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Jonathan Balcombe

WAS FISCHE WISSEN

Wie sie lieben, spielen,
planen:
unsere Verwandten
unter Wasser

Aus dem Englischen
von Tobias Rothenbücher

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Der Übersetzer dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die großzügige Förderung der Arbeit an diesem Buch.

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel What a Fish Knows: The Inner Lives of Our Underwater Cousins bei Scientific American / Farrar, Straus and Giroux, LLC, New York.

Copyright © 2016 by Jonathan Balcombe

© 2018 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel / Petra Koßmann, mareverlag,
Umschlagabbildungen © [M] mare, Parkbenchpics / Dreamstime

Lektorat Claudia Jürgens, Berlin

Typografie (Hardcover) Iris Farnschläder, mareverlag

Datenkonvertierung E-Book bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-283-8

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-342-2

www.mare.de

Den unbekannten Billionen gewidmet

Inhalt

PROLOG

I. MISSVERSTANDENE FISCHE

II. WAS FISCHE WAHRNEHMEN

Was Fische sehen

Was Fische hören, riechen und schmecken

Orientierung, Berührung und andere Phänomene

III. WAS FISCHE SPÜREN

Schmerz, Wahrnehmung und Bewusstsein

Stress und Freude

IV. WAS FISCHE DENKEN

Flossen, Schuppen und Intelligenz

Werkzeuge, Pläne und Gedankensprünge

V. WEN FISCHE KENNEN

Zusammen in der Schwebe

Sozialverträge

Kooperation, Demokratie und Friedensarbeit

VI. WIE FISCHE SICH VERMEHREN

Sexualleben

Formen der Brutpflege

VII. FISCH AUF DEM TROCKENEN

EPILOG

Quellen

Dank

Register

PROLOG

Als ich acht Jahre alt war, stieg ich mit dem Leiter eines Sommercamps nördlich von Toronto in ein Aluminiumboot. Er ruderte im flachen Wasser der Bucht eine Viertelmeile weit hinaus, wo wir die nächsten zwei Stunden mit fischen zubrachten. Es war ein ruhiger Sommerabend, und das Wasser lag da wie Glas. Ich saß zum ersten Mal in einem so kleinen Boot, und es war herrlich, auf der sanft bewegten dunklen Weite zu treiben. Ich fragte mich, welche Wesen wohl unter der Oberfläche lauerten, was meine Aufregung noch steigerte, wenn ein plötzlicher Ruck an meiner primitiven Angel – einem entlaubten Zweig mit Leine und Haken – anzeigte, dass ein Fisch angebissen hatte.

Ich fing an diesem Tag sechzehn Fische. Manche warfen wir wieder ins Wasser. Einige andere, große Barsche, behielten wir für das Frühstück am nächsten Morgen. Mr Nelson erledigte die ganze schmutzige Arbeit, er bestückte die Angel mit sich windenden Regenwürmern, drehte den Widerhaken aus den Lippen der Fische und stieß ihnen sein Messer in den Schädel, um sie zu töten. Sein Gesicht verzog sich dabei so eigenartig, dass ich mich fragte, ob er Ekel empfand oder sich lediglich stark konzentrierte.

Ich erinnere mich gern an dieses Erlebnis. Aber als sensibler Junge mit einer Schwäche für Tiere verstörte mich vieles, was in diesem Ruderboot vor sich ging. Im Stillen taten mir die Würmer leid. Ich machte mir Sorgen, ob denn die Fische keine Schmerzen empfanden, wenn ihnen der Haken aus dem knöchern starrenden Gesicht gezogen wurde. Vielleicht hatte ja einer von denen, die wir behalten hatten, den Stoß mit der Klinge überlebt und verendete gerade in dem Drahtkorb, der über den Bootsrand baumelte. Doch der nette ältere Mann im Bug hatte offenbar keine Bedenken, daher schloss ich, dass alles in Ordnung sein musste. Und der Geschmack von frischem Fisch beim Frühstück am nächsten Morgen verdrängte die Sorgen des vorherigen Abends bis auf eine schwache Ahnung.

Das war nicht meine einzige Kindheitsbegegnung mit Fischen, die widersprüchliche Gefühle über den Rang unserer wechselwarmen Verwandten in unserem moralischen Gefüge bei mir aufkommen ließ. Im vierten Schuljahr gehörte ich zu einer kleinen Gruppe Kinder, die in meiner Grundschule in Toronto den Auftrag bekommen hatten, ein paar Lehrmittel von unserem Klassenzimmer in einen Nebenraum zu bringen. Darunter war auch ein Goldfischglas mit einem einsamen Goldfisch. Das Gefäß war zu drei Vierteln mit Wasser gefüllt und recht schwer. Damit der Fisch bloß niemandem in die Hände fiel, der vielleicht weniger gut auf ihn aufpasste als ich, übernahm ich freiwillig die Aufgabe, das Glas an sein Ziel zu bringen: auf einen Tisch beim Waschbecken.

Welche Ironie des Schicksals.

Ich hielt das Glas fest in meinen Kinderhänden und ging Schritt für Schritt durch die Tür, den Gang hinunter und in den anderen Raum. Als ich mich behutsam dem Tisch näherte, rutschte mir das Glas aus den Fingern und zersprang auf dem harten Boden. Wie in Zeitlupe lief das Grauen vor mir ab. Glas zersplitterte, und Wasser schoss über den Boden. Ich stand wie gelähmt da. Jemand, der bei klarerem Verstand war, schnappte sich einen Mopp und wischte Scherben und Wasser beiseite, dann suchten wir zu viert den Boden nach dem Fisch ab. Eine Minute verging, aber keine Spur von ihm. Es war wie in einem Albtraum. Es schien, als wäre er der irdischen Goldfischwelt entrückt und ins Himmelreich der Fische aufgefahren. Endlich fand ihn jemand. Er war hinter die Heizung gerutscht und fünf Zentimeter über dem Boden auf einem Vorsprung des Heizkörpers gelandet, wo man ihn nicht sehen konnte. Er lebte noch und starrte geschwächt ins Leere. Schnell wurde er in einen Becher mit Leitungswasser geworfen. Soweit ich weiß, hat dieser Fisch überlebt.

Obwohl der Zwischenfall mit dem Goldfisch mich offenbar tief beeindruckt hat, wie meine lebhafte Erinnerung noch vier Jahrzehnte später beweist, entwickelte ich dadurch noch kein neues Mitgefühl für Fische. Am Angeln habe ich allerdings nie größeren Gefallen gefunden: Der kleine Rest Begeisterung nach dem Ausflug mit Mr Nelson war schnell dahin, als es ans Befestigen der Köder und ans selbstständige Herausziehen der Haken ging. Aber ich brachte weder die Barsche, die ich so jäh aus der Sturgeon Bay gezerrt hatte, noch den unglücklichen kleinen Goldfisch, der mir in der Edithvale Elementary School heruntergefallen war, mit dem anonymen Fisch zusammen, der bei Familienausflügen zum nächsten McDonald’s in den leckeren Filet-o-Fish-Burgern steckte. Das war in den späten Sechzigerjahren, als McDonald’s sich bereits mit dem Slogan »over one billion served« brüstete. Damit konnten sowohl über eine Milliarde Fische oder Hühner gemeint sein, die über die Theke gingen, als auch die gleiche Anzahl Gäste vor der Theke. Aber wie in meinem Kulturkreis üblich, blieb mir gnädigerweise der Bezug zu den ehemals atmenden Lebewesen, die bei mir als Mittagessen auf den Tisch kamen, erspart.

Erst als ich zwölf Jahre später, im letzten Jahr meines Biologiestudiums, einen Ichthyologie-Kurs belegte, fing ich an, meine Beziehung zu Fischen und anderen Tieren ernsthaft zu hinterfragen. Ich war ebenso fasziniert von der vielfältigen Anatomie und den Anpassungen der Fische an ihre Lebensräume, wie mich die lange Reihe der reglosen, einst lebendigen Körper verstörte, die wir mithilfe unserer Seziermikroskope und Artenschlüssel bestimmen sollten. Während des Semesters machte der Kurs eine Exkursion ins Royal Ontario Museum, wo uns einer der führenden Fischkundler Kanadas außer der Reihe durch die ichthyologische Sammlung des Museums führte. Irgendwann schloss er eine große Holzkiste auf und öffnete den Deckel, unter dem eine enorme Seeforelle in einem öligen Konservierungsmittel trieb. Mit ihrem Rekordgewicht von rund 47 Kilogramm war sie 1962 im Lake Athabasca gefangen worden. Ihre Größe und ihr Körperbau wurden einem Hormonungleichgewicht zugeschrieben, das sie steril gemacht hatte; die Energie, die normalerweise in die aufwendige Laichproduktion geflossen wäre, war stattdessen der Körpermasse zugutegekommen.

Ich empfand Mitgefühl für diesen Fisch. Er war namenlos, wie die meisten, denen wir begegnen, und seine Lebensgeschichte blieb ein Geheimnis. Wie ich fand, verdiente er eine würdevollere Existenz, als in einer Holzkiste begraben zu sein. Ich hätte es vorgezogen, dass er gegessen worden wäre, dass sein Körpergewebe zurück in den Kreislauf der Nahrungsketten geflossen wäre, statt jahrzehntelang, verseucht von Chemikalien, im Dunkel zu treiben.

Tausende Bücher sind über Fische geschrieben worden, ihre Vielfalt, ihre Ökologie, ihre Fruchtbarkeit, ihre Überlebensstrategien. Und sicher lassen sich einige Regale füllen mit Büchern und Zeitschriften darüber, wie man Fische fängt. Doch bis heute ist kein Buch im Namen der Fische geschrieben worden. Ich rede dabei nicht von den Erklärungen der Umweltschützer, die das Schicksal bedrohter Arten oder die übermäßige Ausbeutung der Fischbestände anprangern (ist Ihnen übrigens schon einmal aufgefallen, dass der Ausdruck »übermäßige Ausbeutung« die Ausbeutung an sich legitimiert und dass »Bestände« Tiere zu einer Ware, vergleichbar mit Weizen, herabsetzt, deren einziger Zweck die Versorgung des Menschen ist?). Mein Buch hat zum Ziel, den Fischen auf eine Weise eine Stimme zu geben, wie es bislang nicht möglich gewesen ist. Dank verschiedener Durchbrüche in der Verhaltensforschung, Soziobiologie, Neurobiologie und Ökologie können wir heute besser als je zuvor verstehen, wie die Welt in den Augen der Fische aussieht, wie Fische die Welt sehen, fühlen und erfahren.

Bei den Recherchen zu diesem Buch habe ich den Plan verfolgt, die wissenschaftlichen Erkenntnisse durch Geschichten von Begegnungen zwischen Mensch und Fisch aufzulockern. Anekdoten sind unter Wissenschaftlern nicht sonderlich angesehen, doch sie vermitteln einen Eindruck davon, welche Fähigkeiten, die noch wissenschaftlich zu erkunden sind, in Tieren schlummern, und sie können zu einem gründlicheren Nachdenken über das Verhältnis zwischen Mensch und Tier anregen.

Dieses Buch stellt eine simple Hypothese von weitreichender Bedeutung vor. Die simple Hypothese lautet, dass Fische Individuen sind, deren Leben einen Eigenwert besitzt – unabhängig vom Nutzwert, den sie für uns etwa als Quelle für Profit oder als Mittel zur Unterhaltung haben mögen.1 Die weitreichende Bedeutung dessen besteht darin, dass sie damit berechtigt wären, in unsere Moralgemeinschaft aufgenommen zu werden.

Warum sich darüber Gedanken machen? Dafür gibt es zwei wichtige Gründe. Erstens bilden Fische zusammengenommen die am stärksten ausgebeutete Wirbeltierklasse der Erde (bis hin zur »übermäßigen Ausbeutung«). Und zweitens ist die Forschung, die sich mit dem Empfindungs- und Wahrnehmungsvermögen der Fische beschäftigt, inzwischen so weit fortgeschritten, dass es Zeit für einen Paradigmenwechsel in der Frage sein könnte, wie wir über Fische denken und wie wir mit ihnen umgehen.

Wie stark also werden sie tatsächlich ausgebeutet? Die Wissenschaftlerin Alison Mood hat anhand der Analyse von Fischfangstatistiken der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) aus den Jahren 1999 bis 2007 geschätzt, dass die Anzahl der Fische, die jedes Jahr von Menschen getötet werden, zwischen 1 und 2,7 Billionen liegt.2 Nur um einmal eine Vorstellung von einer Billion Fische zu bekommen: Wenn alle gefangenen Fische im Mittel so lang wie ein Dollarschein wären (ca. 15 Zentimeter) und wir sie hintereinander aufreihen könnten, würde das die Entfernung von der Erde zur Sonne und zurück ergeben – eine Rundreise von etwa 299 Millionen Kilometern –, und dabei würden noch ein paar Hundert Milliarden Fische übrig bleiben.

Moods Schätzung ist eine Ausnahme, weil der Blutzoll, den der Mensch der Fischwelt abverlangt, nur selten in Individuen beziffert wird. So schätzt die FAO selbst die Fangmenge der kommerziellen Fischereiindustrie aus dem Jahr 2011 auf 100 Millionen Tonnen. Die Fischbiologen Steven Cooke und Ian Cowx gehören ebenfalls zu den wenigen, die getötete Individuen zählen, und haben 2004 geschätzt, dass allein Sportfischer weltweit jedes Jahr 47 Milliarden Fische an Land ziehen, wovon rund 36 Prozent (etwa 17 Milliarden) getötet und die übrigen zurück ins Wasser geworfen werden. Wenn wir das von Cooke und Cowx angenommene Durchschnittsgewicht eines Fischs (0,635 Kilogramm) auf die kommerzielle Fangmenge von 100 Millionen Tonnen umrechnen, erhalten wir eine geschätzte Menge von 157 Milliarden Fischen.

Dabei kommt eine Studie zu dem Schluss, dass in den offiziellen Statistiken der FAO der letzten sechzig Jahre aufgrund der oft vernachlässigten Kleinfischerei, durch illegalen und anderen problembehafteten Fischfang sowie durch aussortierten Beifang die globalen Fangmengen um mehr als die Hälfte zu gering eingeschätzt wurden.

Wie man es auch dreht und wendet: Das sind eine Menge Fische, und sie sterben keinen schönen Tod. Die häufigsten Todesursachen bei kommerziell gefangenen Fischen sind Ersticken durch Entnahme aus dem Wasser, Dekompression durch den Druckunterschied beim Hinaufziehen an die Oberfläche, Erdrücktwerden unter dem Gewicht Tausender anderer, die in den riesigen Netzen an Bord gehievt werden, und Ausweidung, sobald der Fang an Bord ist.

Ganz gleich, welche Schätzung man heranzieht, solch schwindelerregende Zahlen verschleiern oft die Tatsache, dass jeder Fisch ein einzigartiges Individuum ist, das nicht nur biologische, sondern auch biografische Eigenschaften besitzt. So wie jeder Mondfisch, Walhai, Mantarochen oder Leopard-Forellenbarsch einzigartig gemustert ist, woran man Individuen äußerlich unterscheiden kann, hat jeder auch ein einzigartiges Innenleben. Genau das ist der Ausgangspunkt für eine Veränderung der Beziehung zwischen Mensch und Fisch. Es ist eine biologische Tatsache, dass jeder Fisch so einzigartig ist wie das sprichwörtliche Sandkorn. Anders als Sandkörner jedoch sind Fische Lebewesen. Das ist kein trivialer Unterschied. Wenn wir Fische als bewusstseinsbegabte Individuen begreifen lernen, werden wir vielleicht eine neue Beziehung zu ihnen aufbauen und pflegen. In den Worten eines unbekannten Dichters: »Außer meiner Haltung hat sich nichts geändert – daher hat sich alles geändert.«

1 Im Englischen verwenden wir üblicherweise für jede Anzahl zwischen zwei und einer Billion Fische den Singular »fish«, als wären sie alle gleich, wie Maiskörner an einem Kolben. Ich verwende inzwischen lieber den Plural »fishes«, um der Tatsache Ausdruck zu verleihen, dass diese Tiere Individuen mit Persönlichkeiten sind, die Beziehungen eingehen.

2 Moods Schätzung schließt weder die Sportfischerei ein noch illegal gefangene Fische, als Beifang gefangene und wieder zurückgeworfene Fische, Fische, die sterben, nachdem sie aus Netzen entkommen sind, in verlorenen oder über Bord geworfenen »Geisternetzen« gestorbene Fische, Fische, die von Fischern als Köder gefangen, aber nicht dokumentiert wurden, oder Fische, die als Futter für die Fisch- und Garnelenzucht gefangen, aber nicht dokumentiert wurden.

Teil I

MISSVERSTANDENE FISCHE

»Wir lassen niemals vom Entdecken

Und am Ende allen Entdeckens

Langen wir, wo wir losliefen, an

Und kennen den Ort zum ersten Mal.«

T. S. Eliot

Hinter dem, was wir leichthin als »Fisch« bezeichnen, steckt in Wahrheit eine grandiose Vielfalt von Tierarten. Auf Fish-Base – der größten und am häufigsten konsultierten Online-Datenbank über Fische – waren mit Stand Januar 2016 33 249 Arten in 564 Familien und 64 Ordnungen beschrieben. Das sind mehr als alle Säugetiere, Vögel, Reptilien und Amphibien zusammen. Wenn wir »Fisch« sagen, reden wir von sechzig Prozent aller auf der Erde bekannten Arten, die eine Wirbelsäule besitzen.

Nahezu alle heute lebenden Fische gehören zu einer von zwei großen Gruppen: den Knochenfischen und den Knorpelfischen. Knochenfische, mit dem wissenschaftlichen Namen Teleostei (von dem griechischen teleios für »vollständig« und osteon für »Knochen«), machen den bei Weitem größten Anteil aus und zählen rund 31 800 Spezies, darunter so vertraute Arten wie Lachse, Heringe, Barsche, Thunfische, Aale, Schollen, Goldfische, Karpfen, Hechte und Weißfische. Knorpelfische oder Chondrichthyes (von chondros für »Knorpel« und ichthys für »Fisch«) zählen etwa 1300 Arten, darunter Haie, Rochen und Chimären1. Die Mitglieder beider Gruppen verfügen über alle zehn Körpersysteme, die auch landlebende Wirbeltiere besitzen: Knochengerüst, Muskulatur, Nervensystem, Herz-Kreislauf-System, Atemtrakt, Sinnesorgane, Verdauungssystem, Reproduktionssystem, Hormonsystem und Harnapparat. Von ihnen unterschieden wird als dritte Gruppe die der Kieferlosen oder Agnatha (a für »ohne« und gnatha für »Kiefer«), eine Reihe von nur etwa 115 Arten, darunter Neunaugen und Schleimaale.

Der Einfachheit halber teilen wir Tiere mit Wirbelsäule in fünf Klassen ein: Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugetiere. Das ist jedoch irreführend, denn es unterschlägt die tief greifenden Unterschiede im Fischreich. Die Knochenfische unterscheiden sich in evolutionärer Hinsicht mindestens ebenso stark von den Knorpelfischen wie die Säugetiere von den Vögeln. Ein Thunfisch ist eigentlich viel enger mit dem Menschen verwandt als mit einem Hai, und der Quastenflosser – ein sogenanntes lebendes Fossil, das 1937 entdeckt wurde – steht uns am Stammbaum des Lebens noch viel näher als der Thunfisch. Wenn man die Knorpelfische mitzählt, gibt es also wenigstens sechs große Wirbeltierklassen.

Die Illusion, alle Fische seien untereinander eng verwandt, entsteht zum Teil durch die evolutionäre Rahmenbedingung, sich möglichst effizient im Wasser fortbewegen zu müssen. Da Wasser eine rund achthundertmal höhere Dichte als Luft besitzt, hat das Leben unter Wasser – bei Wirbeltieren – tendenziell die Ausprägung einer stromlinienförmigen Gestalt, eines muskulösen Körpers und abgeflachter Gliedmaßen (Flossen) begünstigt, die gemeinsam für einen vorwärtsgerichteten Antrieb sorgen und gleichzeitig den Wasserwiderstand vermindern.

Außerdem reduziert das Leben in einem vergleichsweise dichten Medium die Wirkung der Schwerkraft erheblich. Der Auftrieb des Wassers befreit die dort lebenden Organismen von dem Gewicht, das auf landlebenden Wesen lastet. Die größten Tiere der Erde – die Wale – leben daher im Wasser, nicht an Land. Darüber hinaus liefern diese Faktoren eine Erklärung für die geringe relative Gehirngröße der meisten Fische (also das Verhältnis zwischen Gehirn- und Körpergewicht), die ihnen angesichts unserer hirnfixierten Beurteilung anderer Lebewesen bereits zum Nachteil ausgelegt wurde. Doch Fische profitieren von kräftigen Muskeln, mit deren Hilfe sie sich im Wasser fortbewegen, welches ihnen mehr Widerstand entgegensetzt als Luft, während das Leben in einer Umgebung, die sie praktisch schwerelos macht, bedeutet, dass sie keinen Vorteil davon hätten, wenn ihre Körpergröße relativ zur Größe des Hirns geringer wäre.

Ohnehin ist die Größe des Gehirns für die kognitive Entwicklung nur von marginaler Bedeutung. Wie die amerikanische Naturforscherin und Autorin Sy Montgomery in einem Artikel über die geistigen Fähigkeiten des Oktopus anführt, ist in der Elektronik schon lange bekannt, dass sich alles verkleinern lässt. Ein kleiner Kalmar kann schneller lernen, sich in einem Labyrinth zu orientieren, als Hunde, und eine kleine Grundel kann sich die Strukturen eines Gezeitentümpels einprägen, indem sie ein einziges Mal bei Flut darüber hinwegschwimmt – eine Leistung, die, wenn überhaupt, nur wenige Menschen zustande brächten.

Die frühesten fischähnlichen Wesen erschienen im Kambrium, vor rund 530 Millionen Jahren.2 Sie waren klein und nicht sonderlich aufregend. Der große Durchbruch in der Evolution der Fische (und aller ihrer Nachkommen) gelang erst mit der Entwicklung des Kiefers, etwa 90 Millionen Jahre später, im Silur. Kiefer ermöglichten es diesen frühesten Wirbeltieren, ihre Nahrung zu packen, aufzubrechen und ihr Maul zu vergrößern, um Beute in kräftigen Zügen einzusaugen, was eine enorme Erweiterung ihrer Speisekarte zur Folge hatte. Wir können uns den Kiefer auch als das erste Schweizer Messer der Natur vorstellen, denn er hat noch viele andere Funktionen, etwa Gegenstände bearbeiten, Löcher graben, Nestbaumaterialien tragen, Jungtiere transportieren und beschützen, Geräusche machen und kommunizieren – etwa: Komm nicht näher, oder ich beiß dich. Als Fische Kiefer besaßen, war im Devon – auch »Zeitalter der Fische« genannt – die Bühne frei für eine wahre Explosion der Fischarten, unter ihnen auch die ersten großen Raubtiere. Die meisten Fische des Devon waren Placodermi (Panzerfische) mit einem von schweren Knochenplatten bedeckten Kopf und einem Knorpelskelett. Die größten Panzerfische müssen Furcht einflößend gewirkt haben: Manche Dunkleosteus- und Titanichthys-Arten waren gute neun Meter lang. Zähne besaßen sie nicht, aber sie konnten mit zwei Paaren scharfer Knochenplatten, die ihre Kiefer bildeten, Dinge schneiden und brechen. Bei ihren fossilen Überresten werden häufig Klumpen aus halb verdauten Fischskeletten gefunden, woraus man schließt, dass sie diese wieder hochwürgten, wie Eulen es tun.

Wenngleich sie im Devon alle ausgestorben und seit 300 Millionen Jahren von der Erde verschwunden sind, war die Natur den Panzerfischen freundlich gesinnt und hat manche Exemplare so detailreich erhalten, dass die Paläontologen in der Lage waren, daraus verblüffende Einzelheiten über ihr Leben abzuleiten. Ein besonders aufschlussreicher Fund ist der Materpiscis attenboroughi (Attenboroughs Mutterfisch) aus der Gogo-Formation in Westaustralien, benannt nach dem legendären britischen Naturfilmer David Attenborough, der sich 1979 in seiner Dokumentarreihe Life on Earth so sehr für diese Art begeisterte. Bei diesem perfekt dreidimensional erhaltenen Exemplar konnten vorsichtig einzelne Schichten abgetragen werden, sodass man ins Innere des Fischs schauen konnte. Und was kam dort zum Vorschein? Ein gut entwickeltes Materpiscis-attenboroughi-Baby, das mit seiner Mutter durch eine Nabelschnur verbunden war. Diese Entdeckung sorgte im Lager der Evolutionsbiologen für viel Wirbel, denn es verschob die Entstehung der inneren Befruchtung um 200 Millionen Jahre nach vorne. Außerdem erotisierte sie das Leben der frühen Fische. Soweit wir wissen, kann innere Befruchtung nur auf einem Weg erreicht werden: durch Sex unter Einführung eines Geschlechtsorgans. Offenbar hatten also Fische als Erste die Art Sex, die Spaß macht. Welche zwiespältigen Gefühle der australische Paläontologe John Long mit dieser Entdeckung in ihm auslöste, gestand Attenborough bei einem öffentlichen Vortrag: »Es ist das erste bekannte Beispiel eines kopulierenden Wirbeltiers in der Geschichte des Lebens – und ausgerechnet nach mir benennt er es.«

Vom Sex einmal ganz abgesehen, stand den Knochenfischen, die sich etwa zur gleichen Zeit wie die Panzerfische entwickelten, eine rosigere Zukunft bevor. Zwar erlitten sie während des dritten großen Artensterbens am Ende des Perm große Verluste, doch während der folgenden 150 Millionen Jahre, im Verlauf von Trias, Jura und Kreidezeit, entstand eine stetig größer werdende Artenvielfalt. Dann, vor etwa 100 Millionen Jahren, begann eine wahre Blütezeit. Seit damals hat sich die Zahl der bekannten Knochenfischfamilien mehr als verfünffacht. Da jedoch die fossile Überlieferung ihre Geheimnisse nicht freiwillig preisgibt, sind viele frühere Familien möglicherweise noch immer im Fels vor unseren Blicken verborgen.

Genau wie die Knochenfische erholten sich auch die Knorpelfische nach und nach von den Rückschlägen während des Perm, ohne allerdings später eine ähnlich explosionsartig wachsende Artenvielfalt zu erreichen. Soweit wir wissen, gibt es heute mehr Hai- und Rochenarten als jemals zuvor. Und wir begreifen allmählich, dass ihr schlechter Ruf, überaus kampflustig zu sein, wenig mit ihrer wirklichen Lebensweise zu tun hat.

Vielfältig und vielseitig

Da sie schwieriger zu beobachten sind als landlebende Tiere, ist der Lebenswandel der Fische nicht leicht zu ergründen. Der US-amerikanischen Nationalen Ozean- und Atmosphärenbehörde (NOAA) zufolge sind heute weniger als fünf Prozent der Weltmeere erforscht. Die Tiefsee ist der größte Lebensraum der Erde, und in ihm leben die meisten Tiere unseres Planeten. Eine über sieben Monate mittels Echolot durchgeführte Erkundung des Mesopelagials (der Zone zwischen 200 und 1000 Metern Meerestiefe), deren Ergebnisse Anfang 2014 veröffentlicht wurden, brachte die Erkenntnis zutage, dass dort zehn- bis dreißigmal mehr Fische leben als bis dahin vermutet.

Was sollte auch dagegensprechen? Vielleicht haben Sie einmal von der verbreiteten Vorstellung gehört, dass das Leben für Wesen in großer Tiefe hart und beschwerlich sei. Diese Überlegung greift zu kurz, denn der enorme Druck des auf ihnen lastenden Wassers beeinträchtigt die Bewohner der Tiefsee sicher nicht stärker als uns Menschen der rund zehn Tonnen pro Quadratmeter (oder etwas mehr als ein Kilogramm pro Quadratzentimeter) entsprechende Druck unserer Atmosphäre. Wie der Meeresökologe Tony Koslow in seinem Buch The Silent Deep erläutert, ist Wasser kaum komprimierbar, was zur Folge hat, dass der Druck in der Tiefsee eine geringere Wirkung hat, als wir es für gewöhnlich annehmen, weil der Innendruck eines Organismus dem äußeren Druck ungefähr entspricht.

Langsam ermöglicht uns die Technik erste Einblicke in die Tiefen des Ozeans, doch selbst in den für uns erreichbaren Lebensräumen bleiben viele Arten unentdeckt. Zwischen 1997 und 2007 wurden allein im Flussbecken des Mekong in Südostasien 279 neue Fischarten entdeckt. Das Jahr 2011 brachte vier bislang unbekannte Haiarten hervor. Ausgehend von den aktuellen Zahlen, rechnen Experten damit, dass sich die Gesamtzahl aller Fischarten irgendwann bei rund 35 000 einpendeln wird. Angesichts des Fortschritts der Methoden zur Unterscheidung von Arten auf genetischer Ebene vermute ich, dass es auch einige Tausend mehr sein könnten. Als ich als Doktorand Ende der 1980er-Jahre Fledermäuse erforschte, waren 800 Arten bekannt. Bis heute ist ihre Zahl auf 1300 angewachsen.

Aus Diversität entsteht Vielfalt, und aus der großen Vielfalt im Reich der Fische stechen einige bemerkenswerte Superlative und bizarre Lebensmuster heraus. Der kleinste Fisch – und gleichzeitig das kleinste Wirbeltier – ist eine winzige Grundel, die in einem der Seen auf der Philippinen-Insel Luzon lebt. Ausgewachsene Pandaka-pygmaea-Männchen werden nur gut acht Millimeter groß und wiegen etwa 0,004 Gramm. Würde man dreihundert von ihnen auf eine Waage legen, wären sie zusammen noch nicht so schwer wie eine amerikanische Eincentmünze.

Mit weniger als 1,3 Zentimetern sind die Männchen einiger Tiefsee-Anglerfische kaum länger, aber was ihnen an Größe fehlt, machen sie durch ihre unerhörte Lebensweise locker wett. Hat es ein Weibchen gefunden, beißt sich das Männchen bei manchen Arten an dessen Körper fest und bleibt dort für den Rest seines Lebens. Egal, wo er sich an sie hängt – ob am Bauch oder am Kopf –, am Ende ist er fest mit ihr verbunden. Mit seiner deutlich geringeren Größe erinnert das Männchen eher an eine veränderte Flosse des Weibchens, von dessen Blutkreislauf es mitversorgt wird und das es intravenös befruchtet. Aus dem Körper eines einzigen Weibchens können schließlich drei oder mehr Männchen wie verkümmerte Gliedmaßen hervorragen.

Es wirkt wie eine entsetzliche Spielart sexueller Belästigung und ist von manchen Wissenschaftlern als Sexualparasitismus bezeichnet worden. Die Motive dieser unkonventionellen Fortpflanzungsweise sind jedoch nicht so übel, wie es scheint. Auf etwa 800 000 Kubikmeter Wasser kommt schätzungsweise ein einziger weiblicher Tiefsee-Anglerfisch, und das ist genauso, als würde das Männchen in einem dunklen Raum von der Größe eines Footballstadions nach dem Ball suchen. Deshalb ist es klug, an seiner Partnerin festzuhalten, wenn man eine gefunden hat. Als Peter Greenwood und J. R. Norman 1975 eine aktualisierte Neuausgabe von A History of Fishes herausbrachten, hatte noch niemand je ein allein schwimmendes ausgewachsenes Anglerfischmännchen gesehen, was Fischkundler zu der Spekulation verleitete, dass die einzige Alternative zu einem erfolgreichen Andocken der Tod sei. Ted Pietsch von der University of Washington – der Kurator der Fischabteilung am Burke Museum für Naturgeschichte und Kultur und ein führender Experte auf dem Gebiet der Anglerfische – hat mir jedoch berichtet, dass es heute in den Präparatesammlungen der Museen weltweit Hunderte von (einst) frei lebenden Männchen gibt.

Weil das Männchen der ultimative Stubenhocker ist, muss sich das Weibchen nie fragen, wo ihr Gatte sich samstagabends rumtreibt. Offenbar sind manche Männer also tatsächlich kaum mehr als ein Anhängsel ihrer Frauen.

Ein weiterer Superlativ aus der Welt der Fische ist ihre Fruchtbarkeit, denn auch sie ist unter Wirbeltieren unerreicht. Ein einzelnes anderthalb Meter langes und 25 Kilo schweres Lengweibchen hatte 28 361 000 Eier in seinen Ovarien. Und selbst diese Zahl verblasst im Vergleich zu den 300 Millionen Eiern, die ein einzelner Mondfisch, der größte aller Knochenfische, in sich trug. Die Tatsache, dass die Aufgabe der Eltern allein darin besteht, ein winziges Ei in die Wassermassen zu entlassen, damit daraus ein so gewaltiges Wesen entstehen kann, trägt sicher zu dem verbreiteten Vorurteil bei, dass Fische unsere Wertschätzung nicht verdienen. Doch man muss sich vergegenwärtigen, dass der Anfang jedes Lebewesens eine einzelne Zelle ist. Und wie wir im Kapitel über »Formen der Brutpflege« noch sehen werden, ist Brutpflege bei vielen Fischarten sehr ausgeprägt.

Aus einem bescheidenen Ei, das kleiner ist als dieses »o«, kann ein Leng auf nahezu 1,80 Meter Länge heranwachsen, und es ist ein weiterer Superlativ, dass Fische im Lauf ihres Lebens als unabhängige Wesen so stark an Größe gewinnen. Doch der Wachstumsweltmeister unter den Wirbeltieren dürfte der Spitzschwanz-Mondfisch sein. Er ist nicht stromlinienförmig gebaut (die lateinische Bezeichnung der Familie, Molidae, bezieht sich auf ihre mühlsteinähnliche Gestalt), wächst von 2,5 Millimetern auf drei Meter Länge heran und kann ausgewachsen das 60-Millionen-Fache seines ursprünglichen Gewichts erreichen.

Haie stehen im Reich der Fische auf der anderen Seite des Fruchtbarkeitsspektrums. Manche Arten pflanzen sich mit nur einem Jungtier pro Jahr fort. Und das auch nur, nachdem sie ihre Geschlechtsreife erreicht haben, was bei einigen Arten ein Vierteljahrhundert oder länger dauern kann. In einem Teil seines Verbreitungsgebiets erreicht der Dornhai – eine stark befischte Art, deren Vertreter Sie vielleicht in Ihrem Studium sezieren mussten – seine Geschlechtsreife im Durchschnitt erst mit fünfunddreißig Jahren. Haie besitzen eine ebenso komplexe Plazentastruktur wie Säugetiere. Ihre wenigen Schwangerschaften treten in großen Abständen ein, und die Tragezeiten können sehr lang sein. Kragenhaie tragen ihren Nachwuchs mehr als drei Jahre aus; es ist die längste bekannte Tragezeit in der Natur überhaupt. Morgenübelkeit ist bei ihnen hoffentlich nicht so weit verbreitet.

Dornhaie können natürlich nicht fliegen. Andere Fischarten ebenso wenig, aber sie sind womöglich die besten Gleiter der Welt. Die bekanntesten mit dieser Eigenschaft sind die Fliegenden Fische, die mit etwa siebzig Arten die Oberflächen der offenen Meere bevölkern. Fliegende Fische haben stark vergrößerte Brustflossen, die wie Flügel wirken. Kurz vor dem Abheben können sie eine Geschwindigkeit von über 60 Stundenkilometern erreichen. Sind sie in der Luft, tauchen sie manchmal den Unterlappen der Schwanzflosse als eine Art Turbolader ins Wasser und können so über 360 Meter zurücklegen. In der Regel fliegen sie knapp über der Oberfläche, aber manchmal tragen Windböen diese Luftakrobaten vier bis sechs Meter hoch hinauf, und wahrscheinlich landen sie deshalb manchmal an Deck eines Schiffs. Ich frage mich, ob Atemnot die Fliegenden Fische bislang davon abgehalten hat, tatsächlich mit den »Flügeln« zu schlagen und längere Flüge zu absolvieren. Auch manche anderen Fische erheben sich in die Lüfte, darunter einige Salmlerarten aus Südamerika und Afrika, nicht aber die Flughähne, deren bunt schillernde Brustflossen ausgebreitet an die Tragflächen eines frühen Flugapparats erinnern.

Wo wir gerade bei Rekorden und Namen sind: Den wahrscheinlich längsten trägt das Maskottchen des US-Bundesstaats Hawaii, der Humudrückerfisch, unter den Einheimischen bekannt als Humuhumunukunukuāpua’a (der Fisch, der mit einer Nadel näht und wie ein Schwein grunzt). Der Preis für den am wenigsten schmeichelhaften Namen sollte wohl an den Anglerfisch mit der wissenschaftlichen Bezeichnung Lasiognathus saccostoma gehen: wörtlich »Haarkiefer-Sackmaul«. Und in der Kategorie »Anzüglichster Name« nominiere ich einen kleinen Küstenbewohner namens Slippery Dick (Halichoeres bivittatus).

Die aufregendsten Nachrichten aus der Fischwelt jedoch sind immer neue Forschungsberichte darüber, wie sie denken, fühlen und leben. Es vergeht heute kaum eine Woche, ohne dass neue Erkenntnisse über die Biologie und das Verhalten der Fische ans Licht kommen. Durch eingehende Beobachtungen von Riffen tritt beispielsweise ein differenziertes Sozialverhalten zwischen Putzerfischen und ihren Kunden zutage, das die arrogante Ansicht von uns Menschen Lügen straft, Fische seien tumbe Spatzenhirne und nicht mehr als Sklaven ihres Instinkts. Und das berühmt-berüchtigte Drei-Sekunden-Gedächtnis der Fische ist bereits durch simple Laborversuche widerlegt worden. Auf den folgenden Seiten werden Sie erfahren, dass Fische nicht nur zu Empfindungen fähig sind, sondern ein Bewusstsein besitzen, dass sie kommunizieren, ein Sozialverhalten haben, Werkzeuge benutzen und tugendhaft oder machiavellistisch handeln.

Unbedeutend? Keineswegs!

Unter allen Wirbeltieren – das sind Säugetiere, Vögel, Reptilien, Amphibien und Fische – wecken Fische die wenigsten Gefühle in uns. Da sie keinen erkennbaren Gesichtsausdruck zeigen und uns stumm erscheinen, missachten wir Fische viel leichter als unsere Luft atmenden Mitlebewesen. Welchen Stellenwert sie in unserer Kultur einnehmen, sieht man an den zwei miteinander zusammenhängenden Kategorien, in die wir sie einordnen: Sie sind erstens etwas, das man fangen, und zweitens etwas, das man essen kann. Sie am Angelhaken aufzuspießen und aus dem Wasser zu zerren, gilt nicht nur als harmlos, es wird auch als Symbol für die schönen Dinge des Lebens verwendet. Die Werbung zeigt häufig jemanden beim Angeln, und das Logo von DreamWorks, einem der beliebtesten amerikanischen Filmstudios, ist ein Junge, der an Tom Sawyer erinnert und entspannt angelt. Vielleicht haben Sie schon einmal Möchtegern-Vegetarier kennengelernt, die dennoch Fische essen, als gäbe es moralisch betrachtet keinen Unterschied zwischen einem Kabeljau und einer Karotte.

Warum verweisen wir Fische bislang auf einen Rang außerhalb der Grenzen unserer Moralgemeinschaft? Sie gelten als »Kaltblüter«, doch das ist ein unwissenschaftlicher Laienbegriff. Ich kann nicht nachvollziehen, warum es für den moralischen Status eines Lebewesens von Bedeutung sein sollte, ob es ein eingebautes Thermostat besitzt oder nicht. Jedenfalls haben die meisten Fische gar kein kaltes Blut. Fische sind wechselwarme Tiere, was bedeutet, dass ihre Körpertemperatur durch die äußeren Umstände bestimmt wird, vor allem durch das Wasser, in dem sie leben. Leben sie in warmen tropischen Gewässern, haben sie warmes Blut; leben sie in den eisigen Tiefen des Ozeans oder in den Polarregionen, wo viele Fische beheimatet sind, dann bewegt sich ihre Körpertemperatur in der Nähe des Gefrierpunkts.

Doch selbst diese Einteilung greift zu kurz. Thunfische, Schwertfische und manche Haiarten sind partiell endotherm – sie können eine Körpertemperatur aufrechterhalten, die höher ist als die Temperatur ihrer Umgebung. Das erreichen sie, indem sie Wärme speichern, die sie mit ihrer kräftigen Schwimmmuskulatur erzeugen. Blauflossen-Thunfische halten in Wassertemperaturen zwischen 7 und 27 °C eine Muskeltemperatur zwischen 28 und 33 °C aufrecht. Damit ähneln sie vielen Haien, bei denen eine kräftige Vene das Zentralnervensystem erwärmt, indem sie warmes Blut aus dem Inneren der Schwimmmuskulatur zum Rückenmark leitet. Die Gruppe der großen räuberischen Schwertfischartigen (Marline, Schwertfische, Fächerfische, Speerfische) wärmen auf diese Weise ihr Gehirn und ihre Augen, damit diese in tieferen, kühleren Wasserschichten optimal arbeiten. Im März 2015 haben Wissenschaftler mit dem Gotteslachs den ersten echten endothermen Fisch beschrieben, der seine Körpertemperatur konstant auf etwa 5 °C über der Temperatur des kühlen Wassers hält, das ihn in bis zu 300 Metern Tiefe umgibt – dank der Wärme, die er durch konstante Schläge seiner langen Brustflossen erzeugt und durch ein Gegenstrom-Wärmetauschsystem in seinen Kiemen konserviert.

Ein anderes verbreitetes Vorurteil über Fische besagt, sie seien »primitiv«, was in diesem Zusammenhang eine Fülle negativer Konnotationen hat: einfach, unterentwickelt, dumm, unflexibel und gefühllos. Fische seien »vor meinem Sonnenaufgang […] geboren«, schrieb D. H. Lawrence 1921 in seinem Gedicht »Fisch«.

Niemand bezweifelt, dass es Fische schon seit langer Zeit gibt, doch genau das begründet den Denkfehler, Fische seien primitiv. Das Vorurteil beruht auf der Annahme, dass diejenigen, die im Wasser geblieben sind, just in dem Moment aufhörten, sich weiterzuentwickeln, als einige andere an Land gingen – eine Vorstellung, die dem ruhelosen Prozess der Evolution völlig widerspricht. Gehirn und Körper aller heute lebenden Wirbeltiere sind ein Mosaik aus primitiven und fortgeschrittenen Eigenschaften. Im Lauf der Zeit – und davon ist reichlich verstrichen – erhält die natürliche Auslese alles, was gut funktioniert, und verwirft, hauptsächlich durch den Prozess einer allmählichen Verfeinerung, den Rest.

Alle Fischarten, die bereits existierten, als Beine und Lungen das Tageslicht erblickten, sind schon lange verschwunden. Etwa die Hälfte der heute auf unserem Planeten lebenden Fischarten gehört zur Gruppe der Percomorpha, die vor gerade einmal 50 Millionen Jahren eine wahre Orgie der Artenbildung feierte und den Höhepunkt ihrer Artenvielfalt vor rund 15 Millionen Jahren erreichte, als sich gerade die Familie der Menschenaffen, der Hominoidea, entwickelte, zu der auch wir gehören.

Etwa die Hälfte aller Fischarten ist also nicht »primitiver« als wir. Die Nachkommen der frühen Fische hingegen hatten Jahrmillionen länger Zeit, sich zu entwickeln, als die Arten an Land; so gesehen sind also Fische die am höchsten entwickelten aller Wirbeltiere. Vielleicht überrascht es Sie, zu erfahren, dass Fische die genetischen Anlagen besitzen, Finger zu entwickeln – das zeigt, wie ähnlich sie den heutigen Säugetieren sind. Nur bilden sie keine Finger aus, sondern Flossen, weil man damit nun einmal besser schwimmen kann als mit Fingern. Ähnliches gilt für die segmentierte Muskulatur. Der Rectus abdominis – die Muskulatur des Waschbrettbauchs, die unsere fittesten Sportler ziert (und die bei uns allen vorhanden ist, leider eben nur unter etwas zu viel Fettgewebe verborgen) – geht auf die längs angeordneten Muskelsegmente zurück, die zuerst bei den Fischen angelegt wurden. Mit dem Titel seines populären Buchs Der Fisch in uns erinnert der amerikanische Evolutionsbiologe Neil Shubin daran, dass unsere Vorfahren Urfische waren – das haben wir mit heutigen Fischen gemeinsam – und dass unser Körper voller abgewandelter Strukturen steckt, die sich bis zu diesen gemeinsamen wasserlebenden Ahnen zurückverfolgen lassen.

Ein älterer Organismus ist nicht notwendigerweise einfacher gebaut. Die Evolution strebt nicht unermüdlich nach gesteigerter Raffinesse und Größe. Die größten Dinosaurier waren nicht nur viel größer als die heutigen Reptilien, kürzlich haben Paläontologen auch Hinweise darauf gefunden, dass sie soziale Wesen mit mindestens ebenso komplexen Brutpflege- und Kommunikationsformen waren, wie sie heutige Reptilien besitzen. Die größten landlebenden Säugetiere starben vor Tausenden oder Millionen von Jahren aus, und das just zu einer Blütezeit der Artenvielfalt unter den Säugern. Das eigentliche »Zeitalter der Säugetiere« ist vorbei. Zwar gelten gemeinhin die vergangenen 65 Millionen Jahre als ein solches Zeitalter, doch eine weit größere Artenvielfalt haben in der gleichen Zeitspanne die Knochenfische hervorgebracht. »Zeitalter der Knochenfische« klingt vielleicht nicht ganz so sexy, wäre aber zutreffender.

Ebenso wenig wie die Evolution stets unweigerlich zu einer größeren Komplexität führt, dient sie einer allmählichen Perfektion. Trotz all der eleganten Anpassungen, die Tiere bestmöglich funktionieren lassen, ist es ein Trugschluss, zu glauben, dass Tiere perfekt an ihre Umgebung angepasst wären. Sie können es gar nicht sein, weil ihre Umgebung nicht unveränderlich ist. Durch Witterungsverläufe, geologische Veränderungen wie Erdbeben oder vulkanische Aktivität und den andauernden Erosionsprozess ist sie ständig im Wandel. Und auch wenn man solche Störungen ausklammert, arbeitet die Natur nicht völlig effizient. Kompromisse sind unvermeidlich. Beim Menschen zählen unsere Weisheitszähne ebenso dazu wie unser Blinddarm und der Blinde Fleck an der Stelle, wo der Sehnerv die Netzhaut durchdringt. Bei Fischen wiederum bewirkt das Schließen der Kiemendeckel beim Atmen einen Vorwärtsschub. Möchte ein Fisch im Wasser stehen, was er beim Ruhen in der Regel tut, muss er diesem Schub entgegenwirken. Daher sieht man kaum je im Wasser stehende Fische, deren Brustflossen nicht in Bewegung sind.

Je mehr wir über Fische erfahren, sei es über ihre Evolution oder ihr Verhalten, desto zahlreicher werden unsere Möglichkeiten, uns mit ihnen zu identifizieren, und desto mehr wächst unsere Fähigkeit, zwischen ihrer Existenz und unserer eine Beziehung herzustellen. Entscheidend für Empathie – also für die Fähigkeit, sich in die (schuppige) Haut eines anderen hineinzuversetzen – ist es, die Erfahrungen des anderen nachempfinden zu können. Und dazu ist wiederum ein Verständnis seiner Sinneswelt entscheidend.

1 Manche Forscher ordnen Chimären, auch Geisterhaie genannt, einer eigenen Gruppe zu.

2 Und es sollte noch weitere 100 Millionen Jahre dauern, bis einer ihrer Nachfahren, ein unerschrockener Fleischflosser, seine ersten vorsichtigen Schritte an Land unternahm. Um eine Vorstellung von diesen zeitlichen Relationen zu bekommen, führen Sie sich vor Augen, dass es die Gattung Homo, zu der der moderne Mensch zählt, erst seit rund zwei Millionen Jahren gibt. Würde man unser Dasein auf der Erde auf eine Sekunde komprimieren, dann gäbe es Fische bereits seit über vier Minuten. Sie waren auf unserem Planeten bereits fünfzigmal länger heimisch als wir heute, ehe sie überhaupt das Wasser verließen.

Teil II

WAS FISCHE WAHRNEHMEN

Es gibt keine Wahrheit.

Es gibt nur Wahrnehmung.

Gustave Flaubert

Was Fische sehen

»… rotgoldnes, wasserkostbares, spiegelflaches helles Auge.«

D. H. Lawrence, »Fisch«

Wir haben gelernt, dass es fünf Sinne gibt: Sehen, Riechen, Hören, Tasten und Schmecken. Doch in Wahrheit ist diese Liste nicht vollständig. Stellen Sie sich vor, wie langweilig das Leben wäre, wenn Sie keinen Sinn für Genuss hätten! Und obwohl die Vorstellung eines Lebens ohne Schmerz attraktiv scheint, wie gefährlich wäre es doch, wenn man nicht bemerken würde, dass grade eine Hand die heiße Herdplatte berührt? Ohne Gleichgewichtssinn könnten wir nicht laufen, vom Fahrradfahren ganz zu schweigen. Ohne die Fähigkeit, Druck zu spüren, würde der geschickte Umgang mit Messer und Gabel zur Herkulesaufgabe. Wie bei Lebewesen, die für ihre Entwicklung viel Zeit hatten, nicht anders zu erwarten, verfügen Fische über die verschiedensten hoch entwickelten Formen der Sinneswahrnehmung.

Eines meiner liebsten Denkmodelle, die ich als Student der Verhaltensbiologie kennengelernt habe, ist das der »Umwelt« – ein Begriff, den der deutsche Biologe Jakob von Uexküll Anfang des 20. Jahrhunderts geprägt hat. Man kann sich die Umwelt eines Tiers nach Uexkülls Definition als die Welt seiner sinnlichen Wahrnehmung vorstellen. Weil sich ihre sensorischen Apparate unterscheiden, nehmen unterschiedliche Arten die Welt unterschiedlich wahr, obwohl sie in derselben Umgebung beheimatet sind.

So fliegen beispielsweise Eulen, Fledermäuse oder Motten bei Nacht, aber alle drei nehmen aufgrund ihrer biologischen Unterschiede eine unterschiedliche Umwelt wahr. Eulen stützen sich beim Beutefang vor allem auf optische und akustische Wahrnehmung. Auch Fledermäuse richten sich nach ihrem Gehör, das aber auf eine Weise, die sich stark von der der Eulen unterscheidet: Sie verwenden beim Jagen und zur Navigation ihre Echoortung und interpretieren den Widerhall ihrer eigenen hochfrequenten Rufe. Motten als wirbellose Tiere haben wahrscheinlich die geringste Übereinstimmung mit unserer eigenen Umwelterfahrung, aber es ist bekannt, dass sie eine gute optische Wahrnehmung besitzen und außerdem Partner mithilfe ihrer hervorragenden Duftsensoren über weite Strecken hinweg aufspüren können. Wissen wir, wie die Sinne einer bestimmten Spezies funktionieren, ergründen wir bereits ein Stück weit das Geheimnis ihrer Erfahrungen.

Dass die Umwelt der Fische (im Sinne von Uexküll) sich von unserer unterscheidet, ist nur wahrscheinlich, da sie sich im Wasser entwickelt haben und nicht an Land. Doch die Evolution ist ein konservativer Designer, der an tollen Ideen gerne festhält. Ein typisches Beispiel: Fischaugen. Abgesehen von den fehlenden Lidern ähneln die Augen der Fische unseren eigenen. Wie bei den meisten Wirbeltieraugen, einschließlich der Augen des Menschen, wird der Augapfel bei Fischen von drei Muskelpaaren gesteuert, die das Auge entlang aller Achsen bewegen, sowie von einem Aufhängeband und dem »Zurückzieher«-Muskel (dieser fehlt beim Menschen). Er hilft dem Fisch beim Fokussieren der aufsteigenden Bläschen aus der Aquarienpumpe oder des aufrecht stehenden Wesens, das ihn aufmerksam durch die Scheibe betrachtet. Als evolutionäre Ahnen der landlebenden Tiere haben die Urfische dieses optische System entwickelt. Bei kleinen Fischen sind die Drehungen des Auges nicht leicht zu erkennen, aber wenn Sie das nächste Mal ein Aquarium besuchen, sollten Sie die Augenbewegungen der größeren Exemplare beobachten können, wenn sie ihren Blick auf unterschiedliche Dinge in ihrer Umgebung richten.

Dank einer kugelförmigen Linse mit einem hohen Brechungsindex – definiert als das Verhältnis der Geschwindigkeit des Lichts im Vakuum zu seiner Geschwindigkeit in einem bestimmten Medium (hier der Augenlinse) – kann ein Fisch unter Wasser so deutlich sehen, wie wir es umgeben von Luft können. Natürlich besitzen Fische weder Tränendrüsen noch Tränenwege und auch keine Augenlider zum Befeuchten der empfindlichen Augenoberfläche; sie sind unnötig, da der Augapfel im Wasser stets sauber und feucht gehalten wird.

Seepferdchen, Schleimfischartige, Grundeln und einige Schollenarten haben ihre Augenmuskulatur so weit entwickelt, dass sich beide Augen unabhängig voneinander bewegen können, wie bei einem Chamäleon. Ich kann daraus nur schließen, dass ein so ausgestattetes Wesen in der Lage ist, zwei Gesichtsfelder gleichzeitig auszuwerten. Das scheint mir radikal von dem abzuweichen, was das menschliche Gehirn leistet, und wenn ich versuche, mir die Wahrnehmung zweier unabhängiger Gesichtsfelder vorzustellen, die ich beide bewusst steuern kann, dann stoße ich genauso an die Grenzen meiner »Umwelt«, wie wenn ich versuche, mir den Rand des Universums vorzustellen. Ein israelisch-italienisches Forscherteam hat zwar einen »Roboterkopf« mit zwei unabhängig drehbaren Kameras gebaut, um das optische System der Chamäleons zu simulieren, aber Versuche zu verstehen, wie ein einzelnes Gehirn ihre Signale verarbeitet, sind mir nicht bekannt. Denkt ein Chamäleon gleichzeitig zwei Gedanken, wenn es mit dem einen Auge gerade den saftigen Grashüpfer auf dem Zweig gegenüber fokussiert, während das andere in den darüber hängenden Ästen nach einer besseren Anpirschroute sucht? Kann ein Seepferdchen einen potenziellen Paarungspartner mit einem Auge anstarren, während es mit dem anderen einen lauernden Räuber im Blick behält? Mein einspuriges Gehirn kann das nicht. Ich kann zwar Zeitung lesen und gleichzeitig Radio hören, und mein Gehirn kann zwischen beiden hin- und herschalten, aber sosehr ich mich auch anstrenge, beide Texte kann ich nicht im selben Augenblick verarbeiten.