Der Weihnachtsmann war’s

Anthologie

Alle Rechte, insbesondere auf digitale Vervielfältigung, vorbehalten.

Keine Übernahme des Buchblocks in digitale Verzeichnisse, keine analoge Kopie ohne Zustimmung des Verlages.

Das Buchcover darf zur Darstellung des Buches unter Hinweis auf den Verlag jederzeit frei verwendet werden.

Eine anderweitige Vervielfältigung des Coverbildes ist nur mit Zustimmung der Coverillustratorin möglich.

Die Illustrationen sind urheberrechtlich geschützt und dürfen nur mit Zustimmung der Künstler verwendet werden.

Die Namen sind frei erfunden.

Evtl. Namensgleichheiten sind zufällig.

www.net-verlag.de

Erste Auflage 2016

© Coverbild: Jenny Schneider

Covergestaltung, Korrektorat und Layout: net-Verlag

Auswahl der Geschichten:

Lysann Rößler & Leserteam

© Illustrationen:

Angelika Schütgens (S. 43)

Christine Prinz (S. 105)

Barbara Acksteiner (S. 165)

Elisabeth Schreck (S. 180)

Jenny Schneider (S. 201, S. 332)

Silke Vogt (S. 233)

Jacqueline V. Droullier (S. 258)

Hannah Larix (S. 295)

Nadine Kofler (S. 300)

Olga Janssen (S. 323)

© net-Verlag, Tangerhütte

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

ISBN 978-3-95720-176-8

Der Weihnachtsmann war’s

Geschichten und Gedichte rund um dieses Thema

werden euch, liebe Kinder und Junggebliebene,

sicher prächtig unterhalten.

Ob ein lustiger Krimi, in dem vielleicht ein

verkleideter Weihnachtsmann der Täter ist, oder eine

gute Tat, die der Weihnachtsmann vollbracht hat – das

Fazit ist immer: Der Weihnachtsmann war’s!

Wir wünschen allen Lesern

einige unterhaltsame Stunden!

Euer net-Verlag-Team

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Volker Liebelt - Julia und die Zauberflöte

Petra Hagen - Diebischer Nikolaus

Gianna Suzann Goldenbaum - Eine vergessene Liebe

Angelika Schütgens - Mit roten Handschuhen ins Glück

Lars O. Heintel - Was das Christkind noch besser machen kann

Denise Blume - Blinder Passagier

Sabine Siebert - Christkind oder Weihnachtsmann?

Yvonne Stöckemann-Paare - Henrys Weihnachtswunsch

Christine Prinz - Vom Dache ho-ho-hoch, da kam er her

Christina Stridde - Die Socke des Weihnachtsmannes

Sabrina Nickel - Von wegen »Fröhliche Weihnacht«

Veronika M. Dutz - Das Weihnachtsgeschenk

Martin Pille - Das Ultimatum

Renate Neuser - Der große Wunsch vom kleinen Knirps!

Ingrid Schmahl - Meine Weihnachtsgeschichte

Karen Wright - Wer war das?

Barbara Acksteiner - Ein Weihnachtsgedicht weckt Erinnerungen

Ramona Ina Buggenhagen - Und es gibt ihn doch!

Doreen Hauswald - Weihnachten ohne Schnee?

Dörte Müller - Niemals arbeitslos

Elisabeth Schreck - Weihnachtszauber

Elisabeth Gehring - Eine schöne Bescherung!

Vera C. Koin - Als ein Weihnachtswichtel die Plätzchen der Oma klaute

Andreas Bohnensack - Der Weihnachtsbaum

Ute Fette - Die zauberhafte Weihnachtskarte

Andreas Engel - Wichtelstress

Sylvia Ludwig - Herzenswunsch

Silke Vogt - Ostermann und Weihnachtshase

Angelika Walk - Gibt es den Weihnachtsmann?

Ernst Merz - Wer sonst?

Christina Wuttke - Liebe Grüße vom Weihnachtsmann

Jacqueline V. Droullier - Die Weihnachtsmann-Akte 264

Marion Mink - Zimtsternverwirrung

Henning Brunke - Der Weihnachtsmann freut sich: Die Rentiere ziehn …

Sandra Pulletz - Hilfe für den Weihnachtsmann

Helmut Glatz - Weihnachten soll abgeschafft werden

Tine Sylwa - O du hektische …

Heinz-Helmut Hadwiger - Weihnachtsbesinnen

Hannah Larix - Weihnachtsmann mal anders

Nadine Kofler - Heimlich beobachtet

Susann Scherschel-Peters - Der Geschenkedieb

Florence Siwak - Das Geschenk

Susanne Schulzke-Riha - Es weihnachtet wieder

Lydia Teuscher - Lisas Wünsche

Heidemarie Opfinger - Gekidnappt

Olga Janssen - Weihnachtsmann in Arbeit

Kerstin Brichzin - Wer glaubt schon an den Weihnachtsmann?

Autorenbiografien

Illustratorenbiografien

Buchempfehlungen

Volker Liebelt

Julia und die Zauberflöte

»Bist du so weit, Julia?«

»Schon lange, Papa. Denkst du nicht, dass wir ein bisschen spät sind?«

»Doch. Mama wird mächtig sauer sein, wenn wir nicht pünktlich den Bahnhof erreichen. Ich werde ein wenig aufs Gaspedal drücken.«

Julia zog den Reißverschluss ihres roten Anoraks hoch und schloss die Haustür ab. »Schau dir nur den Schnee an, Papa! Wie willst du da aus der Garage kommen?«

»Das wird schon gehen. Aber ich werde später den Gehweg freischaufeln müssen, du weißt doch, wegen der Räumpflicht und so weiter. Komm jetzt!« Er stieg fünf Treppenstufen hinab und ging an der Hauswand entlang, bis er das Garagentor erreichte.

Julia bemühte sich, in seine Fußstapfen zu treten, damit kein Schnee in ihre Stiefel rutschte.

»Das sind bestimmt fünfundzwanzig Zentimeter«, sagte sie. »Oder?«

»Vergiss nicht, dass ich in den letzten drei Tagen mindestens fünf Mal gekehrt habe. Wenn du alles zusammenzählst, ist es erheblich mehr. Jetzt steig ein, die Tür ist offen!«

Julia setzte sich auf den Beifahrersitz, schlug die Stiefel gegeneinander, damit der Schnee von den Schuhsohlen fiel, und schwang die Beine ins Auto. Sie rieb ihre Hände. »Ist das kalt. Kannst du ein wenig heizen?«

Papa lachte. »Nur Geduld, junge Dame. Erst müssen wir losfahren. Anschnallen nicht vergessen!« Papa fuhr den dunkelblauen Mazda aus der Garage und bog links ab auf die Straße, die nach Ammersweiler führte. Es schneite so stark, dass es Julia schwindelig wurde, als sie versuchte, die Schneeflocken zu zählen, die auf der Frontscheibe landeten. Sie schloss die Augen und hörte bald das Motorengeräusch nicht mehr. Ihr Kopf senkte sich auf die linke Schulter …

Plötzlich zuckte sie zusammen und richtete sich auf. Ihr Rücken schmerzte von der harten Holzbank, auf der sie geschlafen hatte, und sie verzog das Gesicht, als sie die Arme streckte, um richtig wach zu werden. Wenige Schritte vor ihr wuchs ein Tannenbaum, vielleicht fünf Meter hoch, mit vielen Ästen, an denen silberne Kugeln an dünnen Fäden baumelten. Eine Kette mit winzigen, elektrischen Lampen umschlang die Tanne wie ein riesiges Spinnennetz, und das gelbgrüne Licht tauchte den Raum in eine geheimnisvolle Atmosphäre.

Julia stand auf, ging um den Baum herum und strich mit der Hand über die Rinde, während sie sich umblickte. An der Decke hingen Tropfsteine von einem halben Meter Länge, und die rauen Felsen, die die Seiten begrenzten, glänzten im Licht der Lampen. Wasser lief in kleinen Rinnsalen herab und versickerte zwischen den runden Kieselsteinen, die den Boden bedeckten. Auf der rechten Seite wuchsen tellergroße, dunkelgrüne Moosflechten, die aussahen, als hätte sie jemand an die Steinwände geklebt. Auf der linken jedoch lagen Päckchen, die Julia erst richtig erkannte, als sie näher heranging: große Päckchen, kleine Päckchen, Päckchen mit rotem, blauem, gelbem und grünem Geschenkpapier; Geschenkpapier mit silbernen Sternen, goldenen Kreisen, braunen Teddybären, bunten Kugeln, lachenden Prinzessinnen und vielen anderen Mustern. Sie waren fast bis zur Decke in mehreren Reihen aufeinandergestapelt.

Julia staunte. Das mussten Tausende sein!

»Herzlich willkommen im Weihnachtswunderland!«, brummte eine Stimme hinter ihr.

Julia drehte sich um und erblickte eine Gestalt, die neben der Tanne stand und aussah wie der Weihnachtsmann, den sie aus ihren Kinderbüchern kannte: langer roter Mantel, Mütze, weißer Bart und Augen, die fröhlich zwinkerten, wenn er lächelte.

»Ich habe noch nie so viele Geschenke auf einem Haufen gesehen. Das glaube ich einfach nicht«, stammelte Julia.

»Ich habe sie nicht gezählt, aber es sind viele, sehr viele sogar. Doch vergiss nicht, dass es Millionen Kinder auf der Welt gibt, und wenn ich jedes beschenke, werden die Päckchen schnell weniger. Glaub mir, ich mache das jedes Jahr. Und was tust du hier? Bist du auf der Durchreise?«

»Ja, ich denke schon. Obwohl ich ein wenig die Orientierung verloren habe.«

»Das ist schlecht. Eine junge Dame sollte immer wissen, wer sie ist und wohin sie will.«

»Ich weiß sehr wohl, wer ich bin«, sagte Julia schnell. »Ich habe nur vergessen, warum ich hier bin.«

»Wenn du dich in der Höhle umschaust, wirst du verschiedene Türen entdecken. Mal sind sie da, mal sind sie fort«, erklärte der Weihnachtsmann. »Jede Tür hat eine besondere Bedeutung, und was sich dahinter verbirgt, erschließt sich nur dir allein.« Und schwupp war er verschwunden.

Julia schaute verwundert auf die Stelle, an der sich der Weihnachtsmann in Luft aufgelöst hatte, und sah einen Gegenstand auf dem Boden liegen. Sie bückte sich und hob eine Flöte hoch. Sie war viel kleiner als die Flöte ihrer Mutter, die in einer der Schubladen im Garderobenschrank lag, und Julia hätte sie problemlos in ihrer Faust verstecken können. Sie setzte die Flöte an ihre Lippen und blies hinein. Ein leiser Ton schlüpfte heraus, der so rein klang wie der Gesang einer Lerche, die an einem Sommertag über ein Weizenfeld flog. Das Echo in der Höhle vervielfachte den Ton, und die dünnen Fäden, an denen die silbernen Kugeln hingen, bewegten sich leicht.

»Es wird einen Grund geben, wenn der Weihnachtsmann die Flöte zurückgelassen hat«, sagte Julia. »Ich will sie einstecken und mitnehmen; wer weiß, wozu sie gut ist.« Sie überlegte. Wie hatte der Weihnachtsmann das mit der Tür gemeint? Wollte er sie auf die Probe stellen, ob es ihr gelänge, sich hier zurechtzufinden? Mal sind sie da, mal sind sie fort. Der Satz klang wie ein Rätsel, das es zu lösen galt.

Hinter der Tanne befand sich eine Eisentür in der Wand, die ihr bereits aufgefallen war, als sie mit dem Weihnachtsmann gesprochen hatte. Die Eisentür war auf jeden Fall noch da, und als Julia mit der Hand dagegen schlug, spürte sie das kalte Metall auf ihrer Haut.

Plötzlich stutzte sie. Ungefähr eine Handbreit oberhalb der Klinke befand sich ein kreisrundes Fenster mit einem Durchmesser von etwa zehn Zentimetern, das aussah wie die Bullaugen auf einem der Segelschiffe, die bei Tag und Nacht über die Meere fuhren. Julia bückte sich und schaute durch die Glasscheibe. Es war Nacht, doch sie erkannte mehrere Häuser, die dicht nebeneinanderstanden. Die Wände waren aus Lehmziegeln gesetzt, und als Dach dienten Balken, die mit Schilfpalmblättern und Ästen bedeckt waren. Neben der Eingangstür des einen Hauses standen mehrere Säcke mit Oliven, Datteln und Chilischoten, und es roch nach Gewürzen wie in Mamas Küche, wenn sie die Pizza belegte. Einer der Säcke neigte sich zur Seite und drohte umzufallen.

Julia streckte die Hand aus … und richtete den Sack wieder auf.

»Du bist sehr flink, junges Fräulein«, sagte ein Mann, der plötzlich neben ihr auftauchte. Er hatte sich ein Tuch um den Kopf geschlungen, trug ein wollenes Hemdkleid und stand barfuß auf dem Lehmboden. »Ich hätte die Oliven im Dunkeln aufsammeln müssen, wenn du nicht so schnell gehandelt hättest. Nimm diesen Laib Brot und bring ihn deiner Familie.«

»Danke«, sagte Julia, die plötzlich merkte, wie hungrig sie war. »Was tun die vielen Menschen so spät auf der Straße?«

»Sie folgen dem Gebot des Kaisers Augustus und sind in Bethlehem eingetroffen, um sich zählen zu lassen. In der ganzen Stadt findest du keine freie Herberge mehr, und wir bräuchten dreimal so viele Bäcker, damit alle satt würden.«

»Wozu gibt es diese Volkszählung?«

»Eine gute Frage«, antwortete der Mann und beugte sich ein wenig vor. »Wie ich die Römer kenne, werden sie eine neue Steuer erheben.«

»Danke«, sagte Julia noch einmal und ging die Straße entlang. Sie biss in das Brot und kaute langsam. Das war also Bethlehem, die Stadt, die sie nur aus der Weihnachtsgeschichte kannte. Wenn es stimmte, was der Mann erzählt hatte, musste irgendwo am Himmel ein heller Stern leuchten, der den Hirten und den Weisen aus dem Morgenland den Weg zum Stall zeigen würde. Sie blickte nach oben. Unzählige kleine Sterne blinkten am Nachthimmel, aber ein richtig großer war nicht dabei. Vielleicht war es noch zu früh? Vielleicht würde der kleine Jesus erst in einigen Tagen zur Welt kommen, und warum sollte der Stern dann heute schon erscheinen? Wenn die Sache mit dem Stern aber gar nicht stimmte? Gewiss, da gab es noch die Geschichte mit dem Engel, der die Hirten auf den Weg schickte, aber was würde geschehen, wenn der Engel auch nicht kam?

Jedes Jahr zu Weihnachten holte Julias Mutter die Krippe vom Dachboden und stellte sie unter den Tannenbaum. Dabei packte sie auch zwei Hirten aus, der eine kniend, der andere stehend. Julia stellte sich vor, dass es Millionen Hirtenfiguren auf der Welt gab, und fasste einen Entschluss: Wenn der Engel nicht kommen sollte, dann würde sie die Rolle des Engels übernehmen und die Hirten wecken.

Plötzlich schimpfte jemand ganz in ihrer Nähe, und sie sah einen Hund, der ein Stück Fleisch im Maul hielt. Vor ihm stand ein Mann und schwang einen Knüppel in der Hand.

»Du verdammter Dieb!«, schrie er. »Ich werde dich prügeln, dass dir Hören und Sehen vergeht!«

Julia nahm schnell die Flöte zwischen die Finger und blies hinein.

Der Mann vergaß zu schimpfen, als er die Töne hörte, und der Knüppel erstarrte in der Luft. Der Hund nutzte die Gelegenheit und sprang davon. Julia ging ein paar Schritte näher.

»Sagen Sie, wo finde ich die Hirten mit ihren Schafherden?«

Der Mann ließ den Knüppel sinken und fand seine Sprache wieder: »Verlasse die Stadt in Richtung Osten. Hinter dem Zypressenwald beginnen die Weiden. Wenn du auf dem Weg bleibst, kannst du dich nicht verirren.«

Julia bedankte sich und wäre fast über den Hund gestolpert, der zurückgekommen war, während sie mit dem Mann geredet hatte. Der Hund sah dem Retriever von Julias Freundin Lea ähnlich, aber sein Fell war cremefarben und der Kopf ein bisschen schmaler. Sie schätzte, dass er eher ein Mischling war, von dem niemand wusste, woher er stammte. Nun stand er auf der staubigen Straße, blickte sie an und wedelte mit dem Schwanz.

»Na, Kleiner, was soll ich mit dir machen?«, sagte sie, zog ein Stück Brot aus der Tasche und reichte es ihm. »Wenn Leas Hund trockenes Brot frisst, dann wird es dir nicht schaden. Versuchs mal!«

Der Hund packte das Brot mit den Zähnen und schlang es hinunter. »So, und jetzt ab nach Hause!« Julia ging weiter, ohne sich noch einmal umzusehen.

Plötzlich spürte sie eine Berührung am Bein und sah, dass der Hund neben ihr lief. Sie blieb stehen. »Was soll denn das? Ich kann dich nicht mitnehmen. Du gehörst irgendwo hin, und wir wollen doch beide keinen Ärger bekommen, oder? Also troll dich!« Sie drängte sich zwischen die Männer und Frauen, die durch die Straße eilten, und verließ nach einer knappen Stunde die Stadt. Ihr Herz schlug heftig, als der Zypressenwald auftauchte. Die Bäume wirkten in der Dunkelheit wie eine Armee finsterer Gestalten, und Julia kam sich auf einmal klein vor. Als sie ein Geräusch neben sich hörte, hätte sie fast vor Schreck geschrien, und atmete erleichtert auf, als sie den Hund erkannte, der ihr gefolgt sein musste.

»Gut«, sagte sie und streichelte sein Fell. »Du kannst mich begleiten, wenn dir so viel daran gelegen ist. Ich werde dich Aiko nennen. So heißt der Hund von meiner Tante Frida. Ich habe ihn zwar nie gesehen, aber das spielt keine Rolle.«

Julia betrat den Wald, und es wurde finster, weil die Zypressen das Licht des Mondes verdeckten. Ob es eine gute Idee gewesen war, ganz allein die Hirten zu suchen? Unsinn, dachte sie. Wenn ich umkehre, würden die Hirten die Nacht verschlafen und erst aufwachen, wenn das Feuer erlosch und die Kälte unter ihre Decken kroch. Es knackte zwischen den Bäumen und raschelte am Boden. Waldgeister?

»Aiko, bist du noch da?«

Der Hund stupste sie mit der Schnauze an, als er den Klang ihrer Stimme hörte.

Julia hoffte, dass der Zypressenwald bald enden und den offenen Weiden Platz machen würde. Jetzt hörte sie die Geräusche sogar, wenn sie nicht darauf achtete, und es klang, als schlichen unsichtbare Gestalten durch die Büsche. Endlich. Da vorne lichteten sich die Stämme, und dort würden die Verfolger ihre Tarnung aufgeben und ihr gegenübertreten müssen.

Sie rannte an den letzten Zypressen vorbei und blieb auf dem abgeweideten Gras stehen. Aiko wich nicht von ihrer Seite. Das Rascheln wurde lauter, und wie auf ein Kommando brachen Wölfe aus dem Unterholz hervor und näherten sich schnell.

Aiko bellte laut, und seine Nackenhaare sträubten sich.

Julia holte wieder die Flöte aus der Tasche. Ihre Finger zitterten, und sie spielte die ersten Töne falsch, doch dann fand sie den Rhythmus, und die Melodie übertönte das Knurren der Raubtiere.

Die Wölfe blieben stehen und lauschten, bis Julia die Flöte absetzte. Dann schlichen sie davon, einer hinter dem anderen, und es waren so viele, dass Julia sie nicht zählen konnte. Sie zogen an den Weiden vorbei, ohne die Schafe anzusehen, und die Schafe grasten, ohne auf die Wölfe zu achten, denn es war die Nacht, in der es keine Feindschaft zwischen den Tieren gab.

Auf der Weide schliefen drei Hirten am Boden auf ihren Decken. Neben ihnen brannte ein Feuer, das der Hirtenjunge aus Holzscheiten und dürren Ästen aufgeschichtet hatte. Ein Hund hob den Kopf und blieb liegen, als Julia näher kam. Der Hirtenjunge ließ die Äste sinken und beobachtete sie. Das Mädchen setzte die Flöte an die Lippen und blies hinein, bis sich die schlafenden Hirten bewegten.

»Wacht auf und geht nach Bethlehem!«, rief sie. »Lasst eure Schafherden zurück und sucht den Stall, damit ihr das Kind seht, dass in der Nacht geboren wurde.« Mehr wusste sie nicht zu sagen, und als sich einer der Hirten aufrichtete, drehte sie sich um und rannte den Weg zurück, den sie gekommen war.

»Wer war denn das?«, fragte der erste Hirte.

»Keine Ahnung, aber sie hatte goldene Haare wie ein Engel«, sagte der zweite.

»Es war ein Engel«, behauptete der dritte, der eine braune Mütze auf dem Kopf trug. »Ich habe es genau gesehen und kann es bezeugen.«

Der Hirtenjunge schwieg, denn die Männer fragten ihn nicht, und er traute sich nicht, von selbst zu erzählen, was geschehen war.

»Du hast recht«, sagte der Erste und hob seinen Stock vom Boden auf. »Dem Ruf eines Engels sollten wir folgen. Reibt euch den Schlaf aus den Augen und lasst uns aufbrechen, damit wir selbst sehen, was heute Nacht geschehen ist!«

Julia und Aiko eilten den Weg zurück durch den Zypressenwald. Dieses Mal schlichen keine Wölfe nebenher, und sie erreichten die Stadt, ohne dass sie jemand aufhielt.

»Tja, Aiko, jetzt haben wir ein Problem«, sagte Julia und setzte sich auf eine Treppenstufe. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo wir die Herberge suchen sollen, und ich vermute, die Hirten auch nicht. Doch wenn sie den Stall nicht finden, werden sie umkehren und zur Herde gehen. Dann war unsere Mühe umsonst.«

Aiko bellte mehrmals.

»Du hast gut bellen«, sagte sie und strich ihm über den Kopf. »Aber was wir brauchen, ist eine Idee; noch besser wäre ein Führer, der uns den Weg durch die engen Gassen bis zum Stall zeigt. Die Flöte hilft mir leider nicht weiter.«

Aiko packte Julias Hosenbein und zog daran.

»Ist dir etwas eingefallen? Da bin ich aber gespannt. Auf geht’s!«

Aiko trabte los, und Julia hatte Mühe, dem Hund zu folgen. Er lief die Straße etwa hundert Meter entlang, bog rechts ein, weiter geradeaus, wieder rechts, nochmals rechts, dann links und immer weiter geradeaus, bis er vor einer Herberge stehen blieb.

»Aiko, ich hoffe, du weißt, was du tust. Ganz schön unheimlich diese Gegend mitten in der Nacht. Bleib bloß bei mir.« Sie kniete sich hin und streichelte sein Fell.

Aiko drehte sich um und leckte ihr das Gesicht ab.

»Jetzt ist gut. Wir haben keine Zeit zum Spielen. Bist du sicher, dass wir hier richtig sind? Ich glaube, der Stall wäre da hinten.«

Aiko sprang auf die Stalltür zu. Sie war nur angelehnt, und er drückte sie mit der Pfote auf. Beide gingen hinein, und Julia wusste sofort, dass das der Platz war, den sie gesucht hatte. An der Wand hing eine Laterne an einem Haken und erleuchtete den Raum. Ein Mann, der sich auf einen Stock stützte, drehte sich um, als die Stalltür knarrte. Sein langer staubiger Mantel bedeckte die Schultern und schützte ihn vor der Kälte.

»Habt keine Angst und tretet ein«, sagte er. »Das da drüben ist meine Frau Maria, und in der Krippe liegt der kleine Jesus.«

Julia blickte zu Maria, die einen blauen Umhang trug und lächelte, als sie den Blick des Mädchens erwiderte.

»Fürchtet euch nicht«, sagte sie und deutete auf einen Strohballen.

Julia setzte sich. Aiko legte sich zu ihren Füßen und beobachtete den Esel, der in der Ecke stand und Heu fraß. Der kleine Jesus wimmerte leise, und Maria beugte sich über die Krippe.

»Ich habe eine Flöte dabei«, sagte Julia. »Ich würde gern ein Lied für euer Kind spielen.«

»Das ist nett von dir«, entgegnete Maria. »Josef und ich lieben Musik, und ich denke, der kleine Jesus hört auch gerne zu.«

Das Mädchen zog die Flöte aus der Tasche. Dieses Mal spielte es alles richtig, und es schien, als bewegten sich seine Finger wie von selbst und entlockten dem Instrument die zauberhaftesten Melodien. Die Töne schwebten durch die Nacht, bis sie die Hirten erreichten und ihnen den Weg durch die engen Gassen zeigten. Die Männer öffneten die Stalltür und fielen auf die Knie, als sie das Kind in der Krippe liegen sahen. Die drei Lämmer, die sie mitgebracht hatten, liefen zu Maria und wärmten sie.

Julia spielte weiter, weil der Stern nicht leuchtete, und sie würde die Flöte erst absetzen, wenn die Heiligen Drei Könige den Stall gefunden hatten, denn so stand es in der Weihnachtsgeschichte. Sie würden Gold, Myrrhe und Weihrauch mitbringen, Geschenke, die eines Königs würdig waren.

»Er ist eingeschlafen«, sagte Maria plötzlich. »Ich glaube, dein Spiel hat uns allen gefallen.«

Julia ließ die Flöte sinken und überlegte, was jetzt aus den Heiligen Drei Königen werden sollte. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Bretterwand und dachte nach. Passierte das wirklich, was sie hier sah? Oder träumte sie? Nein, es konnte kein Traum sein, denn wenn sie mit den Fingern gegen das Holz rieb, spürte sie die winzigen Splitter, die in ihre Haut stachen. Sie schlug die Hände vor das Gesicht.

Aiko stieß mit der Schnauze gegen ihr rechtes Knie und sah sie mit seinen schwarzen Augen an, als wollte er fragen, ob er helfen könne.

Julia schlang die Arme um seinen Hals und presste ihren Kopf gegen das Fell. Sie spürte, wie sein Herz pochte.

Plötzlich drehte sich eines der Lämmer um und kam auf Julia zu. Die Hirten beachteten es nicht, obwohl das Glöckchen, das es um den Hals trug, leise bimmelte.

»Ding, dong, ding, dong.«

Julias Körper versteifte sich.

»Ding, dong«, hämmerte es in ihrem Kopf. Es klang wie …

»Julia, erinnere dich!«, sagte das Lämmchen, ohne das Maul zu bewegen.

»Was?«

»Er ist zu schnell gefahren.«

»Hör auf damit! Ich will das nicht hören.«

»Warum? Du würdest alles viel besser verstehen.«

»Genug! Es hat nie einen Unfall gegeben.«

»Bist du sicher?«

»Ganz sicher. Ich hatte mich angeschnallt, wie ich das immer tue. Die Straßen waren voller Schnee, die Laternen brannten, und die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos blendeten mich. Die Kirchturmuhr schlug, und ich zählte die Schläge. Ding, dong … Plötzlich, dann plötzlich …«

»Weiter!«

»Nein, ich weiß es wirklich nicht mehr.«

»Weiter!«

»Ding, dong …«

»Was geschah dann? Wenn du dich nicht erinnerst, ist deine Reise umsonst.«

»Julia!« Der Hirtenjunge stand plötzlich vor ihr. Aiko knurrte leise.

»Was ist los?«, fragte sie und schaute ihn an, als sei sie aus einem tiefen Schlaf erwacht.

»Du hast geschrien und mit den Fäusten auf den Zaun geschlagen.«

»Auf den Zaun? Aber wir sind doch …« Sie blickte sich um und sah die Schafe auf der Weide am Boden liegen. Das Feuer brannte hell, als hätte jemand gerade Holz hineingelegt.

Die Hirten schliefen auf ihren Decken.

Einer schnarchte; der daneben drehte sich von einer Seite auf die andere.

»Ich habe Äste ins Feuer geworfen. Du weißt schon, wegen der Wölfe.«

»Wo ist der Stall? Wo ist der kleine Jesus?«, stammelte Julia. »Bin ich denn verrückt geworden?«

Sie sah zum Feuer und beobachtete, dass die Flammen aus der Feuerstelle krochen, über die schlafenden Hirten sprangen und sie nicht berührten. Sie glitten auch über die Schafe, ohne das Fell zu entzünden, schlängelten sich zwischen den Gräsern hindurch und erreichten den Zypressenwald. Rotglühende Feuerzungen kletterten an den Baumstämmen empor und warfen ihr Licht in den dunklen Nachthimmel wie riesige Fackeln. Die Wiese glich einem Flammenmeer, und Julia stand mittendrin.

Aiko strich um ihre Beine und gab keinen Laut von sich. Der Hirtenjunge war verschwunden.

»Weihnachtsmann, hilf mir!«

»Konzentriere dich auf die Tür. Denk daran, wie du hergekommen bist.«

»Ich will es versuchen.« Julia schloss die Augen und dachte an die Höhle mit den Tropfsteinen, von denen das Wasser herabrann; an die silbernen Kugeln, die an der Tanne hingen, und an das runde Fenster, das sich über der Klinke befand. Sie erinnerte sich, dass sie sich gebückt hatte und … fühlte das kalte Metall der Eisentür, als sie die Hand ausstreckte. Geschafft! Sie stand wieder auf der anderen Seite und atmete erleichtert auf. Durch das kleine Fenster oberhalb der Klinke sah sie die Weide mit den Schafen. Der Hirtenjunge hielt immer noch mehrere Äste in den Händen und legte sie ins Feuer, während die Sterne am Himmel leuchteten. Dann verblasste das Bild und wurde schwarz.

»Willkommen zurück«, sagte der Weihnachtsmann. »Nanu, wer ist denn das?«

»Aiko!«, rief Julia erfreut und hielt dem Hund die Arme entgegen. Der wedelte mit dem Schwanz, bellte leise und legte seinen Kopf in die Handflächen des Mädchens. »Wir haben uns in Bethlehem angefreundet. Ich glaube, er mag mich.«

»Du solltest dich nicht zu sehr an ihn gewöhnen. Es ist unmöglich, dass er … Na, unmöglich vielleicht nicht, aber einen solchen Fall hatte ich noch nie.«

»Ich lasse ihn nicht zurück«, entgegnete Julia.

»Jaja, ich merke schon, du magst ihn auch. Ich werde über die Sache nachdenken, aber jetzt ist es dafür noch zu früh. Schau, was ich in meiner Hand halte.« Er fasste in seine Manteltasche, zog eine Glaskugel hervor und reichte sie dem Mädchen. In der Kugel sah Julia eine Winterlandschaft: einen zugefrorenen Teich, etwas Schilf am Rand und eine Schlittenspur im tiefen Schnee, an deren Ende ein Schlitten stand, der von zwei Pferden gezogen wurde. Doch dann passierte es: Die Kugel rutschte aus Julias Fingern, fiel auf den Steinboden, und die gläserne Hülle zerbrach in unzählige Scherben. Das Mädchen wich zurück und … stand plötzlich bis zu den Knien im Schnee. Aiko befand sich einige Meter entfernt und blickte so verdutzt drein, dass Julia lachen musste. Die Schneeflocken, die in Julias Gesicht landeten, fühlten sich genauso an wie der Schnee, den sie von zu Hause kannte und der seit mehreren Tagen vom Himmel fiel. Julia erinnerte sich. Mutter hatte den Zug genommen, weil es sicherer war, und selbst die Winterreifen von Papas dunkelblauem Mazda überzeugten sie nicht vom Gegenteil. Sie wollte zu Tante Frida fahren. Warum? Das hatte Julia vergessen. Auf jeden Fall kam sie am Samstag um neunzehn Uhr in Ammersweiler mit dem Zug zurück. So weit, so gut, aber wie war das mit der Autofahrt?

Plötzlich klingelten mehrere Glöckchen hinter ihr, und sie trat ein paar Schritte zur Seite. Zwei Pferde tauchten aus dem Schneegestöber auf. Sie zogen einen Schlitten hinter sich her, und darauf saß ein Mann, der die Zügel in beiden Händen hielt.

»Weihnachtsmann!«, rief Julia und winkte. »Wie kommst denn du hierher?«

Der Schlitten hielt an, und der Weihnachtsmann winkte zurück. »Steig auf! Wenn wir ein bisschen zusammenrücken, langt der Platz für zwei. Ich meinte natürlich für drei. Wenn dein Hund keine Ansprüche stellt, kann er sich hinten im Schlitten zwischen den Geschenkpäckchen ein Fleckchen suchen. Kein schönes Wetter zum Spazierengehen.«

Julia setzte sich und zog die Decke, die der Weihnachtsmann ihr reichte, fest über beide Beine. Aiko kroch unter eine Zeltplane, sodass nur noch der Kopf hervorschaute.

»Normalerweise nimmt der Weihnachtsmann keine Passagiere mit, aber wenn du den Bahnhof erreichen willst, muss ich dich ein wenig unterstützen.«

»Wie meinst du das?«, fragte Julia und fasste seinen dicken Pelzmantel an. »Was ist an diesem Abend geschehen?«

»Du musst dich selbst erinnern. Sieh da vorne, am Straßenrand.«

Das Schneetreiben ließ nach, und Julia entdeckte ein Auto, das auf dem Feld stand. Es musste von der Straße abgekommen sein, und sie erkannte, dass es auf dem Dach lag, weil die Räder in der Luft kreisten. Dann war der Schlitten vorbei, und sie sah nichts mehr.

»Das Auto hatte einen Unfall«, sagte sie und ihre Hände zitterten, obwohl sie sie unter die warme Lammfelldecke gesteckt hatte. »Der Fahrerraum sah schrecklich aus; alles zerquetscht.«

»Richtig. Unangepasste Geschwindigkeit, wie das heute so schön heißt.«

»Du meinst, der Fahrer ist zu schnell gefahren?«

»Genau. Viel zu schnell. Wegen irgendeiner Belanglosigkeit hat er das Leben seiner Beifahrerin und sein eigenes geopfert. Jammerschade.«

Julia schluckte. »Unser Auto zu Hause hat die gleiche Farbe. Dunkelblau.«

Der Weihnachtsmann schaute geradeaus und trieb die Pferde an: »Los geht’s! Schneller!«

Es schneite immer kräftiger, und Julia kniff die Augen zusammen, weil ihr der Wind entgegenblies. Der Weihnachtsmann neben ihr verschwand, als hätte er sich in Luft aufgelöst, und die Glöckchen, die an den Zügeln der Pferde hingen, klingelten immer leiser, bis sie nicht mehr zu hören waren.

Julia merkte plötzlich, dass sie nicht mehr auf dem Schlitten des Weihnachtsmannes, sondern in der Höhle auf der Holzbank saß. Der Weihnachtsmann stand neben der Tanne und räusperte sich.

»Warum bin ich hier?«, fragte Julia.

»Das weißt du doch jetzt.«

»Und warum ist außer mir niemand da?«

»Die Antwort ist einfach: Du dürftest eigentlich auch nicht da sein.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich will es anders formulieren«, sagte der Weihnachtsmann, strich mit den Fingern über seinen weißen Bart und dachte über die richtigen Worte nach. »Du bist eingeschlafen, hast geträumt, und anstatt aus deinem Traum zu erwachen, so wie alle Mädchen das in deinem Alter tun, hat dein Traum dich dahin geführt, wo alles endet und eine neue Welt beginnt. Eine Welt, die du irgendwann einmal betreten wirst. Irgendwann wohlgemerkt, aber nicht jetzt. Dieser Irrtum ermöglicht es dir, ein kleines Stück nach vorne in die Zukunft zu blicken und diese zu verändern.«

Julia begriff, was er meinte, und die merkwürdigen Erlebnisse der vergangenen Stunden ergaben auf einmal einen Sinn.

»Du weißt, was du tun musst. Sei klug und nutze die Gelegenheit!«

Julia schluckte, trat auf den Weihnachtsmann zu und umarmte ihn. »Danke.«

Der Weihnachtsmann lächelte. »Geh jetzt! Dein Vater braucht dich!«

»Was ist mit Aiko? Du hast versprochen, dass ich ihn mitnehmen darf.«

»Lass dich überraschen!«

»Ich habe die Zauberflöte dem Hirtenjungen gegeben«, sagte Julia. »Sie wird ihn vor den Wölfen schützen.«

In der Felswand entdeckte sie eine Tür, die von selbst aufschwang, als sie darauf zuging. Dahinter war es finster, aber ganz weit weg brannte ein Licht, das heller wurde, und es schien, als schwebe es ihr entgegen. Sie schirmte ihre Augen mit der rechten Hand ab, um nicht geblendet zu werden. Dann sauste das Licht vorüber, und Julia sah, dass es die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos waren. Sie saß wieder auf dem Beifahrersitz des dunkelblauen Mazda und betrachtete die Schneeflocken, die ununterbrochen vom Himmel fielen.

»Na, ausgeschlafen?«, fragte Papa und warf ihr einen kurzen Blick zu, ehe er den Kopf wieder zur Frontscheibe streckte, um besser sehen zu können. »Wenn nur endlich das Schneetreiben aufhören würde … Ich erkenne kaum noch die Straße. Aber wir sind viel zu spät; Mama wird toben.«

»Papa!«, schrie Julia. »Halt an!«

»Was?«

»Du sollst anhalten!«

Der Mazda wurde langsamer, rutschte ein wenig mit den Hinterrädern über die Fahrbahn und stand still. »Darf ich fragen, was das zu bedeuten hat? Ein Glück, dass hier eine Bushaltestelle ist, sonst stünden wir mitten auf der Straße.« Papa sah sie an, und die Falten auf seiner Stirn zeigten, dass er wütend war.

»Ich bin eingeschlafen und habe geträumt«, stotterte Julia. »Es war unheimlich. Der viele Schnee, das Scheinwerferlicht. Irgendjemand hat gebremst. Ich habe Schreie gehört, Glas ist gesplittert, es klang, als ob … Papa, ich habe ein ganz schlechtes Gefühl. Lass uns umkehren!« Julia sprach immer leiser und war froh, dass die Falten von Papas Stirn verschwanden.

Eine Minute lang sagte niemand ein Wort, und es war still im Auto, weil Papa den Motor abgestellt hatte und nachdachte. Dicke Schneeflocken blieben auf den Scheiben liegen.

»Ich mache dir einen Vorschlag: Ich werde ganz langsam weiterfahren, und wenn wir später ankommen, dann spielt das keine Rolle, weil Mama sicher nicht gewollt hätte, dass wir uns bei diesem Wetter beeilen. Ist das okay?«

Julia nickte, und Papa lächelte. Er drehte den Zündschlüssel, schaltete die Scheinwerfer an und fuhr zurück auf die Straße. Obwohl sie fast eine halbe Stunde länger brauchten, um Ammersweiler zu erreichen, schien Papa ganz vergnügt zu sein, denn er pfiff eine Melodie aus einer alten Fernsehserie, was er sonst nur tat, wenn er morgens duschte.

Die Mutter kam aus dem Bahnhofsgebäude, als sie den dunkelblauen Mazda erkannte. Sie trug eine Reisetasche in der linken Hand. Neben ihr lief ein Hund.

»Aiko!«, rief Julia. »Papa, das ist Aiko!«

»Natürlich ist er das. Aber wer hat dir von ihm erzählt? Wir wollten dich überraschen. Hey, warum denn so eilig?«

Julia war bereits ausgestiegen und zur Mutter gerannt.

Aiko sprang dem Mädchen bellend entgegen und leckte ihre Hände, als sie stehen blieb. »Mama, wir behalten ihn doch?«

Die Mutter lachte. »Ich weiß noch nicht. Tante Frida kann seit ihrer letzten Operation nicht mehr gut laufen und hat uns gefragt, ob wir ihn nehmen wollen. So eine Entscheidung will gut überlegt sein.«

Wenige Minuten später fuhr die Familie zurück. Papa hatte eine Decke über die Rücksitze gelegt, und Aiko schlief darauf. Julia saß daneben und streichelte sein Fell.

»Dich gebe ich nicht mehr her«, flüsterte sie so leise, dass es nur der Hund hörte.

»Wuff«, antwortete Aiko, ohne die Augen zu öffnen, und damit war alles gesagt.

Petra Hagen

Diebischer Nikolaus

Ich hab den Niklaus nicht mehr lieb,

Mama – der Kerl ist ein Dieb!

Kommt jährlich hier in unser Haus,

Mama, ich glaub, der raubt uns aus.

Das tut er voller Hinterlist,

wenn Papa grad nicht bei uns ist.

Ich tat ihm untern Mantel luchse,

du, Mama, der trug Papas Buxe!

Und aus dem Ärmel hing was raus,

das sah wie Papas Pulli aus.

Das hab ich ganz genau erblickt,

Mama, den hast du selbst gestrickt.

Und auch den Sack in seiner Hand,

den hab ich ganz genau erkannt;

denkt der, wir merken’s nicht, der Depp?

Das war der Sack vom Onkel Sepp!

Und deshalb ist für mich ganz klar,

dass er beim Onkel auch schon war.

Und weißt du noch, im letzten Jahr,

als Papa mal zu Hause war?

Klaute der Kerl auf seiner Tour

vom Onkel Hans die Armbanduhr!

Ich habe sie an seiner Hand –

glaub mir, Mama – genau erkannt.

Und dann hatte der Weihnachtsmann

vom Onkel auch die Schuhe an!

Und im Jahr vorher, weiß ich noch,

dass er nach Hühnerkacke roch,

er hat die Stiefel nicht geputzt,

die Opa stets im Stall benutzt.

Die hat er sicher auch geklaut,

schon allerhand, was der sich traut!

Er teilte seine Gaben aus

und dann verließ der Typ das Haus.

Ich hab zum Fenster rausgeschaut,

sah, wie er Papas Auto klaut,

sah auch, wie er Kostüm und Sack

heimlich in Papas Auto packt’.

Den Rauschebart und seine Mütz’,

die warf er auf den Hintersitz,

sprang in das Auto, fuhr davon –

die Polizei, die weiß es schon.

Ich hab die 1-1-0 gewählt,

die ganze Räuberei erzählt.

Mama – wenn stimmt, was ich grad seh,

hat Papa voll einen im Tee,

wird von der Polizei heut Nacht

schwankend zu uns nach Haus gebracht.

Er hat wohl nur mit Schnaps verdaut,

dass ihn der Nikolaus beklaut.

Bedenk, das ist ein Riesenschreck –

Pullover, Hose, Auto weg!

Mami – ich denk, das muss nicht sein,

den Fiesling lass mer nicht mehr rein!

Gianna Suzann Goldenbaum

Eine vergessene Liebe

Herbert betritt den von Licht durchfluteten Eingangsbereich der Einrichtung. Ein großer geschmückter Weihnachtsbaum prangt mit seinen leuchtenden roten Kugeln in der Mitte des Atriums. Ringsherum sitzen die Bewohner in ihren Rollstühlen und bestaunen das Prachtexemplar.

Herbert plagen ständig Zweifel, ob es richtig war, dass er seine Frau hier untergebracht hat. Die Verantwortung, Vivian bei sich zu belassen, wäre aber für ihn zu groß gewesen.

»Schwester Ina, ist meine Frau fertig zum Abholen?« Herbert spricht die blonde Schwester, die gerade an ihm vorbeihuschen will, schnell an.

»Ach, hallo Herbert!« Das Personal nennt ihn beim Vornamen. Seine Frau lebt schon seit einigen Jahren hier. »Ihre Frau ist abfahrtbereit und aufgeregt. Sie glaubt, ihre Eltern wollen sie nach Hause holen, weil heute Weihnachten ist.

»Na, dann werde ich sie darauf vorbereiten, dass ich ihr Ehemann bin und dass ihre Kinder und Enkel auf sie warten.«

»Bitte denken Sie daran, dass Ihre Frau in einer eigenen Welt lebt. Sie müssen Sie dort abholen, wo sie sich gedanklich gerade befindet.« Schwester Ina wirkt besorgt.

»Das weiß ich.« Herbert schmunzelt. Sie wissen, dass ich stets bemüht bin, in die Welt von Vivian einzutauchen. Ich möchte nicht, dass sie ärgerlich wird, wenn man ihr widerspricht.«

Herbert fährt mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock und geht zu dem Zimmer seiner geliebten Frau. Vivian sitzt auf ihrem gemütlichen Bett. Krampfhaft hält sie ihre Handtasche im Arm. Herbert weiß, dass Alzheimerpatienten große Verlustängste haben. Vor ihr steht der Rollkoffer. Sie hatte ihn sich selber noch ausgesucht, kurz bevor Herbert Vivian wegbringen musste.

Zu Weihnachten, da holte er seine Frau immer nach Hause. In ihr gemütliches Heim.

»Vivian, ich bin es.« Vorsichtig nähert Herbert sich dem Bett.

»Ach Papa, wie schön, dass du mich zum Christfest nach Hause holst. Ich wusste, dass du kommst.« Ein glückliches Lächeln umspielt die Lippen von Vivian. »Sind meine Geschwister alle da? Wir müssen für die Kleinen noch den Weihnachtsmann mit seinen Weihnachtselfen kommen lassen. Sie werden sich darüber freuen.« Vivian nimmt ihre Handtasche und guckt Herbert liebevoll an.

Er wischt sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel.

Sie hat sich im Spiegel wieder als junge Frau gesehen. Dann bin ich natürlich ihr Vater. So alt, wie ich aussehe.

Es tut Herbert im Herzen weh, dass seine Vivian ihn nicht mehr als ihren Mann erkennt. Er weiß, dass er darauf eingehen muss, wenn sie glaubt, er wäre ihr Vater. Sie würde sonst ungehalten reagieren. In ihren Kindern sah sie immer öfter ihre Geschwister.

Es gab aber auch helle Tage. Dann erkannte Vivian jeden Einzelnen. Klare Gedanke und Gespräche waren mit ihr möglich.

»Komm, mein Liebling, wir fahren.« Herbert nimmt ihre Hand und führt sie zu seinem Auto. Friedlich lässt sich Vivian von Herbert hinausführen.

»Oh, wie schön.« Staunend wie ein Kind schaut Vivian den Weihnachtsbaum im heimischen Wohnzimmer an. Er leuchtet mit roten und goldenen Kugeln. Schleifen in der gleichen Farbe wie die Kugeln zieren die Zweige der Tanne. Auf der Krone sitzt ein Engel. Unter dem Baum hat die Familie die Krippe aufgebaut. Sie ist aus dunklem Holz, und die einzelnen Figuren sind kunstvoll geschnitzt. Herbert nimmt Vivian liebevoll in die Arme. Gemeinsam stehen sie vor dem geschmückten Weihnachtsbaum. Vivian umarmt jedes ihrer Kinder und Enkelkinder.

»Ob wohl der Weihnachtsmann mit seinen Elfen kommt?«, fragt sie in die Runde ihrer Lieben. »Bestimmt fährt er auf seinem Schlitten, mit den Rentieren davor gespannt, direkt auf unser Haus zu.« Freudig schaut sie ihre kleinen Enkel an.

Herbert scheint es in diesem Moment, als ob Vivians Krankheit nicht von Bedeutung wäre. Als gäbe sie es gar nicht.

Leider ist dieser Zustand immer nur von kurzer Dauer.

Herbert erinnert sich an eine Begebenheit. Seine Frau erzählte ihm eines Tages, als er von der Arbeit heimkam, dass sie heute ganz viel Kaffeebesuch bekommen würde. Er konnte sich nicht an eine ausgesprochene Einladung erinnern.

Nach und nach bekam er heraus, was Vivian dazu veranlasst hatte. Die vielen Spiegel in dem gemütlichen Haus waren die »Übeltäter«. In jedem einzelnen sah sie eine Frau, sich selbst. Vivian erkannte sich aber nicht. Somit lud sie jede dieser Frauen zum Kaffeekränzchen ein. Liebevoll deckte sie den Tisch und setzte drumherum ihre Stofftiere und Puppen. Manchmal musste Herbert noch darüber schmunzeln. Obwohl es traurig war. Das war aber schon einige Jahre her. Seitdem schritt die Krankheit unaufhaltsam weiter. Bis auf die klaren Momente.

Vivian und Herbert hatten sich zur Weihnachtszeit kennengelernt. Seitdem war diese Zeit immer etwas Besonderes für sie.

»Ich würde so gerne mit dir im Schnee spazierengehen.« Vivian wirkt auf einmal sehr traurig. »Ich weiß doch, dass wir immer zu Weihnachten einen langen Spaziergang machen. Nur du und ich.« Liebevoll schaut sie ihren Herbert mit ihren großen blauen Augen an.

Die Kinder nicken ihren Eltern verständnisvoll zu. Warm eingepackt in flauschige Mäntel gehen Herbert und Vivian nach draußen.

»Ich verstehe gar nicht, was mit mir los ist.« Leise beginnt Vivian zu sprechen. Traurig klingt ihre Stimme. »Das Einzige, was ich noch weiß, ist, dass du mein geliebter Mann bist. Ich bin so froh, dass unsere Kinder und Enkel das Weihnachtsfest mit uns gemeinsam feiern.« Ganz fest drückt Vivian Herberts Hand.

»Du kannst dich an uns erinnern?« Herbert wagt einen kleinen Vorstoß. Er legt den Arm um die schmalen Schultern seiner Frau.

Heute hat sie einen hellen Tag, denkt Herbert glücklich.

»Du glaubst doch nicht, dass ich uns und unsere Liebe je vergessen könnte. Es ist nur manchmal so, als wenn ein Puzzleteil nach dem anderen verschwindet. Es werden immer weniger, die in meinem Kopf verbleiben.«

Arm in Arm gehen sie wie ein Liebespaar durch den Abend. In allen Fenstern leuchtet es weihnachtlich.

»Schau mal.« Plötzlich bleibt Vivian stehen und schaut nach oben. »Ich kann den Weihnachtsmann mit seinen Rentieren und Weihnachtselfen sehen.« Mit ganz roten Wangen und glänzenden Augen sieht sie zum Himmel.

Herbert wird es warm ums Herz. Fast sieht Vivian aus wie ein Mädchen.

So wie er sie kennengelernt hat.

Vivian scheint wieder in ihre eigene Welt zu versinken. Keiner kann dort eindringen. Nicht einmal Herbert.

»Ja, mein Liebling. Ich kann es auch sehen. Er ist auf dem Weg zu unserem Haus. Lass uns schnell zurückgehen, damit wir den Kindern Bescheid sagen können.« Ganz fest zieht Herbert seine Frau an sich. Einige Zeit verharren sie so. Es ist, als würden sie miteinander verschmelzen. Nichts stand zwischen ihnen. Auch nicht die Alzheimer-Erkrankung.

Wieder im Haus angekommen, verbringen sie mit ihren Kindern und Enkeln einen wunderschönen Weihnachtsabend. Der Tannenbaum strahlt in seiner ganzen Pracht um die Wette mit den Augen der Kinder. Das Haus riecht nach Plätzchen und Gänsebraten mit Rotkohl. Im Radio erklingen Weihnachtslieder.

Die Familie stimmt mit ein. Herbert merkt, wie wohl sich Vivian in der Mitte ihrer Lieben fühlt.

Ist es nicht egal, wer wir für sie sind? Hauptsache, sie weiß, dass wir alle zusammengehören, denkt er nach langer Zeit endlich mal wieder glücklich.

Er möchte diesen Heiligen Abend ohne Sorgen genießen können.

Plötzlich pocht es dumpf gegen die Eingangstür. Vivian hebt lauschend den Kopf. Herbert hat das Gefühl, als ob Vivian sich an damalige Weihnachten erinnert.

Sie legt den Kopf etwas schief, und ihre blauen Augen glänzen.

»Das wird der Weihnachtsmann mit seinen Weihnachtselfen sein.« Fröhlich sieht sie ihre kleinen Enkel an. »Kommt schnell, lasst uns die Tür öffnen!« Sie wirkt so, als hätte die Demenz nie ihr Leben verändert.

Eilig laufen die Kleinen, gefolgt von Vivian, zur Tür. Tatsächlich steht dort der Weihnachtsmann mit seinen Elfchen. Der lange rote Mantel ist mit Schneeflocken bedeckt. Die Elfen haben filigrane Flügel an den Schultern und tragen weiße Gewänder, die den Boden berühren. Ihre Haare sind wie gesponnenes Gold. Vivian kann die Augen nicht abwenden.

»Komm rein, lieber Weihnachtsmann. Du hast bestimmt eine lange Reise hinter dir. Können wir deinen Rentieren Wasser reichen?« Glockenhell klingt ihre Stimme. Wie die eines Mädchens.

Die Kinder blicken erstaunt zu ihrer Großmutter hoch. So haben sie die Oma noch nie gehört.

Der Weihnachtsmann zieht ein großes schwarzes Buch aus seinem Sack. Geschäftig blättert er darin herum. Dann sieht er die Kinder fragend an. Ob sie wohl auch ein Gedicht für ihn aufsagen könnten?

Nacheinander sagen sie stockend ihre einstudierten Gedichte für den Weihnachtsmann auf.

Dann packt er seinen braunen Jutesack mit den Geschenken aus. Großer Jubel bricht bei den Kleinen, angesichts der vielen erfüllten Wünsche, aus.

»Nun muss ich aber weiter«, erklingt die sonore Stimme des rot berockten Mannes. Er lässt alle sehr glücklich zurück. Verträumt und mit Tränen in den Augen schaut Vivian ihm und den kleinen Weihnachtselfen hinterher.

Spät am Abend geht die Familie schlafen. Herbert hilft Vivian liebevoll, sich bettfertig zu machen. Er hofft, dass sie nach dieser schönen Aufregung Schlaf finden wird. Weiß er doch, dass die Krankheit sie ruhelos macht und sie oft des Nachts umhergeistert. Die Ärzte nennen das eine »Lauftendenz«. Herbert fand den Ausdruck immer furchtbar. Vivian sagte einmal zu ihm: »Ich muss einfach aufstehen und herumgehen. Dann vergesse ich vielleicht das Gefühl, bei vollem Bewusstsein abwesend zu sein, verloren zu gehen, mich zu verirren.«

Herbert hatte es damals sehr betroffen gemacht, dass Vivian so empfunden hat.

All seine Liebe konnte ihr nicht helfen.

Fürsorglich schließt er die Haustür ab und legt den Schlüssel weg. Vivian würde nicht nach ihm suchen, weil sie oft nicht weiß, dass es einen Schlüssel gibt, um die Tür zu öffnen.

Herbert schreckt aus seinem leichten Schlaf hoch. Als hätte er gespürt, dass seine Frau nicht mehr neben ihm liegt. Schweißgebadet steht er schnell auf und geht ins Weihnachtszimmer. Vielleicht will sie ja noch einmal den wunderschönen Baum betrachten. Sie sitzt klein und verloren an dem großen Holztisch und schreibt. Erleichtert blickt Herbert auf die zerzausten hellen Haare seiner Vivian. Früher hatte sie oft dort gesessen und irgendetwas geschrieben. Schreiben war mal ihre große Leidenschaft gewesen.

Leise, um sie nicht zu erschrecken, spricht Herbert sie an: »Liebling, was machst du hier mitten in der Nacht?«

Sie dreht sich zu ihm um und sagt mit verklärtem Blick: »Ich habe einen Brief an den Weihnachtsmann geschrieben. Ich wollte ihn noch um etwas bitten.«

Sanft führt Herbert Vivian wieder ins Bett. Er verabreicht ihr ein leichtes Schlafmittel, damit sie den Rest der Nacht ruhig verbringen kann. Morgen früh muss er sie wieder in die Einrichtung bringen.

Als Vivian eingeschlafen ist, geht Herbert zurück ins Wohnzimmer und nimmt den Brief von Vivian in die Hand. Tränen verschleiern seinen Blick beim Lesen des Briefes. Es steht dort geschrieben:

Lieber Weihnachtsmann!

Bitte, kannst du mir helfen? Ich muss mich wiederfinden. Ich bin verloren gegangen und weiß einfach nicht wo. Mein ganzes Leben entschwindet. Löst sich auf in meinem Kopf. Ich habe Angst, dass ich vergesse, wie sehr ich meinen Herbert liebe. Er ist auch sehr traurig darüber, dass ich ihn manchmal nicht mehr erkenne. Das hat er mir jedenfalls erzählt. Ich kann es mir gar nicht vorstellen.

Früher waren die Schubladen in meinem Kopf prall gefüllt mit allen möglichen Gedanken. In einer Schublade wohnten meine Familie und ich. In einer anderen unsere liebsten Freunde. Es gab Schubladen mit Ideen für meine Geschichten und Schubladen mit kleinen, unwichtigen Dingen. Ich bin so traurig, dass ich sie nicht mehr alle aufziehen kann, weil sie einfach nicht mehr da sind. Ich kann nicht mehr nach den Dingen greifen, die sich darin befanden.

Früher spielte ich so gerne mit Puzzlen. Fehlte ein Teil, weinte ich bittere Tränen. Heute bin ich selber so ein unvollständiges Puzzle. Ein Teil nach dem anderen geht weg.