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Table of Contents

Titel

Impressum

Vorwort

Kapitel 1: Deus lo vult

Kapitel 2: In Ruhe

Kapitel 3: Angriff!

Kapitel 4: Auf der Hut

Kapitel 5: Winterzeit

Kapitel 6: Kein Weg zu weit

Kapitel 7: Unruhestiftung

Kapitel 8: Neue Ufer

Kapitel 9: Vorbereitungen

Kapitel 10: Der letzte Atemzug

Kapitel 11: Götterdämmerung

Kapitel 12: Wer will des Stromes Hüter sein?

Kapitel 13: Eine Glaubensfrage

Kapitel 14: Beilzeit

Kapitel 15: Der große Plan

Anmerkung

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Christoph Eydt

 

 

Heidenvolk

und Gotteskrieger

 

Die Blocksberg-Saga

Historischer Roman

 

 

 

                                                                                                                                                    

DeBehr

 

Copyright by: Christoph Eydt

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2018

ISBN: 9783957535009

Umschlaggrafik: Zerstörung der Irminsäule durch Karl den Großen von Heinrich Leutemann

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Vorwort

Was ich euch erzählen werde, ist eine alte von Glauben und Weisheit getränkte Sage. Die Menschen im Harz erzählen sie seit über 200 Jahren. Manches mag ausgeschmückt sein, anderes gänzlich ausgedacht. Vieles wird nicht der sogenannten wahren Geschichte entsprechen. Was heißt aber schon „wahr“? Und wer bestimmt, was wahr ist? Oder was Geschichte ist? Das macht Sagen ja so reizvoll. „Geschichte wird von jenen geschrieben, die ihre Helden gehängt haben“, heißt es in einem sehenswerten Film über einen schottischen Freiheitskämpfer. Wer Geschichte schreibt, der schließt immer etwas aus, vergisst etwas oder will es vergessen wissen. Doch das Ausgeschlossene lebt weiter. Nur weil es nicht in Geschichtsbüchern auftaucht, heißt es nicht, dass es nicht existieren würde. Es existiert. Es lebt – überlebt. Und die Menschen spüren es; die Sagen helfen, das Unaussprechliche sprechbar zu machen. Eine Sage sagt uns etwas – und ich will euch, liebe Leserinnen und Leser, etwas sagen. Was ich euch berichten möchte, hat sich vor langer Zeit zugetragen. In einer Zeit, in der es keine modernen Techniken gab, keine Autos, kein Internet, keine asphaltierten Straßen, kein Telefon. All das, was für uns so selbstverständlich ist, hat es in dieser Zeit nicht gegeben. Und es war gut so. Die Leute gingen ihrem Leben sicher nicht weniger glücklich nach, als wir es heute tun. Vielleicht waren sie sogar glücklicher. Immerhin hatten sie das, was uns heute fehlt: Demut vor den Gewalten der Natur und einen festen Glauben an das Schicksal und die Mächte der Götter.

Der Harz ist seit jeher für seine Magie, Mythen, Sagen, Legenden und teuflischen Unholde bekannt. Nicht ohne Grund! Es waren aber nicht die Hexen, die den Harz zu dem machten, was er heute ist. Lange bevor es die Hexenverfolgungen und die modernen Inszenierungen mit der Hexenfigur gegeben hat, war der Harz ein Hort unsäglicher Gestalten. Manche sagen, hier hätte der Teufel persönlich gehaust. Andere erzählen von heidnischen Kulten, und wieder andere sprechen von alten, längst vergessenen Göttern, die im Harz gelebt haben sollen. Was wahr ist und was nicht, wissen wir nicht. Und das ist gut so – sind es doch gerade die Geheimnisse einer Geschichte, die sie lebendig machen.

 

Kapitel 1: Deus lo vult

Die moderne Welt ist so überfüllt an unnötigen Dingen, dass es schwerfällt, zu glauben. Alles will man mithilfe der Ratio erklären, alles soll technisiert sein, eben modern und beherrschbar. Doch die Zeit, von der die Sage erzählt, war anders. Es war eine Anderswelt. Das Christentum hatte noch nicht übermäßig Fuß gefasst, war aber sehr wohl im Aufwind. In der Landschaft, die wir heute „Deutschland“ nennen, herrschten noch die alten Götter. Die Menschen waren auf die Gunst ihrer Gottheiten angewiesen. Sie beteten für reiche Ernten, für Fruchtbarkeit, für Glück in der Familie, für Frieden, Gesundheit, aber auch für Siege gegen Feinde. Der Glaube dieser Menschen war fest. Nichts konnte an ihm rütteln – keine Schicksalsschläge, keine sogenannte Vernunft, keine Missionierung; nichts. Der Glaube war so fest, dass man nicht sagen kann, ob er ein Teil dieser Menschen war, oder ob das, woran sie glaubten, nicht etwas war, das so viel größer als sie war.

Die Sage erzählt vom frühen Europa. Im Westen des Kontinents geschah in den ersten Jahrhunderten nach Christi Tod Großes. Das einst so gewaltige Römische Reich, das von West nach Ost reichte, zerfiel. Die Völkerwanderung hat große Teile der Bevölkerungen umgeschichtet. Aus dem Osten kam das Licht – ex oriente lux – das Christentum. Während die Apostelfürsten Petrus und Paulus schon früh in Rom für ihren Glauben sterben mussten, wurde die Idee des einen wahrhaften Gottes nicht ermordet. Sie wurde so mächtig, dass Herrschaften mit ihr begründet und politische Ziele mit religiösen vermengt worden. So wunderbar die Idee der Nächsten- und Feindesliebe ist, so furchtbar wurde sie von weltlichen wie kirchlichen Herrschern pervertiert. Als in unserer Gegend die Sachsen und andere germanische Völker lebten, braute sich im Westen eine Gefahr zusammen, die wohl niemand zu jener Zeit erahnt hätte. Wir schreiben das Jahr 772. Das Frankenreich war auf dem Weg, seine größte Macht zu entfalten – angeführt vom eifrigen Carolus Magnus, von Karl dem Großen. Dieser Mann war kein gewöhnlicher König. Nichts, was man heute unter einem König versteht, trifft auf ihn zu, außer dem Drang, herrschen und beherrschen zu wollen. Dafür war ihm jedes Mittel recht – jedes Ziel legitim, solange es ihm dienlich war. Er war Christ. Ob überzeugt oder nicht, wage ich nicht zu beurteilen. In seinem Herzen war zumindest Raum für den einen wahren Gott, für den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist in göttlicher Einheit. Doch das, was der Gottessohn verkündet und vorgelebt hat, war Karl dem Großen fremd: Nächstenliebe und Feindesliebe. Karl liebte nicht seine Nächsten, schon gar nicht seine Feinde. Er war eitel, machtbesessen und voller Selbstüberzeugung. Vermutlich musste er das sein, wenn er das Frankenreich von seinem Vater weiterführen und es zu noch mehr Ruhm und Glanz bringen wollte. Karl der Große, als sei es nicht genug, König zu sein, wollte unbedingt Kaiser werden. So sollte es auch geschehen. Am 25. Dezember des Jahres 800 wurde Carolus Magnus als erster westeuropäischer Herrscher seit der antiken Zeit die Kaiserwürde verliehen. Doch bis es soweit sein sollte, vergeht in unserer Erzählung noch viel Zeit. Die Geschichte beginnt früher. Karl war noch König, wollte aber Kaiser werden. Sein fränkisches Reich hatte er gestärkt. Doch es sollte noch wachsen. Expansion! Karl wollte erobern, siegen und befrieden. Er war es gewohnt, dass sich Menschen, die sich ihm in den Weg stellten, entweder freiwillig einknickten oder umgebracht worden. Er war der Platzhirsch, der Rudelführer, schlichtweg: der geborene Anführer. Umso fataler für ihn war das, was ab dem Jahre 772 geschehen sollte. Karl richtete sich gen Osten und wollte das Volk der Sachsen bezwingen. Gab es hierfür sicher eine Reihe politischer Gründe, so setzte Karl der Große auf die Religion. Die Sachsen waren ihm schon länger ein Dorn im Auge. Immer wieder kam es zu kleinen Aufständen. Keiner der Sachsen wollte etwas mit den Franken zu tun haben. Kulturell unterschieden sich die Völker grundlegend. Karl organisierte eine Großmacht. Er besaß viele Soldaten, hunderte, tausende. Die Franken waren Christen. Karl brachte Bildungsreformen voran und etablierte einen mächtigen Verwaltungsapparat. Bei den Sachsen sah es gänzlich anders aus: Sie lebten wie jene Stämme, die die Römer als Barbaren betitelten. Die Sachsen setzten sich aus den germanischen Stämmen der Chauken, Cherusker und Angrivarier zusammen. Das Volk der Sachsen war im 8. Jahrhundert nicht einheitlich. Es gab eine freie Stammesordnung. Die Sachsen haben sich nie einem einzigen Fürsten oder König gefügt. Wichtige Angelegenheiten wurden auf einem jährlichen Thing entschieden, einer Volks- und Gerichtsversammlung nach dem alten germanischen Recht. Die Sachsen waren ein freies Volk. Ihre Ordnung war primitiv, aber keineswegs dumm. Sie verehrten die Natur, lebten in und mit ihr. Ihre Götter entstammten den dichten Wäldern, tiefen Tälern und hohen Bergen. So aufgestellt, waren die Sachsen das völlige Gegenbild zu den straff organisierten Franken, die in ihrer Art eine Erinnerung an die glorreichen Tage des Römischen Reiches hätten sein können.

772 geschah etwas, das die bis dahin gültige Weltordnung im Sachsenland aus den Fugen brachte. Ja, das Himmelzelt stürzte hernieder und traf jeden Sachsen, der voller Ehrfurcht vor seinen Göttern stand. Karl der Große begann seinen Krieg gegen das Sachsenland – er begann die Kriege, die man heute „Sachsenkriege“ nennt. Doch schon vor Karls Zeit kam es zu Kämpfen zwischen Franken und Sachsen. So ist das, wenn zwei Welten sich berühren. In der ersten Hälfte des achten Jahrhunderts waren es der Hausmeier Karl Martell und dessen Söhne, die gegen die Sachsen mehr als zehnmal ins Feld gezogen sind. Sie konnten sie nicht bezwingen. Noch früher, nämlich im siebten Jahrhundert, eroberten die Sachsen sogar Westfalen. Die Franken wurden vorsichtig und bauten nach 700 Großburgen an den Grenzen. Zum Schutz? Vielleicht! Vielleicht aber auch zur Vorbereitung der Angriffskriege. Die andauernden Streitigkeiten zwischen den christlichen Franken und den heidnischen Sachsen nahm der große König nicht länger hin. Er wollte ein für alle Mal Schluss machen, seine Westgrenzen sichern und erweitern, das Christentum verbreiten und sich so den Weg zum Kaiserthron ebnen. Immerhin brauchte der König die Gunst des Papstes für die Kaiserwürde. Was wäre also besser geeignet gewesen, als die gottlosen Heiden zu bekehren? Die Missionierung der Sachsen gelang aber nicht. Sie konnten oder wollten sich den christlichen Ideen nicht öffnen; für Karl eine Demütigung und Kampfansage in einem. Wie kann man den einzigen wahren Glauben ablehnen? Wie kann man sich gegen die frohe Botschaft stellen und an alten bösen Kulten festhalten? Vielgötterei war bei den Franken verpönt. Bei den Sachsen war sie Alltag. Und den wollte Karl der Große ändern. Die Sachsen sollten nicht nur getauft werden. Sie sollten auch die fränkische Ordnung übernehmen. Nichts sollte mehr an die alten Zeiten erinnern. Eine neue Weltmacht war da und vertrat einen Absolutheitsanspruch. Von 772 bis 804 dauerten die Sachsenkriege. Am Anfang stand eine höchst symbolische, niederträchtige und gewalttätige Handlung, die von keinem anderen als Karl dem Großen persönlich befohlen wurde. Er griff das Herzstück der Sachsen an – die Irminsul.

Die Irminsul war das vermutlich wichtigste Heiligtum der Sachsen. Womöglich war es eine Säule oder aber es war ein großer Baum. Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, wo sie ungefähr stand, jene den Himmel stützende Säule, nämlich bei der Eresburg, dem heutigen Obermarsberg in Nordrhein-Westfalen. Es gibt keine Überlieferungen zum Aussehen jenes für die Sachsen heiligen Bildes. Doch versetzen wir uns in jene Zeit, so sehen wir bei der Eresburg ein gewaltiges Bauwerk, eine majestätische Säule, errichtet aus zahlreichen Steinen, verziert mit Reliefs, Bögen, Windungen und anderen Elementen der Bildhauerkunst. Weit oben auf der Irminsul thronte ein Schildknoten aus Metall. Er könnte die Sonne repräsentiert haben, die Ganzheit der Welt oder einen Gott. Das Symbol war mindestens zwei Meter groß und glänzte zu allen Seiten. Kurz bevor Karl mit seinen Soldaten bei den Sachsen einfiel, ahnten diese noch nichts von der Bedrohung aus dem Westen. Sie bereiteten die große Festlichkeit der Sommersonnenwende vor. Wir schreiben also einige Tage vor dem 21. Juni. Junge Männer schmückten die Irminsul mit bunten Bändern, Blumenkränzen und Nadelhölzern. Die Frauen legten Früchte und Getreide vor dem Heiligtum nieder. Ringsherum bereiteten die Sachsen ein gewaltiges Fest vor. Im Kreis standen Stühle, Bänke und Tische. Eine Fläche, vielleicht 10 Meter von der Irminsul entfernt, wurde als Feuerstelle vorbereitet. Hier hoben die Sachsen Erde aus, stapelten Feuerholz und bauten einen Spieß auf.

Die Sachsen kamen aus Nah und Fern, um an der Feier teilzunehmen. Sie waren voller Freude, hatten sie doch endlich die Gelegenheit, alte Bekannte zu treffen, Neuigkeiten auszutauschen und sich gemeinsam ihrem Glauben zu widmen. Die Irminsul war stets der Mittelpunkt – während der Vorbereitungen und während der Feier. Alles war auf sie gerichtet: jeder Blick, jeder Tisch, jede Speise, jedes Lied, jeder Tanz. Und von Lied und Tanz gab es reichlich. Noch wurden sie nur geübt. Aber wie geübt wurde, klang und sah so aus, als wären die Sachsen schon mitten im Fest. Die Alten sahen amüsiert den Jünglingen zu, wie diese einen Tanz übten, der mehr ein Kampf als alles andere war, denn bei dem Tanz ging es darum, im Rhythmus der Musik sich so zu bewegen, dass der Partner sein Gleichgewicht verlor und hinfiel. Derjenige, der am Ende stehen blieb, durfte sich eine der Jungfrauen nehmen. Sie wurden noch am selben Tag unter der Irminsul zu Mann und Weib erklärt – aber nur, wenn beide es aus freiem Herzen wollten. Man sagte: Wer an diesem Tag die Ehe einging, würde sie bis zu seinem Tode nicht mehr verlassen und glücklich mit vielen Kindern leben. Die Priester weihten Gräser, Knochen, Geweihe, Stoffe, Schüsseln und Amulette, mit denen zur Sommersonnenwende der Götzenkult abgehalten werden sollte. Sie malten magische Zeichen an die Irminsul. Hierzu schrieben sie das heilige Runenalphabet, zeichneten aber auch Bilder, die man heute wohl als Sigillen bezeichnen würde. Während alle anderen voller Freude auf das Fest zugingen, waren die Priester allesamt verschlossen und schweigsam. Keiner von ihnen sprach nur ein Wort während der Vorbereitungszeit – nur zu den Weiheritualen. Sie lachten nicht und schliefen nicht. Sie fasteten und waren mit Kopf und Herz schon in der Anderswelt, sprachen mit den Göttern, aber auch mit anderen Wesen, bei denen sie Rat suchten.

Es wurden die letzten Bündel Getreide vor der Irminsul ausgelegt, als ein merkwürdig starker Wind den Festplatz heimsuchte. Die meisten Sachsen beachteten ihn nicht, doch die Priester rissen ihre Augen auf. Sie blieben wie vom Blitz getroffen stehen und blickten gen Himmel. Wolken brauten sich zusammen, wo eben noch blauer Himmel war. Direkt über der Irminsul wurde der Himmel schwarz. Die Priester erkannten, was geschah: ein Omen. Ein Zeichen der Götter. Sie sprachen immer über die Natur zu den Menschen, doch nur die Weisen konnten sie verstehen. Die Priester gingen behutsam zur Irminsul und berührten sie mit ihren linken Händen. Während die jungen Männer noch am Tanzen waren und die Frauen Schmuck bastelten, durchfuhr die Priesterschaft ein höllenartiger Schauer. Alle neun Männer waren sich gewiss, dass großes Unheil bevorstünde. Doch keiner von ihnen konnte sagen, was passieren würde. Nur eines schien klar: Ein Fest stand nicht mehr an.

Während die Priester noch spekulierten, was zu tun sei, nahm der Wind die Gestalt von Regen an. Der Himmel schien mit einem Mal sonderbar rot – friedlich wie Abendrot. Einer der Priester schrie auf: „Ragnarök. Die Dämmerung der Götter. Das Ende der Welt.“ Danach brach er zusammen. Die anderen hielten den Atem an. Da war etwas. Aber was? Sie lauschten in die Ferne. Es klang wie Pferde, behuft, schwer. Viele. Sehr viele! Es klang fast, als würde eine ganze Herde angestürmt kommen. Der Lärm rückte näher – und je näher der Lärm kam, desto deutlicher wurden die Geräusche: das Schlagen der Pferdehufen, das Wiehern, das Grölen von Männern und das Klirren von Schwertern, Schilden und Rüstungen. Da war allen an der Irminsul klar, was heranstürmte. Ein Feind. Nicht irgendein Feind, sondern DER Feind. Die Franken. Die Sachsen wussten es, aber es war zu spät. Gerade als die ersten die Flucht ergreifen wollten, verdunkelte sich der Himmel abermals. Dieses Mal aber nicht durch Wolken. Ein riesiger Pfeilhagel breitete sich am Himmel aus und überzog die gesamte Landschaft mit gespenstiger Finsternis. Die ersten Pfeile trafen nur Wiesen, Felder und die Tische, doch die große Masse schlug genau dort ein, wo sich die Sachsen versammelt hatten. Die Pfeile rasselten hernieder, trafen Schädel, Beine, Hüften. Wer nicht sofort tot war, blieb verwundet liegen und wurde kurze Zeit später mit Sicherheit tödlich getroffen. Der einst so fröhlich vorbereitete Festplatz wandelte sich in ein Blutbad. Diejenigen, die noch laufen konnten, wateten durch Blut, Erbrochenes, Urin und Schlamm. Wahrlich! Das war Ragnarök. Ein Untergang der Welt. So etwas haben die Sachsen bis dahin nicht erlebt. Schutzlos mussten sie auf der Wiese ausharren und warten, bis der Pfeilhagel sein Ende nahm. Nur wenige flüchteten in die Wälder. Der Rest blieb zurück – tot, verwundet, unter Schock.

Es dauerte nicht lange, da bahnten sich Soldaten einen Weg zum Festplatz. Die fränkischen Krieger standen in voller Rüstung bereit und umzingelten den gesamten Platz. Die Bogenschützen blieben hinten, spannten ihre Bögen, aber schossen nicht. Dann kamen die Kämpfer zu Pferde. Ihre Rüstungen schienen noch schwerer als die der Fußsoldaten zu sein. Sie passierten einen von den Soldaten geschaffenen Gang und reihten sich in der Mitte des Platzes unweit der Irminsul auf. Einer von den Reitern fiel besonders auf: Carolus Magnus. Seine Rüstung war aus purem Gold. Sein Schwertknauf glänzte unter so vielen Edelsteinen und sein Schild war so hell, dass man es für ein Abbild der Sonne hätte halten können. Sein Schlachtross trug eine Rüstung und eine riesige Fahne. Der König hatte auf seinem Helm eine Krone. Da war er: der König des Westens – Karl der Große. Er stieg von seinem Pferd. Ihm folgten drei weitere Reiter. Sie legten ihre Waffen ab und befreiten sich von den Rüstungen. Karl blickte gen Himmel, der inzwischen wieder klar und heiter schien. Dann sah er sich die Irminsul an. Ganz langsam ging sein Blick von dem Schildknoten hinunter, wo die Priester kürzlich noch Runen malten. Dann sah er sich die toten Sachsen an. Jeder, der ihn sah, wusste, dass das ein großer Tag für den König gewesen war. Nicht etwa der Sieg über die wehrlosen Sachsen. Das war für ihn eine Selbstverständlichkeit. Ihm ging es um die Botschaft. Mit seinem hinterhältigen Angriff signalisierte Karl nicht nur, dass ab jetzt Krieg war, sondern was für ein Krieg: seiner, sein ganz eigener – und dieser Krieg war persönlich, hinterlistig, unmoralisch und erbarmungslos. Der König wollte nicht nur die Sachsen zerschlagen, er wollte auch das Werk vollenden, was seine Vorgänger nicht geschafft hatten.

Hinter der Irminsul schien die Sonne und Karl hatte Mühe, sie anzusehen. Er wendete den Blick ab und befahl, alle Verwundeten der Sachsen zu töten. Einige Franken zückten Dolche und schnitten den Liegenden die Kehlen durch. Ein paar Sachsen wollten noch etwas sagen - vielleicht etwas zu ihren Feinden oder aber zu ihren Göttern. Der Schnitt durch den Hals ließ aber alle Stimmen verstummen. Sie starben und niemand hörte ihnen mehr zu. Die das Glück hatten, unversehrt zu bleiben – es waren vielleicht neun oder zehn Sachsen – hatten nun das Unglück, in der Willkür der Franken zu stehen. Die Soldaten zwangen sie auf die Knie und den Kopf in den Nacken zu legen. Die Sonne blendete sie und als Karl der Große auf sie zukam, schien es, als sei einer ihrer Götter vom Himmel herabgestiegen. Karls prachtvolle Krone und sein rostfarbener Bart ließen den ansonsten eher klein wirkenden Mann göttlich erscheinen. Er sprach in einer fremden Sprache zu den Sachsen, die einer seiner Männer übersetzte. Er sagte so viel wie: „Heiden! Elendiges Volk. Ihr seid nun dazu bestimmt, erlöst zu werden oder im Namen des einen großen Gottes ausgetilgt zu werden. Bekennet euch zum rechten Glauben und ihr werdet leben, andernfalls sei euch der Tod.“ Die Sachsen wussten mit dieser Anordnung nichts anzufangen. Sie fürchteten sich, waren aber zugleich so fest in ihrem Glauben, dass kein einziger von ihnen sich dazu entschied, am Leben bleiben zu wollen. Sie lehnten also das Angebot des Carolus Magnus ab. Doch bevor er sie töten ließ, reihte er sie ein Stück weit von der Irminsul entfernt auf. Dann rief er seine Männer zu sich und sagte so etwas wie: „Los! Fangt an!“ Die Soldaten banden lange dicke Seile um die Irminsul und warfen Seilhaken zu ihrer Krone. Dann spannten sie Pferde an die Seile und führten sie von der Irminsul weg. Sie trieben sie mit Peitschenschlägen und lautem Gegröle an. Weitere Soldaten kamen hinzu, hingen sich an die Seile und allesamt zogen sie mit voller Kraft, um die Irminsul zu stürzen. Die todgeweihten Sachsen sahen mit Schmerz in ihren Herzen zu. Sie mussten! Denn sobald einer der Sachsen seinen Blick abwandte, wurde er geprügelt und gezwungen, abermals hinzuschauen. Doch die Irminsul rührte sich nicht. Die Franken zogen, zerrten und rieben sich an ihr auf. Nichts geschah. Karl wurde wütend. Er rief seinen Männern zu: „Los! Umschlagen! Sofort!“ Da kamen weitere Soldaten mit riesigen Hämmern, Meißeln und Haken. Sie schlugen gegen die Irminsul als wollten sie eine 100-jährige Eiche fällen. Erst lösten sich nur kleine Steine, dann fielen größere hinterher. Die Pferde wurden wieder angetrieben. Und während sie in die eine Richtung zogen, drückten die Soldaten den Fuß der Irminsul hinterher. Allmählich konnte man sie schwächen. Dort, wo die Männer gegen sie schlugen, war inzwischen ein gewaltiges Loch entstanden. Nur wenige Schläge fehlten noch und das wichtigste und zugleich mächtigste Symbol der freien Sachsen fiel vor Karls Füße. Da geschah es: Erst stürzte die Weltensäule langsam, dann krachte sie mit einem so lauten Ton auf die Erde, dass man meinen könnte, Donar hätte seinen Hammer geschwungen. Doch da war kein Gott, kein rettendes Schicksal – nichts. Nur ein zerstörtes Heiligtum der Heiden. So sah es Karl. Die Sachsen weinten bitterlich über den Sturz der Irminsul. Im wahrsten Sinne ging für sie eine Welt unter. Der Tod, den sie dann erleiden sollten, konnte nichts weiter sein, als eine Befreiung aus dem schrecklichsten aller Weltuntergänge. Die Franken ließen nicht lange auf sich warten. Kaum war die Irminsul zerstört, schlugen sie den Sachsen die Köpfe ab. Sie sammelten die Häupter und legten sie an den Fuß der einst so wertvollen Säule. Dort bildete sich eine Blutlache und die Franken trieben ihre Scherze, indem sie die Leiber um die abgeschlagenen Köpfe herum stapelten.

Karl beobachtete das Treiben voller Stolz und Frömmigkeit. Er flüsterte ein kurzes Gebet und rief dann zu seinen Männern: „Ihr eifrigen, frommen und tugendhaften Christen. Heute ist ein großer Tag. Hier, vor unseren Füßen, liegt das zerschlagene Heidentum. Die Vielgötterei der Sachsen hat ein Ende. Jetzt sind wir hier – und wir werden hier bleiben. Männer! Das ist aber erst der Anfang. Gott will es, dass wir den im Dunkel wandelnden Sachsen das Licht bringen. Das Licht der Christenheit. Jeder Sachse, jedes Kind, jedes Weib, jeder Mann – jeder, der hier wandelt - soll zum rechten Glauben finden. Und ihr seid es, die diesen armen Seelen den Weg, die Wahrheit und das Leben zeigen werden. Sie sollen umkehren dürfen. Wenn sie nicht wollen, sollen sie vor den himmlischen Vater treten, auf dass dieser sein eigenes Urteil über sie sprechen möge. Wir sind heute hier, um einen Krieg zu führen – einen Krieg der Seelen. Jeder Widerstand, jeder Zweifel muss zerschlagen werden. Kämpft für euren Heiland, kämpft für mich – euren König, kämpft aber auch für euren Ruhm, denn der ist euch gewiss, wenn wir hier das schaffen, was unserem Volk bisher versagt geblieben ist. Wir werden siegen! Siegen! Siegen!“ Karl schrie die letzten Worte hinaus und seine Soldaten antworteten mit Jubelrufen und frenetischen Schreien. Hier begann kein gewöhnlicher Krieg. Hier begann ein Krieg der Welten und die Franken schienen so überlegen zu sein, dass sie ihn mühelos gewinnen würden. Das moralische Rückgrat der Sachsen war jedenfalls schon zu Beginn des Krieges zerschlagen.

Der König rief seine Feldherren zu sich. Er erklärte ihnen die Umgebung und befahl, dass sie alle Siedlungen im Umkreis überfallen sollten. Gefangene sollten nicht gemacht werden. Den Sachsen sollte man nur Taufe oder Tod gewähren. Während die Feldherren ihre Soldaten in Marschbereitschaft brachten, rückte Karl mit seiner Gefolgschaft ab. Er begab sich zurück ins Frankenland, um sich anderen Anliegen zuzuwenden. Er hatte keine Zeit, den Feldzug persönlich zu führen. Seine Feldherren waren aber nicht weniger eifrig als er. Vielleicht waren sie sogar noch besessener, denn anders als Karl der Große waren sie erst mal nur Feldherren und strebten noch nach öffentlichem Ruhm und politischen Einfluss; Dinge, die Karl schon lange besaß.

Nachdem der König abgeritten war, pissten noch einige Soldaten auf die Leichen der Sachsen und zerbrachen die eh schon zerstörte Irminsul in noch kleinere Teile. Es folgte sobald der Befehl zum Abmarsch und die fränkische Infanterie teilte sich in alle Himmelsrichtungen auf, um jedes Dorf und jeden Sachsen zu überfallen. Aus allen Richtungen erklangen Schreie, bittere Wehe-Rufe und der aussichtslose Versuch von Widerstand. Aber gegen die organisierten und hochbewaffneten, zahlentechnisch überlegenen Franken hatten die sächsischen Dörfer nichts entgegenzusetzen. Die Franken zeigten keine Gnade gegen die Sachsen. Niemand von diesen wollte den christlichen Glauben annehmen und jeder Sachse musste dafür mit seinem Leben bezahlen. Die meisten wurden geköpft. Wenige wurden zuvor gefoltert. Kinder schlug man mit den Köpfen gegen Bäume, bis sie leblos liegen blieben. Frauen wurden geschändet. Schwangeren wurde der Bauch aufgeschnitten. Die Franken tobten sich an den Sachsen nur so aus. Am Ende dieser ersten Feldzüge war der Sieg den Franken gewiss. Sie haben nicht nur sämtliche Sachsen in der näheren Umgebung der Irminsul getötet, sie haben auch das einheitsstiftende Symbol der Sachsen, das nicht nur religiöse Bedeutung hatte, sondern auch Repräsentant einer alten Ordnung war, vernichtet. Die Botschaft war klar: „Eure Ordnung ist hinfällig. Jetzt sind wir hier: die Franken und das Christentum.“ Doch nicht das gesamte Sachsenland konnten die Franken im Handstreich erobern. Sie hielten sich zu lange in der Nähe der Irminsul auf. Die Reste des Sachsenlandes waren weitaus schwieriger zu begehen als die flachen Ebenen des Westens. Während an der Irminsul vor allem Wiesen, Felder und kleine Wälder zu finden waren, waren andere Gegenden mittlere oder große Gebirge, dichte Wälder, Moor oder Sumpf. Hier hatten sich schon die Römer verschätzt und drangen nur bis zur Elbe vor. Die Franken waren nach ihrem Überraschungsangriff sehr schnell vorsichtig geworden. Sie fürchteten zwar keine Gegenwehr. Dafür waren sie viel zu mächtig. Sie fürchteten aber die weitere Landschaft und das unbeständige Wetter. Auch um Vorräte und Verpflegung mussten sie sich kümmern. Der Vormarsch wurde also verlangsamt. Die Feldherren sahen dies gewiss nicht als Problem. Es war vielmehr Teil des Plans. Karl wollte mit der Zerstörung der Irminsul die Sachsen unter Schock setzen. Das gelang ihm. In der Zeit danach sollten sich seine Soldaten neu formieren, um die weiteren Feldzüge besser organisieren zu können. Die Sachsen konnten diese Zeit nicht nutzen. Das wusste Karl, denn es gab kein einheitliches Heer auf Seiten der Sachsen. Der Widerstand war von Ort zu Ort unterschiedlich. Doch es gab auch Landstriche im Sachsenland, in denen man noch gar nichts von dem Überfall gehört hatte. Im Norden und Osten lebten die Sachsen wie gewohnt weiter. Vielleicht dachten die Sachsen dort an die Irminsul. Dann aber nur, weil sie sich vorstellten, wie großartig das Fest sein würde, wohl aber nicht, dass ein einziges Blutbad angerichtet wurde mit der Botschaft, das gesamte Land in Brand zu stecken.

 

Kapitel 2: In Ruhe

Fernab der Irminsul, im Land zwischen Weser, Unstrut und Elbe, wusste man nichts von alledem. Hier ging das Leben normal weiter: Die Männer und Frauen bestellten die Äcker, trieben das Vieh umher oder gingen in den Wald, um Bäume zu schlagen. In der Gegend, die man heute als Harz kennt, siedelten nicht viele Sachsen. Im Harz, also mitten im Gebirge, sowieso nicht; es gab nur ein paar Siedlungen am Rand des Harzes – dort, wo heute die Städte Thale, Wernigerode, Sangerhausen, Osterode oder Mansfeld liegen. Hier lebten die Menschen nicht anders als in den anderen Gebieten der Sachsen. Sie unterschieden sich einzig durch die abwechslungsreiche Landschaft, die gerade im Harz gespenstig war. Hier gab es nicht nur zahlreiche Seen und Flüsse, sondern auch jede Menge Urwald – tiefster Wald, der von Menschen nie betreten wurde. Dann noch die gruselig eckigen Felsen, die Klippen und Täler und die Gipfel, um die sich von jetzt auf gleich dichter Nebel legen konnte. Gerade im Herbst war der Harz wie eine Götterfestung: Ringsherum von Nebelschwaden umhüllt, fast schon unsichtbar geworden, veränderte er seine Form und hinter einem einst prächtigen Grün zeigten sich unzählige knöcherne und schwere Äste. Von weither wirkte der Harz sicher bedrohlich: Mitten aus dem Nichts heraus ragten das, was wir heute Brocken, Wurmberg, Teufelsmauer, Regenstein oder Hexentanzplatz nennen. Die Wetterkapriolen taten ihr Übriges, dem Harz vom Weiten etwas anzutragen, was er wohl nie erfüllen wird oder schon immer erfüllt hat: ein Hort allerlei Ängste, Bangen, Neugier und Spannung. Wenn es nicht regnete, bildete sich meist dichter Nebel. Wolken brachen von jetzt auf gleich und fürchterliche Gewitter brauten sich über dem Harz zusammen. Wahrlich: Für die Menschen von damals ein schauriges Spektakel.

Dort, wo einst die Sachsen siedelten, waren allerhöchstens ein paar Ausläufer des Harzes zu finden. Flüsse, Seen, Wiesen und Felder wechseln sich hier noch heute märchenhaft mit Wald ab, der auf immer mehr Felsen steht, je näher man dem Harz kommt. Was heute ein beliebtes Urlaubs- und Ausflugsziel ist, war in alter Zeit ein Ort größter Geheimnisse, denn die Sachsen wagten sich nur selten hinein in den Harz, wenngleich es genug gegeben hat, die sich dort sehr gut auskannten. Die meisten gingen nur so weit hinein, wie sie mussten, um etwa Feuerholz zu sammeln, Bauholz zu schlagen oder Kräuter und Beeren zu pflücken. Zu groß war die Furcht vor Wesen, die im Wald wohnten, vor Gottheiten, die man nicht bezwingen konnte und vor der ungebändigten Natur.