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Lorenz Borsche

Zucker

Tödliche Versuchung

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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1. Auflage 2018

Coverfoto: © iStock, wademcmillan

Meinen geduldigen Töchtern gewidmet, die ich gefühlt jedes zweite Abendessen damit geplagt habe: „Ach, Papa, bitte nicht schon wieder …“

Inhalt

Zucker macht uns hungrig und dieser Hunger macht uns dick!

Der fatale Teufelskreis

Diabolisches Syndrom?

Böse Kohlenhydrate, böser, böser Zucker?

Ist Vollkorn gesund?

Ist Fruktose der gefährlichste Zucker?

Food- und Pharmaindustrie

Was Sie selber tun können

Abnehmen

120 Jahre alt werden dank kohlenhydratarmer Ernährung, geht das? Und wollen Sie das?

Kalorienübersicht – Sie werden sich wundern

Der Preis der zuckerreichen Ernährung

Zucker und Krebs

Zucker – tödliche Versuchung

Danksagung

Zucker macht uns hungrig und dieser Hunger macht uns dick!

Gleich vorweg: Hier geht es ausschließlich um die Erste Welt, also um Ihre und meine, in der man Bücher kaufen und, selbst wenn man von Hartz IV leben muss, TV gucken, Chips essen und dabei dick werden kann. Ich spreche ausdrücklich nicht vom Hunger in der Dritten Welt, also nicht vom Hunger aufgrund von echtem Nahrungsmangel, um den geht es hier ausdrücklich nicht. Es geht hier um den gefühlten Wolfshunger, der uns jeden Morgen aufs Neue zwingt, ein Marmelade- oder Nutellabrötchen zu essen, und der uns – je älter, desto sicherer – auch runder und dicker werden lässt. Diesen gefühlten Hunger meine ich, „gefühlt“, weil: der ist gar nicht echt! Aber davon gleich. Also: Sie und ich, Erste Welt, gefühlter Wolfshunger. Alles klar?

Vorgestern war es mal wieder so weit. Ich wachte morgens um vier Uhr auf, mein Magen knurrte und ich hatte einen Riesenhunger, so heftig, dass ich nicht mehr einschlafen konnte. Das war monatelang nicht mehr so gewesen. Was war schiefgelaufen? Wir hatten abends eine Tiefkühl-Fertigmahlzeit mit Shrimps und Fettuccine gegessen, angereichert mit Lachs und etwas Sahne, sonst ist das selbst für uns zu wenig. Das waren zusammen kaum mehr als 900 oder 1000 Kalorien – und das zu zweit! Wir sind beide keine allzu großen Esser, trotzdem ist das recht wenig als einzige warme Mahlzeit am Tag, aber wirklich Hunger haben wir eigentlich nie. Also: Was war anders gelaufen?

Ah ja, der verdammte Pudding! Wir waren einkaufen gewesen, und obwohl wir normalerweise an den ganzen verführerischen Pudding- und Quarkvariationen vorbeilaufen, diesmal mussten wir zugreifen. Stichwort Sonderangebot! Also einmal Vanille und einmal Schokolade, je 150 g, und wir würden uns beide teilen, hatten wir uns gedacht. Gedacht, getan – und morgens dann der knurrende Magen: Wolfshunger! Ich klaubte die leeren Becher aus dem Plastikabfall: 20 g Zucker auf 100 g, also 30 g in jedem Becher. 30 g Zucker? Da müssen Sie mehr als eine halbe Tafel Schokolade essen, um auf 30 g Zucker zu kommen. Kein Wunder, dass ich Hunger gehabt hatte. Das war auch das letzte Mal so gewesen, die Übeltäter waren damals fünf Pralinen, die ich mir abends auf einmal einverleibt hatte. Und was war die Folge? Quälender Hunger direkt in der Früh.

Ich wette mit Ihnen: Sie kriegen das auch hin. Machen Sie den Selbsttest und überzeugen Sie sich, dass alles, was Sie hier lesen, ziemlich plausibel und vermutlich sogar ziemlich „wahr“ ist. Nein, ich werde nicht behaupten, ich hätte die alleinige umfassende und hundertprozentige Wahrheit zu verkaufen. Als gelernter Soziologe halte ich es da mit dem Altmeister Popper, Helmut Schmidts Lieblingsphilosophen. Der nämlich sagt: Alles, selbst unverrückbare „Wahrheiten“ wie dass der Stein auf die Erde fällt, ist in Wirklichkeit nur reine Vermutung. Es handelt sich um Hypothesen, die niemals endgültig bewiesen werden können und demnach prinzipiell auch falsch sein könnten. Wir überprüfen diese Hypothesen ständig und ein einziger Fehlversuch falsifiziert die Theorie oder zeigt zumindest, dass sie unvollständig ist. Aber seitdem Menschen denken können, fallen alle Gegenstände auf den Boden, die schwerer sind als Luft; die Theorie der Gravitation ist also trilliardenfach geprüft und soweit bekannt niemals widerlegt worden. Kein Stein ist je von selbst in den Himmel geflogen. Popper würde sagen: Dann ist diese Theorie vermutlich zu 99,99999999999999999999 Prozent wahr. Irgendwann nach der 12. Stelle reden wir dann von einem Naturgesetz. Und was nicht prinzipiell „falsifizierbar“ ist, also eventuell widerlegt werden könnte, ist, so Popper, trivial – wie etwa der schwarze Rappe oder der weiße Schimmel. Definitionsgemäß kann es nur schwarze Rappen und weiße Schimmel geben, denn Rappe ist der Name für ein schwarzes, Schimmel für ein weißes Pferd, das lässt sich also niemals widerlegen. Deshalb ist es auch keine wissenschaftliche Theorie.

Die Sache mit dem Zucker und dem Hunger lässt sich allerdings ganz einfach widerlegen, indem Sie abends eine Tafel Schokolade essen und morgens ohne Hunger aufwachen. Oder abends auf Süßes verzichten und am nächsten Morgen vom Hunger aus dem Bett getrieben werden. Das könnte eintreffen, wird es aber nicht. Probieren Sie es selbst. Für mich ist es fast so wahr wie ein Naturgesetz, ich habe es immer wieder so erlebt – Zucker macht uns hungrig und dieser Hunger macht uns dick! Warum aber glaube ich das?

Um das zu verdeutlichen, benötige ich etwas allgemeine Physik-, Chemie- und Bio-„Theorie“. Aber keine Angst, das versteht jeder. Damit wir leben können, Energie haben, müssen wir ständig irgendetwas „verbrennen“ – ganz so wie ein Auto auch. Und selbst im E-Auto findet ein Verbrennungs-, das heißt, ein Oxidationsvorgang statt. In der Batterie wird das Lithium oxidiert und liefert dabei Strom (beim Aufladen der Batterie wird die Oxidation wieder rückgängig gemacht). Und wir Menschen verbrennen, genau wie Benzin- oder Diesel-Autos, Kohlenhydrate. Zwar kein Benzin, aber zum Beispiel Alkohol (damit könnte man auch Auto fahren) und andere, wie etwa Zucker und Stärke. Kohlenhydrate sind Verbindungen, die vor allem aus Kohlenstoff (C) und Wasserstoff (H) bestehen (Hydrat lässt sich vom griechischen Wort hydor für Wasser ableiten.). Zusammen mit dem Luftsauerstoff verbrennen sie zu Kohlendioxid (CO2) und Wasser (H2O). Dabei wird Energie frei, womit das Auto fährt und von der wir leben.

Kohlenhydrate gibt es reichlich. Alle Arten von Zucker gehören dazu wie Frucht-, Rüben-, Rohrund Milchzucker, aber auch jede Art von Stärke wie Getreidemehl, Kartoffelstärke, Maisstärke, Reisstärke, Maltose, Maltite, Zuckeralkohole und alles, was wir daraus herstellen oder direkt essen: Brot und Spaghetti, Reis und Reisnudeln, Kartoffeln und Kartoffelchips, Mais und Tortillas. Stärke wird im Darm aufgespalten und dabei in direkt verwertbaren Zucker umgewandelt – manche Arten schneller, manche langsamer und nur ganz wenige spuckt der Körper unverdaut wieder aus. Topinambur, die indianische „Kartoffelknolle“, enthält beispielsweise einen großen Anteil an Inulin (ja, das ist korrekt, kein Tippfehler, nicht Insulin), ein für uns unverdaubares Polysaccharid (ein Mehrfachzucker). Wer viel Topinambur isst, kann heftige Blähungen bekommen. Blähungen sind meist ein Hinweis auf etwas Unverdauliches, auf etwas, das dem Darm missfällt. Wie etwa Vollkorn: von wegen gesund! Auch Birkenzucker (Erythrit), ein sehr kurzer Zucker (er hat nur zwei Kohlenstoff-Atome, alle anderen haben drei oder mehr), wandert zwar ins Blut, wird aber unverändert über die Niere wieder ausgeschieden, verursacht allerdings kaum bis gar keine Blähungen.

Ein wenig geschieht der Umbau von Stärke in Zucker auch schon durch den Speichel im Mund. Das glauben Sie nicht? Dann machen Sie folgendes Experiment: Nehmen Sie ein kleines Stückchen Brot, am besten altes, und kauen Sie es ganz lang, wirklich lang. Schlucken Sie nicht, sondern kauen Sie, bis es absolut nichts mehr zu kauen gibt. Und wie schmeckt das dann? So süß wie Kinderbrei, so süß wie ein Stückchen Schokolade.1 Das funktioniert sogar mit Gras, obwohl Gras hauptsächlich aus Zellulose, übrigens auch ein Kohlenhydrat, besteht. Kauen Sie einmal sehr lange auf Gras herum – und wundern Sie sich. Das gemeine Weidegras gehört biologisch ja auch zur Gruppe der „Süßgrasartigen“.

Wenn der Zucker im Körper angekommen ist, springt schon beim ersten Empfinden von Süße die Bauchspeicheldrüse in Habachtstellung und fängt an, ein wenig Insulin auszuwerfen. Und noch viel mehr, wenn der Zucker über den Darm ins Blut gerät. Das Insulin spricht dann zu den Fettzellen: „Hallo, aufmachen, es gibt was zu fressen.“ Und die Fettzellen machen die Tür auf, lassen den Zucker rein und speichern ihn als Fett für schlechte Zeiten. Warum „verbrennen“ wir den Zucker nicht gleich in den Muskeln oder im Gehirn? Dafür ist er doch da? Stimmt, das tun wir auch, aber so viel Zucker, wie da gerade ankommt, so viel brauchen wir momentan gar nicht, wir laufen ja keinen Marathon. Wenn wir das täten, hätten die Fettzellen auch nichts zu tun – Marathonläufer werden normalerweise nicht dick, auch wenn sie tonnenweise Spaghetti Bolognese essen, da sie den anfallenden Zucker sofort in den Muskeln verbrennen.

Aber das war nicht die Idee von Mutter Natur, die uns diesen wunderbaren Körper geschenkt hat. Damals, vor 15.000 oder 30.000 Jahren, als die Nahrungsbeschaffung noch ganz anders lief, damals gab es relativ wenig Kohlenhydrate, und die Bauchspeicheldrüse war nur selten gefordert, nämlich nur dann, wenn wir mal – im gefährlichen Kampf mit den Bären, die das auch lecker finden – eine Wildbienenhonigwabe ergattern konnten. Dann musste dieses Überangebot von Zucker schnell gebunkert werden – eben für schlechte Zeiten. Und genau das besorgt das Insulin. Nur mal so zum Vergleich: Ein Apfel heute hat 15 Prozent Zucker. Vor gut 150 Jahren, also um 1850, enthielten Äpfel hingegen nur drei Prozent Zucker und vor 10.000 Jahren vielleicht noch weniger, dafür aber mehr Ballaststoffe, worauf unser Darm gut ausgelegt ist. Denn unser Darm funktioniert noch genauso wie vor 10.000 Jahren. Den Blinddarm haben wir immer noch, obwohl wir ihn nicht mehr brauchen, seitdem wir uns nicht mehr vorwiegend von Blättern ernähren. Nur von Grünzeug mit sehr viel unverdaulicher Zellulose zu leben (ohne dabei Wiederkäuer zu sein), das könnten wir heute nicht mehr dauerhaft. Die Fähigkeit dazu haben wir schon vor Hunderttausenden von Jahren begonnen, langsam zu verlieren. Pferde dagegen – wie auch wir keine Wiederkäuer – haben immer noch einen ein Meter langen Blinddarm, unserer ist nach Hundertausenden oder Millionen Jahren des Nichtgebrauchs nur noch einige wenige Zentimeter lang, aber eben immer noch da. 10.000 Jahre sind für grundlegende Veränderungen viel zu kurz. Der Ötzi, das dürfen Sie gerne glauben, hätte mit unserer heutigen Nahrung genau dieselben Probleme wie wir.

Zucker – und es sei nochmals gesagt, dazu gehört eben auch der Zucker, der aus Kartoffeln, Nudeln, Brot und Reis im Darm erzeugt wird – wird also zu einem kleinen Teil, so viel gerade akut benötigt wird, direkt in den Muskeln und im Gehirn verbrannt, der ganze überschüssige Rest wird in die Fettzellen eingelagert. Fruktose, also Fruchtzucker, sogar direkt in der Leber, wodurch die kleinen oder größeren Fettaugen auf der Leber entstehen, und wenn es heftig wird, die sogenannte Fettleber. Der bekannte Spruch „An apple a day keeps the doctor away“, sinnhaft ungefähr: „Ein Apfel pro Tag hält dich gesund und auch den Doktor vom Leib“, wurde angeblich um 1866 zum ersten Mal schriftlich veröffentlicht. Damals hatten die Äpfel wie gesagt nur drei Prozent Fruchtzucker. Heute gilt das leider nicht mehr, es war von einem Apfel die Rede, nicht von fünf (15 % = 5 x 3 %). Und wenn Sie viel Fruchtsaft trinken, kriegt Ihr Darm kaum bis gar keine Ballaststoffe mehr, aber Ihre Leber Fettaugen. Ein Liter naturtrüber Apfelsaft hat mehr Zucker als ein Liter Cola. Wohl bekomms! Dazu passend ein kleiner Einschub: Häufig werden fünf Portionen Gemüse und Obst pro Tag als gesund benannt. Mein Tipp: Schauen Sie besser genauer hin, und zwar auf den Kohlenhydratgehalt dessen, was Sie essen oder trinken!

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