktion nimmt Gestalt an | »Geistiges Réduit« | Arbeitskräfte gesucht | Hilfe für die »Opfer des Kommunismus« | Erste Kritik | Homestory mit »Tibeterli« | Botschaft des Dalai Lama angekommen

Im Kinderheim des Dalai Lama

Flucht aus Tibet | Arbeit im Straßenbaulager | Die Gründung der Nursery | Alltag im Kinderheim | Trennung von den leiblichen Eltern | Schweizer Ärzte im Konflikt mit der Heimleitung | Krankheiten und Todesfälle | Auswahl der Kinder | Die Abreise

Anreisen und ankommen

Empfang mit medialer Begleitung | Gedeckte Reisekosten | Waisen, die keine waren | Vertraulicher Brief des Schweizer Botschafters | »Noch viele arme Kinder« | Hoher Besuch aus Dharamsala | Gesunder Menschenverstand | Private Verantwortung | Aussicht auf Bildung und bürgerliche Erziehung | Adoptivkinder gefragt | Bandwurm und Blutvergiftung | Haushaltshilfe inklusive

Kritische Stimmen

Schwere Bedenken | Verhandlungen in der Residenz | Versuche, die Aeschimann-Aktion zu stoppen

Aufwachsen

Erstes Zusammenleben | Altersfrage | Vorschulkind erwartet – Jugendliche eingetroffen | Klassen überspringen | Studium vorgesehen | Neue Familie gesucht | Ins Heim statt zum Zahnarzt | Augenschein der Fürsorgerin | Von Ängsten geplagt | Lückenhafte Aufsicht | Heimarbeit und Ohrfeigen | Hausbesuche ohne Erinnerung

Zwischen zwei Kulturen

Befürchtungen in Dharamsala | Frage der Religion | Sprach- und Kulturunterricht | Ferien am Blausee | Zoo und Zirkus

Wunsch nach einem Wiedersehen

Auf der Suche | Korrespondenz ohne Briefgeheimnis | Lerne fleißig! | Unbekannte Verwandte | Offene Wunden bei tibetischen Eltern | Barmherzigkeit und Lehrlingslohn | Drohende Rückforderungen | Unerwünschte Familienzusammenführung

Identitätssuche, Auflehnung und Krisen

Als Gärtner beim Dalai Lama | Bildung, Kultur und Religion | Rebellion | Krisen und Heimeinweisungen | Suchtprobleme und Suizide | Administrative Identität | Im Flughafen gestrandet | Roter Pass

Auf Spurensuche in Dharamsala

Zurück zu den Wurzeln | Ein Besuch im Kinderdorf | Die Liste des Mönchs | Ein Bild fügt sich zusammen | Abschied nehmen | Begegnungen mit dem Privatsekretär | Medienkonferenz mit dem Dalai Lama | Audienz für die »Aeschimann-Kinder« | Wenig Gesprächsbereitschaft

Schlusswort

Dank

Anhang

Anmerkungen Abkürzungsverzeichnis | Literaturverzeichnis

Einleitung

Die Pflegekinderaktion von Charles Aeschimann

Dieses Buch erzählt von tibetischen Kindern, die 1959 mit ihren Eltern vor den chinesischen Kommunisten nach Indien flüchteten und in Dharamsala in einem Kinderheim des Dalai Lama unterkamen. Von dort wurden sie in den folgenden Jahren in die Schweiz geschickt und in Pflegefamilien platziert.

Am 28. August 1959 hatte der älteste Bruder des Dalai Lama, Thubten Jigme Norbu, an einer Pressekonferenz in London die westlichen Staaten um Hilfe gerufen und sie gebeten, 14 000 tibetische Flüchtlinge aufzunehmen.1 Diese waren im indischen Exil in einer äußerst schwierigen Situation. Viele mussten im Straßenbau arbeiten, im Gebirge, weit weg von Dharamsala. Dort leisteten sie Schwerstarbeit und lebten in feuchten und kalten Zelten am Straßenrand. Die kleinen Kinder wurden von ihren Müttern während der Arbeit auf dem Rücken getragen, die größeren hingegen waren sich selber überlassen. Diese Zustände sollen den Dalai Lama veranlasst haben, die Kinder von den Baustellen zu holen und sie in einem Heim unterzubringen, das er im Mai 1960 für sie eröffnete.2 So gelangten Hunderte von Mädchen und Knaben in die Nursery for Tibetan Refugee Children, die von der Schwester des Dalai Lama geleitet wurde. Doch auch dort lebten sie anfänglich in sehr prekären Verhältnissen: Viele waren schlecht ernährt und krank und kaum betreut.

Angesichts dieser schwierigen Lage begannen verschiedene Organisationen in der Schweiz, Unterstützungsprojekte zu entwickeln. Eine Schlüsselrolle spielte dabei der Industrielle Charles Aeschimann, Delgierter des Verwaltungsrats des Elektrizitätsunternehmens Aare-Tessin AG (Atel) in Olten. Er nahm nur wenige Wochen nach dem Hilferuf von Thubten Jigme Norbu Kontakt mit ihm auf und bot ihm an, Flüchtlingskinder in die Schweiz zu holen. Dabei ergriff er die Initiative für den Bau eines Tibeter-Hauses im Kinderdorf Pestalozzi in Trogen.

Noch während der Vorbereitungen für das Haus, das 1961 eröffnet werden sollte, reiste im August 1960 Tseten ein, ein kleiner tibetischer Junge. Ihn hatte Thubten Jigme Norbu an die Familie Aeschimann vermittelt, die schon lange ein Pflegekind aufnehmen wollte. Tsetens Ankunft löste ein großes Medienecho aus. Viele Familien und kinderlose Paare meldeten sich zu Wort, die ebenfalls ein tibetisches Kind aufnehmen wollten. Sie wandten sich an Charles Aeschimann, der sich wiederum direkt mit dem Dalai Lama in Verbindung setzte und bei diesem auf offene Ohren stieß. Das tibetische Oberhaupt vermittelte Aeschimann zwischen 1961 und 1964 schließlich 160 Kinder und 10 Jugendliche aus der Nursery für Pflegefamilien in der Schweiz.3 Entgegen offizieller Verlautbarungen waren die meisten von ihnen keine Waisen, was noch für Kritik sorgen sollte.

Der Dalai Lama wollte die Kinder nur vorübergehend in die Schweiz schicken und sie nach der Ausbildung als hoch qualifizierte Berufsleute wieder zurückrufen, in der Hoffnung, dass sie ihm beim Aufbau eines zukünftigen autonomen Staates dereinst eine Stütze wären. Manchen tibetischen Eltern erschien Aeschimanns Initiative als rettender Strohhalm. So erzählte eine Mutter im Rückblick, ihr sei damals gesagt worden, dass ihre Tochter zu den ausgewählten Kindern gehöre, die das Glück hätten, in die Schweiz zu gehen, um dort sehr gute Bildungsmöglichkeiten zu bekommen: »Nachdem wir so viel Positives gehört hatten, akzeptierten wir, dass sie mit anderen tibetischen Kindern in die Schweiz geschickt wird.«4

Dass diese Möglichkeit durchaus als Rettung erschien, hält auch Kelsang Gyaltsen, Sondergesandter des Dalai Lama für Europa, heute fest. Die Situation auf den Straßenbaustellen sei für Kinder »keine Lösung« und das Heim in Dharamsala vor allem ein »Auffanglager« gewesen. Es sei für ihn sehr verständlich, dass die Tibeter damals jede Gelegenheit ergriffen, ihre Kinder in einem westlichen Land gut ausbilden zu lassen. Denn sie hätten erkannt, dass Bildung notwendig ist, um eine Modernisierung einzuleiten. Auch wenn das Bild des Westens idealisiert worden sei, wäre es nicht nachvollziehbar gewesen, dies abzulehnen: »Die Tibeter haben es als ein willkommenes Angebot betrachtet.«5

In der Schweiz gab es vonseiten etablierter Hilfswerke allerdings von Anfang an kritische Einwände gegen die private Hilfsaktion. So argumentierte etwa Heinrich Hellstern, Sekretär des Hilfswerks der Evangelischen Kirchen der Schweiz (HEKS), dass die Platzierung von tibetischen Kindern in Schweizer Familien eine Entwurzelung zur Folge habe und es sinnvoller sei, tibetische Flüchtlinge in Indien zu unterstützen.6

Flucht ins Exil

Der eigentliche Ausgangspunkt für die Verschickung der tibetischen Kinder war die vorangegangene Flucht nach Indien, die bis heute ihre Biografien prägt. Diese Vorgeschichte wird je nach politischem Standpunkt unterschiedlich bewertet. So vertritt die tibetische Exilregierung die Auffassung, dass Tibet bis zum Einmarsch der chinesischen Armee 1950 ein eigenständiger Staat gewesen sei – eine Position, die bereits der 13. Dalai Lama proklamiert hatte und die von der tibetischen Exilgemeinde bis heute geteilt wird.7 Aus der Sicht der chinesischen Regierung gehört Tibet hingegen seit Jahrhunderten zu China. Sie argumentiert, dass die Unabhängigkeitserklärung von 1913 ohne Anerkennung durch andere Staaten völkerrechtlich gar nie wirksam geworden sei. China habe die tibetische Bevölkerung von einem »feudalen Unterdrückungssystem« befreit.8 Zudem habe Tibet mit dem ausgehandelten Siebzehn-Punkte-Abkommen von 1951 regionale Autonomie zugestanden bekommen.

Die Tibet-Spezialistin und Religionswissenschaftlerin Karénina Kollmar-Paulenz weist darauf hin, dass die religiöse und politische Elite Tibets zu Beginn der 1950er-Jahre angesichts der chinesischen Reformpolitik zunächst selbst in ein pro- und ein antichinesisches Lager geteilt war. Die einen fürchteten vor allem den Verlust der politischen und religiösen Macht des Dalai Lama und der tibetischen Autonomie, die anderen sahen auch Vorteile: »Die Eliten wurden mit großzügigen Geschenken gekauft, und die lokale Bevölkerung profitierte von der Errichtung neuer Schulen und Krankenhäuser. Straßen wurden gebaut und Garnisonen im ganzen Land errichtet.«9

Diese Gespaltenheit hat den Kampf um die Unabhängigkeit anfänglich geschwächt, weshalb die ersten Jahre der chinesischen Besetzung relativ ruhig verliefen. Als China der tibetischen Bevölkerung allerdings immer mehr Reformen aufzwang, die ihre Autonomie beschnitten, schlossen sich die beiden Lager zusammen und traten in Opposition. Sie argumentierten, dass die tibetischen Delegierten bei der Unterzeichnung des Abkommens »unter chinesischem Diktat« gestanden seien. Zudem habe China die innenpolitische Autonomie und Religionsfreiheit trotz des Abkommens missachtet: »Zum ersten Mal in der Geschichte Tibets übten die Chinesen nun volle Kontrolle über ganz Tibet aus.«10

Aufgrund des Reformzwangs und des zunehmend stärkeren Zugriffs durch die chinesische Besetzung kam es 1955 zu einem ersten, unorganisierten Aufstand. Ab 1957 erhielt die tibetische Opposition zusätzlich Unterstützung von den USA. Der Widerstand verstärkte sich, breitete sich aus und eskalierte Anfang März 1959, als der Dalai Lama zur Aufführung einer Tanzgruppe ins chinesische Militärhauptquartier in Lhasa eingeladen wurde: Entgegen der »üblichen Etikette« war er gebeten worden, alleine zu kommen, und so entstand rasch das Gerücht, er würde entführt werden.11 Spontan versammelten sich daraufhin immer mehr Tibeterinnen und Tibeter vor seinem Sommerpalast in Lhasa und demonstrierten sowohl gegen die chinesische Besetzung als auch gegen die tibetische Aristokratie. Dieser warfen sie vor, zum Machtverlust des Dalai Lama beigetragen zu haben, da sie sich für ein »Vorbereitendes Komitee der Autonomen Region Tibet« ausgesprochen hatte.

Nach der Ermordung eines hohen Regierungsbeamten entwickelte sich die Kundgebung vom 10. März 1959 zu einem offenen Volksaufstand. Die Demonstranten forderten den Abzug der chinesischen Truppen aus Tibet. Als die Lage außer Kontrolle zu geraten drohte, wurde der 24-jährige Dalai Lama heimlich aus seiner Residenz geholt und in Sicherheit gebracht. In der Nacht vom 16. auf den 17. März 1959 flüchtete er mit seinen engsten Beratern und einer Gruppe von Widerstandskämpfern nach Indien. Danach brach der tibetische Widerstand zusammen. Innerhalb von wenigen Tagen schlug die chinesische Armee in Lhasa den Aufstand der schlecht ausgerüsteten Tibeter nieder. Dabei kamen fast 10 000 Menschen ums Leben.12

Tausende Tibeterinnen und Tibeter, darunter viele Familien mit Kindern, folgten dem Dalai Lama in den nächsten Monaten ins Exil. Sowohl in Indien als auch in Tibet ging man damals von einem Provisorium und einer absehbaren Rückkehr der Flüchtlinge aus – eine Hoffnung, die sich nicht erfüllt hat. Heute leben rund 130 000 Tibeterinnen und Tibeter im Ausland.13

Internationale Flüchtlingslage

Aeschimanns Pflegekinderaktion ist in einem internationalen Kontext zu verorten: In den 1950er-Jahren existierten nach wie vor Flüchtlingslager mit europäischen Vertriebenen aus dem Zweiten Weltkrieg. Um diese Lager schneller aufzulösen, schlugen britische Politiker vor, ein »Weltflüchtlingsjahr« zu lancieren. Das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge nahm diese Idee auf. Zudem erweiterte es den Flüchtlingsbegriff, der bisher stark auf europäische Flüchtlinge bezogen war, und nahm neben den europäischen auch die algerischen, palästinensischen, tibetischen und chinesischen Flüchtlinge in den Blick. Die Generalversammlung der UNO rief schließlich das Jahr 1960 zum Weltflüchtlingsjahr aus. Dank dieser politischen Bemühungen konnten nun zusätzliche finanzielle Mittel bereitgestellt werden, um Schutz suchende Menschen zu unterstützen. Im gleichen Zug wurden, begünstigt durch das damalige Wirtschaftswachstum, auch die Einwanderungsbestimmungen in verschiedenen Ländern gelockert.14

Obwohl die Schweiz nicht Mitglied der UNO war, nahm auch sie tibetische Flüchtlinge auf. Sie gehörten zu den ersten außereuropäischen Flüchtlingen überhaupt, die in der Schweiz Dauerasyl erhielten.15 Doch während sie von der Bevölkerung in der Schweiz mit offenen Armen empfangen wurden, führte das Engagement von Anfang an zu politischen Auseinandersetzungen. Etwa wenn sich der chinesische Botschaftsrat in Bern wegen der »immer stärker werdenden antichinesischen Kampagne« beschwerte und die Errichtung des Tibeter-Hauses als »eine gewollte politische Aktion gegen China« bezeichnete. Da waren diplomatisches Fingerspitzengefühl und das eine oder andere Zugeständnis gefragt. So wurde dem chinesischen Botschaftsrat mitgeteilt, dass der Bruder des Dalai Lama nur eine Einreisebewilligung bekomme »unter der Bedingung, dass er hier keine politische Tätigkeit ausübt«. Doch der Botschafter entgegnete, so wurde in einer Aktennotiz vermerkt, »dass schon allein die Anwesenheit des Herrn Norbu in der Schweiz für China ein Affront bedeute«. Der Bundesbeamte wiederum war nicht um eine Antwort verlegen und gab zu bedenken, »dass es immer eine schöne Aufgabe der Schweiz gewesen ist, ausländische Flüchtlinge aufzunehmen, […] zum Beispiel Lenin«.16

Heikle Fragen

Obwohl die tibetischen Flüchtlinge in der Schweiz willkommen waren, war die sogenannte Aeschimann-Aktion damals umstritten. In den letzten Jahren ist erneut Kritik aufgekommen, als ehemalige tibetische Pflegekinder in zwei Dokumentarfilmen17 über ihre Fremdplatzierung in der Schweiz und die schwierige Identitätssuche berichteten und das Thema in einzelnen Medien aufgegriffen wurde.18 Unser Interesse war geweckt, denn es stellten sich ein paar Fragen, die uns nicht mehr losließen: Warum hat die Schweiz zu Beginn der 1960er-Jahre mit den jungen Tibeterinnen und Tibetern gerade außereuropäische Kinder aufgenommen, in einer Zeit also, in der andere ausländische Kinder draußen bleiben mussten? Etwa die italienischen Saisonnierkinder, die im Kofferraum eines Autos über die Grenze geschmuggelt wurden und danach in Mansardenzimmern versteckt leben mussten, wenn ihre Eltern sie in ihrer Nähe haben wollten?19 Wie kam es, dass ein Industrieller, der in der Elektrizitätsbranche tätig war und mit Pädagogik nicht viel zu tun hatte, im Alleingang 160 tibetische Kinder und 10 Jugendliche ins Land holen und nach eigenem Gutdünken in Familien unterbringen konnte? Mit welchen Folgen für die Betroffenen? Wie muss man sich zudem erklären, dass Schweizer Ehepaare bereit waren, mit dem Dalai Lama einen Vertrag abzuschließen und ihm zu versprechen, Kinder aufzunehmen, sie auszubilden, wenn möglich studieren zu lassen und danach wieder nach Indien oder Tibet zurückzuschicken? Und dies in einer Zeit, in der noch immer zahlreiche Verdingkinder ihr Leben auf Bauernhöfen verdienen mussten und ebenfalls eine Bildungschance nötig gehabt hätten?20 Warum haben die Schweizer Behörden nicht darauf bestanden, einem Privatmann, der eine Flüchtlingskinderaktion lancieren wollte, eine beaufsichtigende Institution zur Seite zu stellen?

Die Aeschimann-Aktion hat uns nicht zuletzt deswegen interessiert, weil es auch heute vielen Bürgerinnen und Bürgern anzurechnen ist, dass sie eine ethische Verantwortung spüren und bereit sind, sich persönlich zu engagieren: Sie möchten helfen, wie Charles Aeschimann und die Pflegefamilien es damals für sich in Anspruch nahmen. Viele von ihnen haben sich redlich bemüht, wollten es »gut machen« – und manche sind dennoch gescheitert. Sich mit der Aeschimann-Aktion zu befassen, könnte eine Gelegenheit sein, darüber nachzudenken, unter welchen Bedingungen gut gemeinte Hilfe gelingen kann – oder zu scheitern droht.

Trotzdem sprach zunächst einiges dagegen, der Geschichte dieser Aktion nachzugehen: Aus den ehemaligen Pflegekindern sind längst Erwachsene geworden, die selbst die Initiative hätten ergreifen können, wenn es denn ihr Anliegen gewesen wäre. Zudem würde es nicht möglich sein, allen ehemaligen Pflegekindern gerecht zu werden. Denn schon die ersten Gespräche zeigten, dass deren Erfahrungen sehr unterschiedlich ausfielen. Die einen schafften es, ihre Flucht- und Heimerfahrungen zu verarbeiten und die neue Lebenssituation in der Schweiz zu bewältigen. Andere litten darunter. Erst recht, wenn die Familie, die für sie ausgesucht worden war, sich nicht als glückliche Wahl herausstellte. Für die meisten von ihnen folgte auf die Trennung von ihren leiblichen Eltern und der Verschickung in ein fremdes Land eine jahrzehntelange, schmerzvolle Spurensuche und Identitätsfindung.

Dazu kamen weitere Zweifel: Wer sich mit der Aeschimann-Aktion befasst, sollte auch dem Dalai Lama ein paar Fragen stellen können. Es war uns klar, dass es schwierig werden könnte, ihn für ein Gespräch über einen Entscheid zu gewinnen, den er als junger Mann in einer offensichtlichen Notlage getroffen hatte.

Was uns schließlich dazu bewogen hat, uns in diesem Spannungsfeld dennoch an die Recherche zu machen, waren die ersten Begegnungen mit ehemaligen Pflegekindern, ihre Offenheit und das Vertrauen, das sie uns entgegenbrachten.

Bewegende Geschichten

Zur generellen Situation von tibetischen Kindern und Jugendlichen im Exil gibt es einzelne Untersuchungen, wie etwa jene des Historikers Wangpo Tethong über die Lage von jungen Tibetern in Europa.21 Mehrere Arbeiten befassen sich auch mit tibetischen Jugendlichen in der Schweiz.22 Zu nennen ist hier die Studie des Ethnologen Martin Brauen und des Soziologen Detlef Kantowsky, die sich zu Beginn der 1980er-Jahre intensiv mit diesem Thema befassten. Dabei untersuchten sie die »drei sozialen Milieus«, in denen tibetische Flüchtlinge in der Schweiz angesiedelt wurden. Hierzu gehörten das Kinderdorf Pestalozzi in Trogen sowie die Siedlungen, die das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) gemeinsam mit dem Verein Tibeter Heimstätten (VTH) in verschiedenen Regionen der Schweiz gegründet und für Flüchtlingsfamilien eingerichtet hatte. Dies, nachdem der Bundesrat im März 1963 beschlossen hatte, 1000 tibetische Flüchtlinge aufzunehmen.23 Und schließlich bezogen Brauen und Kantowsky die tibetischen Kinder mit ein, die in Pflegefamilien aufwuchsen.24 Eine Einzelstudie zur Aeschimann-Aktion liegt jedoch bis heute nicht vor.

Um hierzu einen Beitrag zu leisten, führten wir in einem ersten Schritt Gespräche mit ehemaligen Pflegekindern, Pflegeeltern, tibetischen Eltern in der Schweiz und in den USA sowie weiteren Angehörigen. Wir sprachen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die in die Pflegekindaktion eingebunden waren, wie die Nachfahren von Charles Aeschimann, oder die als Außenstehende einen Einblick bekommen hatten, wie die Schweizer Ärztinnen und Ärzte, die damals im Auftrag des SRK in der Nursery tätig gewesen waren. Diese Gespräche führten uns durch die ganze Schweiz, von der Basler Agglomeration bis an den Genfersee, von Olten bis ins Engadin – aber auch nach Dharamsala, das noch heute das Zentrum der Exiltibeter in Indien ist. Dort haben wir etwa mit jenem hochbetagten Mönch gesprochen, der in der Nursery in die Auswahl der Kinder für die Schweiz involviert war. Alle Beteiligten haben sich trotz des schwierigen Themas und der langen Zeit, die seither vergangen ist, um Antworten bemüht.

Einige unserer Gesprächspartnerinnen und -partner wollten in diesem Buch namentlich genannt werden, andere zogen es vor, anonym zu bleiben. Ihrem Wunsch entsprechend haben wir ihre Aussagen mit fiktiven Initialen gekennzeichnet.

Erhellende Quellen

Bei diesen Gesprächen wurde viel Material an uns herangetragen: ganze Bundesordner mit Korrespondenzen zwischen Aeschimann und den Pflegeeltern, Zeitungsartikel, Tagebuchaufzeichnungen, Fotografien und aufwühlende Briefe, die tibetische Eltern damals in der Hoffnung geschrieben hatten, ihre Kinder wiederzusehen.

Wir konnten auch auf Material im privaten Archiv der Familie Aeschimann zurückgreifen, das uns im Rahmen einer ersten journalistischen Recherche zugänglich war. Es wäre im Interesse der ehemaligen Pflegekinder, dass die Unterlagen in ein staatliches Archiv wie etwa das Schweizerische Bundesarchiv überführt werden könnten, um die Akteneinsicht für die Betroffenen zu erleichtern, wie es das neue Bundesgesetz über die Aufarbeitung fürsorgerischer Zwangsmaßnahmen vorsieht, das seit 1. April 2017 in Kraft ist.25

Neben dem umfangreichen und bisher unveröffentlichten Material analysierten wir in Zeitungen, Radio und Fernsehen die damaligen Debatten zur Flüchtlingsproblematik nach dem Zweiten Weltkrieg und besonders zu den tibetischen Kindern in der Schweiz. Zur Aeschimann-Aktion haben wir Akten im Schweizerischen Bundesarchiv in Bern, im Klösterlichen Tibet-Institut in Rikon, im Archiv des Kinderdorfs Pestalozzi in Trogen und im Archiv des Völkerkundemuseums der Universität Zürich gefunden. Aufschlussreich waren auch die Dossiers aus dem Bestand des SRK, das bei der Betreuung der tibetischen Flüchtlinge in der Schweiz eine wichtige Rolle gespielt hatte.

Trotz der Materialfülle war manch simple Frage nicht einfach zu beantworten, etwa, wie viele tibetische Mädchen und Knaben überhaupt durch Aeschimann zu Schweizer Pflegefamilien kamen. Im Oktober 1961 hatte er von den Bundesbehörden die Zusage erhalten, maximal 200 tibetische Kinder ins Land zu holen, eingerechnet diejenigen, die für das Kinderdorf Pestalozzi bestimmt waren.26 Aeschimann selbst gab in einem Bericht an, 158 Kinder in Familien untergebracht zu haben.27 Davon reisten 154 mit einer der fünf Gruppen ein, die im August 1961, im Mai 1962, im Januar und Juli 1963 und im März 1964 eintrafen.28 Vier Kinder gelangten vorher oder nachher einzeln ins Land. Hinzuzuzählen sind weiter drei Kinder, die auf anderem Weg in die Schweiz gekommen waren und mithilfe des SRK in Pflegefamilien platziert wurden, die von Aeschimann bereits ein Kind vermittelt bekommen hatten.29 Alles in allem gingen demnach 161 Kinder an Pflegefamilien, die Aeschimann ausgesucht hatte. Darunter war ein Mädchen, das einer Familie in Frankreich zugesprochen wurde. Alles in allem kann man deshalb von 160 »Aeschimann-Kindern« in der Schweiz reden. Diese Zahl wird auch auf tibetischer Seite bestätigt.30

Um die jeweiligen Pflegeverhältnisse zu untersuchen, haben wir Falldossiers von Kindern in zahlreichen kantonalen Archiven konsultiert, um zumindest anhand von Stichproben zu klären, wie es um die Pflegeaufsicht stand – ein Thema, das auch in der Gegenwart angesichts der heftigen Debatten über die neue Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) brisant ist.31

Auch in Dharamsala suchten wir nach Akten zu den tibetischen Pflegekindern. Der Historiker Wangpo Tethong, der mit seinen Eltern im Kinderdorf Pestalozzi aufgewachsen ist und Tibetisch spricht, hat uns bei diesen Recherchen unterstützt. Er hat sich an das Privatbüro des Dalai Lama in Dharamsala gewandt, um allfällig vorhandene Akten einsehen zu können. Ihm wurde jedoch mitgeteilt, dass dies nicht möglich sei.32 Zugänglich waren uns hingegen Dokumente in der Nachfolgeinstitution der Nursery, dem Tibetan Children’s Village (TCV). Dazu gehören Steckbriefe, bestehend aus Karteikarten mit Informationen zu den einzelnen Kindern, die für Pflegefamilien in der Schweiz ausgewählt worden waren.

Ein ehemaliges Pflegekind, Thubten Purang, hat dort bereits früher recherchiert, diese Karteikarten fotografiert und uns seine Dokumentation für eine Auswertung zur Verfügung gestellt. Aus den einzelnen Steckbriefen gehen jeweils der Name des Kindes, sein Geschlecht und sein Jahrgang sowie Informationen zu den leiblichen Eltern hervor. Wangpo Tethong hat 144 dieser Kinderdossiers systematisch analysiert und so die geografische und soziale Herkunft der Kinder eruieren können. Auffallend ist, so sein Befund, dass die Mehrheit – 103 von 144 Kindern – aus Zentraltibet stammte und ein beachtlicher Teil davon aus Lhasa, der Hauptstadt des Autonomen Gebiets Tibet der Volksrepublik China. Zudem sind die Kinder – mit wenigen Ausnahmen – der Unter- oder Mittelschicht zuzuordnen.33

Wir hoffen, mit diesem Buch über die tibetischen Pflegekinder einen Beitrag zur Fremdplatzierung von ausländischen Kindern in der Schweiz zu leisten. Dies scheint uns deshalb sinnvoll, weil sie zu den ersten Gruppen von außereuropäischen Kindern überhaupt gehörten, die von der Schweiz aufgenommen und von Pflegefamilien später zum Teil adoptiert wurden.34 Damit sind ihre Lebensgeschichten auch im Zusammenhang mit Auslandadoptionen zu sehen, ein Aspekt, der bis heute kaum erforscht ist. Die Geschichte dieser Hilfsaktion mag darüber hinaus den Blick für den Umgang mit Flüchtlingskindern und unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden in der Gegenwart schärfen.

Helfen wollen – wie die Aktion entstand

Der Initiant

An einem Ferientag im August 1959 nahm die Geschichte der Familie Aeschimann eine neue Wendung: Charles Aeschimann, Delegierter des Verwaltungsrats der Aare-Tessin AG für Elektrizität in Olten, war mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Les Marécottes im Wallis. Bei der Zeitungslektüre stieß er auf eine Notiz, die seine Aufmerksamkeit fesselte. Er erfuhr, dass der 14. Dalai Lama, Tenzin Gyatso, die USA und andere westliche Länder darum bat, tibetische Flüchtlinge aufzunehmen und »1000 jungen Tibetern als zukünftigen Führern seines Volkes eine Erziehung zu vermitteln«.1 Sein jüngster Sohn, Maurice Aeschimann, erinnert sich noch genau an die Szene von damals: »Wir waren am Jassen, mein Vater las den Artikel und fragte, ›Warum adoptieren wir nicht ein Kind?‹.« In diesem Moment sei die Idee entstanden, ein tibetisches Flüchtlingskind aufzunehmen: »Man wollte etwas machen, wollte helfen.«2 Auch der älteste Sohn, Jacques Aeschimann, ist überzeugt, dass sein Vater »ausschließlich aus humanitären Gründen gehandelt« hat.3

Mit dem religiösen und politischen Führer Tibets hatte sich Charles Aeschimann bereits in seiner Kindheit befasst, denn er hatte in der Schule in Genf als Preis für herausragende Leistungen ein Buch über den Dalai Lama und das »mysteriöse Tibet« bekommen.4 Ein »Abenteuerbuch«, wie er später in einem Notizbuch festhielt: »Meine Bibliothek war noch recht bescheiden, als ich das Buch immer wieder las und nach Jahren die geschilderten Geheimnisse des Tibet und der Stadt Lhasa, des Potala, des Palastes des Dalai Lama, fast wörtlich hätte wiedergeben können. So nahm auch eine Expedition nach Tibet einen wichtigen Platz in meinen Zukunftsplänen ein.«5

Von diesem Buch – einem Wälzer von 447 Seiten – habe sein Vater immer wieder gesprochen, lange bevor seine Familie »Tibeter« aufgenommen habe: »Dann wurde der Funke umso zündender«, sagt Jacques Aeschimann. Tibet sei damals als geheimnisvolles Land betrachtet worden: »Tibet hatte über viele Generationen hinweg und wie kein anderes Land etwas Mystisches. Fast wie Robinson Crusoe auf seiner Insel, von der man nicht weiß, wo sie liegt […]. Dieses mystische und märchenhafte, legendäre […] Tibet ist etwas ganz anderes als Lappland. Ganz eigentümlich. Und das hat auch alle vereint. Ich vermute, wenn wir Kinder aus einem anderen Land aufgenommen hätten, wäre das Echo niemals so groß gewesen.«6

Charles Aeschimann, der bereits früh als guter Schüler auffiel, kam schnell voran: Er besuchte die Schulen in Genf und Neuenburg, wuchs zweisprachig auf und begann bereits mit achtzehn Jahren sein Ingenieurstudium an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich. Mit 22 Jahren schloss er das Studium als diplomierter Elektroingenieur ab und trat bei der Firma Brown, Boveri & Cie. seine erste Stelle an. Ein Jahr später, 1931, wechselte er zur Motor-Columbus AG, einem führenden Unternehmen der Schweizer Elektrizitätswirtschaft, wo er sechs Jahre blieb. Er war noch keine dreißig Jahre alt, als er in die Aare-Tessin AG für Elektrizität eintrat und in mehreren Karriereschritten aufstieg: So wurde er 1943 zum Direktor, 1951 zum Direktionspräsidenten und 1959 zum Delegierten des Verwaltungsrats ernannt.7 In dieser Funktion war er ein wichtiger Exponent der Schweizer Elektrizitätswirtschaft, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in den Jahren des Wirtschaftswachstums, der Hochkonjunktur und des steigenden Energieverbrauchs auch intensiv mit der Nutzung von Atomenergie befasste. Die Bundesbehörden hatten dafür 1946 eine Studienkommission eingesetzt. Diese war beauftragt, die »friedliche Nutzung der Atomenergie« zu untersuchen. Allerdings hatte das Eidgenössische Militärdepartement (EMD) bereits zuvor geheime Richtlinien erlassen. Demnach sollte die Studienkommission die militärischen Behörden auch »über den Stand der Entwicklung der Atomenergie-Verwendung für militärische Zwecke orientieren«. Dabei war sogar von »einer schweizerischen Uran-Bombe« die Rede. Die Kommission hatte also neben der zivilen auch einen militärischen Auftrag, auch wenn nicht alle ihre Mitglieder darüber informiert waren. Sie forschte zum Thema Atomwaffen, während der freisinnige St. Galler Bundesrat Karl Kobelt dem Parlament versicherte, dass die Schweiz nicht beabsichtige, Atombomben herzustellen und auch nicht dazu in der Lage sei.8 Aeschimann nahm als Direktor eines großen Elektrizitätsunternehmens in der Energieversorgung und im Aufbau der Atomindustrie eine Schlüsselposition ein und war auch in wichtigen Kommissionen des Bundes vertreten, etwa in der Eidgenössischen Wasser-wirtschaftskommission9 und der Beratenden Kommission für Atomwirtschaft10. Zudem wurde er zu Beginn der 1960er-Jahre als Ersatzmitglied in den Landesverteidigungsrat aufgenommen, der dem EMD angegliedert war und sich aus Vertretern der Verwaltung und außenstehenden Fachleuten zu-sammensetzte.11 Diesem Rat gehörte auch der Delegierte für wirtschaftliche Kriegsvorsorge, Fritz Hummler, an, dem Aeschimann bald im Rahmen seiner Flüchtlingskinderaktion ein tibetisches Pflegekind vermitteln sollte.12 Eine weitere Funktion kam 1968 dazu: Aeschimann wurde vom Bundesrat als Ersatzmitglied in die Rüstungskommission des Bundes gewählt.13

Neben diesen Ämtern engagierte er sich im Rotary Club, in der Pädagogischen Gesellschaft der Westschweiz, in der Schweizerischen Gesellschaft für Kunstgeschichte und im Kunstverein Olten. Zu seiner umfassenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Vernetzung gehörte auch, dass er sich zu Beginn der 1960er-Jahre, wiederum gemeinsam mit Fritz Hummler, in der »Schoggitaler«-Kommission betätigte.14 Diese führte jedes Jahr Spendenaktionen durch und schickte dafür landesweit Tausende von Schulkindern von Tür zu Tür, damit sie in Goldfolie verpackte Schokolade verkauften. Der Erlös war für Projekte im Heimat- und Naturschutz bestimmt. Insbesondere der Schutz alpiner Landschaften war Aeschimann, der ein passionierter Bergwanderer war, ein Anliegen. So überraschte es nicht, dass Tibet als zentralasiatisches Hochland am Rande des Himalaya-Gebirges über all die Jahre in seinem Blickfeld geblieben war und er das Buch über das »mysteriöse Tibet« 1959 in den Sommerferien in den Walliser Alpen wieder hervorholte. Er wollte es seinen Kindern, die damals zwölf, sechzehn und neunzehn Jahre alt waren, zeigen, als er in der Zeitung auf den Aufruf des Dalai Lama stieß, der um internationale Hilfe bat.15

Heinrich Harrer als prominenter Vermittler

Die Nachrichten vom Aufstand der Tibeter gegen die chinesische Besetzung, von der Flucht des Dalai Lama und den vielen Menschen, die ihm ins Exil folgten, fanden 1959 in der westlichen Presse ein großes Echo. Das große Flüchtlingselend ließ die westlichen Länder nicht kalt. Viele Staaten wollten helfen, so auch die Schweiz. Vor dem Hintergrund der erschütternden Schlagzeilen wurde die Idee, ein tibetisches Flüchtlingskind aufzunehmen, in der Familie Aeschimann bald konkreter. Charles Aeschimann war nicht der Einzige, der etwas tun wollte. Auch sein Direktionsassistent, Ruedi Schatz, der später für die St. Galler FDP in den Nationalrat einzog, verfolgte die politische Situation. Tibet war ihm vertraut, seit er 1953 an einer Himalaya-Expedition des Akademischen Alpenclubs Zürich teilgenommen hatte.16 Er war es auch, der seinen Vorgesetzten Aeschimann auf einen Auftritt des renommierten österreichischen Bergsteigers Heinrich Harrer hinwies, der sich in der Himalaya-Region ebenfalls gut auskannte.17 Der prominente Alpinist, der nach dem Zweiten Weltkrieg mehrere Jahre am Hof des Dalai Lama verbracht hatte, hielt in Bern einen Vortrag über seine »Sieben Jahre in Tibet«.18 Ein Anlass für Aeschimann, um mit dem Mann, der als TibetKenner galt, persönlich Kontakt aufnehmen.

Heinrich Harrer hatte sich bereits rund zwanzig Jahre zuvor in der Schweiz einen Namen gemacht, als er 1938 in einer deutsch-österreichischen Viererseilschaft die Eigernordwand bezwungen hatte.19 Dafür wurde er noch im gleichen Jahr im Deutschen Reich geehrt und vom Führer Adolf Hitler empfangen.20 Harrer rückte damit offiziell in die Nähe der nationalsozialistischen Elite: Der Reichsführer der sogenannten Schutzstaffel (SS), der Kaderorganisation der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), Heinrich Himmler, schickte ihn 1939 mit anderen Bergsteigern auf eine Himalaya-Expedition am Nanga Parbat.21 Die jungen Männer sollten diesen Achttausender bezwingen und zugleich das zentralasiatische Gebiet auskundschaften. Diese Expedition wurde vom Agrarwissenschaftler Peter Aufschnaiter geleitet, der seit 1936 als Geschäftsführer der Deutschen Himalaya-Stiftung tätig war.22 Einige SS-Größen sollen damals mit dem Gedanken gespielt haben, von einer dereinst besiegten Sowjetunion über Tibet von Norden her das britische Empire in Indien zu erobern und den Subkontinent in nationalsozialistische Gaue aufzuteilen.23 Zudem hingen sie der diffusen Idee an, im Himalaya-Gebiet indogermanische Wurzeln zu entdecken.24 Doch aus dem Prestigeprojekt am Nanga Parbat wurde nichts. Denn als die deutsche Wehrmacht am 1. September 1939 Polen überfiel und den Zweiten Weltkrieg auslöste, musste die Viererseilschaft ihre Tour abbrechen. Harrer schaffte es nicht mehr, nach Europa zurückzukehren, und geriet in Indien in britische Kriegsgefangenschaft. Als er sich gegen Ende des Kriegs absetzen konnte, schlug er sich nach Tibet durch und erreichte 1946 mit »Blasen an den Füßen« den Hof des 14. Dalai Lama, wie er Jahrzehnte später in einer Sendung am Schweizer Radio erzählte. Man habe ihn dort großzügig aufgenommen, und so sei er zum Freund des tibetischen Oberhaupts geworden.25

Harrers frühere Verbindungen zur NS-Elite wurden erst Jahrzehnte später publik: Als Jean-Jacques Annauds Spielfilm Sieben Jahre in Tibet mit Brad Pitt in der Hauptrolle 1997 in die Kinos kam, deckte das deutsche Wochenmagazin stern Harrers nationalsozialistische Verbindungen auf.26 Die Zeitschrift stützte sich dabei auf den Historiker Gerald Lehner, der nachwies, dass Harrer bereits 1933 der sogenannten Sturmabteilung (SA), der paramilitärischen Abteilung der NSDAP, und 1938 der SS beigetreten war.27 Zudem soll er dem Führer Gehorsam bis zum Tod geschworen haben.28 Harrer selbst bestritt, ein überzeugter Nationalsozialist gewesen zu sein, als er Ende der 1990er-Jahre mit seiner Vergangenheit konfrontiert wurde.29

Bei seinem Besuch 1959 in Bern zog Heinrich Harrer die Aufmerksamkeit jedoch als erfolgreicher Alpinist auf sich, der sich in Tibet und mit dem Dalai Lama hervorragend auskannte. Aeschimann, der sich mit dem Gedanken trug, ein tibetisches Flüchtlingskind aufzunehmen, konnte davon ausgehen, dass Harrer über gute Beziehungen zur tibetischen Exilregierung und sogar einen guten persönlichen Draht zum Dalai Lama verfügte. Deswegen lud er den prominenten Österreicher kurzerhand zu sich nach Olten ein – mit Erfolg: »Dank Vermittlung des Tibet-Kenners Heinrich Harrer ergab sich die Möglichkeit, mit dem älteren Bruder des Dalai Lama, Thubten Jigme Norbu, der durch einen glücklichen Zufall im Herbst 1959 einige Wochen in Genf weilte, Kontakt aufzunehmen.« Dieser war nach der Flucht ins indischen Exil in verschiedenen Ländern unterwegs, um Hilfe für die Flüchtlinge zu erhalten, und sei, so Aeschimann weiter, vom Vorschlag, ein Flüchtlingskind aufzunehmen, angetan gewesen: »Er zeigte sich über die Aussicht, in einem ersten konkreten Fall die Idee seines Bruders zu verwirklichen, erfreut.«30

Thubten Jigme Norbu war nicht das erste Mitglied der Familie des Dalai Lama, das in westlichen Ländern um Unterstützung für das tibetische Volk bat, insbesondere für jene Tibeter, die sich der chinesischen Besetzung entgegenstellten. So arbeitete Gyalo Thondup, der zweitälteste Bruder des Dalai Lama, als Verantwortlicher für die Ausbildung der tibetischen Widerstandskämpfer schon seit langem mit dem US-Geheimdienst CIA zusammen.31 Die USA hatten im Kalten Krieg ein Interesse daran, die tibetische Opposition als Bollwerk gegen das kommunistische China zu unterstützen.32 Darauf weist etwa der ehemalige US-amerikanische Offizier John Kenneth Knaus hin, der an dieser Zusammenarbeit jahrzehntelang beteiligt war.33 Dabei habe ihn die Frage interessiert, so Knaus, wie der Dalai Lama mit dem großen moralischen Dilemma umgehe, sich als Führer der Buddhisten zu Gewaltlosigkeit zu bekennen und zugleich die Hilfe des US-Geheimdienstes in Anspruch zu nehmen. Knaus gelang es 1995, mit dem Dalai Lama darüber zu sprechen. Dieser habe die Unterstützung durch die USA und die CIA positiv bewertet, weil sie die »Moral« der Kämpfer gestärkt und sie dazu befähigt habe, die Gegend um Lhasa zu kontrollieren, sodass er 1959 nach Indien hatte flüchten können, hielt Knaus fest.34 Zwar hätten dabei Tausende von Widerstandskämpfern das Leben verloren. Doch aus buddhistischer Sicht, so habe ihm der Dalai Lama dargelegt, würden die Motivation für eine Tat und das Resultat zählen. Wenn die Beweggründe Mitleid und Barmherzigkeit seien, rechtfertige dies – als Ausweg – das Mittel der Gewalt.35

Die tibetische Regierung konnte also schon seit Jahren und nun auch im Exil auf die Hilfe westlicher Länder zählen. Es erstaunt daher nicht, dass Thubten Jigme Norbu bereit war, einen Schweizer Industriellen zu treffen, der sich für die Notlage der geflüchteten Tibeterinnen und Tibeter interessierte. Nachdem er von Heinrich Harrer kontaktiert worden war, reiste er nach Olten. Beim ersten Treffen, so erinnert sich Maurice Aeschimann, habe sein Vater das Anliegen, ein tibetisches Flüchtlingskind aufzunehmen, vorgebracht. Thubten Jigme Norbu habe dies als eine »Erste Hilfe zugunsten tibetischer Flüchtlinge« gewürdigt und zugesagt, dass er sich darum bemühen werde, diesen Wunsch zu erfüllen.36 Charles Aeschimann hielt später rückblickend dazu fest: »Thubten Norbu, der inzwischen nach Indien zurückgekehrt war, wählte in Kalimpong den für unsere Familie vorgesehenen Tibeter Knaben aus.« Und weiter: »Anlässlich dieser Besprechung entstand auch der Gedanke, eine kleine Anzahl Tibeter Kinder im Pestalozzi-Kinderdorf erziehen zu lassen.«37 Bei diesem ersten Treffen mit einem Mitglied der Familie des Dalai Lama wurden demnach zwei Szenarien entworfen: Aeschimann sollte ein tibetisches Flüchtlingskind bekommen und sich gleichzeitig dafür einsetzen, dass der Dalai Lama eine Gruppe von Kindern in die Schweiz bringen konnte. Ob dabei das eine die Bedingung für das andere war, muss offenbleiben.

Nach seinem Besuch in der Schweiz reiste der Bruder des Dalai Lama nach Kitzbühel in Österreich weiter. Dort wurde er von seinem Gastgeber, Heinrich Harrer, erwartet, während in der Schweiz die Pläne für ein Tibeter-Haus im Kinderdorf Pestalozzi an die Hand genommen wurden.

Tibeter-Haus für das Kinderdorf Pestalozzi

Charles Aeschimann und Ruedi Schatz erkundigten sich nach diesem Treffen mit Thubten Jigme Norbu beim Kinderdorf Pestalozzi in Trogen, ob es bereit wäre, tibetische und damit erstmals außereuropäische Kinder aufzunehmen. Das Kinderdorf war am Ende des Zweiten Weltkriegs für kriegsgeschädigte Kinder aus europäischen Ländern gegründet worden.38 Die Institution hatte sich von Anfang an vorgenommen, geleitet »von humanitären und pädagogischen Grundsätzen«, Flüchtlingskinder »im Geiste der Menschlichkeit und Völkerverständigung« zu erziehen.39 Kinder einer Nationalität lebten hier je in einem Haus als große Familie zusammen. Sie wurden von Hauseltern erzogen und sowohl in ihrer Muttersprache als auch in deutscher Sprache unterrichtet. Das Konzept sah vor, dass sie nach ihrer Ausbildung in ihre Heimatländer zurückkehren.

Die Stiftungskommission des Kinderdorfs hatte auf Anfrage des Eidgenössischen Politischen Departements schon ein Jahr zuvor prüfen müssen, ob es außereuropäischen Flüchtlingskindern Zuflucht bieten sollte. Dabei war es um palästinensische Kinder gegangen. Nach intensiver Diskussion hatte die Stiftungskommission aber die Gründung eines »Araberhauses« abgelehnt, denn es sei problematisch, Kinder in die Schweiz zu holen und sie nach einem mehrjährigen Aufenthalt wieder zurückzuschicken.40 Überdies hatte sie bemerkt, dass ein verantwortlicher Vermittler im Nahen Osten fehle, der die schwierige Aufgabe übernehmen könnte, Kinder auszuwählen und dafür zu sorgen, dass sie sich nach einer Rückkehr in ihre Heimat dort wieder integrieren.41

Nun galt es also erneut zu entscheiden, ob im Kinderdorf ein Tibeter-Haus errichtet werden soll. Die Meinungen darüber waren geteilt. Mehrere Mitglieder der Stiftungskommission hatten nichts einzuwenden, solange die Finanzierung des Baus und Betriebs gewährleistet sei, die Hauseltern aus Tibet stammten und die Initianten sich für die Kinder verantwortlich fühlten. Heinrich Harrer könnte bei diesem Projekt beratend zur Seite stehen und offene Fragen klären.42 Vom Dalai Lama wussten sie, dass er daran interessiert war, tibetische Kinder in die Schweiz zu schicken. Andere Kommissionsmitglieder schätzten den Vorschlag kritischer ein: Sie erachteten die Aktion zwar »für uns und die westliche Welt« als Vorteil und sahen die Kinder aus einem anderen Kulturkreis als Bereicherung. Doch zugleich stellten sie infrage, ob dies auch im Interesse der Kinder selbst liege, ob »der kleine Tibeter nicht ›vereuropäisiert‹ würde« und die Gefahr bestehe, dass »die westöstliche Auseinandersetzung ins Dorf getragen würde«.43 So gab die Reformpädagogin Elisabeth Rotten in der Stiftungskommission laut Protokoll zu bedenken: »Ist eine Verpflanzung in so ganz andere Verhältnisse den Kindern zuzumuten?« Sie wies darauf hin, dass »Kinder in keinem Fall für eine Idee da sein dürfen«, sondern umgekehrt die Idee ihnen zu dienen habe.44 Damit sprach sie das politische Ziel des Dalai Lama an, die Kinder später als gut ausgebildete Berufsleute und als Stütze der tibetischen Gesellschaft zurückzuholen. Und Kommissionsmitglied Rodolfo Olgiati, der neben seinem Engagement in Trogen in vielen humanitären Organisationen aktiv war, empfahl, mit einem in Nepal tätigen Hilfswerk zu klären, ob es nicht passender wäre, dort ein Kinderdorf mit Unterstützungsgeldern aus der Schweiz aufzubauen.45

Trotz dieser Bedenken und offenen Fragen wurde das Projekt rasch vorangetrieben. Bereits am 22. September 1959 konnte Ruedi Schatz Heinrich Harrer mitteilen, dass die Idee weiterverfolgt werde und auf Begeisterung stoße. Es stellten sich aber einige Probleme, »die wir ohne eine genaue Kenntnis der Tibeter nicht lösen können, sodass wir Sie um einige Auskünfte bitten«.46 Harrer war damit einverstanden, bei der Planung eines Tibeter-Hauses behilflich zu sein, und Aeschimann bemühte sich, private Spenden für den Bau des Hauses aufzubringen.47 In einer Vereinbarung mit dem Stiftungsrat erklärte er sich bereit, die Finanzierung – auch im Fall eines Misserfolgs – bis zu einem Betrag von 50 000 Franken selbst zu übernehmen.48 So wurde aus der Idee, die er Thubten Jigme Norbu Ende 1959 unterbreitet hatte, Anfang 1960 ein konkretes Projekt, dem auch der Dalai Lama zustimmte.49

Kaum ein halbes Jahr später war es so weit: Im Oktober 1960 kamen je zehn Knaben und Mädchen, verteilt auf drei Flüge, im Flughafen Zürich Kloten an.50 Da die Bauarbeiten für das Haus in Trogen noch nicht ganz abgeschlossen waren, wurden die Kinder durch die Vermittlung von Aeschimann im Ferienheim der Atel, im Haus Hohfluh, auf dem Brünig untergebracht.51 Am 8. April 1961 wurde das erste Tibeter-Haus mit dem Namen Yambhu Lagang (Stätte der Weisheit) eingeweiht.52 Der Dalai Lama habe damals, so hielt der KinderdorfLeiter Arthur Bill fest, die Kinder beim Einzug ermahnt: »Vergesst Eure tibetische Heimat nicht, haltet Brauch und Glauben in Ehren, arbeitet und lernt fleißig, zeigt Wohlverhalten und Dankbarkeit in der Fremde!«53

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