Das Tal
des Fluches

Melissa May

Fantasyroman

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Zweite, überarbeitete Auflage 2014

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

© net-Verlag, 39517 Tangerhütte

© Coverbild: Jenny Schneider

Covergestaltung: net-Verlag

Illustrationen: Indihex

Lektorat: Miriam Steinröhder

ISBN 978-3-944284-85-9

Für Maico, die Leseratte.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Die Geburt

Der Fluch

Der Plan

Das Vermächtnis

Die Wette

Die Hexe

Die Flucht

Die Enttäuschung

Gute Menschen, schlechte Menschen

Freddy

Die Wahrheit

Josephines Eltern

Die Suche

Das Zielobjekt

Das falsche Spiel

Der Zauberring

Die Jagd

Das Ende des Fluches

Ein Wunder

Die Befreiung

Das neue Leben

Über die Autorin

Buchempfehlungen

Die Geburt

»Es ist ein Junge! Es ist ein Junge!« Der Vater rannte hinaus und verbreitete die frohe Kunde, dass am heutigen Tage, dem zehnten Januar des Jahres 1001, sein Sohn geboren worden war.

Er und seine Frau, die inzwischen vierzigjährige Ionara indischer Abstammung, hatten gedacht, dass sie nie ein Kind bekommen könnten. Die Eheleute, die einfache Bauersleute waren, hatten sich schon damit abgefunden, dass sie kinderlos bleiben sollten.

Doch dann wendete sich das Blatt. Die Freude war riesengroß, aber auch die Angst, ob es in Ionaras Alter auch gut gehen würde. Sie hatte viel liegen müssen, und es war ihr schlecht ergangen.

Das Kind hatte sich, trotz allem, gut entwickelt. Der Dorfarzt hatte keine Probleme gesehen, die das Kind betrafen.

Und nun wurden sie belohnt für die vielen Strapazen: Sie waren Eltern eines süßen Jungen geworden.

Die Eheleute nannten den neuen, kleinen Erdenbürger Jeremias. Jeremias Dogroll, der der Nachfolger des Dogroll-Hofes werden sollte. Zu Ehren des kleinen Jungen, in den so große Hoffnungen gelegt wurden, veranstaltete Emil Dogroll eine große Feier, zu der das ganze Dorf geladen war. Es wurden drei Schweine geschlachtet, und das große Fass Wein wurde angestochen, das der Bauer extra für diesen großen Moment aufgehoben hatte.

Auch eine alte, zurückgezogen lebende Frau, die sonst nirgendwo bei Festen geladen war, erschien auf dem Bauernhof, da die Dogrolls in ihrer Freude auch sie eingeladen hatten. Jeder sollte an ihrem Glück teilhaben.

Alle machten jedoch bei dem Fest einen großen Bogen um die Alte; keiner wollte mit ihr sprechen, da ihr Ruf nicht der beste war. Ihr wurde nachgesagt, dass sie viel Unglück über einige Familien gebracht hatte, die dann nach und nach durch mysteriöse Umstände ums Leben gekommen waren. Die alte Frau galt als Hexe, was ihr persönlich aber eine Ehre und Genugtuung war.

Nachdem alle Gäste ihre Geschenke präsentiert hatten, vollzog die Hexe als Letzte ihr Ritual.

Sie breitete ein mit Gold gewebtes Tuch über dem Neugeborenen aus, machte eine theatralische Geste und sprach: »Du, mein kleiner Jeremias, bist ein außergewöhnlicher Knabe, der an einem außergewöhnlichen Tag das Licht dieser Welt erblickte. Deine Eltern waren gut zu mir, daher sollst du über außergewöhnliche Kräfte verfügen. Dein Leben wird sich über 999 Jahre erstrecken, wobei du in der ersten Hälfte deines Lebens deine Kräfte gezielt einsetzen solltest. Du wirst anderen Menschen Gutes tun, wenn diese auch gut zu dir sind. Doch sollte dich eines Tages jemand zurückweisen, so wird sich dein Wesen von Grund auf ändern. Du wirst dich zu einem gefürchteten Wesen entwickeln. Deine Zauberkraft, die ich dir heute einhauche, wird in der zweiten Hälfte deines Lebens langsam nachlassen. Das solltest du niemals vergessen!«

Die Hexe machte beschwörende Handbewegungen und strich dem kleinen Jungen, der prompt in diesem Moment zum ersten Mal seine Augen öffnete, sanft über das Köpfchen.

Die Menschen um sie herum tuschelten, lachten oder bekreuzigten sich. Die frisch gebackenen Eltern sahen sich an und hoben die Schultern als Zeichen ihrer Ratlosigkeit. Die Mutter nahm ihren Säugling, den das goldene Seidentuch immer noch halb bedeckte, und schaute begeistert in seine blauen Augen. Es war schon eigenartig, dass er zum ersten Mal die Äuglein aufgeschlagen hatte, als das Sprüchlein der alten Hexe ertönte.

Ionara hielt nichts von Hexerei und glaubte auch nicht daran, was sie eben gehört hatte. 999 Jahre leben, das konnte doch kein Mensch! Gönnen würde sie es ja ihrem Kleinen, doch was nicht möglich war, konnte auch nicht geschehen. Das war ihre unwiderrufliche Ansicht.

So wuchs Jeremias Dogroll auf dem Bauernhof auf und entwickelte sich wie ein ganz normaler Junge. Keiner dachte mehr an die alte Hexe und ihre Beschwörungen. Jeremias war ein helles Köpfchen, begriff sehr schnell und machte seinen Eltern viel Freude.

Aber eines war ihm nicht in die Wiege gelegt worden: Jeremias war keine Schönheit, wenn man bei einem Jungen überhaupt von schön sein reden konnte. Hinzu kam, dass sich die Kinder über Jeremias und seinen Namen lustig machten. Daher begann er, seinen Vornamen zu hassen. Im Laufe der Zeit nannte er sich nur noch Dogroll.

Über die Worte der Hexe verlor keiner mehr ein Wort. Aus diesem Grunde erfuhr Jeremias Dogroll nichts über deren Existenz oder Wirkung.

Als seine Eltern starben, übernahm Dogroll – wie geplant – den gut laufenden Bauernhof. Er hatte zu Lebzeiten seiner Eltern auf dem Bauernhof alles ihnen zuliebe getan. Aber geliebt hatte er dieses Stück Land, die Tiere und die dazugehörigen Gebäude und Stallungen nie. Im Gegenteil: Alles war ihm regelrecht verhasst. Doch was hätte er anderes tun sollen? Es hätte den Eltern das Herz gebrochen, wenn ihr Sohn auf den Bauernhof verzichtet und in die weite Welt gewandert wäre.

Nun war er also allein zurückgeblieben, ohne seine Eltern und ohne eine Frau, und sollte den Bauernhof weiterführen. Für wen?

Verzweifelt saß er bei einem Glas Wein, als wie aus heiterem Himmel die alte Hexe aus dem Dorf in der Tür erschien.

»Na, mein Junge, was schaust du so bedrückt drein?«, fragte sie ihn in einem Ton, als ob sie seine Mutter wäre.

Dogroll kannte die Fremde nicht, denn sie hatte sich seit der Feier nach seiner Geburt nie wieder auf dem Bauernhof blicken lassen.

Der Alkohol machte ihn redselig, daher sagte er: »Ich weiß nicht. Mein Leben verläuft so … so … geplant, wie vorgezeichnet. Ich sollte wohl froh sein, aber ich kann nicht. Ich weiß auch nicht warum.«

»Aber ich weiß es«, erwiderte die Alte. »Du bist tatsächlich für etwas Höheres bestimmt, mein Junge. Hast du denn nie bemerkt, was du für außergewöhnliche Kräfte besitzt?«

»Ich? … Ich glaube nicht. Was denn für Kräfte?«

»Du hast das Zeug für einen großen Zauberer. Ich persönlich habe dir diese Gabe in die Wiege gelegt. Du musst nur etwas daraus machen.«

Dogroll stutzte und fragte: »Aber wie?«

Doch die Alte war schon wieder verschwunden. Er schaute sich um, lief nach draußen, aber sie war wie vom Erdboden verschluckt.

Was hatte sie gesagt? In ihm schlummerten ungeahnte Kräfte? Er könnte ein großer Zauberer sein? Er musste erst einmal lachen.

Dann kam er ins Grübeln. Er hatte tatsächlich nie etwas getan, um irgendwelche Kräfte zu erkennen oder zu mobilisieren. Es war wohl an der Zeit, damit zu beginnen. Einen Versuch war der Gedanke wert.

Und Dogroll war verblüfft. Es funktionierte. Seine Schnittwunde, die er sich gerade beim Schweineschlachten zugezogen hatte, heilte er mit einem einzigen Handauflegen. Das war genial! Er konnte es kaum fassen! Er hatte all die Zeit ungeahnte Kräfte in seinem Inneren verborgen gehabt und nichts davon gewusst. Was für eine Verschwendung!

So begann für Dogroll die Zaubererlaufbahn. Er verpachtete seinen Bauernhof und zog weit weg, wo ihn keiner kannte. Dort begann er ein neues, aufregendes Leben.

Er half vielen kranken Menschen, vollbrachte immer nur Gutes. Alle Welt sprach vom mächtigen Zauberer Dogroll. Alle verneigten sich vor ihm wie vor Jesus persönlich. Gleichzeitig hatte jeder großen Respekt vor ihm, dem großen Zauberer. Das Einzige, was Dogroll versagt blieb, war die Liebe einer Frau. Diesen einen Wunsch, den er hegte, mochte er sich nicht herbeizaubern. So etwas musste von sich aus geschehen und von allein reifen.

Viele, viele Jahre später – Dogroll bemerkte es erst nach etwa zwei Jahrhunderten seines Lebens – kam ihm die Erkenntnis, dass er anscheinend unsterblich war. Die Hexe hatte vergessen, ihm zu offenbaren, dass er für 999 Jahre auf dieser Welt verweilen sollte. Daher nahm er an, er würde nun ewig leben.

Diese neue Erkenntnis, auch wenn sie nicht ganz der Wahrheit entsprach, stimmte Dogroll unheimlich optimistisch. Er war mit den Dingen, wie sie sich entwickelt hatten, vollauf zufrieden.

Der Fluch

Grüne Felder mit schönen Sommerblumen zierten ein lang gezogenes Tal. Es war umgeben von vereinzelten kleinen, lichten Wäldern. Ein wahrhaftiges Idyll präsentierte die Schönheit und Einmaligkeit dieses Tales bis zum Jahre 1545. Inmitten des Tales standen kleine Häuser, in denen freundliche, arbeitsame Menschen lebten, die vor allem friedfertig waren. Sie verdammten alles Grausame und taten alles dafür, dass keiner dieses malerische, heimische Gefühl zerstören konnte.

Inmitten des Dorfes war rings um den Brunnen ein kleiner, einladender Dorfplatz entstanden. Etwas außerhalb spiegelte sich die Sonne in einem kleinen, aber sauberen See.

Insgesamt war jeder hier zufrieden, lebte tagein und tagaus mit der Gewissheit, hier mit seinen Kindern ein ruhiges Leben verbringen zu können.

Unweit des Tales – keiner wusste so recht wo genau – lebte ein mächtiger Zauberer namens Dogroll (die Kinder des Tales nannten ihn zum Spaß Donnergroll, weil er immer so griesgrämig dreinblickte und es zu seinem Namen passte), der aber ein gern gesehener Gast in dem Tal war, da er bereits vielen Menschen Gutes getan hatte. So waren einige Todkranke wieder zum Leben erweckt worden, die er mit seiner Zauberkraft und irgendwelchen undefinierbaren Kräutern und Tinkturen behandelt hatte.

Der Zauberer war ein stets in Schwarz gehüllter, stattlicher Mann, allerdings mit einer krummen Nase und etwas verzerrten Gesichtszügen, bei denen man nicht richtig zuordnen konnte, ob sie sich gerade zu einem Lächeln oder einem hämischen Grinsen entwickelten. Sein Alter konnte keiner schätzen, geschweige denn wissen, denn bereits Generationen kannten ihn und hatten Ehrfurcht vor Dogroll. Er schien unsterblich zu sein.

Bis zu dieser Zeit, dem Jahre 1545, hatte der Zauberer Dogroll seine Zauberkräfte nur für gute Zwecke eingesetzt. Er ging in den Häusern des Tales ein und aus und war bis dahin ein gern gesehener Gast, obwohl natürlich jedermann großen Respekt vor ihm hatte. Denn übernatürliche Kräfte erzeugten in Menschen, die sie nicht begreifen konnten, doch ein Gefühl der Unterlegenheit und der Bange vor etwas Unheimlichem.

In dem Dorf im Tale gab es auch ein Wirtshaus, das von zwei netten, älteren Leutchen geführt wurde, welche auch eine fesche Tochter hatten.

Eines Tages fiel es den Menschen im Tal auf, dass Dogroll immer öfter beim Dorfwirt einkehrte. Kein Wunder also, dass sich darüber alle die Köpfe zerbrachen. Was zog denn einen so mächtigen Zauberer ständig in das Wirtshaus? Er war doch wohl nicht dem Alkohol verfallen? Ein solcher Mann doch nicht!

Aber dann erkannten die Menschen, dass der Zauberer ein Auge auf die Tochter des Dorfwirtes geworfen hatte: auf die süße, junge, zierliche Maja. Maja war, äußerlich betrachtet, eine bereits reife, junge Frau, aber innerlich war sie noch nicht zu dieser herangereift.

Zunächst fühlte sich Maja, die achtzehnjährige, dunkelhaarige Schönheit, geschmeichelt von der Aufmerksamkeit eines solch mächtigen Mannes und aalte sich in dessen bewundernden Blicken. Es war auch nicht alltäglich, von einem mächtigen Zauberer beschenkt und in den Himmel gehoben zu werden.

Er tätschelte immerfort ihre Hände. Es schien tatsächlich, als wäre der Zauberer zum ersten Mal verliebt. Bisher hatte zumindest noch niemand den Zauberer Dogroll mit einer Frau gesehen. Eine Gefährtin hatte es seit Generationen nicht in seinem Leben gegeben.

Jedenfalls erwiderte Maja, die sinnliche und kecke Jungfrau, seine Liebe nicht, sondern spielte nur mit seiner Aufmerksamkeit, was ihr noch teuer zu stehen kommen sollte. Sie war eben ein noch zu junges Geschöpf und prahlte nur bei ihren Freundinnen mit der Aufmerksamkeit dieses mächtigen Mannes. Es kam ihr auch nicht in den Sinn, dass es diesem wirklich ernst war. Sie war gerade erst den Kinderschuhen entwachsen und der wahren Liebe noch nicht begegnet. Maja hatte auch gern mit den Jünglingen ihres Tales geflirtet, die alle um ihre Gunst warben. Doch als auch diese bemerkt hatten, dass ein außergewöhnlicher Konkurrent Maja den Hof machte, zogen sich alle mit ihren Blicken und Aufmerksamkeiten zurück. Maja bemerkte das zufrieden, aber nicht himmelhoch jauchzend. Der Mittelpunkt in jeder Runde zu sein, hatte etwas Berauschendes an sich gehabt. Aber Maja hatte schließlich einen Bauern gegen einen Prinzen eingetauscht. Das war Entschädigung genug. Maja lebte für das Jetzt und Heute. Sie dachte nicht an die Zukunft, dafür war sie noch zu jung.

Der Zauberer verliebte sich tatsächlich immer mehr in die quirlige Schönheit. Es verging kein Tag, ohne dass Dogroll nicht wenigstens für ein paar Minuten bei Maja hereinschaute.

So dauerte es auch nicht mehr lange, und Dogroll begab sich zu Majas Eltern – zwei Blumensträuße in der Hand – und hielt bei diesen um die Hand ihrer einzigen Tochter an. Diese waren zwar gerührt über so viel Ehre, doch glaubten sie selbst nicht daran, dass Maja Ja sagen würde. Sie kannten ihre Maja und hatten dieses Techtelmechtel bisher mit gemischten Gefühlen beobachtet.

Daher sagten sie vorsichtig zu Dogroll: »Wenn es auch der Wille von Maja ist, dann habt ihr zwei unseren Segen.«

Dogroll begab sich wie ein Jüngling auf Freiersfüßen zu Maja. Er wollte selbst nicht an sein Alter erinnert werden, denn zu den genannten Jünglingen zählte er sich gewiss nicht mehr. Aber wie sollte man das Alter eines Mannes schätzen, der bereits seit vielen Jahrhunderten lebte? So etwas war außerhalb des Vorstellungsvermögens von normalen Menschen!

Für Dogroll war es tatsächlich seine erste große Liebe. Zwar hatten ihm schon hin und wieder mal junge Mädchen gefallen, doch da diese immer sehr zurückhaltend gewesen waren und es in seinem Herzen nicht zu großen Gefühlswallungen gekommen war, beließ er es meistens damit, dass sich die Bekanntschaft abkühlte.

Während Dogroll nun zu Majas Zimmer hinaufstieg, schauten sich die besorgten Eltern gegenseitig an: Jeder sah in den Augen des anderen die Angst davor, was passieren könnte, wenn ihre Tochter dem großen Zauberer Dogroll einen Korb geben würde. Sie durften und wollten den Gedanken gar nicht zu Ende denken.

Wie die Eltern es vorausgesehen hatten, ließ Maja ihrem Sturkopf freien Lauf, sodass im Obergeschoss ein lautes Wortgefecht entbrannte.

»Ich will Euch nicht heiraten! Ich bin noch viel zu jung dafür!«, schrie Maja Dogroll an.

Die Eltern bekamen gezwungenermaßen einige Brocken mit und bekreuzigten sich. Denn sie wussten, dass es bisher noch niemand gewagt hatte, sich Dogroll in irgendeiner Form zu widersetzen. Sie hatten regelrecht Panik, wie dieser Mann in seinem Gram seine Zauberkräfte einsetzen könnte.

Was sie hörten, ließ ihr Blut in den Adern gefrieren: Maja beschimpfte Dogroll als eingebildeten und unansehnlichen Idioten, den sie nicht lieben würde und somit nicht seine Gemahlin werden könnte.

Die Eltern dachten sich: Wenn sie nur etwas vorsichtiger in ihrer Wortwahl und mit ihrem Temperament umgehen würde!

Doch es half alles nichts, die Eltern hatten keinen Einfluss auf das Geschehen, und Maja wich nicht ab von ihrem eigensinnigen Standpunkt.

»Ich suche mir meinen Ehemann selbst aus! Und mit Sicherheit werdet es Ihr, Zauberer Dogroll, nicht sein!«

Dogroll konnte es nicht fassen, dass eine Jungfrau, die alles von ihm geboten bekam, was sie sich nur wünschen konnte, es nicht würdigte, dass er ihr die ganze Welt zu Füßen legte. Dogroll war jetzt 544 Jahre alt und erlebte zum ersten Mal eine Herzensangelegenheit, in der er allerdings schroff zurückgewiesen wurde. Nicht wie bei den anderen Mädchen, die höflich, aber bestimmt sich hatten eine Ausrede einfallen lassen. Nein, diese hier, in die er sich tatsächlich unsterblich verliebt hatte, beleidigte ihn und seine Art, um sie zu werben! Sie beschimpfte ihn mit unglaublichen Worten, die Dogroll in seiner bisher gutmütigen Art nicht erwartet und verdient hatte. Maja war die ganze Zeit immer erfreut gewesen, ihn zu sehen, und hatte mit ihm geflirtet. Es hatte nie Anzeichen gegeben, die er negativ hätte deuten können. Dogroll war davon ausgegangen, dass sie genauso in ihn verliebt war wie er in sie. Er sah schließlich nicht aus wie ein Greis, trotz seines stattlichen Alters. Zugegeben, er war keine Schönheit. Das war er nie gewesen, und das war das Einzige, was ihm Zeit seines Lebens Verdruss bereitetet hatte. Doch er war ansonsten – und das hatte er auch von anderen stets gehört – ein stattlicher Mann im besten Mannesalter, sodass er sich selbst in die Annahme hineingesteigert hatte, auch Maja würde in ihm seine inneren Werte sehen.

Natürlich hatte er auch ihre funkelnden Smaragdaugen bemerkt, als er ihr mal ein Halsband, mal einen Ring geschenkt hatte. So etwas Schönes hatte sonst niemand in ihrem Umfeld erhalten. Alles in allem: Dogroll war sich Majas Zuneigung sehr sicher gewesen.

Durch diese Zurückweisung steigerte er sich in seinen Ärger dermaßen hinein, dass er von einem Tag auf den anderen ein von allen in der Gegend gefürchtetes Wesen wurde. Er wusste nicht, dass dies sein Schicksal war, das von der Hexe nach seiner Geburt vorausgesagt worden war.

Es blitzte und donnerte, als er wütend das Tal durchschritt. Die Menschen flüchteten vor ihm, nicht ahnend, was vorgefallen war. Dogroll tobte wie wild, sodass man sein Gebrüll im ganzen Tal hören konnte. Diese Demütigung, die Maja ihm zugefügt hatte, konnte er nicht ertragen. Er verwandelte sich in ein Tier, dem seine Lebensgrundlage genommen worden war.

Es ging sogar so weit, dass Dogroll glaubte, dass die Menschen, die sich hinter den zugeklappten Fenstern der kleinen Hütten versteckten, über ihn lachten – über ihn, den großen Zauberer Dogroll! Solche Gedanken bemächtigten sich seiner, sodass er sich wie wild hineinsteigerte in seinen Rachedurst bis ins Unermessliche.

Dogroll sann nach Rache und kam am nächsten Tag mit einem Gefolge von hässlichen Kreaturen wieder, die er bisher nur in seinem Schloss vor allen verborgen gehalten hatte, und befahl allen Talbewohnern, sich auf dem Dorfplatz zu einzufinden. Da er glaubte, dass ausnahmslos alle ihn wegen seiner Niederlage bei einer Frau belächelt hatten, involvierte er für seine Rache auch das gesamte Tal.

Er verkündete, während er herrschaftlich und drohend auf einem Podest aus Kisten stand: »Hört mir zu, Leute! Es spricht zu euch der große Zauberer Dogroll, der mit dem heutigen Tage zu eurem Feind wurde.«

Als wären die Elemente eine Einheit mit dem Zauberer Dogroll, begann es wiederum zu blitzen und zu donnern. Es war wie der Tag des Weltunterganges, gespenstig und Angst einflößend zugleich. Alle zuckten zusammen und duckten sich.

Dogroll fuhr fort: »Es gilt daher Folgendes: Ab heute wird keiner mehr von euch das Tal verlassen. Ich lasse einen dichten Tannenwald um euer Tal wachsen, sodass auch der Zugang von anderen Dörfern versperrt wird und niemand mehr in das Tal gelangen kann.«

Ein Raunen ging durch die Menschenmenge. Viele begannen zu schimpfen, einige riefen und fragten, warum er das denn tun würde.

Dogroll beendete mit einer Handbewegung das Durcheinander. »Ihr alle seid mir nicht mehr wohl gesonnen. Ein Zauberer beansprucht eine andere Verhaltensweise. Bisher habe ich geglaubt, dass ihr alle nette, aufmerksame Menschen seid und nicht gemeine und rücksichtslose Kreaturen, die nur an der Schmach des anderen Gefallen finden. Meine Regeln waren bisher diese: So wie mit mir jemand umgeht, werde ich es ihm tausendfach vergelten. So steht es in meinem Zauberbuch, so sind meine Regeln, so sind die Regeln der Unterwelt. Und so sollten auch eure Regeln sein. Maja ist eine Hexe in Menschengestalt. Sie kennt keine Regeln. Und so sei es: Sobald jemand das Tal verlassen sollte, werden meine Untertanen hier«– er zeigte auf seine hässlichen Kreaturen –»jeden Flüchtenden vernichten. So lautet mein Befehl und der Fluch, den ich über euer Dorf verhänge.«

Als sich einige Männer erhoben, um diesem Urteil, dem schließlich alle Bewohner unterlagen, entgegenzutreten, versperrten ihnen bereits diese ekeligen Kreaturen und Untertanen des Zauberers den Weg.

»Dogroll, gebt uns zumindest eine Chance! Jeder Fluch hat eine Möglichkeit, um aufgehoben zu werden. Nun verratet uns noch, wie diese lautet!«, wagte noch ein mutiger, älterer Mann, der sich anscheinend mit der Materie auskannte, hinzuzusetzen.

»Das kann ich euch sagen«, begann Dogroll schadenfroh und lachte sein lautes, dröhnendes Lachen, das ab sofort alle zu fürchten begannen, da es etwas absolut Grausames an sich hatte. Seine Gesichtszüge verzerrten sich.

Die Menschen konnten nicht glauben, wie sich jemand von einem Tag auf den anderen derartig verändern konnte.

Dogroll fuhr fort: »Nur eine Jungfrau kann das Tal retten. Zunächst soll sie aus eurem Dorfbrunnen einen Plan heraufholen, der in der Tiefe seinen Platz finden wird. Dann soll sie, oder eine der nächsten Jungfrauen, wenn es die erste nicht schafft, das Tal allein verlassen und sich durch das Dickicht der Wälder hindurchkämpfen. Sie muss an meinen Untertanen vorbei hinaus in die Welt. Ihre Aufgabe wird es sein, anhand des Plans meinen Zauberring zu finden, mit dem sie mich, den großen Zauberer Dogroll, bezwingen kann, wenn sie mich hernach aufspürt, wo auch immer ich mich gerade aufhalten und in welcher Gestalt auch immer ich gerade stecken sollte. Erst dann, wenn ich den Ring zu Gesicht bekomme, werde ich meine Kräfte verlieren und mich in Rauch auflösen, und der Fluch über euer Tal wird aufgehoben sein.«

Mit einem grausamen Gelächter, in das diese schrecklichen Kreaturen ebenfalls mit einstimmten, erhob sich der Zauberer Dogroll in die Lüfte und verließ auf nimmer Wiedersehen das Tal.

Alle Talbewohner waren schockiert und gingen nach Hause, um diese Ankündigung, die einfach unfassbar war, zu verarbeiten. Viele dachten sich, der Zauberer wollte ihnen wahrscheinlich nur Angst einjagen. Doch sicher war sich niemand.

Majas Eltern waren so gram darüber, was für ein Unglück ihre Familie – speziell natürlich Maja – über das Tal gebracht hatte, dass sie beide noch in derselben Nacht an Herzversagen verstarben.

Nun stand Maja, die ehemalige Angebetete des Zauberers, allein da mit dem geerbten Wirtshaus und begann, sich doch Vorwürfe zu machen. Sicher hätte sie niemals den Zauberer heiraten können, doch wenigstens hätte sie ihn hinhalten oder vorsichtiger mit ihm sprechen können. Sie erkannte ihr Fehlverhalten, konnte es aber nicht mehr rückgängig machen. Sich zu einer Entschuldigung durchzuringen, das ließ ihr Stolz jedoch nicht zu.

Die anderen Talbewohner waren natürlich erbost darüber, dass eine unter ihnen weilte, die der Auslöser für diesen schlimmen Fluch war. Sie beschimpften Maja und warfen mit faulen Eiern nach ihr, sodass sie sich in der ersten Zeit gar nicht unter den Leuten blicken lassen konnte und ihr Wirtshaus geschlossen ließ.

Das Erste, was für die Realität des Fluches sprach, war die Tatsache, dass ringsherum um das Tal über Nacht dichte Tannenwälder wuchsen. Wohin man auch blickte, überall ragten riesige Tannen aus der Erde – ein Phänomen, das nicht irdischen Ursprungs sein konnte. Allein das beunruhigte die Menschen.

Und trotzdem gab es anfangs tatsächlich einige Bewohner des Tales, die das alles für ausgesprochenen Unsinn hielten. Sie glaubten nicht an den Fluch.

Gleich in den ersten Tagen hatten zwei dieser jungen Männer versucht zu beweisen, dass alles nur ein grotesker Scherz war. Bewaffnet machten sie sich auf den Weg in den neu gewachsenen Wald. Aber schon am Waldeingang, wo die Tannen noch nicht ganz so dicht standen, waren sie von den Kreaturen des Zauberers erwartet und schonungslos niedergemetzelt worden. Sie hatten keine Chance gehabt.

Diese namenlosen Kreaturen, welche als Bewacher des Tales im Dienste des Zauberers standen, tummelten sich tagein und tagaus im Dickicht des Tannenwaldes, sodass die Bewohner des Nachts von nun an immer das dröhnende Gelächter dieser Ausgeburten des Teufels hören konnten. Es begann stets um Mitternacht. Diese schrecklichen Geräusche, an die sich aber im Laufe der Jahre doch jeder gewöhnte, gehörten zu dem Tal wie das Glockengeläut anderer Dörfer.